MAX JOSEPH 2020/21 No.4

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LICHT, LEICHTIGKEIT, LEBENSFREUDE ... Lassen Sie uns den Sommer zelebrieren! Flanieren Sie unter unseren Hängenden Gärten, lassen Sie sich inspirieren von aktueller Mode, entspanntem Wohndesign und verwöhnen Sie sich mit kulinarischen Köstlichkeiten! Bei uns!


A M Joseph X 2020 — 2021 Nº 4

Münchner Opernfestspiele 2021 Das Magazin der Bayerischen Staatsoper


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Abbildungen aus der Serie Tanztee von Andrea Grützner, 2012-2015 Courtesy: Andrea Grützner, Robert Morat Galerie, Schierke Seinecke Galerie


EDITORIAL Der schönste Moment ist immer der nach einer Aufführung. Wenn der Schlussapplaus längst verklungen ist, wenn das Publikum hoffentlich beseelt oder zumindest bewegt den Saal verlassen hat, wenn ich mich noch einmal bei den Künstlerinnen und Künstlern bedankt habe, wenn die Kulissen bereits abgebaut wurden, dann gehe ich noch einmal auf die leere Bühne. In dieser eigentümlichen Stille kann man es spüren, dass hier gerade noch Theater stattgefunden hat, Konzert, Ballett, große Oper. Vielleicht haftet noch etwas davon an den Sitzen oder hängt in der Luft. Isoldes Liebestod zum Beispiel. Eben hat sie sich noch zu ihrer Schlussarie aufgeschwungen, mit Schall und Schwall, nun ist sie verhallt, verpufft, wie Magie. Unwiederbringlich. Wie wenn man beim Klavier den Finger von der Taste nimmt – der Ton ist fort, es bleibt nur noch die Idee davon. Und dieses Gefühl. Das ist der Inbegriff von Theater: dass es eben kein Museum ist, sondern dass es sich im Moment vollzieht. Flüchtig, transitorisch. Dieser Moment ist nicht festzuhalten – und genau darin liegt seine besondere Schönheit, auch die Faszination daran. Am nächsten Abend wird hier, auf die-

ser Bühne, eine andere, eine neue Welt entstehen. Und am Abend darauf wieder eine neue. Abend um Abend neue Welten, die niemals ewig dauern, sondern immer nur so lange, bis der Vorhang fällt. Oder ein Bühnenarbeiter das letzte Flitterpapierchen vom Boden kehrt. Bei William Shakespeare steht: „Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.“ Ein treffender Satz, der vor allem auch für das Theater gilt. Vor diesem Hintergrund haben wir diese Spielzeit, die meine letzte an der Bayerischen Staatsoper ist, auch mit einem Vers aus Rainer Maria Rilkes Sonetten an Orpheus überschrieben. Darin heißt es mit verwandten Gedanken: „Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte“. Darüber schreibt auch die Autorin Cécile Wajsbrot in dem Essay, der diese letzte Ausgabe von Max Joseph eröffnet. Sie stellt mit einem Verweis auf den Orpheus-Mythos fest, dass der Moment der Rückschau, das Umwenden und damit der Konservierung, die Geste des Stillstands schlechthin ist. Und ich gebe ihr Recht. Nur mit einem mutigen Blick nach vorne haben wir eine Chance auf Glück. Was wir da sehen? Im besten Fall: eine neue Welt.

Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper

Die Bayerische Staatsoper dankt der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele für die großzügige Unterstützung dieser Ausgabe sowie ihrem langjährigen Partner BMW, der die Veranstaltung Oper für alle bei freiem Eintritt möglich macht.

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INHALT

S. 2

TANZTEE Von Andrea Grützner

S. 13

EDITORIAL Von Nikolaus Bachler

S. 20

CONTRIBUTORS / IMPRESSUM

S. 22 LIEBE

LYRIK Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper stellen Gedichte vor, die ihnen viel bedeuten

S. 28

VARIATIONEN ÜBER ORPHEUS

Warum an entscheidenden Wendepunkten nur der mutige Blick nach vorn hilft

MAX JOSEPH Das Magazin der Bayerischen Staatsoper

S. 34 IM LABYRINTH DES WIR ⁂ Das Prinzip Krzysztof Warlikowski: Ein Streifzug durch das Gesamtkunstwerk des Regisseurs anlässlich der Premiere von Tristan und Isolde

Münchner Opernfestspiele 2021 Spielzeit 2020 ­­­­– 2021 Der wendende Punkt Nº 4

S. 42 WERMUT

VERTREIBT SCHWERMUT ⁂ Barkeeper Charles Schumann serviert Tristan und Isolde ihren Liebestrank

S. 44 WEISST

DU, WIE DAS WIRD? ⁂ Mittelalter, Mitleid und ein Akkord: Ausbruch und Umkehr bei Richard Wagner

S. 48 MEISTER

UND KÖTER ⁂ Wagner in München – betrachtet durch die altersschwachen Augen seines Hundes

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Festspielpremieren


S. 56 GLANZ-PAARADE

S. 106 WIE

DER TANZ DAS DENKEN FORMT ⁂ Wovon lassen wir uns noch gedanklich fesseln? Über schwindende und manipulierte Aufmerksamkeit

Auf der Couch mit dem Opern-Dreamteam Anja Harteros und Jonas Kaufmann S. 58 RILKES

ERBEN Liebe, Lyrik, Krieg: eine Bildergeschichte von Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler

S. 110 „DAS

BALLETT AUFZUGEBEN WAR WIE MICH SELBST AUFZUGEBEN“ 30 Jahre Bayerisches Staatsballett: Primaballerina Evelyn Hart erinnert sich zurück

S. 66 „ELETTRA

BRÄUCHTE DIE BESTEN THERAPEUTEN“ ⁂ Kaputte Seelen à la Mozarts Idomeneo: Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller im Interview

S. 74

DIE BRATSCHE, DIE NICKTE Die schönsten Anekdoten hinter den Kulissen der Uraufführungen an der Bayerischen Staatsoper

THE WAVES ⁂ Wie die Bildhauerin Phyllida Barlow die Küste Englands auf die Idomeneo-Bühne bringt

S. 118

EHNSUCHT NACH DER WELT S Wonach sehnt sich die Jugend in Zeiten der Pandemie? Ein Portfolio von Tobias Kruse

S. 128

LUFT HOLEN Wie Opernsängerinnen und -sänger CoronaErkrankten das Atmen neu beibringen

S. 134

DER ABGRUND, AN DEM WIR STEHEN Können die aktuellen Krisen eine Wende herbeiführen? Antworten eines Nachhaltigkeitsforschers

S. 138

ZWISCHEN STOFFMENGEN Elfriede Jelinek macht sich Gedanken über die literarische Arbeit am Material

S. 78 BREAKING

S. 82

DIE ABWENDUNG

Eine Kurzgeschichte von Feridun Zaimoglu S. 90 OPER

FÜR ALLE 2021 Die magischen Open Airs sind endlich wieder da! AM WENDEPUNKT Ein Bilderbogen entlang der wiederaufgenommenen Münchner Uraufführungen und Neuinszenierungen

AGENDA S. 146

REPRISE

S. 154

DIE SPIELZEIT 2020/21

S. 188

SPIELPLAN

S. 194

FESTSPIELPREIS

S. 198

ENGLISH EXCERPTS

S. 206

DER SCHWUNG DER FIGUR

S. 208

UND VORHANG!

S. 94 KUNST

S. 100 SPHINX

OPERA Eine Ausstellung von Alexander Kluge

S. 102 KÖRPER

UND REPRÄSENTATION ⁂ Über die Berührungsängste zwischen klassischem Ballett und postmigrantischer Bewegungstradition

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PARTNER Die Bürgerinnen und Bürger des Freistaates Bayern

BALLET CIRCLE

HAUPTPARTNER

Sabine Geigenberger, Juwelier Hilscher – Ihr Juwelier in München Schwabing, Dr. h.  c. Irène Lejeune, Peter Neubeck, Bettina von Siemens, Elena von Trentini, Almut Westerdorff, Heike Zimmermann

BMW Group MEDIENPARTNER

Süddeutsche Zeitung PROJEKTPARTNER

Karin und Prof. Dr. h.  c. Roland Berger BMW Group Freunde des Nationaltheaters München e.V. Bernhard und Julia Frohwitter Julia Frohwitter – Botschafterin des Bayerischen Staatsorchesters Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opern­festspiele e.V. HypoVereinsbank – Member of UniCredit RH Unternehmensgruppe – Nicky und Robert Hübner Siemens AG Van Cleef & Arpels PREMIUM CIRCLE

Allen & Overy, American Express Deutschland, Atlantik Networxx AG, BayernLB, Karin und Prof. Dr. h.  c. Roland Berger, BMW Group, Böhmler, BR-KLASSIK, Alois Dallmayr KG, Bernhard und Julia Frohwitter, HERMES ARZNEIMITTEL GmbH, Stefan und Maria Holzhey, HypoVereinsbank – Member of UniCredit, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, LA BIOSTHETIQUE PARIS, Linklaters LLP, Ludwig Beck AG, Merck Finck Privat­bankiers AG, Munich Re, Nina und Alexander Rittweger, Carla und Oskar Schilcher, Schörghuber Unternehmensgruppe, Siemens AG, Stiftunglife, Stefan Vilsmeier PATRON CIRCLE

Akris, ALR Treuhand GmbH Wirtschaftsprüfungs­gesellschaft, Dr. Dorothee und Stephan Altenburg, AXON GmbH, Helmut Baumann, BBH – Becker Büttner Held, Blue Ribbon Partners, Dr. Matthias Bolten und Matthias Brücklmeier, Bürklin GmbH & Co. KG, Rolf und Caroli Dienst, EVISCO AG, Frankfurter Bankgesellschaft Gruppe, CityQuartier FÜNF HÖFE, Dr. Konrad Göttsberger und Dr. Barbara Naumann, Marianne E. Haas, Dr. Peter und Iris Haller, Hauck & Aufhäuser Privatbankiers AG, Iris und Kurt Hegerich, Andrea und Christian Karg, Nikolaus und Ingrid Knauf, Sebastian und Maximilian Kuss, Klaus Josef und Martina Lutz, Gisela und Ulfried Maiborn, Zubin und Nancy Mehta, M.M. Warburg & CO, Dr. Wolfgang Ott und Dr. Stephan Forst, Edelgard und Axel Pape, Riedel Holding GmbH & Co. KG, Rudolf und Rosemarie Schels, DR. SCHNELL GmbH & Co. KGaA, St. Galler Kantonalbank Deutschland AG, UBS Europe SE, Ufer Knauer, Warth & Klein Grant Thorton AG, Dr. Susanne und Dr. Karl Heinz Weiss INNER CIRCLE

Marlene Ippen, Eugénie Rohde, Marion Schieferdecker, Swantje von Werz, Adelhaid Winterstein

CLASSIC CIRCLE Dr. Kirsten und Florian Aigner, Anjuta Aigner-Dünnwald, Air Independence – Business Jets Munich, Alexander Apsis und Dr. Mokka Henne-Apsis, Dr. Günter von Au, Sabine und Thomas Bachmaier, Bank Julius Bär Europe AG, Jacqueline Bauernfeind, Cornelia Baumbauer-Grimm und Karlheinz Grimm, Christa Becker †, Jutta und Andi Biagosch, Bucherer Deutschland GmbH, François Casier, Christian Dior Couture, Clariant AG, Delinat AG, Nicole Drechsel, Stephanie und Constantin von Dziembowski, Dr. Günther Engler und Sabina Tuskany, Dr. Klaus Esser und Dr. Manuela Stahlknecht, Franz und Reinhilde Fassl, Prof. Dr. Wolfgang und Dr. Verena Fritzemeyer, gr_consult gmbh, Dr. h.  c. Rudolf und Angelika Gröger, Christa B. Güntermann, Dr. Günter Hackenberg, Daniel und Lila Hager, Dr. Bernhard und Dr. Kira Heiss, Hofbräu München, IHO Holding GmbH & Co. KG, Dirk und Marlene Ippen, Sir Peter Jonas †, Dres. Petra und Wolfgang Kässer, Herbert Kießling, Ulrike Kölsch, Wolf-Otto und Renate Kranzbühler, Jutta und Bernd Kraus, Traudi Kustermann, Marta und Peter Löscher, Dr. Joachim und Annedore Maiwald, Jutta und Dr. Karl Mayr, Dr. Jörg und Ruth Müller-Stein, Josef Nachmann, Prof. Dipl.-Ing. Georg und Ingrid Nemetschek, nova reisen GmbH, Dr. Manuel Ober, Oberbank AG, Dr. Leonhard und Gertrud Obermeyer, Franz und Katharina von Perfall, Peters, Schönberger & Partner, Dr. Malte Peters und Dr. Lorenza Wyder Peters, H. und A. Petritz, Dr. Reinhard und Lydia Ploss, Prof. Yoon Shin-Podskarbi und Dr. Teodor Podskarbi, Dr. Axel Polack, Pomellato, Alexander Renner, Dr. Adolf Reul und Sabine Wabel, Guy und Martine Reyniers, Riedel Immobilien GmbH, Roeckl Handschuhe & Accessoires, Dr. Helmut Röschinger, Sacher GmbH Ingenieure + Sachverständige, Christian und Michael F. Schottenhamel, Dr. Stefan Schulz-Dornburg, Stephanie Spinner-König, Dr. Jürgen und Dr. Elisabeth Staude, Dr. Martin und Eva Steinmeyer, Dr. Rainer und Eleonore Traugott, Umzüge Braun, Wacker Chemie AG, Marianne Waldenmaier, Hannelore Weinberger, Juwelier Wempe, Nela und Dr. Gerhard Widmayer, Heinz Willer, Wirsing Hass Zoller, Caroline und Gerhard Wöhrl, Dr. Dorothee Ritz und Dr. Lutz Zimmer CAMPUS CIRCLE

