ApollonXII

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Dossier XII

*Mythen sind das Thema dieses Dossiers

4 Everything is alive

Ian Chillag

12 Zwei traurige Nilpferde

José Alejandro Castaño

22 Ruhe im Karton

Stefan Gärtner

34 Mutproben am Herd

Sven Christ

48 Club 27

Danijela Pilić

56 Merci Maman

Yamarou

68 Der Stoff, aus dem Träume sind

Julia Werner

74 Abriss Deutschland

Vera Schroeder

82 Orakel-Time

Lili Ruge

90 Stadt der Zeichen

Lukas Kubina

100 Godzilla

Christian Gottwalt

114 Per Glücksgalopp durch den Job

Ella Carina Werner

Everything is alive In manchem Badboy steckt letztendlich doch ein weicher Kern –sogar in einem Alligator.

T Ian Chillag
F Alana Celii

I Ian A Alligator

A Ich bin »Alligator«. Ich bin ein Stofftier. Ich lebe mit meinem Jungen und seiner Familie, und allem, was sie sonst noch so haben …

I Kannst du uns einmal dein Aussehen beschreiben?

A Ich bin grün und lang. Ich bin ein Alligator, zumindest nennen sie mich so. Möglicherweise bin ich aber ein Krokodil. Der Unterschied ist schwer zu erkennen, besonders wenn man, na ja, plüschig ist. Die beiden Arten unterscheiden sich an den Zähnen.

I Ach ja?

A Als regelmäßiger Zuschauer von »Animal Planet« weiß man so etwas. In meinem Fall sind sie aber auch noch aus Filz.

I Erzähl mir doch ein bisschen über den Jungen – gehörst du ihm? Oder wie sagt man das richtig?

A Nun ja, präziser wäre es zu sagen, wir sind miteinander verschlungen. Am Anfang war ich größer als er, als sie mich ihm zum ersten Mal gaben. Ich war länger als er. Aber er ist einfach immer größer und größer geworden. Und wenn ich ehrlich bin, ist er jetzt viel länger. Er ist ein sehr langer Junge.

I Wie seid ihr zusammengekommen?

A Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Meine erste Erinnerung ist ein Frauengesicht. Ich bewegte mich an ihm vorbei, in einem großen Raum voller Lärm. Zurückblickend war es wahrscheinlich eine Fabrik. Dort hat mich auf alle Fälle jemand angesehen und als Alligator und nicht nur als Produkt erkannt. Das ist der Moment, in dem wir aufwachen, wenn jemand eine Verbindung zu uns aufnimmt. Und dann, als Nächstes, werde ich meinem Jungen in die Wiege gelegt. Wenn er mich ansieht, bin ich wach. Ich wache immer auf, weil er sieht, was ich wirklich bin. Er sieht einen Alligator.

I Also, du bist: »Alligator«, eine Repräsentation eines echten Alligators. Was weißt du über Alligatoren?

A Tja, so viel weiß ich: Meinen Job könnten sie nicht machen. Ich ihren wahrscheinlich auch nicht. Ich würde wahrscheinlich von einem Alligator gefressen werden.

I Meinst du? Stellen wir uns mal einen Sumpf mit Alligatoren vor.

A Also gut, dann bin ich jetzt Frau Sumpf, Frau Gras. Es ist feucht. Mit Luftfeuchtigkeit kenne ich mich gut aus; ich war schon mal in einer Waschmaschine. Ich spüre Käfer, viele Käfer und Alligatoren, sie liegen im Wasser rum. Ich auch. Vielleicht will mich einer von ihnen knuddeln? Die haben ja kleine Ärmchen und könnten mich schon umarmen. Ich habe noch nie einen Alligator getroffen, eigentlich stelle ich es mir nicht so schlimm vor. Aber ich bin schon eher der Beschützertyp. Also wenn so ein kleiner Jungen am Ufer entlanggehen würde – ich stelle ihn mir mit einem Stock vor und er stochert im Gras herum. Er würde mich, Alligator, dort sehen und nach mir greifen. Aber dann würden die anderen, die Echten, die würden … Ich will es mir gar nicht vorstellen. Ich mag dieses Bild gar nicht.

I Schon komisch, dass du als Repräsentation eines Alligators sehr warmherzig wirkst, Alligatoren aber den Ruf haben, kalt und furchteinflößend zu sein.

A Sie müssen um ihr Überleben kämpfen. Sie müssen fressen. Also müssen sie eine Show abziehen. Aber weißt du, sie sind empfindlicher, als man meint. Ihre Gesichter, zum Beispiel, sind sensibler als die menschliche Fingerspitze. Stell dir das mal vor! Man kann mit der Fingerspitze sogar die kleinsten Dinge erspüren … Temperaturen, Vibrationen. Und das Gesicht eines Alligators ist noch empfindlicher. Wenn er auf dem Grund eines Sumpfes liegt, spürt er all diese kleinen Dinge, die vorbeischwimmen. Sein Gesicht erkennt, wenn etwas Essbares vorbeischwimmt.

I Das ist wirklich seltsam.

A Stell dir mal vor, was ein Alligator alles mit seiner gefühlvollen Schnauze anstellen könnte. Mit dem Fingerspitzengefühl seiner sanften Schnauze könnte er bestimmt sogar Geige spielen.

I Weißt du, das ist eine viel ... das ist jetzt eine viel bessere Sumpfszene. Komm, lass uns das Ende überarbeiten.

A O ja! Der Junge, er sieht mich, Alligator, und er greift nach mir. Und die anderen Alligatoren? Sie würden ihre Geigen herausholen und ein Lied spielen. Es wäre wunderschön und alles im Sumpf würde still werden und schweigend zuhören. Der Junge würde mich mit sich nehmen. Und dann frisst einer der Alligatoren aus Versehen seine Geige.

I Alligator, du hast vorhin erwähnt, dass du fernsiehst, wahrscheinlich mit dem Jungen? Erzähl mir, wie das ist.

A O, ich bin dann in meiner Rolle als Nackenkissen tätig. Meinen Schwanz auf der einen Seite seines Kopfes und meinen Kopf auf der anderen Seite, es ist der beste Platz im Haus. Ich sehe alles, was er sieht, ich höre alles, was er hört, und deshalb verstehe ich alles, meistens auch den Kern der Geschichte.

I Was ist deine Lieblingssendung?

A »Spongebob Schwammkopf«, keine Frage. Ich kann mich irgendwie mit Spongebob identifizieren. Er ist aufnahmebereit, ich bin aufnahmebereit. Oder »Law and Order«, das mag ich auch sehr.

I Du verbringst deine ganze Zeit mit dem Jungen. Was ihm passiert, passiert auch dir. Erfahrungen prägen – wahrscheinlich seid ihr euch sehr ähnlich?

A Nein, also nicht wirklich. Es ist kompliziert, diese Verschlungenheit, wie ich es nenne. Ich erlebe alles wie er, aber doch anders. Ich dachte zum Beispiel eine Zeitlang, dass ich eine Kuscheldecke hätte. Ich meine, es gab eine Kuscheldecke, denn als er noch ganz klein war, hatten wir immer eine Kuscheldecke dabei. Manchmal war ich mit darin eingewickelt. Bei Reisen wurden wir zusammen in den Rucksack gestopft. Einmal waren wir im Flugzeug, und sein Vater hat mich hochgehoben und in den Rucksack gestopft. Mein Kopf hing noch raus. Ich konnte sehen, dass die Decke irgendwie zwischen den Sitzen eingeklemmt war, und ich dachte nur: »O, o. Er sieht sie nicht.« Der Junge hat

sie auch tatsächlich nicht gesehen. Und plötzlich zogen sie den Reißverschluss über mir zu. Das war das letzte Mal, dass ich Kuscheldecke gesehen habe. Es kann so schnell passieren, dass man allein gelassen wird. Das ist definitiv das, wovor ich mich am meisten fürchte. Wahrscheinlich mehr als vor dem Hund, ehrlich gesagt.

I Was denkst du, macht die Kuscheldecke gerade?

A Das Einzige, was man tun kann: warten. Mehr können wir in so einer Situation nicht tun.

I Hast du schon mal von Marie Kondo gehört?

A Hm, der Name kommt mir bekannt vor, wieso weiß ich nicht.

I Sie ist ein Organisationsguru. Sie hilft Leuten beim Entrümpeln. Und sie hat gesagt, dass es schwer ist, Stofftiere herzugeben, weil wir eine so intensive Verbindung zu ihnen haben. Und sie empfiehlt, dass man ihnen die Augen verbindet, wenn man sie weg…bringt.

A Den Stofftieren die Augen verbindet?

I Genau.

A O mein Gott, das klingt wirklich äußerst seltsam und, ehrlich gesagt, dumm. Das ist ja wie eine Entführung. Da kann man uns ja gleich eine schwarze Kapuze über den Kopf stülpen und in einen weißen Lieferwagen werfen. Wahrscheinlich empfiehlt sie, uns in einem flachen Graben zu verscharren.

I Ganz so weit geht es nicht.

A Okay, aber so klingt es. Vielleicht hatte sie jemanden wie mich in ihrem Leben. Ging wohl nicht so gut aus. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

I Stofftiere können so bedeutungsschwer sein, oder eben auch nicht. Für manche sind sie einfach nur Spielzeug, für andere wiederum wie ein Partner in einer emotionalen Beziehung.

A Ja, wohl wahr. Aber es ist auch keine einfache Beziehung. Mein Junge wird größer und geht jetzt seit ungefähr acht Jahren in

die Schule. Mit der Schule hat sich alles verändert. Plötzlich hatte er ganz andere Sorgen. Sorgen, die ich ihm nicht abnehmen kann, Ängste. Ich kann seine Ängste spüren, kann sie sogar sehr gut nachfühlen. Manchmal mache ich es dann nur noch schlimmer. Zum Beispiel, wenn seine Freunde da sind. Er hält keinen Körperkontakt mit mir, wenn seine Freunde da sind. Ich muss in die Schublade – sonst bin ich nie in der Schublade. Ich dachte zuerst, klar, er will nicht, dass diese Jungs mich sehen und mit mir spielen, und ich mich mit ihnen befreunden könnte, sodass er eifersüchtig wird. Oder dass sie mich sogar mitnehmen könnten! Aber, ehrlich gesagt, glaube ich, er schämt sich für mich.

I Es klingt so, als ob mit dem Alter seine Art, mit dir umzugehen, sich verändert hat, während du dich nicht verändert hast.

A Nun, körperlich habe ich mich auch verändert. Ich bin schlabbrig geworden und werde auch immer schlabbriger. Da geht es mir so wie euch Menschen. Aber ich hab mich im Griff. Es ist so: Er wird nicht nur größer, er wird anders. Ich werde zwar nicht größer, aber ich werde auch anders. Man lernt viel über sich selbst durch seine Mitmenschen, auch wenn man kein Mensch ist. Ich bin das, was die Menschen über mich denken, und ich verändere mich, wenn mein Mensch anders über mich denkt. Ich fühle mich anders, weil ich sehe, dass er anders über mich denkt. Manchmal wünsche ich mir, ich würde wieder anfangen zu wachsen und länger werden, dann wäre ich eines Tages wieder länger als er. Wenn er weiter wachsen würde, würde ich wieder wachsen. Und so würden wir zusammen immer länger und länger werden, bis wir zusammen den ganzen Raum einnehmen.

José Alejandro Castaño
K Inés Maestre

Evaristo Candelejo glaubte, einen toten Stier zu sehen, und ließ sich von der Strömung hinziehen, um sich den Fund genauer anzusehen. Es war fast Mittag und wegen der Regenfälle, die den Fluss anschwellen ließen, war es kaum möglich zu fischen. Je näher er kam, desto unsicherer war er, ob es sich wirklich um einen Kadaver handelte, und hielt die Augen offen, damit das Kanu nicht gegen einen unter Wasser verborgenen Ast oder Felsen stieß. Er war allein unterwegs. In dreißig Jahren Schifffahrt auf dem Magdalena-Fluss hatte er noch nie so viel Angst verspürt, nicht einmal, als ein Kugelhagel vom Ufer aus das Holz seines Bootes durchschlug und Teil seiner Fracht, zwei Schweine, niederstreckte. »Und zack, brüllte der Baumstamm und öffnete ein riesiges Maul«, erzählte er hinterher seiner Frau und seinen Nachbarn in Puerto Olaya, einem kleinen, abgelegenen kolumbianischen Fischerdorf in Cimitarra, Santander. Niemand glaubte ihm. Evaristo Candelejo stand in dem Ruf, ein Säufer und Lügner zu sein.

Arturo Castiblanco, der örtliche Polizeiinspektor, berichtete, dass eine Woche später ein anderer Fischer eine ähnliche Geschichte erzählt habe, gefolgt von zwei weiteren Fischern und einer Gruppe von Frauen, die an einem Ufer Wäsche wuschen. Jeder von ihnen hatte etwas anderes gesehen, aber in diesem Punkt waren sich alle einig: ein sehr großer Kopf, eine abgeflachte Schnauze mit schnaubenden Löchern, ein riesiges Maul, runde Reißzähne, ein Rücken, winzige Ohren ... winzige Ohren?

In Puerto Olaya hatten sie sich bereits an grausame Spektakel gewöhnt. Seit Jahren sahen sie die Leichen von ermordeten Menschen im Fluss – ihre Körper starr, manchmal mit dem Gesicht nach oben, mit erhobenen Armen und ausgestreckten Fingern, als würden sie den Menschen am Ufer winken, während die Truthahngeier in ihren Eingeweiden hackten.

Man nannte sie pasarrápido und jeder bekreuzigte sich, wenn er sie flussabwärts treiben sah.

Evaristo Candelejo versuchte, das Ungeheuer auf ein Blatt Papier zu zeichnen, einer seiner Enkel half ihm dabei, ebenso wie zwei Männer, die ebenfalls schworen, es gesehen zu haben. Damals ging auch das Gerücht um, dass es sogar zwei große Köpfe gab. Der

Fischer und seine Nachbarn brachten das Phantombild zu Arturo Castiblanco.

»Hipopótamos!«, rief der Inspektor, nachdem er sich die Zeichnung angesehen hatte, »Flusspferde!«.

Wie zum Teufel sollen Flusspferde in dieses Dorf am mittleren Magdalena-Fluss gekommen sein? Die nächstgelegenen Nachrichten über Nilpferde kamen aus Puerto Triunfo, hundert Kilometer flussaufwärts, von einer dreitausend Hektar großen Hazienda namens Nápoles. Es ist eine bekannte Geschichte. Dort ließ Pablo Escobar, der berühmteste Drogenhändler der Welt, seine Art von Paradies mit Tieren seiner Wahl erschaffen. In wenigen Monaten errichtete eine Armee von tausend Männern eine Landschaft aus Hügeln, Tälern und Seen, als wäre es ein riesiger Golfplatz für wilde Tiere. Escobar ließ auch eine Stierkampfarena und einen Flughafen bauen. Bald darauf brachten die Flugzeuge Strauße, Büffel, Zebras, Hirsche, Kaimane, Flamingos, Schildkröten, Tapire, Affen, Elefanten, Kakadus, Ameisenbären, Riesenpapageien, Antilopen, Nilpferde und Giraffen. Eines Tages schickte ihm jemand einen Tiger, aber den schickte der Chef zurück, weil er keine Katzen mochte, sie seien gefährlich. Nach der Ermordung Escobars am 3. Dezember 1993 begannen die Tiere zu verhungern, weil es niemanden mehr gab, der ein Vermögen für ihre Ernährung aufbrachte. Viele Tiere, die überlebten, wurden in Zoos in den Städten Pereira, Cali und Medellín untergebracht. Andere wurden zusammen mit allem Möglichen auf der Farm gestohlen: Autos, Möbeln, Laternenpfählen, Wänden, Dächern, Käfigen, Zäunen und Poolfliesen. Zu jener Zeit gab es Leute, die nach Nápoles kamen, um Bäume und Palmen zu stehlen und sie als Souvenirs aus dem alten Zoo in Baumschulen in Medellín und Bogotá anzubieten. Die einzigen, die von den Plünderern verschont blieben, waren eine Dinosaurierfamilie aus Beton und neun rosa Flusspferde, aber nur, weil niemand wusste, wie man sie mitnehmen sollte.