Anjuta Aigner-Dünnwald, Dr. Arnold und Emma Bahlmann, BARGE Stiftung, Dieter und Elisabeth Boeck Stiftung, DIBAG Industriebau AG, Rolf und Caroli Dienst, Vera und Volker Doppelfeld-Stiftung, Dr. Dierk und Veronika Ernst, Christa Fassbender, Dr. Joachim Feldges, Wilhelm von Finck Stiftung, Oliver und Claudia Götz, Ursela und Bertil Hjelm, Dirk und Marlene Ippen, Christine und Marco Janezic, Klaus Luft Stiftung, Dr. Hans-Dieter Koch und Silvie Katalin Varga, Christof Lamberts, LfA Förderbank Bayern, Christiane Link, A + O Rogowski, Eugénie Rohde, Dr. Helmut Röschinger, Schwarz Foundation, Dr. James Swift †, The Opera Foundation, Georg und Swantje von Werz, Oliver und Kaori Zipse FREUNDESKREISE

INTERNATIONAL FRIENDS CIRCLE

Merle Becker und Carla Birarelli, Bernard und Nathalie Bourdier, Iiulia Chebotarova, Richard Cullen und Robert Finnerty, Jean-François Dubos, Robert und Barbara Glauber, Paul LeMal, Lawrence C. Maisel und Susan Grant, Takesada Matsutani und Kate van Houten Matsutani, Nicola und Teresa Mavica, Dres. Ananth und Margaret Natarajan, Marc Payot und Susanne Mack Payot, Olivier Renaud_Clément, Richard Schlagman und Mia Hägg, Brent Sikkema, Luisa Strina und Augusto Livio Malzoni, Anne und Wolfgang Titze, Yuko und Atsuo Watanabe

DEVELOPMENT

Prof. Maurice Lausberg Karla Hirsch T 089 – 21 85 10 39 development@staatsoper.de

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Campus Freunde, Freunde des Nationaltheaters e. V., Freunde und Förderer der Musikalischen Akademie des Bayerischen Staatsorchesters e. V., Freundeskreis des Bayerischen Staatsballetts, Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele e. V.

Wir danken außerdem unseren anonymen Spenderinnen und Spendern sowie Sponsoren.



ENGAGEMENT FÜR DIE ­FESTSPIELE DIE GESELLSCHAFT ZUR FÖRDERUNG DER MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE

Nähere Informationen erhältlich über die Geschäftsstelle der Gesellschaft (T 089 – 37 82 46 47) oder unter www.opernfestspielgesellschaft-muenchen.de

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Die Gründung der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele geschah im April 1958 durch engagierte Mäzene und Unternehmen. Damals begann der Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Münchner Nationaltheaters. Sie vereint derzeit circa 500 Opernfreunde in dem Gedanken, dass die Münchner Opernfestspiele kein hochkulturelles Event für wenige sind, sondern vom Bewusstsein der Allgemeinheit getragen werden sollen. Dafür setzt sich die Gesellschaft sowohl ideell als auch gesellschaftlich und publizistisch sowie nicht zuletzt finanziell ein. In ihren Gremien sind Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens vertreten, die die mäzenatische Grundeinstellung der Gesellschaft verkörpern und aktiv nach außen tragen. Mit den gesammelten Spenden und Mitgliedsbeiträgen (steuerlich absetzbar) fördert die Gesellschaft gezielt Neuproduktionen und andere künstlerische Projekte der Bayerischen Staatsoper im Rahmen der Festspiele. Gesellschaftlicher Höhepunkt des Opernjahres war seit jeher der Staatsempfang zur Eröffnung der Opernfestspiele. Die Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele ist zusammen mit dem Bayerischen Ministerpräsidenten Gastgeber dieses glanzvollen Ereignisses in den Räumen der Münchner Residenz. Eine weitere Möglichkeit zu informativer und freundschaftlicher Begegnung bietet die jährliche Mitgliederversammlung; dabei präsentiert die Oper Programm und Pläne des Hauses, und Mitglieder der Staatsoper gestalten ein festliches musikalisches Begleitprogramm. Darüber hinaus bietet die Gesellschaft ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu exklusiven Führungen hinter die Kulissen der Staatsoper sowie eine Einladung zum Empfang anlässlich der Verleihung der jährlichen Festspielpreise. 1965 wurden die Festspielpreise erstmals verliehen. Die Gesellschaft will damit Persönlichkeiten des Münchner Opernlebens auf und hinter der Bühne auszeichnen, die sich besonders um die Festspiele verdient gemacht haben. Die Preise, die zu einer Tradition geworden sind, waren 2019 mit insgesamt 32.000 Euro dotiert (siehe auch Seite 194). Im Pandemie-Jahr 2020 wurden aufgrund der Absage des Festivals keine Festspielpreise vergeben, dennoch hat sich die Gesellschaft dazu entschieden, rund 60.000 Euro an freischaffende Künstlerinnen und Künstler auszuzahlen. Eine lange Tradition hat auch die jährlich herausgegebene Festspielpublikation, die seit 2008 als Max-Joseph-Festspielausgabe erscheint. Je mehr Mitglieder die Gesellschaft hat, desto wirkungsvoller kann sie dazu beitragen, die Attraktivität und künstlerische Qualität der Münchner Festspiele zu steigern und fortzuentwickeln. Vorstand und Kuratorium der Gesellschaft ermuntern Sie, liebe Festspielbesucher, der Gesellschaft beizutreten. Einen Beitrittsantrag finden Sie in diesem Heft auf Seite 196.


SCHIRMHERR

Der Bayerische Ministerpräsident EHRENPRÄSIDIUM

Der Bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst Der Bayerische Staatsminister der Finanzen und für Heimat Der Bayerische Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie Der ehemalige Vorsitzende der Gesellschaft, Dr.-Ing. Dieter Soltmann VORSTAND

Dr. Michael Diederich, 1. Vorsitzender Nikolaus Bachler Hans Günther Bonk Friedgard Halter, Schriftführerin Angelika Kaus Dr. Ingo Riedel Dr. Alfred Rührmair Dr. Wolfgang Sprißler, Schatzmeister KURATORIUM

Prof. Dr. Clemens Börsig, Vorsitzender Karin Berger Dr. Wolfgang Büchele Prof. Dr. Laurenz Dominik Czempiel Olga Haindl Dr. Walter Hohlefelder Marlene Ippen Uwe Krebs Dr. Klaus von Lindeiner-Wildau Reinhart Michalke Dr. Jörg Mittelsten Scheid Dr. Michael Möller Stefan-Ulrich Müller Frank Reichelt Dr. Helmut Röschinger Prof. Dr. Wilhelm Simson Stefan Vilsmeier Nachstehende Persönlichkeiten und Firmen unterstützen als fördernde Mitglieder die Arbeit der Gesellschaft in besonderem Maße: Ursula van Almsick Dr. Rolf Badenberg Bahner Erben Dr. Sonja von Baranow Karin Berger Birgit Birnstiel Dr. Manfred Bischoff Prof. Dr. Clemens Börsig Hans Günther Bonk Angela Boykow Dr. Wolfgang Büchele Prof. Dr. Laurenz Dominik Czempiel Dr. Silvia Droemer Dr. Hans Fonk Bernhard Frohwitter Julia Frohwitter Peter und Christine Gain Rolf und Brigitte Gardey Jan Geldmacher Dr. Konrad Göttsberger Dr. Altrud Ute Gottauf Olga Haindl Peter Prinz zu Hohenlohe-Oehringen Dr. Walter Hohlefelder Ulrike Hübner Marlene Ippen Helga Kreitmair Rainer Krick Klaus Lieboldt Dr. Klaus von Lindeiner-Wildau Dagmar Lipp Dr. Jörg Mittelsten Scheid

Stefan-Ulrich und Anja Müller Dr. Rainer Pannhausen Dieter Rampl Judith Reicherzer und Philippe Hoss Dr. med. Margret Rembold Dr. Christine Reuschel-Czermak Dr. Helmut Röschinger Gerhard Rohauer Marianne Schaefer Sabine Schaefer Marion Schieferdecker Andreas Schiller Dr. Dr. h. c. Albrecht Schmidt Dr. Matthias Schüppen Dr. Henning Schulte-Noelle Dr. Roland Schulz Prof. Dr. Wilhelm Simson Dr.-Ing. Dieter Soltmann Ursula Soltmann Andrea M. Spielmann Dr. Wolfgang Sprißler Ursula Steiner-Riepl Dr. Kurt und Angela Stepan Dr. Jörg Stiebner Bernhard Tewaag Stefan Vilsmeier Christine Volkmann Swantje von Werz A. und W. Winterstein FÖRDERNDE FIRMENMITGLIEDER

Bayerische Landesbank Deutsche Bank AG Donner & Reuschel AG Kunert Holding GmbH & Co. KG Kuffler Gruppe Spatenhaus LHI Leasing GmbH Molkerei Meggle Wasserburg GmbH & Co. KG Messe München GmbH Riedel Holding GmbH & Co. KG Solutio AG Swiss Re Europe S.A. UniCredit Bank AG Wacker Chemie AG

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S. 48 Albrecht Selge Wie mag das wohl gewesen sein, 1865, als Richard Wagners Tristan und Isolde in München uraufgeführt wurde? Was trieb den Komponisten damals um, zwischen Brienner Straße und Hauptbahnhof, zwischen „Nasenfrau“ und „kindlichem König“? Der in Berlin lebende Schriftsteller Albrecht Selge will irgendwann mal einen Roman über Wagner schreiben. Vielleicht liefert seine köstliche Kurzgeschichte den Auftakt dazu: In Meister und Köter macht er eine fantastische Zeitreise und erzählt vom Maestro – durch die altersschwachen Augen dessen treuen Jagdhunds Pohl. Selge, der in Berlin lebt, veröffentlichte vier Romane bei Rowohlt Berlin, zuletzt 2020 Beethovn.

S. 28 Cécile Wajsbrot Die Texte von Cécile Wajsbrot, Jahrgang 1954, sind Geschenke. Behutsam und klug nähert sich die Autorin, die auch als Übersetzerin arbeitet, ihren Themen, denen sie durch sprachliche Feinheit und gedankliche Raffinesse eine dräuende Tiefe verleiht. So auch in ihrem Essay über das Thema des Wendepunktes, das sie anhand des mythologischen Orpheus-Stoffes variiert, und der diese letzte Festspielausgabe von Max Joseph eröffnet. Wajsbrot schreibt auch Hörspiele, die in Frankreich sowie in Deutschland gesendet werden, ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und erhielt 2016 den Prix de l’Académie de Berlin. Zuletzt erschien ihr Roman Zerstörung (2020) im Wallstein Verlag. Sie lebt in Paris und Berlin.

S. 48 Dr Julian Gravy Als Kind malte Julian Gravy Bilder zu Filmen, die er nicht sehen durfte. Vielleicht liegt hier der Ursprung seiner bunt-finsteren Parallelrealität, in der sich u. a. empfindungsfähige Abfalleimer und anarchistische Katzen tummeln. Der britische Künstler malt seine Szenen vor allem in GouacheTechnik, seine Figuren mit den Riesenmündern und Monobrauen modelliert er auch in Keramik. Seine Arbeiten befinden sich in internationalen Privatsammlungen. Für Max Joseph illustrierte er Albrecht Selges Kurzgeschichte über Richard Wagner, der von seinem Hund Pohl im Jahr der Uraufführung von Tristan und Isolde in München begleitet wird – eine kongenial-amüsante Symbiose.

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Foto links: imago images / Christian Thiele, Foto rechts: Sara Bromage

S. 02 Andrea Grützner Können Sie sich an Ihren letzten Tanz erinnern? Zu zweit? Arm in Arm? Richtig, das scheint für uns alle eine Ewigkeit her zu sein. Nicht nur, dass körperliche Nähe an sich in Zeiten der Pandemie so gut wie unmöglich, ja sogar potenziell gefährlich geworden ist – es fehlten, daraus resultierend, die Anlässe. Die Berliner Fotografin Andrea Grützner, Jahrgang 1984, rückt mit ihrer Bildserie Tanztee ganz nah an ein schon fast vergessenes Gefühl heran, dem man, flankiert von schweren Parfumwolken und bunt gemusterten Blusen, über ein hoffentlich sehr robustes Parkett folgt. In den Fotografien, die tanzende Seniorinnen zeigen, dicht an dicht, in rührender Umarmung, klingt Hoffnung auf – und mit viel Fantasie ein langsamer Walzer.

Foto links: Saskia Groneberg, Foto rechts: Reza Jan Mansouri

CONTRIBUTORS


IMPRESSUM S. 58 Jaroslav Rudiš & Nicolas Mahler Eine Nacht, eine Stadt und zwei Freunde, die wissen, dass es nichts Größeres gibt als die Wahrheit des Moments, in dem die Kneipe schließt: Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler lassen ihre melancholisch durchtränkten Nachtgestalten (Luchterhand, 2021) von Bier zu Bier über Liebe, Krieg und Rainer Maria Rilke philosophieren – mit subversivem Witz. Die Graphic Novel des Schriftstellers und des Zeichners rückt den Wahnsinn des Lebens sowie die Spuren der Geschichte Kästchen für Kästchen ins Bild. Winterbergs letzte Reise, der erste Roman, den Rudiš auf Deutsch schrieb, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Von Nicolas Mahler erschien zuletzt die Comic-Interpretation Ulysses im Suhrkamp Verlag.

Max Joseph Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2, 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de, www.staatsoper.de Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.) Redaktionsleitung Sarah-Maria Deckert Chef vom Dienst Christoph Koch

Foto: Leonhard Hilzensauer

Redaktion Serge Honegger, Rainer Karlitschek, Malte Krasting, Lukas Leipfinger, Benedikt Stampfli, Nikolaus Stenitzer; Mitarbeit Sören Sarbeck Bildredaktion Katrin Dillkofer Schlussredaktion Katja Strube Gestaltung Bureau Borsche S. 138 Elfriede Jelinek Als die Redaktion von Max Joseph die Schriftstellerin Elfriede Jelinek bat, in der letzten Ausgabe dieses Magazins ein persönliches Grußwort an den Intendanten der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, zu richten, zögerte sie nicht lange. Immerhin, so schreibt Jelinek, die 2004 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam, verdanke sie ihm einen ihrer für sie wichtigsten Texte: den Bühnenessay rein Gold, der im Rahmen der Neuproduktion von Richard Wagners Der Ring des Nibelungen im Jahr 2012 entstand. In Zwischen Stoffmengen erinnert sich Jelinek an die Entstehung dieses Textes zurück und notiert an ihm entlang Gedanken über die literarische Arbeit am Material.

Autorinnen und Autoren Jörg Böckem, Miron Hakenbeck, Gabriela Herpell, Florian Heurich, Elfriede Jelinek, Astrid Kaminski, Marko Kölbl, Nicola Kuhn, Arno Lücker, Maria März, Jaroslav Rudiš, Albrecht Selge, Cécile Wajsbrot, Feridun Zaimoglu Bildkünstlerinnen und -künstler Julian Baumann, Jan Robert Dünnweller, Yvonne Gebauer, Serghei Gherciu, Dr Julian Gravy, Andrea Grützner, Wilfried Hösl, Tobias Kruse, Katja Lotter, Nicolas Mahler, Berto Martinez, Thérèse Rafter, Luc Tuymans, Joe Webb, Patrick Widmer Marketing Eva Bergmann, T 089 – 21 85 10 27, besucher@staatsoper.de Anzeigenleitung Karla Hirsch, T 089 – 21 85 10 39, karla.hirsch@staatsoper.de

Foto: Karin Rocholl

Lithografie MXM Digital Service, München Druck & Herstellung Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und ­Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträgli­cher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Das Papier von Max Joseph ist zu 100 Prozent aus Recyclingmaterial. Es ist FSC®-­zertifiziert und erfüllt sowohl die Kriterien des Blauen Engels als auch des EU Ecolabels. Zudem wird das Heft mit mineralölfreien Farben gedruckt.

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LIEBE LYRIK Der Titel der diesjährigen Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper, „Der wendende Punkt“, ist einem Sonett von Rainer Maria Rilke entlehnt. Poesie inspiriert, kann trösten und unterhalten. Deshalb haben wir Künstlerinnen und Künstler gebeten, Gedichte vorzustellen, die ihnen viel bedeuten.

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MEIN HERZ, ICH WILL DICH FRAGEN Von Friedrich Halm, 1850 Mein Herz, ich will dich fragen, Was ist denn Liebe, sag‘? – „Zwei Seelen und ein Gedanke, Zwei Herzen und ein Schlag!“ Und sprich, woher, woher kommt Liebe? – „Sie kömmt und sie ist da!“ Und sprich, wie schwindet Liebe? – „Die war’s nicht, der’s geschah!“ Und was ist reine Liebe? – „Die ihrer selbst vergisst!“ Und wann ist Lieb‘ am tiefsten? – „Wenn sie am stillsten ist!“ Und wann ist Lieb‘ am reichsten? – „Das ist sie, wenn sie gibt!“ Und sprich, wie redet Liebe? – „Sie redet nicht, sie liebt!“

Ich habe diese Zeilen von Friedrich Halm für meine aktuelle CD eingesprochen. Ich mag an dem Gedicht besonders das kindliche Fragen. Die Antworten scheinen dabei von der Liebe selbst zu kommen. Am schönsten finde ich den Schluss, dass die Liebe nämlich in Wirklichkeit gar nicht zu reden braucht. Sie ist, was sie ist. Marlis Petersen, Sopran (Titelpartie in Salome)

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DON’T LOOK AT THE CLOCK. Von Katya Richardson, 2021 don’t look at the clock. don’t look at the clock. 30 things I need to do before I’m 30: learn to poach an egg / learn an instrument / learn a language / learn how to care for a plant long enough not to kill it… / (should I try being vegetarian? that should teach me something about plants…) learn to poach an egg / run a marathon / learn an instrument / learn a language / learn to meditate / learn how to care for a plant long enough not to kill it / learn to poach an egg / learn an instrument / learn to meditate / learn to poach an egg / run a marathon / learn how to care for a plant long enough not to kill it / learn a language / poach an instrument / eat a plant / learn to meditate / poach an egg / learn an instrument / eat a plant / learn to meditate / language / plant / instrument / egg / meditate / plant / egg / plant / eggplant? / marathon / instrument / poach an egg / learn an instrument / meditate / m e d i t a t e / language / plant / learn an instrument / poach an egg / eat / plant / learn / meditate / (meditate!) / eat a plant / learn a language / eat / meditate / learn, learn, learn / meditate / learn / eat an instrument / LEARN / run a language / plant an egg / eat a LANGUAGE / POACH A PLANT / EAT AN EGG??? / They say it takes two weeks to make or break a habit. Two weeks isn’t that long… buy a house / buy a car / buy a one-way ticket / buy a house / change your hair / buy a house / change your city / buy a house / change your mind andchangeitback again buy a carbuyaone-way ticket change your citychangeyour hair changeyour mindbuy a oneway ticketchange yourcitychangeyourhair / changeyourmindandchangeitbackagain??! / Focus! Stick to the plan. (What is the plan?

Does Finn have a plan? .......mm probably not.) M e d i t a t e. Sit up straight and mind your posture. Don’t slouch. Feet on the floor. Focus, stick to the plan. Breathe. Focus on your breath. Take a deee e e e e e e p breath. inhale. exhale. Focus on the task at hand.

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Posture – Don’t slouch, feet on the floor, sit up straight! (am I spontaneous enough???) Focus! F o c u s. Stick to the plan. Mind your posture. don’t look at the clock. don’t look at the clock. don’t look at the clock. don’t look at the clock. don’t look at the clock. don’t look at the clock. don’t look at the clock. Focus!! Focus on the task at hand. don’t look at the clock. what should I have for lunch?) don’t look at the clock. (I haven’t had a salad in a while..) FOCUS! (I should really make an effort to work out more) FOCUS!!! don’t look at the clock. don’t look at your phone. don’t look at your phone. don’t look at your phone. don’t look at your phone. don’t look at your phone. don’t look at your phone.

sit up straight / don’t slouch / mind your posture / stick to the plan / don’t look at the clock, don’t –

..Oh. .…I forgot to water my plant today.

Dieses Gedicht entstand während der Vorarbeiten für die Choreographie von Charlotte Edmonds. In der Kreation Generation Goldfish, die Teil des Ballettabends Heute ist Morgen ist, beschäftigen wir uns mit dem Thema Aufmerksamkeit. Wie lange und konzentriert kann man sich einem Gegenstand oder einem Ereignis widmen? Und wie oft werfen wir die Gegenwart für die Zukunft beiseite? Diese Fragen spiegeln sich in lyrischer Form in den Zeilen wider, von denen einige auch im Tanzstück zu hören sein werden. Katya Richardson, Komponistin (Heute ist Morgen)

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ABENDLIED (dritte Strophe) Von Matthias Claudius, 1779 Seht ihr den Mond dort stehen? — Er ist nur halb zu sehen, Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, Die wir getrost belachen, Weil unsre Augen sie nicht sehn.

Als ich Mutter wurde, blätterte ich mich durch meine Volksliederbände, um mein Kind in den Schlaf zu singen und mich an mehr als immer nur die erste Strophe der Lieder zu erinnern. Dabei stieß ich auf das schöne Lied Die Blümelein, sie schlafen und eben auch auf die dritte Strophe von Der Mond ist aufgegangen. Ich war beeindruckt von der poetischen Tiefe in dieser im besten Sinne schlichten Form. Wieder zu üben, genauer hinzuschauen und neugierig zu bleiben, sich eine Meinung zu bilden, aber vor allem auch zu fragen und dann wirklich aufmerksam und interessiert zuzuhören, um auch die auf den ersten Blick verborgenen Seiten zu verstehen, das wünsche ich mir seit Jahren und versuche es selbst. Okka von der Damerau, Mezzosopran (Brangäne in Tristan und Isolde)

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OHNE TITEL Von Sophie Scholl, 1943 Die Sonne scheint noch.

Das sind die letzten Worte, die Sophie Scholl zu ihrem Bruder Hans sagte, bevor das Fallbeil ihre Köpfe von den Körpern trennte. Manchmal schreiben Menschen Gedichte, ohne es zu merken. Und das ist hier der Fall. Das könnte man dann das „wahre“ Gedicht nennen. Entstanden in einem existenziellen Moment des Lebens, in denen Worte aus Mündern purzeln und kleine Seelenstückchen an sich kleben haben. Die Tagebücher und Schriften der Geschwister Scholl sind voll von solchen wahren Gedichten. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung, dem Staunen über die Schönheit der Natur und der Wehmut (ein Wort, für das es kein Emoji geben kann) über das Menschsein. Dazwischen ein tiefer Glaube. Daran, dass es sie gibt, Humanität – irgendwo muss sie doch sein! Und die Hoffnung, dass es so etwas gibt wie ein Seelenheil. Irgendwo da, wo die Sonne noch scheint. David Bösch, Regisseur

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28 Edward Poynter, Orpheus und Eurydike, 1862, Detail © Historic Collection / Alamy Stock Foto, Gestaltung Bureau Borsche

OBJECTS IN MIRROR ARE CLOSER THAN THE Y APPEAR


VARIATIONEN ÜBER ORPHEUS Wer zurückblickt, sieht nicht die Vergangenheit – sondern ihr Verschwinden. So erging es Orpheus mit seiner Eurydice in Ovids Metamorphosen. Die Rückschau ist die Geste des Stillstands schlechthin. An entscheidenden Wende­ punkten hilft deshalb nur eines: ein mutiger Blick nach vorn.

Text Cécile Wajsbrot 29


Orpheus weiß, mit Eurydice aus der Unterwelt aufsteigen darf er nur unter der Bedingung, dass er sich nicht zu ihr umdreht, aber … „Der Pfad führt sie durch Totenstille bergan; steil ist er, dunkel und in dichten Nebel gehüllt. Schon waren sie nicht weit vom Rand der Erdoberfläche entfernt – besorgt, sie könne ermatten, und begierig, sie zu sehen, wandte Orpheus voll Liebe den Blick, und alsbald glitt sie zurück. Sie streckt die Arme aus, will sich ergreifen lassen, will ergreifen und erhascht doch nichts, die Unselige, als flüchtige Lüfte.“ Zwei Phasen hat der Aufstieg in den Metamorphosen. Den Weg hinauf durch Stille und Dunkelheit, dann die Wendung. Es ist, als fordere die Landschaft der Unterwelt, dem steilen Weg hinauf zum Trotz, den Stillstand. Als fördere die Nähe zur Erde, zur Erdoberfläche, die Bewegung. Denn obwohl Ovid erklärt, dass sich Orpheus, „begierig, sie zu sehen“, „voll Liebe“ umsieht, ist hier mehr am Werk als die Liebe, als die Ungeduld. Es ist, als nähme die Landschaft der Unterwelt Eurydice in ihren Stillstand auf, als könnte die aufgehobene – irdische – Zeit der Bewegung nicht beistehen. Nicht umdrehen, nicht zurückschauen. In der Verfilmung Orpheus von Jean Cocteau aus dem Jahr 1950 sieht Orpheus Eurydice in einem Rückspiegel. Aus Versehen. Zurück im Raum, zurück in der Zeit. Man kehrt um und alles ist wieder, wie es war. Aber auch oder vor allem ist es so, dass das Leben keinen Stillstand erträgt. Die Annäherung an die Erde, auf der sich das menschliche Leben abspielt, verlangt nach einer Geste. Einem Blick, der uns aus dem Stillstand herauszieht, aus der Ordnung der Dinge, der aber die Rückkehr in die Ordnung der Dinge zur Folge hat. Nach Orpheus wird auch Aeneas allein aus der Unterwelt wiederaufsteigen und darf weiterleben nur, weil er nicht versucht, Anchises oder Dido zurückzuholen. Durch seine Umwendung bleibt etwas vom Stillstand der Unterwelt an Orpheus haften. Orpheus aber ist „entsetzt“, sagt Ovid, „von Trauer entstellt“, „sein Leib zu Stein“ geworden, und so bleibt er sieben volle Tage am Ufer sitzen und hofft, die Schwelle erneut zu überschreiten. Aber vergebens. Auch wenn sein Leben scheinbar weitergeht, ist er nur mehr ein lebender Toter, erstarrt in jenem vorzeitigen Moment, in dem sich alles wendet – in Stille und Dunkelheit. Ist nicht vielleicht die Geschichte der Kunst eine langsame Entfaltung hin zur Bewegung? Erst die sakralen maskierten Gestalten des antiken Theaters, die Skulpturen im ewigen aufrechten Stand, die erstarrten ernsten Gesichter der byzantinischen Ikonen, dann kommen Perspektive und Fluchtpunkt hinzu, die geschaffenen Figuren lösen sich vom Hintergrund, die in Marmor oder Stein festgehaltenen Bewegungen werden flüssiger, die Fotografie erfasst einen Gesichtsausdruck, das Kino erschafft die Bewegung im Raum, die Rockstars rennen auf die Bühne. Das Korsett des klassischen Balletts platzt. Nicht als Nachahmung des Lebens – das Werk selbst ist Bewegung.