Fabio, ein ehemaliger Tagelöhner auf dem Landgut, erinnerte sich, dass er einmal für die Fütterung der Flamingos zuständig gewesen war und der Tierarzt tonnenweise Garnelen aus dem Golf von Urabá heranschaffen ließ, um die rötliche Farbe ihres Gefieders zu erhalten. Aufregende Tage waren das gewesen. Die Piloten des Medellín-Kar-

tells, die von der Landebahn aus starteten, hatten einen doppelten Auftrag: Kokainlieferungen in die Vereinigten Staaten zu bringen und auf dem Rückweg Futter für Escobars Lieblingsvögel in Urabá zu holen. Fabio zufolge wurden alle Tiere gut versorgt, mit Ausnahme der Kaimane, von denen die meisten schließlich aus den Teichen der Hacienda entkamen und sich in den Bächen und Feuchtgebieten der Umgebung ansiedelten. Fabio erzählte, dass Escobar und seine Männer nachts auf die Jagd nach ihnen gingen und sie um ein Vermögen gewettet hatten, wer sie mit einem einzigen Schuss zwischen die Augen töten konnte.

Die Landebahn des alten Flughafens glich einer Narbe, bedeckt von einer trockenen Wiese. Einst waren dort zwölf Flüge pro Tag gelandet. Schönheitsköniginnen, Fernsehmoderatoren, berühmte Politiker, bekannte Journalisten, Fußballspieler, Künstler aus aller Welt, heilige Bischöfe waren angekommen. Nápoles hatte damals wirklich eine vielfältige Fauna gehabt. Fabio war auch Zeuge des denkwürdigsten Fluges von allen. Er fand an einem Donnerstag im Jahr 1985 statt. Drei Tage zuvor hatte Pablo Escobar angeordnet, am Ende der Landebahn einen Sandwall zu errichten. Dieser war sieben Meter breit, fast zwei Meter hoch und sei eine Versicherung gegen Unfälle, hatte der Capo gesagt. An jenem Donnerstag wurden Fabio und fünfzig andere Männer mit einem Lasso zur Baustelle beordert. Um zehn Uhr morgens hörten sie ein Flugzeug, dann konnten sie es ausmachen. Es hatte zwei Propeller und war das größte Flugzeug, das sie je gesehen hatten. Escobar trug eine Sonnenbrille und lachte die ganze Zeit. Vor der Landung überflog der Pilot dreimal die Landebahn. Es war eine russische Antonow, ein Wal aus rotem und weißem Blech, von dem niemand glaubte, dass er auf dieser für einmotorige Flugzeuge ausgelegten Piste landen könnte. Wie von Pablo Escobar errechnet, rollte das Flugzeug bis zum Ende der Landebahn und kam schließlich in einer Sandwolke zum Stehen. Kurz darauf schalteten sich die Propeller ab und eine Tür im Heck der Antonow öffnete sich. Escobar ordnete seine Männer in Vierergruppen an. Sie waren alle Bauern, die gelernt hatten, Mais und Reis zu säen, Eier zu sammeln, Kühe zu melken, Pferde zu beschlagen und Schweine zu hüten; sie wussten nichts über Elefanten, Strauße, Bisons oder Zebras. Auf

diesem Flug kamen die ersten Nilpferde und ein seltsames Tier, von dem zunächst niemand wusste, was es war. »Wir gaben uns gegenseitig unseren Segen und gingen hinein. Jede Gruppe war für eine andere Kiste zuständig. Wenn sie zu schwer war, kam eine andere Gruppe zu uns. Drinnen roch es nach Scheiße.« Während Fabio sprach, bewegte sich sein Glasauge, als ob die Erinnerungen es beleben würden. Er erzählte, dass er auf dem Weg ins Flugzeug gewesen war, als einer seiner Kollegen im Inneren vor Angst schrie. Sie dachten, sie hätten einen Tiger gesehen, und wichen zurück. Es war beängstigend: Der Hals ragte aus der Holzkiste, in die das Tier eingeschlossen war. Die Reise muss voller Schmerzen für die Kreatur gewesen sein. Jemand hatte ihren Kopf mit Seilen und Ketten an den Rumpf gebunden. Als sie das Tier endlich befreien konnten, richtete es sich erleichtert auf. Es war eine Giraffe. Sie hatten noch nie eine gesehen. Alle applaudierten. Pablo Escobar hatte nicht aufhören können zu lachen. Dreiundzwanzig Jahre nach jenem Donnerstagnachmittag waren die einzigen Tiere, die noch in Nápoles leben, achtzehn Nilpferde. Escobar hatte nur die Hälfte von ihnen importiert. Der Rest war in seinem Garten Eden geboren worden. Nach einem Blick auf die Zeichnung hatte Arturo Castiblanco keine Zweifel mehr und beschloss, das Büro des Gouverneurs von Santander anzurufen, um zu erfahren, was zu tun war. Dort wurde er gewarnt, vorsichtig zu sein, die Fischer, die Frauen, die sich im Fluss wuschen, die Kinder, die am Ufer badeten, alle zu warnen: Die Nilpferde seien gefährlicher als Kaimane und töteten in Afrika mehr Menschen als alle anderen wilden Tiere zusammen. César Valencia, Koordinator für Kontrolle und Überwachung bei der Corporación Autónoma de Santander, einer Stiftung, die sich um den Schutz bedrohter Tier- und Pflanzenarten kümmerte, rief ihn anschließend an. Alle waren verblüfft. Ein Nilpferd, das im Magdalena-Fluss frei herumschwamm, konnte nur aus Escobars altem Zoo stammen. Noch mehr Anrufe.

Der nächste, der davon erfuhr, war Francisco Sánchez, der Leiter der Abteilung für Umweltmanagement in Puerto Triunfo. Er wurde angewiesen, sofort die Ranch aufzusuchen und die Nilpferde zu

zählen. Es schien unmöglich, dies an einem Tag zu erledigen. Insgesamt gibt es in Nápoles sechs Seen, die sich über eine riesige Fläche erstrecken, und die Strecke zu Fuß zurückzulegen, war noch das geringste Problem. Das größte Problem bestand darin, dass die Herde von achtzehn Nilpferden sich fast die ganze Zeit unter Wasser aufhielt und sie willkürlich ihre Nasen heraussteckten und atmeten, sodass man selbst bei sorgfältigster Beobachtung durcheinanderkäme und die genaue Anzahl der Tiere falsch einschätzen würde.

Am Ende war der Aufwand gar nicht nötig. Als sie auf der Hacienda ankamen, erzählten ihm die Bauern, dass zwei Jungbullen geflohen seien. Sie sagten es ihm einfach so, ohne dass irgendjemand sie etwas gefragt hatte. Sie, die jeden Tag exakt wissen mussten, wo sich die Tiere aufhielten, um ihnen bloß nicht zu begegnen, hatten einen scharfen Beobachtungssinn entwickelt und waren sich sicher, dass zwei Männchen aus den Seen verschwunden waren. Francisco Sánchez hatte von jemandem gehört, der gesehen hatte, wie sie die Zäune auf der Nordseite des Anwesens überquert hatten, als ob nichts geschehen wäre. Vier Tonnen, so schwer wie sieben Kampfstiere, und nichts konnte sie aufhalten. Warum beschlossen zwei junge Nilpferd-Bullen, eine Landschaft zu verlassen, die exakt den afrikanischen Ebenen glich, aus denen ihre Väter stammten? Warum gaben sie einen Ort mit reichlich Wasser und Weideland auf, über den sie nach Belieben herrschten, ohne dass sich jemand an ihnen störte? Was suchten sie?

Mauricio Orozco, Fauna-Koordinator der Corporación Autónoma Regional Rionegro Nare, einer weiteren Tierschutzorganisation, zeichnete die Route der beiden Flusspferde auf. Offenbar hatten sie sich zunächst in Richtung Puerto Boyacá bewegt, von dort aus nach Puerto Nare, Puerto Serviez, Zambito und schließlich nach Puerto Berrío, von wo aus sie auf die andere Seite des Magdalena-Flusses nach Puerto Olaya in Santander gewechselt waren. Insgesamt hatten sie mehr als zweihundert Kilometer hinter sich gebracht. Sie mussten sie einholen und verhindern, dass sie früher oder später einen Fischer angriffen.

Wo konnten die Flusspferde jetzt sein? Fast siebzig Tage, nachdem

Evaristo Candelejo die Nachricht überbracht hatte, glaubten Experten, dass die beiden Brüder, von der Sonne ermüdet, nachts an Land unterwegs waren und tagsüber untertauchten. In diesem Tempo könnten sie Barrancabermeja, hundert Kilometer flussabwärts, erreichen und in wenigen Wochen weiter nach Norden gelangen, sogar bis zur Mündung des Flusses in den Hafen von Barranquilla, wo sie das offene Meer erreichen könnten. Das war natürlich Wahnsinn, das Unwahrscheinlichste überhaupt – aber in Kolumbien ist es besser, nicht zu rational zu sein, denn gerade das Absurde wird schließlich wahr. Die Regierung beschloss, zwei Abgesandte nach Puerto Triunfo zu schicken, um für die Fahndung einen Suchtrupp zusammenzustellen, so wie die Eliteeinheit der Polizei, die 1993 Pablo Escobar zur Strecke gebracht hatte.

Die Abgesandten fanden heraus, dass es Escobars Nilpferden nicht zum ersten Mal gelungen war, die Zäune von Nápoles zu überwinden. In Puerto Triunfo hörten sie eine Geschichte, die schon oft weitererzählt worden war: Ein Nilpferd wurde, nachdem das Tier in seinen Hof eingebrochen war und zwei seiner Stiere angegriffen hatte, vom Rancher mit Gewehrschüssen durchlöchert und auf diese Weise getötet. Daran wäre so weit noch nichts wirklich Ungewöhnliches. In diesem Gebiet des mittleren Magdalena-Flusses wurden Streitigkeiten immer mit Blei beigelegt, unabhängig davon, ob der Täter ein Mann, eine Frau, ein alter Mann, ein Kind oder ein Nilpferd war.

Die Abgesandten erfuhren, dass der Viehzüchter angeordnet hatte, einen Teil des Tieres zu zerlegen, damit einige seiner Arbeiter einen Eintopf kochen konnten. Der Rest des riesigen Kadavers war mit Benzin übergossen und angezündet worden. Francisco Sanchez, der Leiter der Umweltbehörde von Puerto Triunfo, gab ebenfalls zu, die Geschichte von der Hinrichtung gehört zu haben. Warum waren dieses Mal zwei junge Bullen entkommen? Von allen Theorien, die versuchen, den Exodus der Flusspferd-Brüder zu erklären, scheint diejenige am wahrscheinlichsten, die mit Pablito zusammenhängt, dem Alpha-Nilpferd der Hacienda, einem alten, fast fünf Tonnen schweren Häuptling. Die Bauern hatten ihn nach seinem früheren Besitzer benannt, weil er ähnlich gewalttätig und

unberechenbar war. Manchmal, kurz nachdem ein Kalb geboren worden war, hatte er es mit einem Schlag auf den Kopf getötet. Manchmal ließ er die Kälber aber auch an seiner Seite grasen und trieb sie sogar zum Spielen herum. Pablito war der einzige, der sich mit den Weibchen paaren durfte und den ganzen Tag an ihrer Seite blieb. Die übrigen Männchen schwammen isoliert in abgelegenen Teichen. Alles deutete darauf hin, dass die zwei jungen de abgehauen waren, weil Pablito die Weibchen nicht mit ihnen teilen wollte. Eine tragische Fehleinschätzung: Sie flohen flussabwärts auf Partnersuche und Familienglück. Nur waren in Kolumbien halt keine Nilpferde beheimatet, abgesehen von denen in Puerto Triunfo.

Die Regierung ging davon aus, dass die beiden sechs Monate später in einem Becken mit aufgestautem Wasser ir gendwo zwischen Barrancabermeja und dem Süden des Departe ments Bolívar in einem mit explosiven Minen übersäten Korridor zum Stehen kamen. Die Wahrheit ist, dass sich niemand wirklich dafür interessierte, was genau passiert war. Angesichts eines Dramas von eintausendsiebenhundert Entführungsopfern im Dschungel, darunter ein französischer Staatsbürger und ehemaliger kolumbianischer Prä sidentschaftskandidat, war die Suche nach zwei entlaufenen pferden von der ehemaligen Hacienda des blutrünstigsten Drogen barons der Geschichte keine dringende Angelegenheit. Die Regierung sagte jedoch, sie berate sich mit Stiftungen in den Vereinigten Staa ten und Afrika darüber, was zu tun sei, wenn sie gefunden werden: ob man sie betäuben und dann an einen Militärhubschrauber ankop peln oder sie mit Schallbomben verscheuchen solle, bis sie an einen offenen Ort gebracht werden können. Umweltschützer erklärten sich dabei für fast so verloren wie die Tiere selbst. Kann man aus all dem eine Lehre ziehen? Vielleicht. Zwei pferde, die dazu verdammt sind, in einer Ecke der Welt nach den Weibchen zu suchen, die sie nie finden werden, egal wie weit sie oder wohin sie gehen, sind mehr als eine kuriose Geschichte. Die vergeb liche Reise der beiden Nilpferd für die menschliche Fähigkeit, alles zu vermasseln.

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DISCOVER NOW

In erster Linie ist es wohl Faulheit, dass ich meine Familienfotos, also die von früher, bevor ich eigene Kinder bekam, in einem alten Postkarton aufbewahre, wo sie keiner anderen Ordnung unterliegen als der, die der Zufall stiftet, und die allerdings den Vorteil hat, dass die Unordnung, die da herrscht, dem Gedächtnis viel eher gleicht, als es ein sorgsam sortiertes Fotoalbum tun würde. Der liebe Gott – oder der Weltgeist, Geschmackssache – weiß das, weshalb es, drei Tage nach der Konfirmation meiner ältesten Nichte, keine fünf Minuten dauerte, bis ich, auf der Suche nach etwas ganz anderem, mein Konfirmationsfoto in Händen hielt. Es war die Zeit der Lederkrawatten, und ich sah tatsächlich noch nicht ganz so zombiesk aus wie auf den Adoleszenzfotos, die folgten und meine erotisch arme Pubertät als völlig folgerichtig erscheinen lassen.

Dass die Jugend die schönste Zeit im Leben sei, ist nämlich, um einmal ein ganz heißes Eisen anzufassen, nichts als ein Mythos. Sie ist es sogar umso weniger, wenn wir »schön« im ganz konkreten, physischen Sinn verstehen. Ich war, auch das legt die Fotokiste nahe, ein hübsches Kind und bin, alles in allem, am Anfang des letzten Lebensdrittels eine hinnehmbare Erscheinung, sah zwischen

fünfzehn und fünfundzwanzig aber wirklich scheiße aus, wofür schon eine Frisur sorgte, die anfangs zeitgenössisch gewesen sein mag, dann aber nur mehr unvorteilhaft. Elke Heidenreich hat neulich geschrieben, bis dreißig sei das Leben bloß anstrengend, und so ungern ich Elke Heidenreich recht geben mag, da hat sie recht. Es ist schon darum so anstrengend, weil man alles Mögliche von ihm erwartet, und das meiste davon kommt natürlich nicht. Mit dem Teil, der kommt, kann man sich als Erwachsener dann anfreunden, und was nicht gekommen ist, kommt jetzt auch nicht mehr, und wiederum ist es Geschmackssache, ob das nun enttäuschend oder beruhigend ist. Das Durcheinander, das die frühen Jahre so verschattete, birgt jetzt der Fotokarton, wo es, einmal im Jahr oder auch nur einmal im Jahrzehnt, für das Vergnügen gefahrloser Unordnung sorgt –gefahrloser, weil gebändigter, freundlich chaotischer Vergangenheit. Das Fotoalbum, am Ende nach Jahrgängen geordnet, wäre mir schon darum suspekt, weil es in seiner linearen Ordnung einen Sinn oder sogar eine Erfolgsgeschichte suggeriert, denn gelungene Bürgerlichkeit heißt, dass erst das eine kommt und

dann das andere, wie es sich gehört. Ich bin weiß Gott kein Anarchist, und ich hasse es, Dinge nicht in Ordnung zu haben; aber dass ich, mit Wim Wenders’ Landstraßencowboy Bruno Winter zu sprechen (»Im Lauf der Zeit«, 1976), eine Zeit hinter mich gebracht habe und dass das ein ganz beruhigendes Gefühl ist, steckt für mich gerade darum in dem Karton, weil er das Hinter-sich-Bringen, das Auf-, Voll- und Leerlaufen so schön zum Ausdruck bringt. Ich wüsste auch gar nicht, wo ich die Kinderbilder der Tochter der Freundin meiner Mutter hinsortieren sollte, Bilder eines Mädchens, das, glaube ich, Antje heißt, und mehr weiß ich nicht und muss ich nicht wissen.