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Als Orpheus sich umdreht, sieht er Eurydice nicht, weil sie genau in dem Augenblick, in dem er sie ansieht, verschwindet. Er sieht ihr Verschwinden, er sieht ihre Anwesenheit vergehen. Wann immer wir versucht sind, uns umzudrehen, umzukehren, Rückschau zu halten, sehen wir nicht die Vergangenheit, sondern ihr Verschwinden. Denn ins Leben aufsteigen, aus Stille und Dunkelheit austreten, können wir nur, wenn wir nach vorn blicken. Die Umwendung ist die Geste des Stillstands schlechthin, nichts ist mehr hinter uns – weil alles verschwunden ist – und nichts mehr vor uns – weil wir uns starrköpfig davon abwenden. Einer Baustelle im ewigen Stillstand gleichen jene, die ihr Leben dem Erhalten widmen, das alte Gebäude existiert nicht mehr, das künftige noch nicht, es bleibt nur die Leere, in die sie versinken. Das heißt nicht, dass die Vergangenheit nicht existiert, sie existiert in der Erinnerung, sie reißt sich selbst mit sich und kann unerwartet wiederaufsteigen, ans Licht gebracht werden durch eine Empfindung. Das ist die wiedergefundene Zeit bei Proust. Keine sich umwendende Gestalt, sondern ein Aufschießen. „Versunken noch in die trübseligen Gedanken, von denen ich eben sprach, war ich in den Hof des Guermantesschen Palais eingetreten und hatte in meiner Zerstreuung nicht bemerkt, dass ein Wagen sich näherte; beim Ruf des Chauffeurs hatte ich gerade noch Zeit, rasch zur Seite zu springen. Ich wich so weit zurück, dass ich unwillkürlich auf die ziemlich schlecht behauenen Pflastersteine trat, hinter denen eine Remise lag. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas weniger hoch war als der vorige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor dem gleichen Glücksgefühl, das mir zu verschiedenen Epochen meines Lebens einmal der Anblick von Bäumen geschenkt hatte, die ich auf einer Wagenfahrt in der Nähe von Balbec wiederzuerkennen gemeint hatte, ein andermal der Anblick der Kirchtürme von Martinville oder der Geschmack einer Madeleine, die in Tee getaucht war, sowie noch viele andere Empfindungen, von denen ich gesprochen habe und die mir in den letzten Werken Vinteuils zu einer Synthese miteinander verschmolzen schienen. Wie in dem Augenblick, in dem ich die Madeleine gekostet hatte, waren alle Sorgen um meine Zukunft, alle Zweifel meines Verstandes zerstreut. Die Bedenken, die mich eben noch wegen der Realität meiner literarischen Begabung, ja der Literatur selbst befallen hatten, waren wie durch Zauberschlag behoben.“ Woher kommt dieses Glücksgefühl?, fragt sich der Erzähler, der es, als er versucht, noch einmal über denselben Stein zu stolpern, nicht mehr wiederfindet (so wie Orpheus kein zweites Mal in die Unterwelt eintreten kann. Denn alles geschieht nur einmal). Die Antwort folgt, es ist das Aufschießen des reinen Augenblicks, der die feste Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufhebt, das vollkommene Ineinandergehen von Erinnerung und Wirklichkeit – nicht wie bei Orpheus, der die Zeit aufzuheben versucht hatte, indem er sie negierte, sondern als belebende Quelle – die Quelle, das ausdrückliche oder unterschwellige Bild der Sonette an Orpheus, die Rilke verfasste, als Proust gerade an den letzten Seiten seines Werkes schrieb.


Eine Feder, ein Flügelschlag, ein unmerkliches Ereignis, das niemand ein Ereignis nennen würde, kann eine Änderung bewirken.

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.“ In der neunten These zum Begriff der Geschichte von Walter Benjamin dreht der Engel sich um, nicht in einer plötzlichen Bewegung, sondern wie in Ewigkeit. Und er sieht Ruinen. „Aber“, fährt Benjamin fort, „ein Sturm weht vom Paradiese her (…) Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt (…). Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“  – Wir, die Kinder der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, waren ein wenig wie der Engel der Geschichte, unser Gesicht der vergangenen Katastrophe zugewandt, die uns prägte, noch bevor wir geboren waren. Doch zur Jahrhundertwende hob sich der Wind – des Paradieses? – und gab uns unsere Zukunft zurück. Der Fall der Mauer, die Wende, etwas brachte den scheinbaren Stillstand der Geschichte wieder in Gang und sie stieg aus der Wiederholung aus, um sich – und mit sich auch uns – unbekannten Gefilden zuzuwenden, die voller Versprechungen waren und voller Ängste mit verschiedensten Namen, Klimakrise, Artensterben, Pandemie, radioaktiver Abfall. Dem Tier im Dschungel, von dem John Marcher, der Protagonist der langen Novelle von Henry James, erwartet, er werde ihm irgendwann in seinem Leben begegnen, entkommen wir nicht. Ob ersponnen oder real, seine Anwesenheit – Schatten der Vergangenheit oder Bedrohung der Zukunft – lastet auf uns. Der Roman Zum Leuchtturm von Virginia Woolf besteht aus drei Teilen. Im Mittelteil, einem veritablen zwanzigseitigen

Prosagedicht mit dem Titel Zeit vergeht, wird das Wirken der Zeit auf ein unbewohntes Haus über zehn Jahre hinweg beschrieben. Der neunte Abschnitt birgt den entscheidenden Moment. „Denn jetzt war jener Augenblick, jenes Zögern gekommen, wo die Dämmerung erzittert und die Nacht noch verweilt; wo das Gewicht einer Feder die Waagschale zum Sinken bringen kann. Eine Feder noch, und das Haus, sinkend, fallend, wäre hinabgestürzt in die Tiefen der Finsternis.“ Woolf beschreibt die Folgen des Schiffbruchs des Hauses „auf dem Sande der Vergessenheit“. Zu allen Seiten offen, die Dielen bloßgelegt, ein Unterschlupf der Obdachlosen, das Dach eingestürzt, bis es völlig verschwindet und nur, viel später, eine Art Hobbyarchäologe noch Spuren einer ehemaligen Behausung findet. Aber die Feder fällt nicht. Die Bewohner kehren zurück – der Erste Weltkrieg ist zu Ende – und eine Reinemachfrau beseitigt das Chaos. Eine Feder, die fällt oder nicht. Lange bevor die Chaostheorie die Auswirkungen eines winzigen Ereignisses beschreibt, den Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien, der in Texas einen Orkan auslöst oder verhindert, wie in dem berühmten Vortrag von Edward Lorenz von 1972, setzt Virginia Woolf schon 1927 – ein merkwürdiger Zufall der verkehrten Ziffern – dieselbe Idee in eine ähnlich schwerelose Metapher. Eine Feder, ein Flügelschlag, ein unmerkliches Ereignis, das niemand ein Ereignis nennen würde, kann eine Änderung bewirken. Wer kann in unserem Leben, im Privaten, im Lauf der Welt, den Augenblick bestimmen, in dem ein Ereignis beginnt? Ist der Mauerfall nur der Mauerfall? Es gab die Pressekonferenz, auf der Günter Schabowski auf die Frage des Journalisten, wann die Reisefreiheit zwischen Ost- und Westdeutschland in Kraft trete, auf dem falschen Fuß erwischt antwortete: sofort,

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Orpheus’ Verbrechen bestand darin, sich der Veränderung zu verweigern, an der Vergangenheit festzuhalten, nur um den Zeitlauf nicht zu unterbrechen.

unverzüglich. Es gab die Entscheidung des Grenzsoldaten, der an der ungarisch-österreichischen Grenze die Ostdeutschen durchließ, die aus ihrem Land flohen. Es gab, früher noch, den Aufstieg Michail Gorbatschows, die Perestroika … Wann ist die Feder gefallen? Wann war der entscheidende Moment? Sind nicht die Ereignisse, die schlagartig aufzutreten scheinen und unser individuelles und kollektives Gedächtnis prägen, das Ergebnis einer Kette von Ereignissen und der Beginn einer neuen? Der Obsidian ist ein schwarzes Gesteinsglas, das durch die Metamorphose von Lava entsteht. Während sie erkaltet – zwischen dem Ausbruch des Vulkans und der Kristallisation –, geschieht die Verglasung. Die Metamorphose erfolgt nicht augenblicklich, sie hat eine gewisse Dauer, erfolgt in einer Zwischenzeit, zwischen jetzt und ferner Zukunft. In den präkolumbianischen Kulturen viel genutzt, vor allem in Mexiko, diente der Obsidian den Azteken als Material für ihre Spiegel, die sie zum Wahrsagen verwendeten. John Dee, der Astrologe von Königin Elizabeth I. und Vorbild für den Zauberer Prospero aus Shakespeares Drama Der Sturm, soll einen solchen Spiegel besessen haben – den später Horace Walpole kaufte, ein Pionier des Schauerromans. Verglasung, Versteinerung. Orpheus wendet sich um und bleibt, an der Oberfläche angekommen, versteinert, der Ewigkeit gewordene Augenblick, der schwarze Stein des Obsidians, in dem sich die Zukunft lesen lässt. Doch was, wenn Orpheus, indem er sich umwandte, das Mögliche, die Überraschung in eine schon abgeschlossene Geschichte einbrachte? Wenn der lange Aufstieg an die Oberfläche das geläufige Bild eines kontinuierlichen, gerad-

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linigen Zeitstrahls ist, den die Geste der Umkehr unterbrochen hätte? Als Gefangener seiner Zeit – seiner Epoche ebenso wie seiner Vorstellung von Zeit – versteht er das nicht, weshalb die begonnene Geste ihr Ziel verfehlt. Orpheus hat sich nicht auf die Überraschung eingelassen, auf die Öffnung, die seine Geste – paradoxerweise – bedingte. Er konnte sie nicht in die Zukunft überführen und blieb lieber in einem Schmerz, den allein der Tod erlösen kann. Er wollte, dass alles wieder wird, wie es war, aber es wird nie wieder alles, wie es war. Deshalb kann Eurydice nur verschwinden. Orpheus’ Verbrechen – die Schuld an ihrem zweiten Tod – bestand darin, sich der Veränderung zu verweigern, an der Vergangenheit festzuhalten, nur um den Zeitlauf nicht zu unterbrechen. Warum sollte die Zeit nicht eine Abfolge sein, eine Abfolge von Augenblicken – Virginia Woolf nannte den Augenblick in ihrem Roman Die Wellen eine perfekte Kugel, die also an sich existiert –, die immer und jederzeit eine Öffnung ermöglichte? Das jedenfalls ist die Lektion, die Franz Rosenzweig und Gershom Scholem aus den umwälzenden Katastrophen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen: Alles kann immer und jederzeit unterbrochen werden, die Dinge einen unbekannten Lauf nehmen. Und anstatt sich in die Ungewissheit und die Verzweiflung zurückzuziehen, wenden sich beide der Öffnung zu, dem Empfangen. Empfangen, was kommt, an die Überraschung glauben – ist nicht das vielleicht der innigste Sinn des Lebens?

Mehr über die Autorin auf S. 20 Aus dem Französischen von Frank Sievers


Ary Scheffer, Orpheus, die Trauer über den Tod der Eurydike, 1814, Detail © ART Collection / Alamy Stock Foto, Gestaltung Bureau Borsche

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IM LABYRINTH DES WIR

DAS PRINZIP WARLIKOWSKI

Text Miron Hakenbeck Festspielpremiere Tristan und Isolde 34


Bei Krzysztof Warlikowski verbinden sich Arbeit und Leben, Proben, Inszenieren, Gastspiele und Reisen zu einem nomadenhaften Gesamtkunstwerk, das an vielen Orten zu Hause ist. Ein Streifzug durch ein eigentümliches Regiewerk.

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Es hätte auch alles anders kommen können. In der von Klaviermusik erfüllten Lounge eines altehrwürdigen Hotels inmitten einer europäischen Hauptstadt treffen sich der Regisseur und der Direktor des Opernhauses einer anderen Stadt, die auf ihre Weise auch Hauptstadt ist. Das offenherzige Gespräch entwickelt sich nach einer Weile zu einem Monolog, bei dem der Theaterdirektor die Rolle des Zuhörers einnimmt. Der Regisseur übt scharfe Kritik am deutschen Theatersystem, in seinen Augen eine auf Effizienz getrimmte Maschinerie, die jede künstlerische Energie ersticken würde. Überhaupt würde er sich in dem Land der musterschülerhaften Perfektion und vielen Single-Existenzen stets unwohl fühlen. Nicht zuletzt sei ihm kaum möglich, dort nicht bei jedem Schritt an den Krieg zu denken. Der Theaterdirektor, der ein so berufsbedingtes wie naturgegebenes Interesse an Künstlern und ihrer Weltsicht hat, überlegt: Sollte er dieser Wortflut mit Argumenten begegnen? Was wollte sich hinter den polemischen Zuspitzungen offenbaren? Gab der Regisseur ihm umständlich zu verstehen, dass er partout nicht noch einmal an dem Opernhaus arbeiten wolle, in dessen Mission er ihm gegenübersaß? Der Direktor ist geübt darin, Künstler zu umwerben. Jetzt aber verlässt ihn die Lust. Eher seinem Bauchgefühl als einem Kalkül folgend erhebt er sich, erklärt knapp „Dann können wir es ja auch lassen!“, nimmt seinen Mantel und geht.

Im Detail mag diese Episode anders verlaufen sein, in ihren groben Zügen ist sie verbrieft. Angesichts dieser verfehlten Begegnung, die in die Anfangsjahre der Münchner Intendanz von Nikolaus Bachler zu datieren ist, könnte man es ein Wunder nennen, dass diese nach 13 Jahren mit einer WarlikowskiInszenierung von Tristan und Isolde zu Ende geht. Und dass Krzysztof Warlikowski und sein Team ab 2013 regelmäßig an der Bayerischen Staatsoper gearbeitet haben. Über die Jahre ist München neben Paris und Brüssel sogar eine der Basisstationen für Warlikowskis Erkundung des Kosmos Oper geworden.

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GESTÄNDNISSE, MASKEN Dabei lag München bereits am Anfang von Warlikowskis Opernweg: Noch ein Jahr vor Bachlers erster Spielzeit, aber von diesem angeregt, hatte Warlikowski mit Tschaikowskys Eugen Onegin nachhaltig gezeigt, welche Diskurse die Gattung Oper auslösen kann. Anstelle der Petersburger Ball­ gesellschaft tanzten oberkörperfreie Cowboys zur berühmten Polonaise im dritten Akt, parodierten Männlichkeitsposen und begegneten einander mit unverhohlener Zärtlichkeit. Was einen Kilometer weiter südlich am Gärtnerplatz in einem anderen Repertoire wahrscheinlich goutiert worden wäre, löste im Nationaltheater einen Entrüstungssturm aus. Auch das Feuilleton brachte sich werkverteidigend gegen queere Lesarten in Stellung: Anders als im intoleranten Polen seien diese in Deutschland ohnehin nicht mehr nötig! Dabei zielte mancher so scharf wie der Titelheld, der die seinen Fantasien entsprungenen Jungs mit der Pistole auf Abstand hielt. Der häufig zitierte Einstieg der Deutschlandfunk-Kritik sei noch einmal strapaziert: „Schwule Kunstpenetration. Ein homo­ sexueller Regisseur vergewaltigt heterosexuelle Oper.“ Die Aufregung um die schmusenden Cowboys verstellte den Blick auf etwas viel Aufregenderes: Warlikowski hatte zu einer Reise ins Subjektive der Titelfigur eingeladen. Er ließ Onegins Duell mit Lenski und die spätere Wiederbegegnung mit Tatjana ohne Pausenunterbrechung im gleichen Raum spielen. Mit seinem riesigen Doppelbett konnte dieser vielfach gedeutet werden: als Demonstration von Tatjanas Eheglück, als Hotelzimmer für eine unmögliche Affäre zwischen Tatjana und Onegin, als anonymer Ort einer erträumten oder tatsächlichen Liebesnacht zwischen diesem und Lenski, gefolgt von einem tatsächlichen oder nur symbolischen Schuss in Lenskis Brust. Nicht zuletzt als Überall-undNirgends von Onegins Einsamkeit, in der sich Gegenwart und Erinnerungen, Lust- und Angstfantasien überlagerten. Diese Bewegung hin auf innere Vorgänge ist der Kern von Warlikowskis Theater. Im Fall von Eugen Onegin fragte der Regisseur danach, welches ambivalente Begehren und welche Ängste der Titelfigur geglückte Beziehungen verhinderten. Die Annahme einer unterdrückten Liebe Onegins zu Lenski hatte natürlich mit Tschaikowskys Biographie zu tun, dem tragischen Versuch des schwulen Komponisten, mit einer Ehe die ringsherum vorgelebte Normalität wenigstens zu versuchen. Kritiker fragten 2007, warum Tschaikowskys Homosexualität jemanden interessieren sollte. Noch vierzehn Jahre später muss man vehement zurückfragen, wie davon auszugehen ist, dass diese nicht von Interesse sei. Warlikowski weiß um die Notwendigkeit der Trennung von Leben und Werk eines Künstlers – aber er ist hellhörig für die kleinste Spur, dass ein Komponist eigene existenzielle Lebensfragen in ein Werk überführt hat. Gleichzeitig sucht er in sich selbst nach einem empathischen Widerhall der emotionalen Ausnahmezustände der Figuren dieser Werke. Streng genommen drehen sich alle Inszenierungen Warlikowskis eigentlich um ihn selbst. Das heißt, um seine Fragen ans


Leben. Theater ist für ihn ein Mittel der Selbstergründung. Was wiederum auch als Einladung an die Darstellenden und das Publikum zu verstehen ist. UNAUFHÖRLICHE SUCHE Treffen Sänger zu Probenbeginn erstmals auf Warlikowski, erleben sie eine einigermaßen irritierende Initiation. Der Regisseur sitzt ihnen gegenüber, lacht verschmitzt und sagt erst einmal nichts. Irgendwann springt er auf, läuft immer größere Bahnen durch den Raum und wirft eine Frage nach der anderen in die Luft, ohne eine einzige Antwort zu geben. Als beteiligter Dramaturg fühlt man sich kurz zum Narren gemacht: Längst gemeinsam getroffene Entscheidungen lässt Warlikowski unter den Tisch fallen, als gelte es, erneut beim ersten Staunen über ein Werk zu beginnen. Vollkommen uninteressiert daran, den Darstellern zu beweisen, dass

er in der Lage wäre, sie in eine ausgeklügelte Konzeption einzubauen, verführt Warlikowski sie zu einem Prozess gemeinsamen Suchens. Er skizziert Handlungsmotivationen und verwirft sie gleich wieder, umkreist das Stück wie eine rätselhafte Kammer und stößt eine Tür nach der anderen auf, durch die man zu ihr vordringen könnte. Die erste Viertelstunde schaut der Großteil skeptisch, danach ist eigentlich jeder angesteckt von diesem Appetit, Hypothesen aufzustellen. Beglückend ist, wenn es gelingt, diesen Zustand des unaufhörlichen Suchens möglichst lange in den Proben weiterleben zu lassen. Wie oft dabei Entscheidungen hinterfragt werden, ist für viele Sänger verunsichernd. Anders als andere ähnlich tief in den Innenwelten der Figuren suchende Regisseure zeigt Warlikowski dieses Innen nicht durch minutiös einstudierte Vorgänge als eine restlos zu entschlüsselnde Welt. Er will die Sänger eher dahin bringen, sich im Spiel den oft unvermittelten, unlogischen und irrationalen Grenzerfahrungen der Figuren auszusetzen. In der Oper bleiben für diesen Prozess bis zum ersten Komplettdurchlauf knapp vier Wochen. Das ist wenig für einen Regisseur, der mit den Schauspielern seines Warschauer Ensembles zu Beginn einer neuen Arbeit wochenlang ausschließlich Texte liest und diskutiert. Auch mit der Premiere ist dort die gemeinsame Suche nicht beendet: Warlikowski sitzt bei nahezu jeder Vorstellung in der letzten Reihe der Zuschauertribüne, analysiert die Energie zwischen Bühne und Publikum, übt anschließend Kritik, verändert. Das setzt vertrauensvolle Beziehungen voraus. Der permanent das Labyrinth des Ich durchstreifende Regisseur hat sich über

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Die Handyfotos aus Małgorzata Szczęśniak unerschöpflicher tagebuchartiger Sammlung geben einen Einblick in die Arbeit des Regisseurs Krzysztof Warlikowski, egal ob im eigenen Theater in der polnischen Hauptstadt, in seiner Wahlheimat Palermo, den Probenräumen von Paris, München oder Salzburg.

Jahre hinweg ein Wir geschaffen. Das sind Schauspieler, mit denen er zum Teil seit Ende der 1990er Jahre arbeitet. Das sind vor allem aber die Bühnen- und Kostümbildnerin Małgorzata Szczęśniak und der Choreograph Claude Bardouil. VOR DEM GESETZ Die vier sitzen auf Stühlen nahe der Bühnenkante, blicken Richtung Zuschauerraum: die Kaiserin, die keinen Schatten wirft, und ihre Amme, die Frau des Färbers Barak, die ihren Schatten abtreten wollte, Barak selbst. Alle vier sind zur Beurteilung ihres Handelns in die Welt des Geisterkönigs beordert worden. Trotzdem sitzt jeder von ihnen hier allein. Warlikowski hatte Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals symbolisch aufgeladene Frau ohne Schatten entmystifiziert, ohne sie zu entzaubern: Alles begann quasi auf der Couch. Genauer: auf der Ruheliege eines Sanatoriums, wo der Weg der Kaiserin heraus aus der Neurose und hinein in die Selbstkonfrontation ihren Anfang nahm. Gerade wegen der Entschlüsselung der Märchenelemente als Imaginationen einer in sich verstrickten Seele bevölkerten rätselhafte Fabelwesen die Inszenierung. Im dritten Akt war alles Märchenhafte aber vollends verschwunden: Hinter den vier zu Gericht Geladenen gähnte ein riesiger weißgekachelter Raum, in seiner Tiefe eine Doppeltür und ein Schreibtisch mit einem Akten ordnenden Boten. Das Warten vor dieser Tür suggerierte jedem der vier, schuldig geworden zu sein: am Partner, an der Welt der Väter und ihren Gesetzen, aber auch an der Nachwelt, die nicht ins Leben treten konnte, solange die Paare

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kinderlos blieben. Indem die vier Protagonisten an der Rampe dem Publikum gegenübersaßen, wurde diese Konfrontation in einen größeren kollektiven Zusammenhang gestellt. Was daran erinnerte, dass Strauss’ und Hofmannsthals Läuterungsbotschaft nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs uraufgeführt worden war und ebenso bei der Wiedereröffnung des aus den Ruinen des nächsten Weltkriegs aufgebauten Münchner Opernhauses als Stück der Stunde erschien. Die direkte Gegenüberstellung von Akteuren und Publikum ist ein wiederkehrendes Element in Warlikowskis Inszenierungen, durch das sich die suggestiven Bühnenräume in den Zuschauerraum hin öffnen: als Konzertsänger gekleidete Kinder am Ende von Wozzeck (Warschau, 2006), Torte essende Witwen beim Leichenschmaus in Iphigénie (Paris, 2006), die Zuschauer einer Kabarettvorstellung in Salome (München, 2019). Das Publikum folgt nicht allein einer Geschichte, sondern nimmt Teil an einem gemeinsamen Ritual. In diesem Sinn sind Małgorzata Szczęśniaks groß­ dimensionierten, rechtwinkligen Bühnenräume auch keine als naturalistisch zu lesenden Orte. Sie definieren vielmehr das Spielfeld für die theatralische Erkundung, über dem sichtbar tief die Scheinwerferbatterien hängen. Zumeist kalte Materialien – Sichtbeton, chromglänzender Stahl, Plexiglas und Kacheln – oder riesige Holzvertäfelungen bilden eine unmenschlich-perfekte Architektur. Es sind funktionale Räume mit der Brillanz von OP-Sälen oder Laboratorien. Durchgangsorte, die niemandem ein Zuhause bieten würden. Hier vollführen die Darsteller ihre Figurenerkundungen, den