Der Mythos der goldenen Jugend dient dazu, fürs nicht so goldene Erwachsensein zu entschädigen, so wie der bürgerliche Mythos von Ruhe und Ordnung für das entschädigt, was Unruhe und Unordnung an Glück und Möglichkeit erst hervorbrächten. Meine Großmutter war im Zonenrandgebiet, also im Sendebereich des DDR-Fernsehens zu Hause, und mein seit Kindertagen bestehendes Faible für den Oststaat hat mit dessen Grenze zu tun, was mir wieder klar wird, seit ich auf Youtube

Lehrfilme der NVA-Grenztruppen sehen kann, die eine Grenze bewachten, über die jeder Nato-Panzer lächelnd hinweggerollt wäre, die aber, in der mythischen Erzählung von Freund und Feind (»Unser Land. Seine Grenze sicher behütet«), geschickt in den Bürgertraum vom umzäunten Eigenen eingefügt und für eine Geborgenheit verpflichtet wurde, die zwar mit Restriktion erkauft war, aber heute, wo alles immer grenzenlos ist, vielerorts vermisst wird, und sei’s aus falschen, nämlich AfD-Gründen.

Doch die Grenzenlosigkeit, die der Fall der Mauer versprach, ist halt ebenfalls ein Mythos. »Heute fliegen ja nur noch Kleinbürger nach Neuseeland«, schreibt mir ein Freund, der selbst gerade da war, um seine fernab studierenden Töchter zu besuchen – Mythos Flugscham –, und eine Glosse von mir gelesen hat, in der es um Leute ging, welche die Ahnung von der Sinnlosigkeit ihrer Reiserei dadurch kompensieren, dass es immer weiter weg gehen muss, auch wenn sie dann in Auckland bloß wieder im Starbucks sitzen. Im Fernsehen das junge Paar, das eine Weltreise macht und in einem vorschriftsmäßig prachtvollen Tempel steht, zu dem ihm die provinziell-lobotomische Wertung

»Hammer« einfällt, und ich denke, dass die beiden nie von zu Hause weggekommen sind. Ursprünglich, weiß Wikipedia, ist der Mythos »eine Erzählung, die natürliche oder soziale Phänomene erklären oder veranschaulichen soll«; heute ist der Mythos, da würde der Philosoph und Semiotiker Roland Barthes vielleicht beipflichten, das soziale Phänomen selbst, das sich permanent selbst veranschaulicht. Kein Aufsatz über den Spätestkapitalismus macht ihn so greifbar wie der tätowierte Familienvater, der bei hellstem Sonnenschein mit der Neonwarnweste auf dem Kindertransportrad sitzt, und wenn ich sage: »Dass ein Tattoo heute irgend mehr sei als ein Zeichen äußerster Konformität, ist ein Mythos«, trifft das gleich doppelt zu.

Erzählung, dekretierte die Postmoderne, ist das ganze Leben, und so ist das Wort vom »Mythos« ursprünglich auch gemeint: Ein Mythos, der nicht aufs Ganze zielt, ist keiner, und wenn etwas vermeintlich total nicht stimmt, ist es ja ebenfalls ein Mythos, eine Erzählung, deren Gültigkeit sich am schieren Gegenteil beweist, Bildungsgleichheit ist ein Mythos et cetera.

Immer ist es so, dass der Mythos, wie jede Erzählung, die Unordnung ordnet, und die Erzählung spielt, mit dem Erzähler Alfred Andersch gesprochen, »eine Möglichkeit durch«. So ist es selbstredend vorstellbar, dass in Yucca-Palmen Riesenspinnen wohnen oder die Mondlandung, diese Metapher aller menschlichen Möglichkeit, gar nicht stattgefunden hat. Jede Erzählung verschränkt das Mögliche mit dem Wirklichen, und im besten Fall lesen wir dann eine des früh verstorbenen Autors Wolfgang Herrndorf (»Diesseits des Van-Allen-Gürtels«), in welcher der Erzähler dem Nachbarsjungen erzählt, dass die Mondlandung Erzählung, ein Mythos sei – und stimmt’s etwa nicht? –; im schlechtesten Fall, wenngleich auch recht fantasiereich, essen Migranten Hunde. So ein Zufall ist es nicht, dass Apollon, der griechische Gott der Künste, auch der von Maß und Weisheit ist.

Der Mythos von der stabilen, durchzivilisierten Bundesrepublik geriet zuletzt ins Wanken, schon weil immer mehr Leute, auch junge, den Schatz am Ende des Regenbogens als Sage erkennen und einen neuen Mythos bevorzugen, der leider ein

ganz alter ist. Bei dem Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, für den Wahrheit immer mit Erzählen, nie mit Beschreiben zu tun hat, steht irgendwo, dass die Menschen deswegen nostalgisch sind und ihre gute alte Lederkrawatte zurückhaben wollen, weil sie sich ihrer selbst übers Erzählen, als Erinnern, versichern. Was das alles mit meinen Fotos im Karton zu tun hat? Mindestens so viel, dass sie nicht beanspruchen, ein Mythos oder auch nur ein Teil davon zu sein, Elemente einer Totalität aus erst und dann, weil und obwohl. Wenn es stimmt, dass alles Erzählung, Geschichte, ist, und wenn das fürs Politische, diesem an sich Geschichtlichen, erst recht gilt, ermüden mich die kurrenten – und konkurrenten – Erzählungen immer da, wo sie Stringenz und Absolutheit beanspruchen: Putin ist ein Gangster / Antiimperialist, Israel verteidigt sich nur / betreibt Völkermord, die SPD verrät die Arbeiterklasse / sorgt für den Mindestlohn. Ich will meinen Karton als Metapher nicht überbeanspruchen, aber so unsortiert, wie er ist, erzählt er das, was er zu erzählen hat, jedes Mal anders, was nicht bedeutet, dass er immer etwas anderes erzählt. Das Material bleibt dasselbe,

und je länger mein Leben währt, desto größer wird der Anteil Erinnerung daran, die natürlich ihrerseits Erzählung ist; aber eine, die keine letzte Verbindlichkeit beansprucht, sondern, in aller plänkelnden Konsequenz, eine Möglichkeit durchspielt, und zwar immer wieder neu. Das, möchte ich finden, ist das Intellektuelle, wo nicht das Menschliche selbst, und ist alles andere, ich bitte, nicht ein Mythos?

Apollon ist eine Initiative der Bayerischen Staatsoper.

Apollon ist eine Initiative der Bayerischen Staatsoper.

Mutproben am Herd

Schmeckt digital besser? Apollon hat nachgekocht, was auf Tiktok trendet. Ein Fünf-Gänge-Menü –zum Liken oder Wegklicken?

Onion Ring Chips

Zutaten für ein Blech: drei weiße Zwiebeln, hundertfünfzig

Gramm geriebenen Käse, Paprikapulver, Knoblauchpulver, Backpapier

Zuerst die Zwiebeln schälen und in feine Scheiben schneiden. Etwas geriebenen Käse auf dem Backpapier verteilen, dann mit den Zwiebelscheiben dicht belegen. restlichen Käse darüber verteilen und etwas Paprikapulver und Knoblauchpulver darauf verteilen. Im Ofen bei hundertachtzig Grad Ober- / Unterhitze backen, bis der Käse knusprig ist, das dauert etwa zwölf Minuten.

Bewertung: Die Chips zu essen ist etwa so, wie nur den Deckel einer Lasagne zu verputzen. Can’t go wrong with baked cheese. Viel Umami, wenig Aufwand, frühe Herzattacke.

Green Goddess Salad

Zutaten: einen halben Kopf Weißkohl zwei Salatgurken drei Frühlingszwiebeln

Dressing: eine Handvoll Babyspinat eine Handvoll frischer Basilikum zwei Knoblauchzehen eine Schalotte Saft von zwei Zitronen zwei Esslöffel Cashews drei Esslöffel Olivenöl vier Esslöffel geriebener Parmesan Salz

Pfeffer

Den Weißkohl fein schneiden oder reiben, die Gurken klein würfeln und die Frühlingszwiebeln in feine Ringe schneiden. Für das Dressing alle Zutaten grob geschnitten in einen Blender geben und zu einem feinsämigen Dressing mixen. Weißkohl, Gurken und Frühlingszwiebeln in eine Schüssel geben und mit dem Dressing gut vermengen, bis ein leuchtend grüner Salat entsteht.

Bewertung: Auf Tiktok isst man den Salat mit Taco-Chips, das macht Sinn. Nach zwei Löffeln ist der Salat doch etwas langweilig, ein paar mehr frische Kräuter mehr würden der Sache guttun.

Corn Ribs

Zutaten:

drei frische Maiskolben

zwei Esslöffel Olivenöl

etwas Paprikapulver

Oregano

Knoblauchpulver

Salz

Pfeffer

Chili-Mayonnaise:

drei Esslöffel Mayonnaise zwei gehackte Chilis einen halben Esslöffel Sriracha-Sauce

Die Maiskolben aufrecht stellen und mit einem Messer vorsichtig in Viertel spalten. Die Spalten auf einem Backblech mit Backpapier verteilen. Die Gewürze mit dem Olivenöl vermischen und die Maisspalten damit einstreichen. Bei hundertachtzig Grad für fünfzehn bis zwanzig Minuten knusprig backen. Die Mayonnaise mit den gehackten Chilis und der Sriracha-Sauce verrühren und zu den Maiskolben reichen. Sehr gut passt auch fein geriebener Schafskäse.

Bewertung: Die Corn Ribs sind gut, vor allem als Beilage, aber Superstars werden sie nicht. Käse und Mayo machen aber wie immer alles besser.

Barbie-Pasta

Zutaten:

zwei Knollen Rote Beete, fertig gekocht eine halbe Packung Feta-Käse vier Teelöffel Olivenöl

einen Teelöffel Salz einen Teelöffel Pfeffer hundertfünfzig Milliliter Kokosmilch

Saft einer halben Zitrone dreihundert Gramm Rigatoni

Zum Dekorieren: Cashews frischer Basilikum etwas Feta-Käse

Zuerst die Pasta nach Packungsanweisung kochen, währenddessen alle anderen Zutaten pürieren. Die Nudeln gut mit der Sauce vermengen und mit Cashews, Feta und Basilikum anrichten.

Bewertung: Nicht klar ist, ob die Pasta kalt oder warm serviert wird – kalt kam sie beim Testessen besser an. Die warme Version könnte einen guten Schluck Wodka vertragen. Oder die ganze Runde am Tisch. Die Pasta hat einen hohen Unterhaltungswert, mit Wodka ist sie aber noch sehr viel lustiger, besonders in einer Eins-zu-eins-Ratio.

Smashed Cheese Burger Tacos

Zutaten:

etwa dreihundert Gramm Rinderhack

Salz

Pfeffer

vier Tacos etwas Salat

Burgerkäse, zum Beispiel Cheddar

Burgersauce:

zwei Esslöffel Mayonnaise

einen Esslöffel Ketchup einen Esslöffel gehackte Zwiebel

einen Esslöffel gehackte Gewürzgurken

einen Esslöffel rote Paprika, gehackt einen halben Teelöffel Senf etwas Gurkenwasser

Für die Burgersauce alle Zutaten vermengen und beiseite stellen. Das Rinderhack gut würzen und kneten, dann vier Kugeln formen. Die Kugeln auf den Tacos platzieren und mit einem Spatel oder einem ähnlichen Gerät flach drücken. Die Pfanne vorheizen und die Tacos auf der Fleischseite mit wenig Öl heiß anbraten. Nach etwa drei Minuten wenden und mit dem Käse belegen. Die Sauce und Salat darübergeben, servieren.

Bewertung: Alles an diesem Gericht ist toll: krosses Rindfleisch, geschmolzener Käse und mit den Fingern essen. Mit den richtigen Add-ons ein Knaller – man benötigt definitiv Servietten, aber das ist es eigentlich schon. Ein kaltes Bier ist auch nicht verkehrt, oder Guacamole, oder, noch besser, beides. Und Fritten.

Boiled Egg Chocolate Mousse

Zutaten: drei hartgekochte Eier zwei Esslöffel Backkakao zwei Teelöffel Honig hundertzwanzig Milliliter kalte Milch einen Viertelteelöffel Zimt einen Viertelteelöffel Vanilleextrakt (optional) Schokolade und gehackte Pistazien zur Deko

Alle Zutaten zu einer homogenen Masse mixen, dann in Schüsseln oder Gläser abfüllen und für eine Stunde kühlen. Mit gehackter Schokolade und gehackten Pistazien dekorieren und servieren.

Bewertung: Die Mousse zieht nicht an und erinnert an den Drink von dem Kumpel, der sich bei seinem Bodybuilding in der Massephase befindet – bestimmt toll fürs Fitnessstudio, aber echt kein Dessert. Der Zimt nervt auch noch. Im zweiten Durchlauf haben wir Paradiescreme statt Kakao genommen, dann war es wenigstens eine Mousse, welche aber viel zu stark nach Ei und Zimt geschmeckt hat. Wir haben sie für den Kumpel, der pumpt, aufgehoben.

Club 27: Früher

Tod, ewige Jugend

Was haben Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Jim Morrison und Amy Winehouse gemeinsam? Sie alle beeinflussten die Musik ihrer Generation – und sie alle starben mit siebenundzwanzig Jahren. Über den Mythos des Club 27.

T Danijela Pilić

»Wen die Götter lieben, der stirbt jung«, wusste der griechische Dramatiker Menander und meinte damit zum Beispiel Eurydike, Medausa oder Achilles: ein früher, ruhmreicher Tod, als Folge dessen die Unsterblichkeit ewige Jugend und bis in alle Ewigkeit eine tipptoppbildliche Darstellung garantiert, nämlich immer gesund, jung und schön. Was in der Antike als tragische Wendung oder heroische Entscheidung galt, zieht sich in der Moderne als düsteres wie faszinierendes Phänomen der Popkultur fort: der Club 27.

Zwischen dem 3. Juli 1969 und dem 3. Juli 1971 – einem Zeitraum von ziemlich exakt zwei Jahren –starben vier der einflussreichsten Musiker ihrer Generation, alle im Alter von siebenundzwanzig Jahren, alle eines unnatürlichen Todes. Kann das Zufall sein? Tod mit siebenundzwanzig. In der Blüte ihres Lebens! So viele Jahre hätten sie noch vor sich gehabt. Wer weiß, was sie alles geschaffen hätten. Auch unglaublich: wie viel bedeutende, bewegende, revolutionäre, schöne, wegweisende Musik sie in diesem Alter bereits

geschaffen hatten. Als hätten sie geahnt, dass ihnen nicht viel Zeit auf Erden bleibt. Als hätten sie schon ganz früh gewusst, dass die Götter sie lieben.

DIE MITGLIEDER DES UNHEIMLICHEN CLUBS

Brian Jones war der erste des Clubs. Wem der Name nichts sagt: Er war ein begnadeter Gitarrist, Gründungsmitglied der Rolling Stones und nahm so viele Drogen, dass er immer wieder die Tourneen der Stones durcheinanderbrachte, weil er nicht auftreten konnte, bis er schließlich gefeuert wurde. (Das muss man auch erst mal hinkriegen: so viele Drogen zu nehmen, dass es selbst Keith Richards zu bunt wird.) Am 3. Juli 1969 war er bereits ein Ex-Stone und ertrank im Swimmingpool in seinem Haus in Sussex. Offiziell – denn sein Tod wurde nie ganz geklärt und es scheint möglich, dass er von einem Bauunternehmer, der sich ebenfalls im Swimmingpool befand und mit dem er im Clinch lag, ermordet wurde.