Blicken des Publikums ausgeliefert, selbst wenn das Licht von Felice Ross sie in violette oder grüne Inseln taucht. Ohne in ironische Distanz zum Stoff zu gehen und ihr Spiel als Thea­ter auf dem Theater auszustellen, bleiben sie hinter den Figuren immer ein Stück weit anwesend. Videos lassen die Wände transparent werden: Denis Guéguin macht mit der Livekamera oder Filmzitaten das Körperliche riesengroß. Der Animationsfilmer Kamil Polak zaubert Traumhaftes und Verdrängtes hervor. So wie die Soldaten, Pferde und Geschütze, die in Die Frau ohne Schatten langsam in Wassertiefen versanken. Das Ritual von Oper als gemeinsamem Erkundungsprozess sollen auch die szenischen Prologe beschwören, die Warlikowski noch den raffiniertesten Stückanfängen voranstellt. Mit ihnen unterläuft er die Erwartung des Vertrauten, verweigert die Konvention eines punktgenau beginnenden fiktionalen Spiels, schafft Übergänge zwischen gemeinsam geteilter Realität und Fiktion. ALL THESE ARTISTS ARE PRESENT Warlikowski hat keine Scheu vor Zitaten. Häufig verwendet oder paraphrasiert er Filme, Pop- und Kunstphänomene. Manchmal lassen sich diese Zitate als Zeichen dechiffrieren, oft weisen sie als ein Netz assoziativer Bedeutungen rätselhaft weit aus der Handlung hinaus. So flackerten am Ende der Frau ohne Schatten die Graffitis von Helden im Ringen um eine gerechte Welt über die Wände. Was aber suchte King Kong an der Seite von Mahatma Gandhi und Karl Marx? Filmsequenzen, die für ihn moderne Mythen gleich Erfahrungen kondensieren, projiziert Warlikowski großformatig in den Bühnenraum. Diese cinephilen Querverweise auf unseren kollektiven Bilderschatz ermöglichen ihm in der Oper die Öffnung der dramatischen Fabel hin zu einem thematischen Erzählen, was er in seinen Schauspielarbeiten durch die Gegenüberstellung klassischer Dramen mit zeitgenössischen Prosatexten etwa von Hanna Krall oder J. M. Coetzee erreicht. Alviano Salvagos „Elysium“ in Franz Schrekers Die Gezeichneten zeigte Warlikowski 2017 als Supershow der Gegenwartskunst, deren Besuchermassen sich über das Ausgestellte ihre Mäuseköpfe zerbrachen. Neben Filmklassikern

des Expressionismus gab es hier Reenactments von Performances der Jahrtausendwende zu sehen, Beispiele für das Bestreben von Künstlern, in ihren Gesten so einfach und direkt wie möglich zu werden. So wie Tilda Swinton, die sich als sleeping beauty in eine Museumsvitrine legte. Oder Marina Abramović, die jedem Ausstellungsbesucher des New Yorker MoMA einen intimen Blickaustausch anbot. Im Licht der künstlichen Sonne, die sich der missgestaltete Alviano in sein „Elysium“ holte, wollte Warlikowski diese Kunstzitate als Befragung unserer Erwartungen an Kunst verstanden wissen: Ist sie der Ort von Grenzüberschreitungen und Tabubrüchen? Oder geht es mehr denn je darum, kommunikativ zu sein? RELEKTÜREN DER GESCHICHTE Mit seiner zweiten Münchner Strauss-Inszenierung hat Warlikowski irritiert. Am Ende der Salome gab es keinen abgeschlagenen Kopf des Jochanaan, den die Prinzessin hätte küssen können. Stattdessen betrat der Prophet unversehrt die Bühne. Auch Naraboth, der sich zu Stückbeginn getötet hatte, erstand von den Toten auf, als wolle er die Kunde von der Ankunft eines Messias bekräftigen. Der Messias allerdings war nicht gekommen und dieses Ende alles andere als utopisch: Naraboth verteilte Gift für einen kollektiven Suizid – offenbar der letzte Ausweg, um einer drohenden Vernichtung zu entkommen. War bis zu diesem tödlichen Moment alles nur ein Spiel gewesen? Wie ernst war dann die Forderung Salomes nach dem Kopf des sie zurückweisenden Mannes? In wenigen Takten stellte sich eine ganze Flut von Fragen. Warlikowski hatte Herodes und seine Familie, seine Gäste und seinen Gefangenen als eine Gruppe von Juden gezeigt, die sich in den 1940er Jahren in einer Bibliothek versteckt hielten. Deren Wissensschätze waren zu Teilen geplündert oder versetzt worden. An einem Ort der Tradierung von Geschichte und Kultur verwandelten diese Menschen die Randepisode eines Evangeliums in ihr eigenes Mysterienspiel von Liebe und Tod. Das konnte als Akt kultureller (Wieder-) Aneignung einer jahrhundertealten Legende christlichabendländischer Kultur gelesen werden, deren Varianten mit der jüdischen Prinzessin immer wieder auch „das Fremde“ zur Schau stellten: als erotisch anziehend, moralisch ver­ werflich oder verbrecherisch. Durch seine Parallellektüre mit einer fiktiven Episode aus der Zeit des Holocaust machte Warlikowski die Geschichte der Salome aber vor allem zur Parabel für eine Realität, in der die Gewissheiten abendländischer Zivilisation und Kultur trotz meterlanger Buchreihen in sich zusammengebrochen waren. Eindrücklich vermittelte sich eine Ausweglosigkeit, in der Leben und Tod ein verkehrtes Verhältnis eingingen. Dass sich Warlikowski nach dieser Salome unter anderem mit der Frage konfrontiert sah, mit welcher Motivation er die Leidensgeschichte jüdischer Menschen erzählte, war zu erwarten. In seinen Schauspielarbeiten hat er mehrfach das Verhältnis von Polen und Juden thematisiert. Zurzeit arbeitet er an einer Neuerzählung der Odyssee. Dem Heimweg von Homers Helden nach Ithaka

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stellt er die Geschichte der Izolda Regensberg aus Hanna Kralls Roman Herzkönig an die Seite, eine sagenhaft zu lesende Odyssee durch Ghettos und Lager. In der Frage, wessen Geschichten wessen Geschichte bilden, ist Warlikowski also noch nicht an ein Ende gekommen. ABSOLUTE LIEBE? Der radikalste Text über die Liebe, den Warlikowski bislang auf die Bühne gebracht hat, ist Sarah Kanes Gesäubert (Wrocław 2003). Für die Figuren dieses Stückes besteht die absolute Liebe nicht darin, gemeinsam zu sterben, sondern in der Bereitschaft, für den anderen zu sterben. Was ließe sich wiederum von einer Liebe sagen, die ihre Erfüllung von Anfang an im Tod und nicht im Leben sucht? Als sie sich dem Tod am nächsten glauben, erleben Tristan und Isolde das Leben in einer ungeahnten Intensität. Dieser paradoxe Ausnahmezustand wird zur Triebkraft ihrer verheimlichten Beziehung. Auf der Suche nach Aufhebung der Grenzen, die ihnen ihr Alltag, ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, ihre Körper, ja Zeit und Raum auferlegen, spielen sie mehrfach mit dem Gedanken des gemeinsamen Todes. Richard Wagners Musik steuert diesen Grenzübertritt immer wieder auf verlockende Weise an. Warlikowski

wird jenseits von Liebesmetaphysik und mythischen Tränken nach konkreten biographischen Prägungen suchen, die zwei Menschen den gemeinsamen Tod als Vorbestimmung erscheinen lassen. Und nach den erlebten Verletzungen, Enttäuschungen und Unzulänglichkeiten fragen, aus denen diese radikale Überschreitung jedem der beiden einen Ausweg zu bieten verspricht. Spuren für diese Suche hat Wagner genügend gelegt. Der Theaterdirektor ist in den Herbstabend getreten und biegt in die von Verkehrslärm erfüllte Straße ein. Nach ein paar Schritten hört er jemanden seinen Namen rufen. Er dreht sich um. Der Regisseur erklärt sich nicht, steckt sich nur rasch eine Zigarette in den Mund. Wie er ohne Jacke fröstelnd vor ihm steht, erinnert er den Theaterdirektor an einen Schüler der Oberstufe in der Ecke des Pausenhofes. Ein wirkliches Zwiegespräch entsteht wohl an diesem Abend nicht mehr, aber beiden ist klar, dass das letzte Wort zwischen ihnen noch nicht gefallen ist. Miron Hakenbeck arbeitet seit 2005 regelmäßig als Dramaturg mit Krzysztof Warlikowski bei dessen Operninszenierungen zusammen. Von 2008 bis 2018 war er Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper, anschließend wechselte er an die Staatsoper Stuttgart.

KRZYSZTOF WARLIKOWSKI inszenierte nach seinem Regiedebüt 1992 zunächst am Theater TR Warszawa Stücke von William Shakespeare, Euripides, Sarah Kane, Hanoch Levin und Tony Kushner. Seit 2008 ist er Künstlerischer Leiter des Nowy Teatr in Warschau. Mit diesem Ensemble schuf er Inszenierungen wie (A)pollonia, Koniec/Das Ende, Afrikanische Erzählungen, Kabaret warszawski und Die Franzosen. Er führte u. a. Regie bei Don Carlo, Wozzeck und Krzysztof Pendereckis Ubu Rex an der Warschauer Staatsoper, Iphigénie en Tauride, Die Sache Makropulos, Karol Szymanowskis Król Roger, Parsifal, Herzog Blaubarts Burg/Die menschliche Stimme und Lady Macbeth von Mzensk an der Opéra national de Paris, Médée, Macbeth, Lulu und Don Giovanni am Théâtre La Monnaie in Brüssel, Aus einem Totenhaus am Royal Opera House London und Hans Werner Henzes Die Bassariden sowie Elektra bei den Salzburger Festspielen. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er bisher Eugen Onegin, Die Frau ohne Schatten, Die Gezeichneten und Salome. Die Biennale di Venezia verleiht ihm im Sommer 2021 den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Termine im Spielplan ab S. 188 und unter www.staatsoper.de/spielplan

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Der Mensch braucht sinnvolle Aufgaben. Geld auch. Felix Neureuther

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hvb.de/nachhaltig-investieren Stand 11/2020


WERMUT VERTREIBT SCHWERMUT Barkeeper Charles Schumann serviert Tristan und Isolde ihren Liebestrank.

Tristan und Isolde in meiner Bar – wunderbar. Wenn die beiden einen Drink bestellen würden, müsste unbedingt Wermut drin sein. Unsere Großmütter haben immer gesagt: „Wermut vertreibt Schwermut.“ Ob das stimmt, weiß ich nicht. Einen Versuch ist es wert. Ich trinke Wermut nicht allein, oder kaum. Viele klassische Cocktails sind aber ohne Wermut nicht denkbar. Man gibt also ein Stückchen Zucker in ein Weinglas. Der Zuckerwürfel wird mit Belsazar Rosé Wermut getränkt und mit Asbach Uralt Weinbrand, der ist für die Stärke, der gibt dem Tristan Kraft. Unser Bitter ist Campari, aber nur wenig, im Französischen sagt man: une larme, eine Träne. Das klingt auch gleich viel besser. Eine Träne Campari, weil auch die Liebe manchmal bitter und zum Heulen ist. Und dann füllt man auf mit Riesling. Man könnte statt Riesling auch Champagner dazugeben, wenn es besonders festlich sein soll. Cocktails müssen balanciert sein, und ich finde, diese Zutaten passen wunderbar zusammen. Das Gute an einer großen Bar ist, dass man sich darin verstecken kann. Ich beobachte hier aber nicht mehr so viele Paare wie früher. Servieren würde ich den Cocktail solchen, die gerade überlegen, wie es weitergehen soll. Paare, die

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fürchten, dass sie der Alltag eingeholt hat, die sich das alles ganz anders vorgestellt haben. Es ist ein Drink für Menschen, die an die Liebe glauben. Wer fürchtet, dass alles vorbei ist, der braucht diesen Drink. Die Liebe schmeckt immer anders. Und nach dem Rausch kommt das Erwachen … Ich war in meinem Leben oft verliebt. Vor allem in Frankreich, da war ich immer unsterblich verliebt! Manchmal ist es so, dass man die Person, die man haben will, nicht kriegt. Und die, die man kriegt, will man nicht. Im Französischen sagt man dann: Il vaut mieux être seul que mal accompagné. Besser alleine als schlecht begleitet. Aber ich bin dafür, dass man sich am Ende wieder zusammenrauft, dass man weitermacht. Es kommt nichts Besseres! Wie die Liebe heute funktioniert, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob es unsere Eltern damals besser gemacht haben. Aber ich finde es schön, wenn man Menschen trifft, die im Alter besonders gut miteinander umgehen. So sollte es sein. Und mit seinen Mitmenschen sollte man hin und wieder ein Glas trinken gehen, das hält zusammen. Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert, Redaktionsleiterin von Max Joseph.


Riesling

1 Stk.  Würfelzucker

1 cl  Wermut

1 cl  Weinbrand

1 cl  Bitter


WEISST DU, WIE DAS WIRD? Ein Mittelalterstoff, angereichert mit dem biblischen Gefühl des Mitleids und übertönt von einem Akkord, der die Musiktheorie spaltet: Richard Wagners Konzep­ tion von Tristan und Isolde bedeutet Ausbruch und Umkehr.