Jimi Hendrix, der wohl legendärste Gitarrist aller Zeiten, erstickte am 18. September 1970 in einem Londoner Hotel an seinem eigenen Erbrochenen. Er war siebenundzwanzig Jahre alt. Seine letzten aufgezeichneten Worte waren: »I need help bad, man«. Das bezog sich auf seinen ausufernden Drogenkonsum; in der Nacht vor seinem Tod hatte er allerdings Rotwein mit Schlaftabletten gemischt. Auch in diesem Fall gibt es glaubwürdige Theorien, die von Selbstmord beziehungsweise Mord handeln.

Janis Joplin starb am 4. Oktober 1970 an einer Heroin-Überdosis im Landmark Motel in Hollywood. Ihr linker Arm wies vierzehn Einstiche auf. Nur drei Tage zuvor hatte sie spontan »Mercedes Benz« a cappella im Studio eingespielt: eine geradezu testamentarische Aufnahme.

Jim Morrison wurde am 3. Juli 1971 tot in seiner Pariser Badewanne aufgefunden, genau zwei Jahre nach Brian Jones’ Tod. Der Frontman der Doors war geradezu besessen von Todesvisionen und hatte seinen eigenen Tod mehrfach vorausgesagt, in Gesprächen mit Freunden, aber auch in Liedern wie diesem:

This is the end

Beautiful friend

This is the end

My only friend, the end

Of our elaborate plans, the end

Of everything that stands, the end

No safety or surprise, the end

I’ll never look into your eyes again

Can you picture what will be?

So limitless and free

Desperately in need

Of some stranger’s hand

In a desperate land

Lost in a Roman wilderness of pain

And all the children are insane

All the children are insane

Waiting for the summer rain, yeah

Der Begriff »Club 27« entstand jedoch erst 1994, als Cobain

Schrotflinte das Leben nahm. Seine Mutter soll daraufhin gesagt haben: »I told him not to join that stupid club.« Mit diesen

Worten verwandelte sich eine Reihe tragi scher Zufälle in einen kulturellen Mythos, der bis heute nachwirkt. Kurt Cobain schoss sich am 5. April 1994 in seinem Ge wächshaus in Seattle eine Kugel in den Kopf. Auch seine Texte waren

voller Verweise auf Depression und Selbstzerstörung. In »Come As You Are« sang er: »And I swear that I don’t have a gun« – Zeilen, die den Mythos nur noch verstärkten.

Amy Winehouse starb am 23. Juli 2011 an einer Alkoholvergiftung. Die vorerst letzte prominente Ergänzung des Clubs thematisierte in ihren Songs ihre Suchtprobleme und selbstzerstörerischen Tendenzen. Auch ihr Tod wirkte wie die Erfüllung ihrer eigenen düsteren Prophezeiungen, die sie in Interviews und Liedern immer wieder geäußert hatte.

Weitere bekannte Namen, die mit siebenundzwanzig Jahren starben: Jean-Michel Basquiat, der geniale Graffiti-Künstler, der 1988 an einer Überdosis starb; Richey Edwards von den Manic Street Preachers, der 1995 verschwand und für tot erklärt wurde; Kristen Pfaff von Hole, die kurz nach Cobains Tod ebenfalls einer Überdosis erlag. Alle vereint durch das Alter bei ihrem Todes und die Intensität ihres

ten mit einer Intensität gelebt und gearbeitet, als hätten sie gewusst, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Ihre Songs wurden posthum zu Ab schiedsbriefen. Sie kondensierten ganze Lebensspannen in wenige Jahre höchster kreativer Aktivität. So schufen sie ihren eigenen Mythos. Insofern gehören sie vielleicht zu Recht in einen Club der ganz wenigen Auserwählten.

MYTHOS UND JUGEND: DIE EXPLOSIVE VERBINDUNG

Das Faszinierende an den Mitgliedern des Club 27 ist, dass viele von ihnen ihren frühen Tod in ihrer Musik thematisierten, als hätten sie eine dunkle Vorahnung gehabt. Morrison war obsessiv von der Nähe zwischen Eros und Thanatos fasziniert und sprach in Interviews immer wieder über den Tod. Cobain sang vom Schmerz des Daseins und der Sehnsucht nach Erlösung. Winehouse sagte »No, no, no« zu Rehab und machte ihre Selbstzerstörung zum zentralen Thema ihrer

Und: Die Clubmitglieder hat-

Der Begriff des Mythos ist hier zen tral. Ein Mythos stiftet schließlich kollektive Bedeutung und transpor tiert emotionale Wahrheiten, die jen seits empirischer Fakten liegen. Der Club-27-Mythos verbindet die archaische Vorstellung vom frühen Tod der Auserwähl ten mit der spezifisch modernen Obsession für ewige Jugend. Denn Jugend wird nicht nur als Lebensphase, sondern als Zustand der Möglichkeit verstanden. Sie symbolisiert Authenti zität, Rebellion, ungezähmte Kreativität und eine Art existenzieller Reinheit. Die Jugend ist der Ort, an dem Träume noch nicht von der Realität korrumpiert wurden, an dem die Kunst noch nicht dem Kommerz geopfert wurde. In dieser Logik wird der Tod mit siebenundzwanzig zur perfekten Vollendung: Man stirbt auf dem Höhepunkt der kreativen Potenz, bevor die Desillusionierung einsetzt.

DAS GEGENBILD: DIE ÜBERLEBENDEN

Richtig interessant wird der Mythos erst im Kontrast zu denen, die überlebten und alterten. Nehmen wir etwa Marlene Dietrich, die große Diva des 20. Jahrhunderts, die sich in ihren letzten Jahrzehnten vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. »Ich wurde zu Tode fotografiert«, antwortete sie Maximilian Schell, als er sie für seine Dokumentation nur auf Tonband aufnehmen durfte. Ihre Tochter Maria Riva erklärte später: »Sie hatte es einfach satt, Marlene Dietrich zu sein.« Ähnlich erging es Greta Garbo, die bereits mit sechsunddreißig Jahren ihrer Filmkarriere den Rücken kehrte

und fortan als Einsiedlerin in New York leb

te. »I want to be alone«: Dieser Satz aus »Grand Hotel« wurde zu ihrem Lebens motto.

Diese Frauen wählten den sozialen Tod, um dem physischen zu entgehen. Sie ver standen intuitiv, was die Mitglieder des Club 27 nicht begriffen: dass der Mythos der ewi gen Jugend ein Käfig ist, aus dem es nur zwei Ausgänge gibt – den Tod oder die Verweigerung.

DER MYTHOS ALS KULTURELLE DROGE

Der Club 27 ist ein Symptom unserer Zeit. In einer Kultur, die Jugend fetischisiert und Altern pathologisiert, wird der frühe Tod zur letzten authentischen Geste.

Und das zeigt auch, wie toxisch dieser Mythos ist: Er romantisiert die Selbstzerstörung und suggeriert jungen Künstlern, dass wahre Kunst nur durch Leiden entstehen kann. Er ignoriert die banale Wahr heit, dass die meisten großen Künstler der Geschichte ein langes, produktives Leben führten: von Patti Smith bis Louise Bourgeois, von Michelangelo bis Pablo Picasso, von Marina Abramović bis Montserrat Caballé, von Johann Sebastian Bach bis Giuseppe Verdi, von Joni Mitchell bis Georgia O’Keeffe, von Gerhard Richter bis Johann Wolfgang von Goethe.

Dennoch übt der Club 27 weiterhin eine ungebrochene Faszination aus. Vielleicht weil er in einer Welt der Beliebigkeit und Austauschbarkeit das Versprechen absoluter Bedeutung macht. Seine Mitglieder sind Märtyrer der Kunst, die ihr Leben für die Musik und auch ihren Lifestyle opferten: So zumindest will es der Mythos.

Die Wahrheit ist prosaischer und tragischer zugleich: Es waren junge Menschen mit enormem Talent und ebenso enormen Problemen. Ihr früher Tod hat nichts Poetisches an sich. Dennoch werden wir sie immer nur als junge Menschen in Erinnerung behalten. Keine alte Amy Winehouse wird auf Tiktok je peinlich sein, kein plautzbäuchiger Kurt Cobain seine Midlife-Crisis öffentlich ausleben. Und so wirkt der Mythos weiter, weil er etwas Grundmenschliches anspricht: die Sehnsucht nach Bedeutung, nach einem Leben, das mehr sein möge als die Summe seiner Tage. »Wen die Götter lieben, der stirbt jung« wird zur tröst lichen Lüge, die wir uns erzählen, um den Tod junger Menschen mental zu verknuspern und ihm nachträglich zumindest etwas Sinn zu verleihen.

Der westafrikanische Popstar DJ Arafat hat durch die Sotramas – mit seinem Konterfei bestückte Kleinbusse – eine Art Heiligsprechung seit seinem Tod erfahren.

»Mama« ist der Künstlername des Sängers Mamadou Sanogo, einem Waisenkind und ehemaligen Sotrama-Schaffnerjungen.

Ein weißes Pferd gilt als Glücksbringer und Träger positiver Energie.

Der Busfahrer Sidiki hat sich selbst neben einem von ihm verehrten Religionsführer, Cheikh Bouyé Haidara, darstellen lassen.

Oft werden politische Figuren nach einem Stimmungsumbruch in der Gesellschaft übermalt. Ein früherer François Mitterand kann so zu Wladimir Putin werden.

»Le Boukantier« ist eine Ehrerbietung für einen großen Anführer wie hier für Cherif de Niono, eine hohe muslimische Persönlichkeit.

al-Gaddafi gilt in Mali als panafrikanischer Held. Er

viel in Malis Infrastruktur investiert und auch das jetzige Regierungsviertel bauen lassen.

Muammar
hat

Viele Chauffeure schreiben in großen Buchstaben ihre Initialen auf die Hecktür.

Die Fotografien des malischen FotoKollektivs Yamarou dokumentieren die Welt der Sotramas von Bamako. Wie kein anderes Verkehrsmittel prägen die bunt bemalten Kleinbusse die pulsierende Hauptstadt von Mali in Westafrika. Benannt nach der Societé du Transport Mali, verkörpern sie ein faszinierendes kulturelles Phänomen. Von Busmalern kunstvoll gestaltet, ist jeder Sotrama ein Unikat und erzählt seine eigene Geschichte. Die Bemalungen stellen nicht nur mythologische Figuren aus Pop, Politik, Sport und Religion dar, sondern auch homegrown heroes, umrahmt von symbolischen Verzierungen und kommerziellen Logos. Auch Lebensweisheiten und Danksagungen zieren die Karosserien und bilden so ein aktuelles Bild der gesellschaftlichen Haltungen und Trends in Mali. Die Sotramas sind rollende Kunst und Stimmungsbarometer zugleich. Im Museum Fünf Kontinente in München sind aktuell und bis zum 16. November 2025 circa hundertfünfzig Fotografien von Seydou Camara, Monique Dena, Abdoul Karim Diallo, Sidiki Haidara und Anna N’Diaye unter dem Namen Merci Maman ausgestellt.

Niemand liebt überlieferte Dichtungen mehr als die Welt der Mode. Was wäre der taschengewordene Mythos Kelly Bag von Hermès ohne die Aufladung mit einer eindrucksvollen Geschichte von Inspiration und Handwerk? Einfach nur Leder. Zeit für einen Reality-Check.

Der Stoff, aus dem Träume sind T Julia Werner ein einsamer, unberechenbarer Wahnsinniger gewesen. Sondern ein Dirigent. Ohne Team, ohne das Atelier, ohne Produktion und ohne Marketing wären Skizzen, egal wie schön, Kritzeleien. Eine Skizze ist noch nicht einmal ein Entwurf. Eine Skizze ist nicht mehr als ein Funke, der überspringt. Auf Menschen, die Schnitte machen, auf Menschen, die Stoffe einkaufen, auf Schneider:innen. Dass Mode im Kollektiv entsteht, wurde bis jetzt so gut wie nie erzählt, es war Pierpaolo Piccioli, bis zum vergangenen Jahr Designer von Valentino, der seine »petites mains«, also die Haute-CoutureSchneiderinnen, die mit ihrem einzigartigen Know-how das Unmögliche möglich machen, auf Instagram und auf dem Laufsteg namentlich feierte. So wenig Ego ist selten in einer Industrie, die das Märchen des Einzelkämpfers braucht, um die Idee der Einzigartigkeit zu verkaufen. Das schöpferische Individuum, das keine göttliche Einflüsterung benötigt – es ist eine Erfindung des Humanismus. Die Modeindustrie hat den Kult um ihn so perfektioniert wie keine andere. Deswegen wird so ein Wahnsinnsaufheben um all die Neubesetzungen bei den Megalabels gemacht: Bei Chanel tritt Matthieu Blazy an, bei Dior JW Anderson, und Gucci wird Demna Gvasalia übernehmen, der von Balenciaga kommt. Dort ersetzt ihn der hochtalentierte Pierpaolo Piccioli. Aber wahrscheinlich ist der zu ehrlich, um ein ganz Großer zu werden.

MYTHOS ZWEI: HANDWERK ALS KUNSTFORM

MYTHOS EINS: DER GENIALE DESIGNER Beginnen wir mit der beliebtesten Figur der Modewelt: dem genialen Designer. Ganz alleine zaubert er aus dem Nichts Kollektionen. Mit Stiften, nein Zauberstäben, skizziert er seine Vision, seine Larger-than-life-Persönlichkeit sorgt für Bonmots, die später auf Kaffeetassen stehen, und auch für ein bisschen Angst bei allen, die für ihn arbeiten. Das Bild ist vertraut, geschaffen von den großen Kreativen ihrer Zeit: Yves Saint Laurent, Giorgio Armani, Gianni Versace und, natürlich: Karl Lagerfeld. Es ist ein vollkommen falsches. Denn in Wahrheit ist der Modedesigner nie

Nicht minder beharrlich hält sich der Glaube ans Handwerk. Modehäuser zeigen auf Insta und Co. alte Damen in weißen Kitteln, die Perlen auf Tüll sticken, arbeitende Männerhände, die Lederteile zusammennähen, kurz: Leute, die mit Liebe ihrer Arbeit nachgehen. Handarbeit, so die Botschaft, stirbt überall aus, nur wir halten alte Traditionen am Leben. In dem Sachbuch »Bereicherung. Eine Kritik der Ware« sezieren die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre diesen Bullshit aufs Allerunterhaltsamste: Bei heutigen Luxusprodukten haben wir es demnach mit Serienware zu tun, die mittels getunter Aura zu Sammlerstücken stilisiert wird. Luxusgüterfirmen wie LVMH und Kering setzen auf den Handel mit Produkten, die hohe Gewinnspannen besitzen – und einen Marken-

namen, der in der Vergangenheit von Ländern verwurzelt ist, deren Lebensstil zum Kulturerbe erhoben wurde, Italien und Frankreich zum Beispiel. Bei diesen Produkten handle es sich entweder um solche, die gesammelt werden können (Wein, Schmuck, Uhren), oder um Standardprodukte, die einen Sammlereffekt hervorrufen, wie Kleidung und Accessoires. Fakt ist: Der größte Teil der Produktion findet heute in Fabriken statt, mit standardisierten Prozessen. Ehrliches Handwerk wäre es, wenn eine einzige Person eine Tasche herstellt. Aber »Made in Italy« ist nur noch ein Etikett, für dessen Legalität es reicht, wenn dreißig Prozent der Arbeitsschritte in Italien getätigt wurden. Bei einem Paar Schuhe reicht das Etiketteinkleben und das Verpacken in einer Schachtel. Und so sind die wenigen Ledermanufakturen und Haute-CoutureAteliers, die es noch gibt, nur noch Bühnen, auf denen sich Massenware – Taschen, Düfte, Sonnenbrillen – gut dramatisieren lassen.