Text Arno Lücker Festspielpremiere Tristan und Isolde 44


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Aubrey Beardsley, The Beale Isoud at Joyous Gard © Archivart / Alamy Stock Foto


Es mag durchaus Argumente für die Theorie geben, Richard Wagners Musikdramen seien im Grunde arm an Wendepunkten: die leitmotivische Determinierung aller Protagonistinnen beispielsweise, die Aus- und Umwege per se unmöglich mache. Die zurückliegenden akuten oder nahenden Schicksale, die diesen Leitmotiven eingeschrieben seien. Die Verwandtschaftsbeziehungen – dem betreffenden Personal teilweise selbst nicht bewusst – und die sich daraus ergebenden eigentlichen Motivationen, die ein agiles Gefüge verhinderten, ja, zu einem voraussagbaren Schauspiel mit (gesungenem) Gebrüll führten. Der hässliche Zwerg bliebe immer der hässliche Zwerg, geformt aus antisemitischen Klischees und gekräuselten Bratschenmotiven. Der teutonische (arische?) Held sei im Gegensatz dazu durch profundes, strahlendes, blechbläsergeschwängertes C-Dur musikalisch immer der Gute – und gleichsam zum Gewinnen verdammt. Der harmonisch zumindest nicht sofort eindeutig analytisch zu erfassende sogenannte Tristan-Akkord spaltet vor diesem Hintergrund die Zunft der Musiktheorie. Nicht zu Unrecht. Der in der Tat dumpf-schillernde, janusköpfig-strebende erste Akkord des Vorspiels wird explizit als Markstein der Musikgeschichte verstanden, als klingendes Vorzeichen der bevorstehenden Auflösung tonaler Zusammenhänge. Die Emanzipation des Einzelklangs. Doch schon biographisch und arbeitstechnisch bedeutet Wagners Konzeption von Tristan und Isolde Ausbruch und Umkehr. Gewissermaßen am Reißbrett entwarf der im Sommer 1845 32-jährige Komponist im westböhmischen Marien­ bad den zu diesem Zeitpunkt utopisch erscheinenden Plan seiner Laufbahn als Musikdramatiker. Hier kam es zu den ersten inhaltlichen Skizzen für Die Meistersinger von Nürnberg. Und aus dem intensiven Studium von Nibelungen- und Gralsmythos-Dichtungen heraus ergaben sich schließlich Lohengrin, Der Ring des Nibelungen und Parsifal. Alles war vorgezeichnet. „Weißt du, wie das wird?“, fragen die Nornen zu Beginn der Götterdämmerung. Wagner wusste, wie es werden würde. Nur eben der Mittelalterstoff von Tristan und Isolde: Von dem war zu dieser Zeit noch keine Rede. Die Oper entstand außerhalb der Planung aller anderen musikdramatischen Visio­nen Wagners. Erste Skizzen brachte er 1856 zu Papier, ganz im Zeichen der Lektüre von Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Arbeit an Siegfried unterbrechend verfasste Wagner im Sommer 1857 den Großteil des Tristan-Textes; zwei Jahre später war die Partitur fertiggestellt. Eine Befreiung für den Komponisten, der damit eine vergleichsweise kleine Welt voll immanenter Bezüge erschaffen und somit dem für ihn wohl allein leitmotivisch enervierenden Riesenuniversum des Rings entfliehen konnte. Einen weiteren Wendepunkt könnte man in dem durch seine spätere Ehefrau Cosima verbürgten Wunsch Wagners sehen, im Tristan „endlich“ die Vorherrschaft des Symphonischen, des Motivisch-Verwobenen, des – Handlung, Textbuch, gesungenes Wort weggedacht – paradoxen „Absolutmusikalischen“

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kompositorisch auszuleben. In Cosimas Tagebüchern heißt es, Wagner „habe das Bedürfnis gehabt, ein Mal sich ganz symphonisch gehen zu lassen, das habe ihn zum Tristan geführt.“ Die Durchdringung allen Operngeschehens durch die symphonische Kraft, die Fortentwicklung, die künstlerische Eigenständigkeit der Musik. Doch der Wegweiser zu den aufregendsten und an konkreten opernhandlungsmäßigen Ausnahmemomenten feststellbaren Wendepunkten findet sich dort, wo bei Wagner das große, christliche, biblische Gefühl des Mitleids im Raum steht. „Durch Mitleid wissend“, heißt es im Parsifal. Nur durch einen „reinen Tor“, durch die Hand eines Helden des Mitleids könne, so Gurnemanz, der verlorene Speer zurückgewonnen werden, um damit – und nur damit – Amfortas‘ Wunde zu schließen; denn nur diejenige Waffe, die ihn einst verletzte, vermöge die Wunde wieder zu heilen. Wagner‘sches Mitleid: eine wundersame Essenz, der der Wandel immanent ist. Aus Mitleid gewährt Elsa im Lohengrin im zweiten Aufzug der heidnischen Zauberin Ortrud Einlass in den Palast. Doch noch viel deutlicher tritt der Mitleidsaspekt als wirklicher Handlungsumschlagspunkt des ganzen Ring des Nibelungen auf den Plan. In Die Walküre ist es Brünnhildes Aufgabe, Siegmunds Niederlage samt Tod im Kampfe mit Hunding, dem eigentlichen Ehemann von Sieglinde, der inzestuös geliebten Zwillingsschwester Siegmunds, zu besiegeln. Auf Geheiß von Wotan, der wiederum von Fricka, Göttin der Ehe, zur exekutiven Einhaltung der göttlichen Walhall-Regeln gedrängt wird. Doch die Liebe von Siegmund und Sieglinde empfindet die Noch-Halbgöttin Brünnhilde als so stark, dass sie weich wird; von Mitleid mit dem liebenden Zwillingspaar durchströmt will sie Siegmunds Überleben in der Auseinandersetzung mit Hunding gewährleisten. Das Ganze endet in einem Fiasko; Wotan nimmt Siegmunds Niederlage selbst in die Hand, Brünnhilde widersetzt sich dem Willen ihres Vaters und muss fliehen – und wird zur Strafe von der Halbgöttin zum Menschen. Der stärkste Umschwung im Ring. Tristan ist aber nicht nur dasjenige Musikdrama mit den meisten Mitleidsszenen, sondern zugleich das mit den meisten unerwarteten Plot-Twists. Schon im ersten Aufzug kommt es zu großen, klingenden, musikalisch subtil inszenierten Wendepunkten voller Mitleidswallungen. In der dritten Szene erzählt Isolde davon, wie sie den verletzten Tristan – von dem sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass er der Mörder ihres Verlobten Morold ist – an der Küste Irlands aufsammelte und mittels ihrer Heilkräuterkraft gesunden ließ. Nach dem berühmten Vorspiel voller Engschrittigkeiten hat die Musik bis zu diesem Zeitpunkt zwischen weiteren chromatischen Auf- und Abwärtslinien und volkstümlich liedhaften Momenten hin und her gewechselt („Sein Haupt doch hängt im Irenland, als Zins gezahlt von Engeland“). Doch nun singt Isolde in „großer Bewegung“, wie Wagner es in der Partitur anweist, von dem ersten Augenblick der nahen Begegnung mit Tristan. Die Musik schwillt an, das Orchester drängt – das „Sehnsuchtsmotiv variierend“ – in kleinsten Tonschritten in


die Höhe, geht über in die leise Abwärtsvariante des besagten Leitmotivs – und Isolde singt über Tristan: „Von seinem Lager blickt’ er her, nicht auf das Schwert, nicht auf die Hand …“ Jetzt scheint der Beginn des Vorspiels ganz nah zu sein: einheitliche Chromatik im Orchester. Isolde fährt fort: „Er sah mir in die Augen.“ Hier kommt es zum ersten großen MitleidsWendepunkt im Tristan. Das Orchester verstummt fast. Nahaufnahme. Die untersten Stimmen eines Streichquintetts bleiben übrig. Und die Solo-Bratsche lässt die schönste und wärmste Melodie bisher erklingen: eine einzelne Viola. „Sehr ausdrucksvoll und zart.“ Wagner macht durch klare Orchesterspotlights, durch auskomponierte Affirmationsoptionen deutlich, dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde erstens einzigartig, zweitens weltentrückend tief und drittens resistent gegen die extremsten Widerstände ist. Aber Isolde wird klar, dass sie als König Markes künftige Gattin Tristan zwar nah sein, doch nie als seine Frau ewig in sein Herz gelangen wird. Mit dem bis hierhin größten Orchester-Fortissimo in der Partitur zerstört sie sozusagen die vorherige Liebesinnigkeitsmusik, sich und Tristan den gleichzeitigen Tod wünschend: „Rache! Tod! Tod uns beiden!“ Helferin Brangäne stürzt sich über Isolde, voller Angst, ihre Führerin an den Wahnsinn oder durch Selbsttötung zu verlieren. Von dieser Szene ausgehend entzündet sich der Aufbau zum nächsten entscheidenden Mitleidswendepunkt des Musikdramas: Verzweifelt versucht Isoldes Dienerin, diese in ihrer amourös-unglücklichen Vorahnung zu trösten. Wagner bereitet hier musikalisch-schicksalshaft die spätere Entscheidung von Brangäne vor, den von Isolde verlangten Todestrank aus dem Reservoire ihrer heilkraftkundigen Mutter durch einen Liebestrank auszutauschen. Die Dienerin ist zugegen, als Isolde in der Truhe mit Heilsäften ihrer Mutter nach einer tödlichen Tinktur greift. Bevor Isolde Tristan auffordert, sühnende Gerechtigkeit walten zu lassen und mit ihr gemeinsam den Todestrunk einzunehmen, ersetzt Brangäne – aus Mitleid – das Serum jedoch bekanntlich durch einen Liebestrank. Das Mitleid von Brangäne für Isolde wird allerdings musikalisch deutlich vorher entfacht; noch grübelt Isolde nach circa vierzig Minuten des Musikdramas „starr vor sich hinblickend“ darüber nach, wie schlimm es an der Seite Markes wäre, mit dem allgegenwärtigen Tristan als Teil seines Hofstaats: „Ungeminnt den hehrsten Mann stets mir nah zu sehen! Wie könnt’ ich die Qual bestehen?“ Isoldes Vertraute missversteht dies immanent als Aufforderung, König Marke in Isolde verliebt zu machen: „Was meinst du, Arge? Ungeminnt?“ Brangäne wird plötzlich („Sie nähert sich schmeichelnd und kosend Isolden“) von Violinen und Bratschen unterbrochen, die ein dolce-Streichquintett ohne Celli und Bässe aufführen. Zartschmelzend im Piano. Hier wird gewissermaßen der obere Teil des Streichquintetts nachgeschoben; als komplementärer Teil des tiefen Streichquintetts der besagten ersten Mitleidsstelle Isoldens („Er sah mir in die Augen“). Das Missverständnis ist komplett. Die beiden

Streichquintett-Teile kommunizieren quasi unterbewusst miteinander. Ausgedünnte Streichquintett-Stellen voller (vermeintlicher?) Schönheit werden so gesehen zum Wagner‘schen Lackmustest in Sachen Mitleidsgefühle und Wendepunkte. Absichtlich verwirrend strukturiert – gemäß dem von Wagner wohl aufgesogenen Motto Friedrich Nietzsches in Also sprach Zarathustra: „Du mußt immer zwei- drei- vier- fünfdeutig sein! Auch was du jetzt bekanntest, war mir lange nicht wahr und nicht falsch genug!“ Arno Lücker arbeitet als Moderator und Dramaturg. Er ist künstlerischer Leiter der Astronomie-Musik-Reihe Himmlische Partituren im Zeiss-Großplanetarium Berlin, schreibt Programmtexte für zahlreiche Orchester und macht Konzerteinführungen in der Hamburger Elbphilharmonie, der Kölner Philharmonie und anderswo.

TRISTAN UND ISOLDE – In kaum einer anderen Oper verdichtet sich der genretypische Konflikt einer Dreiecksbeziehung so elementar wie in dieser von Richard Wagner: Die Liebe Tristans und Isoldes als Passion steht hier über allen gesellschaftlichen Normen. König Marke wird als Ehemann Isoldes von ihr und Tristan hintergangen, und Wagners Musik beglaubigt und legitimiert den Ehebruch. Schon im ersten Aufzug verleitet gemeinsame Todessehnsucht Tristan und Isolde zum Plan des Doppelsuizids. Auf welchen psychologischen Ursprung ist dieser Todeswunsch zurückzuführen? Unwissend nehmen die Protagonisten statt des Todestrankes einen Liebestrank zu sich. Entspringen die nun überbordenden Emotionen wirklich erst einem vermeintlich magischen Liebeszauber? Auch die Musik überschreitet alle Grenzen, indem Wagner die traditionelle Tonalität in chromatischen Klängen ausreizte und damit moderne Kompositionstechniken in das 20. Jahrhundert hinein maßgeblich beeinflusste. Handlung in drei Aufzügen von Richard Wagner Musikalische Leitung: Kirill Petrenko Inszenierung: Krzysztof Warlikowski Dienstag, 29. Juni 2021, 17:00 Uhr, Nationaltheater Alle Termine im Spielplan ab S. 188 und unter www.staatsoper.de/spielplan

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MEISTER UND KÖTER Richard Wagner in München, betrachtet durch die alters­ schwachen Augen seines Hundes.