MYTHOS DREI: MODE UND MORAL

In den vergangenen Jahren hat die Modebranche sich ein neues Gewand übergeworfen, gewebt aus moralischer Verantwortung, Toleranz und Nächstenliebe. Alle sind auf dem Weg zur Nachhaltigkeit. Alle sind divers und inklusiv. Und mit Russland macht man keine Geschäfte. Schöne Märchen! Das einzige große Luxuslabel, das sich seriös der Nachhaltigkeit verschreibt, ist Stella

McCartney. Von den meisten anderen hört man zum Thema, das vor ein paar Jahren mal Lieblingsmarketingtool war, nur noch sehr wenig bis nichts. Die Models mit halbwegs normalen Körpermaßen, die auf dem Höhepunkt der Woke-Welle überall die Laufstege bevölkerten, sind längst wieder verschwunden, Models sind wieder so klap perdünn – und meistens weiß – wie in den neunziger Jahren. Und in den Reichenvierteln von Moskau? Bleibt die Verzweiflung über harte Sanktionen wegen des Angriffs auf die Ukraine auf magische Weise aus. Zwar zogen sich die großen Luxuskonzerne mit großer Geste kurz nach Kriegsbeginn aus dem russischen Markt zurück. Aber nur offiziell. Die Financial Times berichtete Ende vergangenen Jahres über eine Schattenwirtschaft, die europäische Luxusware nach Russland bringt. Wie? Da wären zunächst die Drittanbieter. Im Jahr 2024, so die Financial Times, gelangte eine Lieferung mit dreihundert Bottega-Veneta-Taschen nach Moskau – über China. Dann wären da noch die sogenannten Buyer, die in Mailand und Paris regelmäßig in die Shops gehen und nach Auftrag Luxusware kaufen. Die Luxuslabels müssen offiziell dafür geradestehen, wenn eines ihrer Produkte auf dem russischen Markt auftaucht, egal auf welchem Wege. Tun sie aber nicht. Stattdessen warten sie darauf, dass es bald endlich weitergehen kann: Die wenigsten haben ihre Ladenlokale in Moskau aufgegeben, sondern diese nur vorübergehend geschlossen.

MYTHOS VIER: MODELEUTE SIND FEINGEISTER

Bernard Arnault, einer der reichsten Männer der Welt, zu dessen Konzern Hotelketten, Weingüter, Schmuckfirmen und die wohlklingenden Namen Dior und Louis Vuitton gehören, war früher schnöder Immobilienunternehmer. Und sein Konkurrent François Pinault, dem der andere große Luxuskonzern Kering und damit Marken wie Gucci, Saint Laurent und Bottega Veneta gehören, Holzhändler. Aber jetzt spielen sie sich als Kunstmäzene und Feingeister auf. Dabei haben beide nur zum richtigen Zeitpunkt auf das Geschäft mit dem Schönen umgesattelt. Trotzdem wollte die Welt daran glauben, dass sie die Welt zu einem schöneren, erleseneren Ort machen wollen. Bis Arnault mit der ganzen Sippe

zu Donald Trumps Vereidigung reiste. Mode im Jahr 2025? Ein eiskaltes Geschäft.

MYTHOS FÜNF: DIE SOGENANNTEN STILIKONEN

In der Mode klingen keine Namen mythischer als Chanel und Dior. Gabrielle »Coco« Chanel und Christian Dior. Man feiert die beiden als Revolutionäre, welche die Leben der Frauen verändert hätten, Coco Chanel mit ihren Jersey-Kleidern ohne Korsett im JetsetÖrtchen Deauville, Dior mit dem »New Look«. Es ist gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche der Mode, dass sie den Begriff Stil wirklich nur an der Oberfläche festmacht, nicht etwa an einem Gesamtbild aus Manieren, großem Herzen oder Bildung. Das ist der Grund dafür, dass heute Influencer mit der Vermarktung von Luxusmode Millionen verdienen, sich an Dinnertischen aber aufführen wie Bud Spencer vor einer Pfanne Bohnen.

Und das erklärt gleichzeitig, warum Chanels und Diors ästhetische Verdienste bis heute überlebt haben, die dunklen Kapitel aber gern übersehen werden. Während der deutschen Besatzung Frankreichs war Coco Chanel mit einem SS-Offizier liiert, lebte im Pariser Ritz – zur damaligen Zeit Hauptquartier der Wehrmacht –und versuchte, ihr Parfumgeschäft, das sie zuvor jüdischen Partnern verkauft hatte, mit einer Prise Antisemitismus zurückzubekommen. Nach dem Krieg floh sie in die Schweiz, und ihre Rückkehr in die Modewelt 1954 war keine triumphale Heimkehr, sondern ein sorgfältig orchestrierter Image-Restart, unterstützt von der Familie Wertheimer. Und was wissen wir eigentlich über Christian Dior? Nichts, außer, dass er der Retter der französischen Mode nach dem Krieg gewesen sein soll, weil er den »New Look« erfand. In Wahrheit war der ja schon damals alles andere als neu, eigentlich steinalt: ein nostalgischer Rückgriff auf Korsetts, Wespentaillen und hilflose Weiblichkeit. Revolutionär war daran – bis auf den exorbitanten Stoffverbrauch in Nachkriegszeiten – nichts. Aber schön, ja, das war er natürlich trotzdem. Wofür stehen Chanel und Dior heute? Für eine ikonisierte Pariser Eleganz, in der sich amerikanische Touristinnen auf dem Paris-Trip verkleiden.

Was also bleibt nach diesem nüchternen Blick auf die Mode? Ein leeres Geschäft, ein hohles System? Exakt. Und die Wahrheit: Mode ist nicht ehrlich. Und das muss sie auch nicht sein. Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft, ein Ort der Projektion. Sie lebt von Widersprüchen, Bildern, Träumen. Entscheidend ist nur, dass wir die Mode als das anerkennen, was sie auch ist: eine Erzählung.

Das macht sie zutiefst menschlich, denn auch das gehört zur Wahrheit: Ohne Geschichten, ohne Wünsche und Träume könnte die Menschheit nicht leben.

Ich fuhr mit dem Zug nach Schweden, wir waren pünktlich, bis die Grenzleute viel zu laut und viel zu früh an den Schlafwagen pochten und ich herausfiel aus dem Bett und nicht mehr hineinfand. Ich empfehle Menschen, mit mir zu reisen. Die Deutsche Bahn, in der ich reise, kommt nicht zu spät. Ich empfehle überhaupt, vor dem Einsteigen »Verkehrte Welt« zu spielen und erst wieder aufzuhören, wenn Sie ausgestiegen sind. Sie kennen das von Ihren Kindern: Alles, was geschieht, wird dabei umgekehrt. Und Sie gucken einfach zur Abwechslung mal liebevoll auf diese Welt. Im Zug ist es leicht. Die Menschen reden im Zug miteinander, nirgendwo sonst reden sie so miteinander, Koffer hochhelfen, Stecker rankommen, JenaParadies kennen, QR-Code größer ziehen, sie reden kreuz und quer, und Reden, das steht fest, ist eine hervorragende Erfindung. Piccolo-Omi redet mit Heimwegsoldaten, redet mit Mutti mit dampfenden Wollsocken, redet mit Bauchfrei, redet mit Handybanker, redet mit »Kaffee? Snacks?«. Wo gibt’s denn so was noch? Am meisten reden und witzeln die Menschen, wenn die Verspätungsdurchsage kommt. Wenn sie gut ist, die Durchsage, lachen sie richtig. Bald teilen sie Leberwurstschnitten. Irgendwann Decken, Schuhe, Deos, dicke Ladekabelstecker, weil die Steckdosen viel zu ausgeleiert sind für die leichten Handydinger, viel zu ausgeleiert und viel zu voller Hautschuppen. Je länger es dauert, desto mehr Lachen und Teilen und Verschwören. Würde man sie ewig drin lassen, im stillstehenden Gang des Toilettendufts, sie würden anfangen, sich aus den Deckelfolien der Chili-sin-carne-Boxen Alu-Hüte zu basteln und sich alle gemeinsam mit einem neuen Schnupfen-Virus anstecken, gegen den eh keine Impfung mehr hilft, sie würden Gedichte schreiben und die Nibelungen neu erfinden mit Piccolo-Omi als Brunhild und Handybanker heißt eh Günther, eines Tages würde man sie finden, vielleicht die letzten Überlebenden, weil kein Fenster mehr zu öffnen ist in so einem Zug und das kann, das wird auch ein Vorteil sein.

Wir halten uns, wir alle, aus Prinzip, viel zu lange mit der Deutschen Bahn auf, jetzt ist es schon wieder passiert, wir sollten weiter, gibt ja mehr Infrastruktur, die hierzulande zu Grabe getragen werden darf. Über Preise möchte ich nicht reden, Schoko-Preise, Restaurantprei-

se, Mietpreise, Reisepreise, Sockenpreise, die Preise haben eine Meise und eigentlich ist nur Fliegen noch immer richtig billig, für den Heimweg aus Stockholm stieg ich in ein Flugzeug, weil es nicht anders ging, haha, das sage ich jetzt auch wieder, »weil es nicht anders ging«, nach fünf Jahren ohne Flugzeug, aber für das Klima, ich dachte, ich wär Avantgarde, aber jetzt bin ich einfach nur die Dumme, weil die Klima-Krise ist doch vorbeigegangen, wer hätte das gedacht. Die Dürre, das ist die Dürre der anderen. Sechzig Euro hat das Flugzeug von Stockholm nach Hamburg gekostet, dreißig hab ich noch mal am Flughafen für einen Salat mit Granatapfel ausgegeben. Wenigstens Salat. Ah, Salat: Da haben wir den Salat. Wir haben jetzt also eine Welt, in der nix mehr einfach ist, und was machen wir daraus? Richtig, nix. Nix mehr machen, weil nix mehr einfach, immerhin Handy, da kann man nix falsch machen oder der andere sieht nix, was man Falsches macht. Greta Thunberg segelt nach Gaza, weil alles am Arsch ist in Gaza, weil die Bilder einen killen und nix zu machen für jemanden wie Greta nix geht. Und dann sitzt man am Handy und googelt die Mitreisenden und findet Thiago, Lagerfeuergitarrenskills drei minus, der im Februar auf der Beerdigung von Hassan Nasrallah weinte und um einen Hisbollah-Chef zu weinen ist nix gut, das weiß jede, und deswegen muss man auch nix machen, wie Greta das macht. Wie viel Augenzu darf Protest? Wie viel Augenzu ist es, nicht zu protestieren? Warum finden wir, also wir Schlauen, wir Elite, wir Zeitungsleserinnen und Operngänger, wir Zähnebleicherinnen und Hochschulabgänger und Gemeinsames-Haushaltskonto-Besitzerinnen, wir gesittetes Publikum, dass wir wissen, wo die roten Linien verlaufen, wo man sitzen bleiben darf und sich abgrenzen und skeptisch den Kopf schütteln und weiteressen? Oder wo man genau das tun muss? Oder wie naiv darf ich sein? Ich weiß nix. Ich kann nur Demo, wenn niemand was singt, was ich scheiße finde. Deswegen demonstriere ich nicht. Das ist kein Serientitel, das ist Deutschland. Das Land der Dichter und Verrenker. Ich höre zweiunddreißig Podcast-Folgen »Über Israel und Palästina sprechen« und habe doch nichts verstanden. Ich weiß, diese Ausrede ist billig. Einmal ging ich im Wald spazieren und es war Frühsommer, aber es war schon sehr grün und in einer Lichtung begegnete mir mein

Großvater. Mein Großvater war Nazi, er blieb auch Nazi, als das Dritte Reich vorbei war, und als ich achtzehn wurde, schenkte er mir ein NPD-Zeitungs-Abo zum Geburtstag und die guckte aus unserem Briefkasten in unserem Wohnhaus im Münchner Speckgürtel heraus. Aus einem von all den vielen Briefschlitzen blitzte die Parteizeitung und meine Mutter rastete aus und dann wurde wieder nicht über Politik gesprochen. Letztens fragte mich mein Sohn, der jetzt auch bald achtzehn ist, warum der Uropa, von dem ich erzählte, dass er mir erzählte, nicht ohne Stolz, dass er im Wald im Krieg Menschen erschossen hatte, warum dieser Uropa nicht im Gefängnis war, fragte der Sohn, weil wenn man jemanden ermordet, dann kommt man ja ins Gefängnis, lebenslänglich, so ist es doch. Ich versuchte, es zu erklären, und erklärte es nicht, weil was gibt es da zu erklären, es ist nicht erklärbar, es ist eigentlich, ach, uneigentlich ein Abgrund. Diesem Großvater begegnete ich nun in der Waldlichtung. Er saß da auf einem schlichten Holzstuhl, so wie man sie aus dem Wirtshaus kennt, unter der Sitzfläche dieses Holzstuhls ist ein Hakenkreuz eingraviert, ich weiß das, ich kenne diesen Stuhl, er stand bei den Großeltern im Keller und als Kinder sind wir immer Hakenkreuze gucken gegangen in diesen Keller. Der Großvater will etwas sagen, er öffnet den Mund, immer wieder, aber es kommen keine Laute heraus. Er sieht mich, ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkennt, aber ich übergebe mich trotzdem, neben eine Eiche, natürlich. Ich mochte das schwarze Brot, das sie Pumpernickel nannten, nie. Sprechen wäre nicht schön gewesen, aber es wäre gewesen. So ist nichts gesagt und alles in mir. »Meine palästinensischen Freunde sind alle am Ende / Meine jüdischen Freunde, sie trauern mit Ängsten / Meine kurdischen Leute sind dauernd am Kämpfen / Meine Schwarzen Freunde suchen immer noch Verständnis / Alle anderen Freunde sind irgendwo dazwischen. Wir fühlen das gleiche, doch trauern im Stillen / Mir fällt das Lachen schwer, uns geht es allen beschissen / Ja, uns geht es allen beschissen« singt Ebow, die Große, in ihrem Song »Free«. »Sie sagen nie wieder / Doch es passiert wieder«.

Ich höre diesen Song im Zug mit den teuren neuen Kopfhörern und es gibt nichts Schöneres, als Zug zu fahren und diesen Song zu

hören. Okay, Hoffnung, zum Schluss, das wollen sie alle. Die Chefinnen, die Redakteure, die Lesenden, das Publikum, die Kinder, die Tiere, ja sogar der Hund will vielleicht Hoffnung. »Was macht Ihnen Hoffnung?« ist keine Frage, es ist eine Panikerklärung, Hoffnung ist ein Verb, würde Greta sagen, ich sage, nimm Mut statt Hoffnung, Mut kannst du selbst. Mut ist Angst plus Bewegung. Aber wohin, wohin bewegen wir uns? Und wenn sich alle immer weiter in verschiedene Richtungen bewegen, treffen wir uns dann irgendwann wieder? Ist das garantiert?

Ein weiteres Beispiel für die menschliche Fähigkeit,

Ein weiteres Beispiel für die menschliche Fähigkeit, alles zu

Weißt du auf die Frage, ob du eher so eine Typ-A- oder Typ-BPersönlichkeit bist, eine Antwort? Nein? Nicht so schlimm. Nimm dir jetzt nur zehn Minuten für unseren Persönlichkeitstest, um in Sachen Selbstreflexion ganz nach vorn zu kommen, denn Ordnung ist das halbe Leben. Oder?

T Lili Ruge

Du gehst emotional all-in und schreist direkt los: »Und ikonisch ist ein Möbelstück von Ikea, oder wie?«

Du nickst langsam und schreibst in Gedanken einen Bluesky-Post darüber, dass wir uns seit Prometheus eigentlich nur zurückentwickelt haben.

Du fragst: »Du meinst, wie ›Herr der Ringe‹?«

Du antwortest kühl: »Und du bist einfach nur Agamemnon mit Gorecore-Outfit.«

Sich in der Badewanne in eine antike Göttin reinfühlen.

Jemandem ungefragt erklären, warum »Star Wars« eigentlich eine moderne »Ilias« ist.

Das mit Dionysos zwischen Donnerstag und Sonntag.

Montags ein Meme aus einer besonders lächerlichen mittelalterlichen Basilisken-Darstellung posten und auf Likes hoffen.

dem Daily-Podcast der New York Times und extrem nischigen Ambient-Songs. Aber die lässt du nur für die Ästhetik auf stumm laufen.

der Music-to-study-to-Playlist, denn du hast zwölf Aufgaben, einen Burn-out und trotzdem heute schon zehntausend Schritte hinter dich gebracht.

Du hast kein Spotify, du hörst nur Vinyl.

zwanzig Prozent Brecht-Discographie und irgendwas von Björk, achtzig Prozent Sabrina Carpenter, »Espresso«. die Gegenwart.

dass man jetzt immer »Verschwörungsmythen« sagt statt Verschwörungstheorien.

dass man auf Tinder geghostet wird, sobald man durchblicken lässt, dass man auch nur weiß, was ein Labyrinth ist. der Trojaner in deinem Mailpostfach.

Zwei Reclam-Hefte und ein Monatsvorrat Kaugummis.

Welche Tasche? Ich habe eine Hose und das war’s.

Persephone – ambivalent und grad schon wieder in einer schwierigen Übergangsphase.

Hermes – immer unterwegs, nicht immer mit guten Neuigkeiten.

Sisyphos – aber mit Podcast-App und Airpods.

Echo – aber es läuft echt gut, die Jokes auf Tiktok für Instagram zweitzuverwerten.

Ein völlig verknicktes Programmheft, das du irgendwann mal zu deiner Persönlichkeit machen wolltest, sieben geklaute Kugelschreiber und Kippen.

Geldbeutel, Lippenstift, Handy, Schlüssel, ein faltbares Ringlicht für alle Fälle.

Auswertung: Das ist deine Persönlichkeit, spätestens jetzt (Ach übrigens: Deine Antworten zählen nicht. Alles ist Mythos.)

Du bist die Mutter allen Dramas und snappst schneller mit dem Finger, als dein Gegenüber »übertreiben« sagen kann. Das macht dich zwar nicht zu einem:r angenehmen Zeitgenoss:in, aber definitiv zu einer unterhaltsamen. Es kann aber auch anstrengend sein, andere ständig verbal auf Abstand zu halten. Lass andere auch mal wissen, wie es dir geht, und du wirst merken, dass du mit deinen Gefühlen nicht allein bist.

Girl / Boy, hör auf, diesen Stein den Berg hochzurollen. Hast du schon mal vom Konzept Müßiggang gehört? In deinem Kopf läuft ständig ein Podcast und du bist gleichzeitig Host, Gast und der Werbeblock. Stell da bitte jetzt mal einen Sleep-Timer und konzentrier dich auf die wichtigen Dinge im Leben: das Reflektieren von Privilegien.

Obwohl du unser:e wichtigste:r Krieger:in bist, vergräbst du dich bei jeder Gelegenheit selbstmitleidig auf dem Sofa. Du meinst nichts wirklich ernst, aber wunderst dich, warum dich niemand mehr ernst nimmt. Sich ständig auf einer ironischen Haltung auszuruhen, hat dich träge gemacht. Was du brauchst, ist eine Generalüberholung: Zersäge jetzt deinen Lehnstuhl, tue deinem gekränktem Ego etwas Gutes und lerne dann, andere Menschen als dich selbst zu respektieren.

Glückwunsch. Du bist schön, schlau und einfach das Beste, was dieser Welt je passiert ist. Verschwende den Platz an deinen Wänden nicht mit Bildern. Häng dir lieber Spiegel auf. Du wirst diese Welt verändern und das ist wirklich nicht pathetisch gemeint. Es ist uns allen eine Ehre, gleichzeitig mit dir am Leben zu sein.

Las Vegas ist eine Stadt aus Licht, Zeichen und Versprechen. Das diagnostizierten zumindest 1968 die Architekt:innen Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour. Ihre Studie »Learning from Las Vegas« war eine Provokation, ein Frontalangriff auf die ästhetische Moral der Moderne, und spaltete die Disziplin. Zugleich war der Ansatz ein demokratischer Akt: Architektur wurde nicht mehr exklusiv im Vokabular der Fakultät gedacht, sondern im Alltag, auf der Straße, im Neonlicht. Die Stadt wird auf diese Weise zum Feld konstruierter Kommunikation deklariert, in dem Bedeutung die Form und Oberfläche die Struktur ersetzt. Aus Räumen werden grafische Hierarchien, banale Baukörper wie etwa ein Kasino, erlangen erst durch Leuchtschriften ihren Stellenwert. »Learning from Las Vegas« war auch ein Statement zur Rolle der Architekt:innen: Das formgebende Genie weicht dem aufmerksamer Ethnograph:innen.

Über die Jahre wurde der »Strip« in Las Vegas zum Symbol für eine Gesellschaft, in der Kommunikation und Konsum, Spektakel und Mobilität, Oberfläche und Identität nicht mehr voneinander zu trennen sind. Und im Rückblick – so im Kompendium »Eyes That Saw. Architecture after Las Vegas« (2020) vielstimmig untersucht – zu einer Art »archäologischer Grabung« im kulturellen Gedächtnis des Kapitalismus. Darin beschreibt beispielsweise der Künstler Peter Fischli seine Reise nach Las Vegas als Konfrontation mit einer Welt, in der alles bekannt wirkt – aber gleichzeitig überzeichnet, geradezu halluzinatorisch. »Man bekommt alles, was man kennt, aber in größer, bunter, unechter und emotional aufgeladener Form.« Diese Erfahrung verbleibt jedoch nicht bloß im ironischen Zitat. Vielmehr behauptet sich in der Neuformulierung inmitten der Wüstenlandschaft von Nevada eine eigene, neue Materialität. Mit Auswirkungen. In Fischlis Erzählung wird die Stadt selbst zum halluzinogenen Zustand – eine Architektur, die weniger gebaut wirkt als geträumt. In »Fear and Loathing in Las Vegas« schildert Hunter S. Thompson die Kasinos nicht als Räume, sondern als psychotrope Maschinen: »Das war kein Ort für Menschen mit

schwachen Nerven – oder auch nur einem Rest von Realitätssinn.«

Was Fischli als Überwältigung erlebt, wird bei Thompson zur Totalauflösung der Wirklichkeit. Beide beschreiben – aus unterschiedlichen Blickwinkeln – dasselbe Phänomen: Las Vegas ist keine Stadt, sondern ein Zustand intensiver Fiktion. Ein Ort, an dem Zeichen nicht mehr auf etwas verweisen, sondern selbst zur einzigen Realität werden.

Inzwischen hat Las Vegas diese Logik perfektioniert: Es ist nicht nur ein Feld von Zeichen, sondern eine Stadt aus Simulationen.

sind als ihre Fakten. Las Vegas ist genau das: ein urbaner Mythos, der nicht erklärt, wie die Welt ist – sondern wie sie rezipiert und genutzt wird. Der Philosoph Ernst Cassirer schrieb, der Mensch sei ein symbolisches Tier – ein homo symbolicus. Las Vegas wird diesem Wesen gerecht: nicht durch Formen, sondern durch Zeichen. Nicht durch Substanz, sondern durch Sichtweisen.

Der Eiffelturm, die Pyramiden, Venedig mit künstlichem Himmel – all das sind nicht Zitate, sondern vollständige Aneignungen. Die Aura des Originals wird durch Erlebbarkeit ersetzt. Die Frage nach Echtheit weicht der Frage: Funktioniert es emotional? In Las Vegas ist »Venedig nicht mehr Geschichte, sondern Spektakel«, so der Kunsthistoriker Stanislaus von Moos, ein Ort, der sich nicht mehr durch seine Vergangenheit legitimiert, sondern durch seine Wirkung im Jetzt. Die Gondel im Hotel Venetian wäre demnach keine ironische Geste, sondern eine ernst zu nehmende Dienstleistung: das Versprechen, für einen Moment Teil einer idealisierten Welt zu sein – unter blauem Kunsthimmel, perfekt temperiert. Der Erlebnisraum Las Vegas wird damit zum Vorgriff auf das Zeitalter der digitalen Reproduktion. Ihre Fassaden verhalten sich wie drei dimensionale Interfaces – inklusive User-ExperienceDesign in Stahl, Licht und Beton. Dabei lehrt Las Vegas nicht, wie man bauen soll, son dern eher, wie man sehen kann. Lehrt, wie man darauf hören kann, was eine Gesellschaft wirklich braucht – oder besser: wovon sie träumt. Venturi, Izenour und Scott Brown haben die Grundlagen geschaffen, Architektur als Lesen zu begreifen. Darin liegt die Lehre des »Strip«: dass architektonische Werke eben nicht nur gebaut, sondern auch erzählt werden. Dass Gebäude nicht (nur) aus Beton bestehen, sondern aus Bildern, Bedeutungen und Affekten. Auf diese Weise trifft Architektur – gerade in ihrer widersprüchlichen Form – den Kern des Mythos: Denn er ist keine Lüge, sondern eine symbolische Wahrheit. Er entsteht dort, wo kollektive Sehnsüchte in Geschichten gefasst werden, die größer

Eine Fabel von Christian Gottwalt

Der Alte lag auf dem schwarzen Felsen wie ein nasses, sattes Fragezeichen und dachte über nichts Besonderes nach. Das war sein bevorzugtes Denken: das über nichts Besonderes. Im Lauf seines Lebens war er ganz gut darin geworden, nicht so viel zu denken, eine Fertigkeit, auf die er stolz war, denn früher hatte er sich Geschichten und Gedanken einverleibt wie andere Leute Algenkraut und sie dann zerkaut und genüsslich verdaut. Geschichten und Gedanken können einen immer wieder glücklich machen, Algen nur einmal.

Der Alte war stolz auf seinen kühlen Kopf und gerade war der besonders kühl, denn er hatte sich heute beim Tauchgang in den Abgrund gleiten lassen, um an die nährstoffreichen roten Algen zu gelangen, die nur in den tieferen Stellen des Meeres wuchsen und nicht im Bereich von Ebbe und Flut, wo die Futtersuche ein Spaziergang war. Fünfundzwanzig Minuten hatte sein Tauchgang gedauert, in zwanzig Meter Tiefe war er vorgestoßen, nicht schlecht für einen wie ihn, wie er fand. Zufrieden lag er jetzt da, rund und ein bisschen steif vor Kälte. Er erwartete die Sonne wie einen guten Freund, der oft zu spät kommt, dafür aber immer etwas Süßes mitbringt. Hach je, dachte der Alte, als der erste Sonnenstrahl ihm über den Rücken strich und ein wohliges Kribbeln hinterließ: Sonne schließt bekanntlich den Magen. Und während sich seine Beine langsam wieder daran erinnerten, was als Reptilienbein zu tun ist, und während der salzige Wind ihm gemurmelte Geschichten von den anderen Felsen zutrug, atmete er tief ein, dann noch länger aus und beschloss, dass heute kein Tag für Eile war. Und morgen wahrscheinlich auch nicht. Er blinzelte langsam, so wie einer das tut, der ganz sichergehen will, dass die Welt auch wirklich noch da ist und nicht nur ein besonders schöner Traum aus Algen, Sonne und Salzwasser. Der Felsen unter ihm war hart und er war auch hart erkämpft. Nicht schön, aber sein Reich. Er dachte bei sich: Du bist heute hier und das ist genug. Endlich strahlte die Sonne ihr belebendes Infrarot auf und in seine Schuppen und machte auch die tieferen Zellschichten seines Leibes wieder weich. Und während die Wärme Zentimeter für Zentimeter in seinen Bauch kroch, stellte er fest, dass das Leben manchmal genau so sein sollte, wie es war. Ein paar Tropfen Meerwasser perlten noch von seiner Stirn und erinnerten ihn daran, wie ein paar junge Sardinen

beim Tauchen erschrocken zur Seite geflattert waren. Er wusste ja selbst, wie schrecklich er aussah. Dabei fraß er doch nur Grünzeug! Endlich konnte er sich wieder bewegen, aber er wollte es nicht. Einfach weil es schöner war, noch ein wenig stillzuliegen. Die Augen fielen ihm zu. Vielleicht gründete die oft herbeizitierte Altersweisheit in einer Art Altersträgheit? Dass einer wie er besonders weise erscheint, obwohl er einfach nur zu müde ist, etwas zur Unterhaltung beizusteuern? Müdigkeit, ja, das traf es wohl ganz gut, er war müde vom Leben und er war des Lebens müde.

Seit er aus dem Ei geschlüpft war, hatte er zwanzig Regenzeiten erlebt. Verglichen mit dem Rest der Kolonie ein geradezu historisches Alter. Er war der Alterspräsident der Großfamilie hier auf San Cristóbal, allerdings war das kein Titel, der zu irgendetwas befähigte. Der Alte genoss weder besonders hohes Ansehen noch irgendwelche Macht, ganz im Gegenteil: Er rangierte am unteren Ende der Hackordnung, weil ... ach ja, weil, weil, weil. Lange Geschichte.

Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und er schätzte anhand ihrer Geschwindigkeit ab, wie lange es wohl noch dauern möge, bis die Heizung wieder funktionierte. Er blickte an sich herab, um zu begutachten, wie es seinem Hinterteil ging, und nahm im Augenwinkel etwas Grünes und etwas Rotes an seinem Bauch wahr. Verdammt, verdammt! Jetzt war er hellwach.

Die Färbung signalisierte ihm, dass die Balzsaison wieder losgehen würde. Nichts hasste er mehr als das Balzen. Er betrachtete seine Flanken genauer: Kein Zweifel, sie schimmerten grün und rot. Wie oft hatte er das schon erlebt? Die Natur legte ihm das bunte Hochzeitskostüm an und er musste es ertragen.

Kurz erinnerte er sich daran, wie er jung gewesen war und nachts davon geträumt hatte, sich endlich mit den anderen zu messen und dann paaren zu dürfen. Wie er seinen Bauch untersucht hatte, ob denn endlich das Grün und das Rot erschiene, das zeigt, dass man sich mit den anderen Männchen anlegen darf. Und heute? Heute konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt eine Auseinandersetzung gewonnen hatte.

Er war alt, ihm war kalt, er war müde und alles in ihm sträubte sich vor Widerwillen – und doch musste er sich selbst dabei zusehen, wie er

einen Fuß vor den anderen setzte und seine Krallen nach Halt im schroffen Gestein suchten. Der Alte kannte das biologische Programm, das ihn wie ferngesteuert bewegte, und konnte doch nichts dagegen tun. So wie ihn der Hunger ins kalte Meer jagte, schickte ihn der Trieb in den Zweikampf.

Seinen Gegner sah er schon von Weitem. Wie stolz er dastand, der grünste und röteste von allen und der stärkste und längste des gesamten Archipels obendrein. Er sah seinen Endgegner vor sich und ihm schauerte. Bringen wir’s hinter uns, diesen albernen Karneval, dachte er und spritzte zur Provokation einen Strahl salziges Wasser aus seinem linken Luftloch in Richtung des Jungen. Der Junge begann zu nicken. Erst langsam, dann schnell. Kopf auf, Kopf ab. Der Alte antwortete mit aggressivem Krächzen, das Maul weit geöffnet. Sie starrten sich an wie durch eine unsichtbare Glasscheibe getrennt. Der Junge sprang vor, ein kurzer Tanz aus Drohen, Anrennen, Stillstand. Jetzt nickte der Alte, erst langsam, dann schnell. Es war keine Angst, weshalb der Alte den Kampf verabscheute. Es konnte ja nichts passieren, der Kampf der Meeresechsen des Galapagos-Archipels war stark ritualisiert und ging niemals tödlich aus. Wie bei Wölfen endete jedes Kräftemessen in einer Demutshaltung, mit der sich der Schwächere für alle sichtbar dem Stärkeren unterwarf. Da war keine Angst bei dem Alten. Nur Scham. Die wiederkehrenden Enttäuschungen über die Demütigungen im Schaukampf äußerten sich beim Alten in lebhaften Fantasien, uralte Kränkungen füllten seine Tagträume. In den Tiefen seiner Seele blubberte ein unterseeischer Vulkan, heiß und rot quoll die Magma des Hasses hervor, kühlte ab und versteinerte. Dann sah er einen Blitz, so hell, dass selbst die schwarzen Felsen transparent wurden. Dem Blitz folgte ein Donner, so laut, dass er all seine Wut hätte hineinbrüllen können.

Ein Orkan verwandelte das Wasser in weißen Schaum, in dem man nicht schwimmen konnte, doch die Brandung war diesmal nicht auf das Wasser beschränkt, der Meeresboden, das Land, selbst der Himmel, alles wellte sich und brandete. Und dann fing er an zu wachsen. Er wurde größer und größer, bis sich sein Haupt aus dem Meer erhob, er wuchs weiter, bis sein Kopf die Insel überragte und er die

Haie fressen konnte wie junge Sardinen. Er berauschte sich an seiner Macht und Körpergröße, drehte sich um und trat dabei versehentlich ein Inselchen platt, auf dem zum Glück niemand nistete. Dann schaute er sich um und begann zu schwimmen, in Richtung eines Ortes, den die Menschen Tokio nennen, aber das war Zufall.

Verdammt, dachte der Alte, warum jetzt, warum ausgerechnet jetzt? Hör auf zu träumen, konzentriere dich, achte auf deinen Atem, fixiere den Gegner! Der Alte schüttelte sich innerlich, was der Junge als selten gesehene Drohgebärde interpretierte. Der Junge senkte den Kopf, der Alte tat es ihm nach. Stirn an Stirn standen sie da und rieben die Knochenplatten ihres Vorderkopfes aneinander. Doch irgendetwas war anders.

»Warum drückst du nicht richtig?«, fragte der Alte.

»Ich bin nicht ganz bei der Sache«, sagte der Junge und drückte ein bisschen fester, aber nicht sehr lange, dann ließ er wieder nach.

»Das merke ich«, sagte der Alte. »Was ist los mit dir?«

Der Junge druckste herum: »Ich war gestern, also, von gestern auf heute, ja, war ich abwesend.«

Das war dem Alten schon am Abend zuvor nicht entgangen, dass da ein Revier längere Zeit verwaist war, vielleicht, weil ein Tauchgang tragisch ausgegangen war, der Hai, der Hai, der tödliche Hai, und dass die Weibchen seit Stunden ohne ihren Beschützer dasaßen, den größten und stärksten von allen, und dass er, in seiner Einsiedelei sitzend, mit dem Gedanken gespielt hatte, sich für mindestens eine Nacht in dieses fremde Revier zu begeben und die Zuneigung und Anschmiegsamkeit der weiblichen Wesen zu genießen, ihre Wärme und, ja, ihre Liebe.

»Was war los?«, fragte der Alte.

»Ach, gestern, um die Mittagszeit, haben sie mich gepackt. Ich weiß nicht, wer oder was. Plötzlich spürte ich den Griff hinter den

Vorderbeinen. Ich konnte kaum noch atmen. Ich zappelte, aber es half nicht. Der Griff schmerzte nicht, aber er war fest und viel, viel stärker als ich. Es war kein Maul, da waren keine Zähne wie beim Haifisch.«

Der Alte hörte zu, so gut es ging. Er musste ja gleichzeitig verarbeiten, dass das Ritual nicht funktionierte, wenn einer der Rivalen nicht richtig drückte. Etwas daran war gänzlich neu für ihn: der Stärkere zu sein.

»Es ist mir so unglaublich peinlich«, sagte der Junge, »aber ich fürchte, mich haben Außerirdische entführt. Bitte lach jetzt nicht.«

»Ich kann gerade nicht lachen, weil ich damit beschäftigt bin, aggressiv zu erscheinen«, sagte der Alte.

»Also: Sie haben gesprochen von De, En und A, von Sequenzen und Mikrosatelliten und Biomarkern und Tests und Trara und ich habe die Wörter gehört, aber ich habe sie nicht verstanden.«

»Das ist Wissenschaft«, sagte der Alte. »Naturwissenschaft, um genau zu sein«.

Der Junge hörte nun gänzlich auf zu drücken und nahm ein paar Millimeter Abstand: »Naturwissenschaft?«

»Das waren keine Außerirdischen, das waren Menschen.«

Der Junge legte den Kopf zur Seite:

»Menschen?«

Er dachte so lange nach, bis die Individuen der Kolonie, die das Spektakel beobachteten, sich zu wundern begannen.

»Heißt das, dass es sie wirklich

gibt, die Außerweltlichen?«, fragte der Junge, »dass es nicht nur Mythen sind, die keiner mehr glaubt, wenn die Alten sie erzählen? Und stimmt es, dass sie nur nach den schönsten und stärksten Exemplaren greifen und dass der, der gegriffen wurde, nur selten zurückkehrt?«

Der Alte überlegte und sagte dann nur:

»Kurz gesagt: ja.«

»Und die lange Antwort?«, forderte der Junge.

»Die Menschen kommen schon seit vielen Generationen hierher. Erst brachten sie die Ratten, dann wollten sie uns erforschen. Auch mich haben sie einmal erforscht. Sie haben mich mit einer Schlinge an einer Stange gefangen …«

»Genau wie bei mir!«, rief der Junge dazwischen.

»Sie haben mich gemessen und gewogen und mir mit einer Nadel in den Schwanz gestochen.«

»Wie bei mir! Genau wie bei mir!«

Der Junge wurde wieder kampflustig ob der neu entdeckten Gemeinsamkeit. Er senkte sein Haupt und der Alte tat es ihm nach. Aus dem wechselseitigen Druck und Gegendruck, aus Anspannung und Entspannung, entstand eine Art Tanz.

»Wir müssen etwas gegen die Menschen tun«, sagte der Junge. »Sie haben uns die Ratten gebracht. Die Ratten!«

»Und die Katzen. Und die Hunde.« »Die auch!?«, rief der Junge und war der Verzweiflung nahe.

»Wir müssen die Menschen in ihre Schranken weisen! Wir müssen etwas gegen sie tun! Lass uns zu Godzilla beten, damit er die Menschen vernichtet und ihre Städte in Schutt und Asche legt!«

Der Alte wurde langsam müde. Natürlich nicht vom vielen Denken, sondern vom vielen Drücken. »Bei dir ist ganz schön was verknotet im Kopf«, sagte er.

»Du glaubst nicht an die Geschichten von den Außerweltlichen, aber du glaubst an den Mythos von Godzilla.«

Godzilla, erklärte der Alte, sei nur ein Film, eine Fiktion, eine Fantasie wie ein Traum, sich bewegende Bilder, nicht mehr:

»Godzilla ist nicht echt. Er wird uns nicht retten vor den Menschen. Friedliche Koexistenz mit den Menschen wird uns retten. Das zu erkennen gehört zum Erwachsenwerden dazu, mein junger Freund. Und jetzt lass uns den Kampf beenden.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage, es ist gerade sehr spannend«, entgegnete der Junge. Und um den Alten ein wenig zu ärgern, war er es nun, der Salzwasser aus einem seiner Nasenlöcher spritzte.

»Godzilla ist nicht echt. Wir sind echt!«, rief der Alte. »Und höre auf, von der Rache zu träumen, denn Rache in der Fantasie kommt wieder und wieder und wieder. Sie bewirkt nichts und vergiftet nur langsam das Gemüt.«

Der Alte spürte, dass der Abschied von Godzilla, dem Retter, den Jungen ganz schön mitnahm.

»Weißt du«, versuchte er ihn zu trösten, »Godzilla ist zwar nicht echt, aber er ist berühmt. Auch bei den Menschen. Und wir, wir hier auf dieser Insel standen einst Pate für diese wunderbare Imagination. Es gab einen Filmemacher namens Roland Emmerich, der hat seinen Godzilla nach uns gestaltet. Wenn du es so willst, sind wir Meeresechsen Godzillas echte Eltern.«

Der Junge wollte das nicht schlucken. Er kaute auf der Idee herum und fand sie ungenießbar. »Wie können wir echte Eltern von etwas Unechtem sein?«, fragte er.

Der Alte begann zu überlegen und nach einem passenden Argument zu suchen. Im Kopf schrieb er bereits einen Essay zu dem Thema. Man könnte ihn mit »Eine Ontologie des Imaginären« überschreiben, dachte er bei sich, und darin die Frage stellen, wo die Grenze liegt, ab der eine Idee sich in der Wirklichkeit manifestiert. Godzilla als fiktive Figur ist reine Idee, klar, Godzilla als Actionfigur dagegen ziemlich real. Wird etwas erst dann wirklich, wenn es Folgen in der realen Welt hat, oder genügt dafür bereits eine Art kollektiver Anerkennung des Phänomens? Und was, wenn man in Betracht zöge, dass … »Jetzt drückst du aber auch nicht mehr so richtig«, sagte der Junge.

»Das liegt daran, dass ich auch gerade etwas abgelenkt bin, so wie du vorhin von deinen Gedanken an die Außerirdischen«, sagte der Alte und ihm wurde klar, dass er dem Jungen das mit der Ontologie nicht zumuten konnte.

Der Junge war nicht der hellste, fand der Alte, aber er hatte ein gutes Herz. Und so konnte er nicht umhin, sich einzugestehen, dass er sich

langsam mit ihm anfreundete.

»Ich will dir ein Geheimnis verraten«, sagte der Alte.

»Etwas, das ich noch nie jemandem erzählen konnte.«

»Und warum erzählst du es dann mir?«, fragte der Junge.

»Weil ich keine Nachkommen habe«, sagte der Alte. »Ich habe niemanden, dem ich die Geschichte weitergeben kann.«

»Da bin ich aber gespannt.«

Der Alte begann zu erzählen.

»Vor vierundzwanzig Generationen wurde mein Urvater, der auch der deine ist, von einem Mann ins Meer geschleudert, wieder und wieder, insgesamt zehn Mal. Und er ging immer wieder zurück an seinen Platz. Der Mann, der ihn warf, hieß Charles Darwin und schrieb nach diesem Erlebnis sein wichtigstes Buch über die Entstehung der Arten. Vor zwölf Generationen wurde mein Urvater, der auch der deine ist, von einem Mann beobachtet, der sich für unsere Kämpfe interessierte. Der Mann, der ihn beobachtete, hieß Irenäus Eibl-Eibesfeldt, begründete danach die Wissenschaft des menschlichen Verhaltens und schrieb mehrere Bücher über unsere Inseln. Ich selbst, der nicht dein Vater bin, aber das ist jetzt

auch schon egal, wurde vor zehn Regenzeiten von einem Mann untersucht, der unter anderem eine Blutprobe von mir nahm. Der Mann der das tat, heißt Sebastian Steinfartz. Er lehrt an der Universität Leipzig und hat zusammen mit seinen Freunden (Aurélien Miralles, Amy MacLeod, Ariel Rodríguez, Alejandro Ibáñez, Gustavo Jiménez-Uzcategui, Galo Quezada und Miguel Vence) herausgefunden, dass wir Meeresechsen hier auf San Cristóbal eine eigene Unterart sind. Mein Professor hat uns, dir und mir und allen hier, einen neuen Namen gegeben. Wir sind eine eigene Subspezies und als solche absolut erhaltenswert nach sämtlichen internationalen Natur- und Artenschutzabkommen, die die Menschen unter sich ausgemacht haben.«

Dem Jungen schwirrte der Kopf. »Ja, und wie heißen wir jetzt?«, fragte er.

»Wir heißen ...«

Der Alte räusperte sich vornehm. »Wir heißen amblyrhynchus cristatus godzilla.«

»Wir heißen Godzilla? Das ist ein Witz, oder?«

Der Junge spuckte eine kleine Salzwasserfontäne absichtlich am Alten vorbei.

»Und das ist jetzt echt? Das ist unser echter Name?«

»Kein Witz. Das ist unser echter Name, wie er in den Büchern der

Menschen steht. Aus Menschensicht ist das so echt, wie es echter nicht geht.«

»Erzähl mir mehr davon«, sagte der Junge.

»Ja, gern, aber das ständige Drücken geht langsam über meine Kräfte«, sagte der Alte.

»Ich will auch nicht länger gegen dich kämpfen. Ich will gegen die Menschen kämpfen.«

»Junger Mann, wenn du jetzt nicht endlich richtig gegen mich kämpfst, wirst du dein Revier verlieren.«

»Alter Mann, hör auf zu kämpfen und lass uns stattdessen zusammen ins Revier gehen.«

»Zwei Männchen in einem Revier, das ist gegen jede Natur«, sagte der Alte.

»Weißt du was?«, entgegnete der Junge, »pfeif’ auf die Natur!«

Und so geschah etwas, das die Galapagos-Inseln noch nicht gesehen hatten: Seite an Seite spazierten zwei mächtige Meeresechsen hoch erhobenen Hauptes zum nun gemeinsamen Revier.

Der Alte nahm Platz in der Mitte des Reviers, in dem Weibchen und diverse Jungtiere neben-, über- und aufeinander lagen wie eine Horde bekiffter Hippies. Er genoss es, unter Seinesgleichen zu sein, er genoss die Wärme der Sonne, die ihm hier viel wärmer erschien als in seiner Einsiedelei. Und es löste sich endlich die vergessen geglaubte Enttäuschung, die darin wurzelte, dass er stets als Verlierer vom Platz gegangen war, dass er nie derjenige gewesen war, der erwählt wurde. Nie wieder würde er sich die Geschichte erzählen müssen, um wie viel angenehmer es doch sei, allein auf den schwar-

zen Steinen zu liegen als neben einem Weibchen, jetzt, wo er ein fremdes Bein am Hals spürte und einen fremden Hals auf dem eigenen Rücken. So viel angenehmer war es doch, sich als Siegermännchen zu fühlen.

Eine aus der Gruppe zwinkerte ihm zu, während der Junge seine Nase rümpfte – als verstecktes Zeichen einer Zustimmung oder als Signal der Gleichgültigkeit oder der Zufriedenheit mit der Gesamtsituation.

Der Alte konnte sein Glück kaum fassen. Vielleicht würde er jetzt seinen ersten Nachkommen zeugen? Wenn alles klappt, wenn seine müden Knochen mitmachten und wenn die Ratten hinterher nicht das Gelege fraßen.

»Ich geh’ mal was futtern. Oder anders ausgedrückt: ich tauch’ dann mal ab!«,

sagte der Junge und überließ den Alten der Obhut seiner Partnerinnen. Der Alte blickte in die Runde und überlegte, welche der zwanzig Anwesenden wohl die Stärkste wäre. Bei welcher er sicher sein konnte, dass sie den später folgenden Kampf gegen eine Rivalin um den besten Eiablageplatz gewinnen würde. Der im Gegensatz zum Schaukampf der Männchen ernst war und blutig enden konnte.

Ach, egal, es würde sich schon etwas ergeben, man muss doch nur der Natur ihren Lauf lassen, dachte der Alte.

»Auf die Naturwissenschaft«, rief er und stellte fest, dass das als Schlachtruf nicht besonders gut ankam. Er überlegte kurz, stellte sich auf die Hinterbeine und brüllte: »Godzilla! Ich heiße Godzilla!«

Und dann ging es los.

»Opa, wer sind denn eigentlich die Leute, mit denen du da auf dem Foto am Tischkicker stehst? Waren das deine Freunde?«

»Das? Nee. Das waren Arbeitskollegen.«

»Und die Männer, mit denen du auf dem anderen Bild Polonaise tanzt?«

»Das waren auch Arbeitskollegen.«

»Hattest du keine Freunde, Opa?«

»Äh ... doch. Obwohl. Na ja, so viel Zeit blieb für Freunde und Familie damals nicht. Das war schon viel Stress im Büro. Neun Stunden arbeiten und dann noch gemütlich mit den Kollegen Club-Mate trinken und kickern … Hm ja, das klingt heute vielleicht seltsam. Aber das war halt damals so, im frühen 21. Jahrhundert. Wir haben das gar nicht hinterfragt. Getränke und Snacks waren umsonst, die Stimmung war super und Fitnessgeräte gab’s auch.«

Zeitgenössische Phänomene, die für einen nennenswerten Teil der Gesellschaft als normal und selbstverständlich gelten, lassen sich

auch als Mythen der Gegenwart kennzeichnen, oder mit einem Wort des französischen Philosophen Roland Barthes als »Alltagsmythen«. Jede Zeit hat ihre Mythen. So wie wir schon heute ungläubig auf die frühere Begeisterung für die »autogerechte Stadt« oder die »Hausfrauenehe« des 20. Jahrhunderts zurückblicken, werden kommende Generationen über die Vermischung von Arbeit und Privatleben staunen.

In den nuller Jahren dieses Jahrhunderts schwappte der Geist der »New Work« nach Deutschland. Flexiblere, lockerere Arbeitsverhältnisse der Start-up-Kultur setzten sich durch, insbesondere in großen Firmen und Agenturen, also in privilegierten Jobs. Ziel der Bosse war und ist es, den Mitarbeiter:innen ein so angenehmes und persönliches Arbeitsumfeld zu bieten, dass diese sich als Teil einer großen »Familie« fühlen und sich emotional ans Unternehmen binden. Natürlich geht das zeitlich zulasten des klassischen Privatlebens. Mit ein wenig Distanz betrachtet, klingt das verrückt und widersinnig.

Sicher ist es schön, sich mit einzelnen Kolleg:innen anzufreunden – aber doch nicht mit allen! Warum dann nicht gleich den Heiligabend mit der ganzen Belegschaft feiern? Dieses Phänomen werde ich lieber nicht googeln, aus Angst, dass es das im Silicon Valley bereits gibt. Der Feierabend ist doch traditionell dafür da, sich von den Kolleg:innen zu erholen, sie mal NICHT zu sehen. Klar gab es auch in der Vergangenheit Formen der Vermischung von Arbeit und Privatleben, wenn ein Lehrling bei der Familie seines Meisters wohnte oder ganze Arbeitersiedlungen auf dem Werksgelände standen, aber noch nie zuvor wurde dies so euphorisch als etwas Erstrebenswertes und Positives gefeiert wie in diesem Jahrhundert. Doch dann kam Corona. Homeoffice wurde notgedrungen beliebt. Seit wenigen Jahren scheint sich tendenziell wieder ein distanzierteres, pragmatischeres Verhältnis zum eigenen Arbeitgeber durchzusetzen. Erste Tischkicker verstauben in Gemeinschaftsräumen. Im Team gepflegte Büropflanzen – auch sie Teil der »großen Familie« –

welken dahin wie die einst glorreichen Start-ups. In den »After-WorkClubs« versaufen die vor der Pleite stehenden Betreiber die letzten Cocktailreste allein. In wenigen Jahrzehnten werden wir die Vermischung von Arbeit und Privatem vermutlich vollends seltsam finden. Gern stelle ich mir eine Museumsausstellung zu diesem Thema vor. »Per Glücksgalopp durch den Job« oder »Ackern und Gackern« könnte sie heißen. Herzstück der Fotos und Videoinstallationen wären dabei all die abertausenden bizarren »Firmenläufe«. Im Jahr 2040 werden junge Menschen kopfschüttelnd und kichernd davor stehen: »Guckt mal, wie sie sich nach dem Marathon alle umarmen – iiih, die Arbeitskolleg:innen!« Es sind junge Menschen, die abends lieber mit den früheren Schulfreund:innen Cocktails kippen gehen. Alltagsmythen sind Gegebenheiten, die einem überhaupt nicht als zeitspezifisch auffallen. So wie es den meisten Leuten unter fünfunddreißig Jahren gar nicht bewusst ist, dass die Flut an »Selfies« etwas historisch vollkommen Neuartiges ist. Im Fotoalbum meiner Groß-

mutter sehe ich auf den schwarz-weißen Bildern fast nur Landschaften und Städte. Eher selten befindet sich dort auch mal eine Person oder eine Gruppe. Klein und irgendwie verloren wirkend, stehen sie zwischen majestätischen Gebäuden oder Bäumen herum. Auch meine selbst geschossenen Bilder aus den achtziger Jahren sind nahezu menschenlos. Jede Person hätte darin gestört. Warum den Eiffelturm oder das azurblaue Wasser des Mittelmeers mit Körperteilen verdecken? Gute Frage: Was wäre eigentlich gewesen, wenn der Selfie-Trend schon vor Jahrhunderten verbreitet wäre? Auf den Gemälden eines Caspar David Friedrich wären all die stimmungsvollen Felsen und knorrigen Bäume gar nicht richtig zu sehen. Da lobe ich mir den berühmten »Wanderer über dem Nebelmeer«, der eher dezent und nur von hinten sichtbar ist. Übrigens auch eine spannende Trendmöglichkeit – sich per Selbstauslöser von hinten abzulichten. Mit dem Siegeszug der hochwertigen Smartphone-Kameras und der gleichzeitigen Allgegenwart von Social Media wurden die Men-

schen auf den Fotos vor zwanzig Jahren plötzlich größer und größer, und immer öfter war die fotografierende Person selber zu sehen. Ob das Bild nun wirklich selbst geschossen wurde oder von einer anderen Person aus der Nähe fotografiert, ist eigentlich egal: Wesentlich ist, dass der eigene Körper, insbesondere das Gesicht, das Foto dominiert. Seither ist kein Motiv beliebter als die eigene Visage, gern gefiltert und bearbeitet. Urlaubsorte und Stadtsilhouetten degradiert zu Kulissen, zu nichtigen Felsspitzen und fragmentierten Hausfassaden. Wie seltsam, wenn man darüber nachdenkt: Das spannende Musikfestival wird vom eigenen Gesicht überdeckt, obwohl man dies doch eh zur Genüge kennt. Und wenn überhaupt Gesichter, warum dann nicht wenigstens völlig fremde – flüchtig und verstohlen auf den Straßen fotografiert?

Obwohl ein noch junges Phänomen, hat sich die Selfie-Kultur bereits mehrfach gewandelt. Das gern verlachte »Duckface« ist einer »Antiduckface«-Bewegung gewichen. Das Ende dieses zeit-

genössischen Mythos ist noch lange nicht in Sicht, aber die Gegenbewegungen mehren sich. Vor allem bei jungen Frauen sind Rituale populär, einander per »No-Filter-Apps« unbearbeitete Schnappschüsse zuzuschicken. Oder gleich Einwegkameras zu verwenden. Spannend wäre auch, wenn sich der Selfie-Trend weg vom Gesicht, hin zu anderen, bisher stiefmütterlich fotografierten Körperteilen verlagern würde, etwa zu den Füßen. Auch hier sind die Möglichkeiten der Inszenierung zahllos: eingerollte oder gespreizte Zehen, metallic türkis lackierte oder ungefeilte Nägel, oder gar, authentisch und unbearbeitet, ein Füßie direkt nach dem Aufwachen. 2017 wurde das Wort Selfie in den Duden aufgenommen. Wann wird es daraus wieder verschwinden? Ich tippe auf das Jahr 2053.

»Hä, warum hast du dich denn früher immer selber fotografiert, Oma? Hattest du keine Freundinnen?« Gute Frage.

MARTINA BORSCHE, S. 34–47

Martina Borsche ist Fotografin und Kuratorin. Sie absolvierte an der Boston University ihr Bachelor-Studium für Internationale Beziehungen. Am Istituto Europeo di Design Madrid erhielt sie den Master für Europäische Kunst Fotografie. Seit der Spielzeit 2021 / 22 ist sie als Bilddramaturgin für die Bayerische Staatsoper tätig. Für Apollon kuratiert sie die visuellen Inhalte und schreibt gelegentlich auch ihre Gedanken hierzu.

JOSÉ ALEJANDRO CASTAÑO, S. 12–20

José Alejandro Castaño wuchs in den achtziger Jahren in einem der gefährlichsten Quartiere von Medellín in Kolumbien auf und bezeichnet sich als Überlebenden des Krieges gegen den Drogenhandel. Er gewann dreimal den »Premio Nacional de Periodismo Simón Bolívar«, den bedeutendsten Journalistenpreis seines Landes.

IAN CHILLAG, S. 4–10

Ian Chillag arbeitet als Podcastproduzent und Autor. »Everything is alive« ist eine Interviewserie ohne Drehbuch, in der alle Gesprächspartner:innen leblose Objekte sind. Abgesehen davon, dass die Dinge sprechen können, ist es wie ein Sachbuch: Alles, was uns die Objekte sagen, ist wahr.

SVEN CHRIST, S. 34–47

Der Küchenchef Sven Christ steht seit vielen Jahren am Herd, schreibt Kochbücher und arbeitet als Foodstylist. Die Rezepte auf Tiktok sind für ihn ungewohnt: schnell, in wenigen Schritten, aber oft nicht ganz gewiss in der Umsetzung, dafür mit tollen Bildern und sehr häufig mit einem »Superyummy« als Fazit. Kann das wirklich sein?

BENNY DOUET, S. 114–120

Benny Douet ist bildender Künstler und Illustrator mit Wohnsitz in London, der sich auf Illustration und Animation spezialisiert hat. In seiner künstlerischen Praxis erkundet er ungewöhnliche und unkonventionelle Perspektiven, um neue Wege des Geschichtenerzählens zu finden. Sein Ziel ist es stets, seinen Arbeiten eine erzählerische Tiefe und besondere Spannung zu verleihen.

STEFAN GÄRTNER, S. 22–30

Stefan Gärtner, Jahrgang 1973, arbeitet als Kolumnist für Titanic, Konkret sowie die Zürcher Wochenzeitung und schreibt neben Romanen (»Putins Weiber«, 2015) und Zeitkritischem (»Terrorsprache. Aus dem Wörterbuch des modernen Unmenschen«, 2021) fürs Neue Deutschland, die Junge Welt und die letzte Seite der Taz.

CHRISTIAN GOTTWALT, S. 100–113

Christian Gottwalt, Jahrgang 1968, hat sich als Journalist auf die kurze Form konzentriert. Für das SZ-Magazin konzipierte er einst »Gemischtes Doppel« und »Sagen Sie jetzt nichts«. Für Apollon begann er, Fabeln zu schreiben.

LUKAS KUBINA, S. 90–99

Lukas Kubina ist Autor, Herausgeber und Verleger. In Las Vegas lernte er unter anderem, wie man mit wenig Einsatz und viel Trinkgeld beim Blackjack auf seine Kosten kommen kann.

INÉS MAESTRE, S. 12–13

Inés Maestre ist bildende Künstlerin und lebt in Lausanne sowie in Madrid. Sie kam über Illustration und Mode zur bildenden Kunst und verbindet in ihren

Arbeiten analoge und digitale Techniken durch Collage, digitale Malerei, Öl, Scannen, Airbrushing und Fotografie. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit Themen wie Liebe, Verlangen und sozialer Identität und lassen sich von Mode, Werbung und Film inspirieren.

DANIJELA

PILIĆ, S. 48–55

Danijela Pilić ist Autorin, Journalistin und Kolumnistin. Sie schreibt über Mode, Beauty, Zeitgeist, Astrologie und Popkultur, unter anderem für Glamour, Vogue, Cosmopolitan, SZ Magazin und Playboy. Sie wurde in Split an der dalmatinischen Küste geboren und zog, als sie zehn Jahre alt war, mit ihrer Familie nach München, wo sie heute wieder lebt und arbeitet. Bisher hat sie drei Bücher veröffentlicht, zurzeit schreibt sie ihren ersten Roman.

LEWIS ROSSIGNOL, S. 74–75

Lewis Rossignol ist ein bildender Künstler, der sich auf surrealistische und experimentelle zeitgenössische Zeichnungen und Malerei spezialisiert hat. Er lebt und arbeitet in Maine, USA. Seit seinem Abschluss in Illustration und Design am Maine College of Art & Design im Jahr 2017 arbeitete Rossignol an einer Vielzahl von Projekten, darunter das CoverArtwork in limitierter Auflage für das Grammy-ausgezeichnete Album »Igor« von Tyler, the Creator im Jahr 2019 und eine Solo-Kunstausstellung in der Eric Buterbaugh Gallery in Los Angeles.

LILI RUGE, S. 82–89

Lili Ruge ist Kulturjournalistin, hat kein Buch geschrieben, aber dafür beim Persönlichkeitsorakel ein bisschen zu oft die Antwortmöglichkeit C angekreuzt. Was das über sie aussagt, lässt sich ja jetzt nachlesen.

VERA SCHROEDER, S. 74–79

Vera Schroeder ist Redakteurin bei der Süddeutschen Zeitung und findet, dass man dem Leben als privilegierter Mensch derzeit zwei Dinge schuldet: politisch bleiben. Und: nicht verzweifeln.

ELLA CARINA WERNER, S. 114–120

Ella Carina Werner ist Mitherausgeberin und Kolumnistin des Satiremagazins Titanic. 2020 und 2023 erschienen ihre gefeierten Geschichtenbände »Der Untergang des Abendkleides« (Satyr Verlag) und »Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen« (Rowohlt) sowie 2025 ihr Buch »Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt« (Verlag Antje Kunstmann) mit feministischen Tiergedichten.

JULIA WERNER, S. 68–73

Julia Werner ist Journalistin und Buchautorin. Sie konzentriert sich auf zeitgenössische Kultur im Allgemeinen und schreibt regelmäßig eine Modekolumne für die Süddeutsche Zeitung.

THE END

Apollon ist eine Initiative der Bayerischen Staatsoper. Apollon will Räume erschließen und öffnen, die künstlerischen Impulsen in verschiedenen Formen eine Plattform ermöglichen, sich mit dem Menschsein auseinanderzusetzen.

»Apollon Dossier« ist eine Sammlung von Artikeln zu einem Thema. Die exklusiven gedruckten Inhalte erscheinen zeitversetzt digital. »Apollon Dossier« kondensiert aus dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper die Themen, Narrative, Fragen an unsere Zeit und an eine Gesellschaft.

»Apollon Hidden« sind versteckte künstlerische Interventionen an (un-)gewöhnlichen Orten Münchens, von denen die:der erfährt, der:die sich um die Apollon-Whatsapp-Nummer bemüht.

»Apollon Stufenbar« ist eine Oase mit Stufen, eingebettet in antiker Umgebung vor der Bayerischen Staatsoper. Dazu: Sounds und Musik, DJs und Musiker:innen. 2025 findet die »Apollon Stufenbar« vom 24. Juni bis 31. Juli statt.

Und Apollon ist mehr: apollon-dossier.de

IMPRESSUM: Apollon der Bayerischen Staatsoper, apollon-dossier.de

HERAUSGEBER

Staatsintendant Serge Dorny (V. i. S. d. P.)

Bayerische Staatsoper, Max-Joseph-Platz 2, 80539 München

KONZEPT & REDAKTION

Martina Borsche, Lukas Kubina, Olaf Roth, Michael Wuerges

PROJEKTMANAGEMENT

Lukas Kubina

LEKTORAT

Katja Strube

ÜBERSETZUNGEN

Martina Borsche (»Everything is alive«)

Lukas Kubina (»Zwei traurige Nilpferde«)

BILDDRAMATURGIE

Martina Borsche

MITARBEIT

Dramaturgie der Bayerischen Staatsoper

GESTALTUNG

Bureau Borsche

ANZEIGENLEITUNG

Victoria Jara-Pfister

DRUCK UND HERSTELLUNG

Gotteswinter und Fibo Druck- und Verlags GmbH, München

BILDNACHWEISE

S. 4–5: Connected Archives / Alana Celii

S. 12–13: Inés Maestre

S. 34–47: Martina Borsche

S. 56–66: Seydou Camara, Monique Dena (2), Abdoul Karim Diallo (4), Anna N’Diaye, mit freundlicher Genehmigung des Museums Fünf Kontinente

S. 74–75: Lewis Rossignol

S. 92–99: Carl De Keyzer, Magnum Photos/OSTKREUZ Archiv; René Burri, Magnum Photos/OSTKREUZ Archiv; Martin Parr, Magnum Photos/OSTKREUZ Archiv (4)

S. 114–120: Benny Douet

Das Kunstwerk DREAMS AND DRAMAS von Ugo Rondinone auf dem Dach des Nationaltheaters und auf dem Cover dieses Dossiers wurde durch Brainlab ermöglicht.

TEXTNACHWEIS

»Zwei traurige Nilpferde« von José Alejandro Castaño: Ursprünglich erschien dieser Text auf Spanisch in Letras Libres (30. Juni 2008). Die deutsche Übersetzung erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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ApollonXII by Bayerische Staatsoper - Issuu