Text Albrecht Selge Illustrationen Dr Julian Gravy Festspielpremiere Tristan und Isolde 48


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Sonntag, 10. Dezember 1865, morgens fünf Uhr 27 Minuten und 28 Sekunden, vor dem Münchner Centralbahnhof Grr-r, hu-u … ein scheußliches Wetterchen ist das und eine Uhrzeit, da jagt man doch keinen Hund vor die Tür, vor allem keinen einst stolzen, jetzt leider sterbenskranken Jagd- und Wachthund der edlen Art (früher gehörte ich ja einem Baron!), arg gebildet et similiter, aber hustend, und schon mal gar nicht mein treues Herrchen, das lieber Meister genannt werden will. Meister, jawohl! Eine richtige Persönlichkeit ist der! Und dann so was, wie die begossnen Pudel stehen wir jetzt da, es nieselt auch eiskalt, ist das zu fassen? Meister ist ebenfalls stinksauer, wie ein Gespenst schaut er aus, schlaff hängt sein graues Haar, er murmelt: Scheißdrecks-Schnüffler, und: Sodomiten, und (aber bin nicht sicher, ob ichs richtig verstehe, man ist ein klein wenig harthörig geworden in den vergangenen Hundejahren): Arschgeigen, jawohl, das scheint Meister zu murmeln, lauter Arschgeigen in München. Bene dictum, wrruff! Dabei hatten die uns hier empfangen wie die schmachtende Braut den Bräuterich, ein einziges Hosianna, keine zwölf Hundejahre ist das her, und jetzt das, und jetzt das … Ich fühl mich ja selbst schon wie ein Gespenst (wie der Herr, so der Köter – auch wenn Meister das Wort nicht mag, aber ich benutz es mit uraltem Köterstolz), Rheuma, überall kneifts, Zipperlein eines langen Hundelebens, die Pumpe ist auch schon flattrig. Bin leider nicht an der Leine, der Meister mag keine Leinen, das gab schon oft Ärger mit garstigen Parkwächtern. Dabei lauf ich gern an seiner Leine! Seltsame verhedderte Welt, der Anleinende möchte die Leine verneinen, der Anzuleinende aber wünscht sie … Der Bahnhof, vor dem wir stehen, sieht aus wie eine Kirche, wo du mal besser nicht die Mauer anpinkelst, Basilika mit ganz hübschen Bögen, gelbe Backsteine und noch eine andere Farbe, keine Ahnung, ob rot oder grün. Jedenfalls nicht blau. Die immer schon schwachen Hundeaugen sind auch müde geworden, huu-u, ich möchte mich nur noch hinlegen zu Meisters Füßen, die Schnauze gemütlich auf meine Pfoten betten … An die Marken meiner Tage bin ich gelangt. Wie schön wars noch vor zwei Sommern mit der glänzenden Köterin am Starnberger See. Wie wir da Schwäne jagten, huii, wrr – aber niemals werd ich die Wunderbare wiedersehen, ach, niemals! Die komische Frau ist auch zum Bahnhof gekommen, die mit der charaktervollen Nase. Eine veritable Kleopatra, würdig einer richtigen Persönlichkeit, wie Meister eine ist! Woher kennt ein Köter Kleopatra, werden vielleicht manche fragen, aber man lebt doch nicht acht Hundejahre lang in der Brienner Straße, keine deutsche Hundemeile vom Königsplatz entfernt, ohne ein paar saftige Happen klassischer Bildung aufzuschnappen, zumindest wenn man ein echter Jagdhund ist und nicht irgendeine zusammengemischte Straßentöle. Wie diese unbelehrbaren Gossenköter von hinter der Glyptothek, die Abfallwühler mit dem verbrühten Fell und verkrüppelten Pfoten und brummenden Mägen, die mich frech anknurren und feiner Pinkel nennen, Wauwau eines Zugereisten. Was fällt denen ein? Trotzdem ziehts

mich manchmal zu denen, man will ja Klatsch und Tratsch erfahren, und ab und zu eine Straßenhündin, caro autem infirma … Was jedenfalls Meister angeht: Ich war ja immer und überall dabei – ich, Jagdhund Pohl mit dem braun glänzenden kurzen glatten Fell und großen Schlappohren. Ich war und bin noch immer Meisters treuester Begleiter, selbst in seiner höchsten Stunde in dieser Stadt war ich anwesend, bei der großen Opernpremiere, hab nur ganz wenig gegreint dabei, weniger als einige Menschen. Überhaupt, man kriegt schon einiges mit, wenn man nicht strohdumm ist wie ein Karnickel oder uninteressiert an allen menschlichen Angelegenheiten wie so eine arrogante Katze (grrr-r, da erwacht nochmal der alte Jagdinstinkt im sterbensmüden Hund). Und natürlich nicht völlig deppert wie ein verzogener Schoßfiffi. Du hast den Butterblick in das furchtbare Wesen der Dinge, sagte Meister einmal zu mir auf einem stundenlangen Spaziergang, seltsamerweise sprach er Butter wie Budda oder Budha aus, aber was soll das sein. Jedenfalls versuche ich, immer so buttrig zu blicken, wie er es an mir mag, und manchmal denk ich dabei an die schöne Köterin, vielleicht ist ja sie das furchtbare Wesen der Dinge. Die Nasenfrau jedenfalls, die trotz nächtlicher Stunde auch zum Bahnhof gekommen ist – ich sags, wies ist, ganz schlau werd ich nie aus den beiden. Hab zwar von Anfang an alles (omnia!) mitangesehen, was sie und Meister miteinander getrieben haben. Trotzdem ist mir noch immer nicht klar, ob sie nun seine Herrin oder seine Sklavin ist. Vielleicht ist es beim Menschen am Ende wie beim Hund, der rallige Rüde ergreift Besitz von der läufigen Hündin, zugleich aber beherrscht die läufige Hündin den ralligen Rüden. Wie verwirrend ist das Leben! Wie verheddert sind alle Leinen! Zwei andere Männer sind auch hier zum Abschied, der kindliche König hingegen ist nicht zum Bahnhof gekommen. Dabei liebt er meinen Meister vielleicht sogar heftiger, als die undurchsichtige Nasenfrau es tut, auch wenn die beiden – Meister und König – niemals übereinander hergefallen sind und sich abgeschleckt haben. Innig umarmt et similiter haben sie sich allerdings schon, aber immer komplett anständig und honestum. Der kindliche König hat die abstehenden Haare eines Papillons, dabei aber die Länge von einem dürren Dobermann, er musste sich also herabbeugen zu Meister, der für einen Menschen (amicus Meister sed magis amica veritas) recht kurz geraten ist – kurz mit arg großem Kopf allerdings –, der König beugte sich also herab, um Meister zu herzen, und dann gings immerzu hin und her, parfumiertes Gefasel von Äther und Inbrunst, Allerheiligstem und Wonnenschauern, in einer verwirrenden und schmeichelnden Art, dass kein Hund mehr durchblickt, wer führt hier nun das Rudel und wer ist der Pudel. Hier wedele ja die Rute mit der Töle, hörte ich auch manchmal die Herrschaften, die um den König scharwenzeln, heimlich einander zuraunen. Dabei sind die selbst eher Hunde als Herrchen, Pfi und Pfo wurden sie beispielsweise genannt und waren irgendwelche Berater oder Minister und konnten Meister aufs

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Verrecken nicht leiden und Meister sie genauso wenig, und am Ende stecken vielleicht Pfi und Pfo hinter unserer traurigen jähen Abreise vor Morgengrauen, wer soll da durchblicken? Da gehts endlich zum Bahnsteig, da steht schon der Zug. Die Dampflokomotive qualmt schon, pfui waff, wie der Rauch einen in die Lunge beißt. Aber was freu ich mich aufs warme Coupé! Also, was ist los, können wir jetzt einsteigen? Hinein ins Unvermeidliche, darin ist wenigstens geheizt. Jaja, ich weiß schon, die Arschgeigen, die Sodomiten, nun ist aber auch mal gut. Der kindliche König hatte so einen verlorenen Blick nach nirgendwo. Das Verhältnis der beiden ist mir auch nie ganz klar geworden. Kapiert hab ich nur eins, der König hatte Meister nach München holen lassen, und Meister hatte dann natürlich seinen treuen Hund aus Wien nachholen lassen, wo ich ihm in Penzing zuverlässig die Einbrecher verbellt hatte. Sein Nachbar, der alte Baron Rachovin von Rosenstern, hatte mich ihm geschenkt, wie bin ich damals aufgeblüht dank dem dauerwandernden Meister nach den Jahren beim fußlahmen Baron. Ach, das waren Zeiten … aber ich verliere den Faden – also, der Ruf des Königs nach München: Aufgespürt wurde Meister vom Königsboten Pfi (Allerweltsgestalt mit Drahtbrille), allerdings wieder woanders, in Stuttgart, wohin Meister Hals über Kopf geflohen war, weil er Schulden hatte wie ein Hund Flöhe. Den Schwanz eingekniffen und sich vor den Gläubigern davongemacht, und zwar in wallenden Frauenkleidern. Und wie er die zu tragen verstand, diese Fischbeinreifen und Krinolinen! Ich sags ja, eine Persönlichkeit! Manche Frau, die ich in meinem langen Hundeleben gesehen hab, die trug ihre Röcke eher wie einen Zwinger, jede Barte der Gitterstab eines Käfigs, Glied einer unerbittlich geschmiedeten Kette – er aber: trägt Röcke und Rüschen wie eine Freiheit, wie eine Erlösung! Überhaupt, seine ewige Erlösung … Aber damals gings ihm erstmal um die Erlösung von seinen Schuldenflöhen, und Pfi war der rettende Bote des kindlichen Königs, der Meister zu sich holte. Das mit den Frauenkleidern sieht seine Kleopatra gar nicht gern, auch nicht die Seidenunterwäsche mit putzigen Röschen und Quasten, etcetera pp. Wird sie richtig unwirsch. Drum legt er die Frauenkleider nur mehr an, wenn niemand als sein treuer Hund im Haus ist, vor Pohl braucht er keine Geheim­­nisse zu haben. Und jetzt steigt sie auch nicht mit ein in die Eisenbahn. Nur ich und der Diener Franz begleiten Meister ins gediegene Coupé. Wie ist das möglich? Nach allem, was war … Ah, sie reden noch miteinander, später, versteh ich, in einigen Tagen, und: Schweigen, Schweigen. Gut, sie hat auch die Kinder am Bein, eine ganze Schar, mir völlig unklar, welches von wem. Verhältnisse sind das! Und immer noch einen Mann hier in der Stadt, diesen Bülow mit seinen traurig hängenden Lidern, der ausschaut wie eine verhungerte Bordeauxdogge. Den mag ich aber, endlich mal ein Verhältnis, das mir klar ist: Meister ist Herr, Bülow ist Hund. Darum hat er auch die Frau herausrücken müssen.

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Endlich im geheizten Coupé, ab unter die Bank und die Schnauze auf die Pfoten. Ein alter Jagdhund, sterbensmüde. Ach, wie es einen zwickt und zwackt in den morschen Knochen, huu-u … Schon ist er weggepoft. Seine weichen Pfoten zucken im Schlummer, zart zittern die Lefzen: süßer Hundetraum! Auf leichten Ballen saust er zum See, quer durch den summenden Wald, verbellt auf dem Weg heiter ein dämliches Kaninchen, erschrocken verzieht es sich in sein Erdloch. Dem Eichhörnchen aber folgt er nicht den Baumstamm rauf, das hat er nur ein einziges Mal im vollen Schwung getan, pardauz lag er auf dem Rücken und greinte wie ein Schlosshund. Nicht noch einmal, er ist ja nicht blöd! Nix da, er will zum See, wo er jüngst die glänzende Köterin des Bootsflickers getroffen hat. Ah, welche Anmut! Bereits der Weg zu ihr treibt seine Säfte dicht ans Gären. Und wie herrlich die frische Luft, wenn man aus Meisters verduftetem Landhaus kommt! Hinaus in Feld und Flur, durch Hag und Heide! Sofort vergisst man da die überparfumierte Luft in der Menschenhütte, die einer armen Fellnase die Riechsinne überschwemmt. Dieser Parfumfimmel, für einen Hund ein richtiges Unding, ein Hunding sozusagen. Also, auf zur Köterin mit dem sinnlich glänzenden Pelz … ihre schnuckeligen Schlappohren, ihr federnder Gang … hui, wie sie da wieder Schwäne jagen werden am See! Oder wenigstens die Zähne fletschen und anbellen, wrruff!, aber besser doch von fern, denn die kommen ja immer gleich auf einen zugewatschelt und plustern sich auf, die Schwäne, solche rabiaten Piepmatze! Aggressiv sind die, was soll das denn! Dann fressen die beiden Hunde am Ufer schmatzend einen toten Fisch, und dann rennen sie, rennen immer weiter, Pohl und jene betörende, namenlose Köterin ... unbewusst – * Traumerkoren, traumverloren, Hundejammer. Gleichmäßig rattert die Eisenbahn, vor dem Fenster zieht der Qualm der Dampflokomotive, im Coupé hängen die beißenden Schwaden von Meisters Cigarre. Überdecken letzten Traumdunst. All die Parfums und Cigarren, keinen blassen Schimmer hab ich, warum er sich in solch künstlicher Dickluft derart pudelwohl fühlt. Bei Menschen riecht es ja immer etwas komisch, aber bei denen ist es extrem, ehrlich gesagt. Na, man gewöhnt sich an alles. Ach, Dunst meines Traums! Mit halboffnen Lidern wie Bülow gedenk ich der verlornen glänzenden Köterin vom Starnberger See, die dem stolzen, aber nicht mehr jungen Jagdhund alsbald irgendeine dahergestrolchte Promenadenmischung vorzog, nur weil der so eine fette Wamme hatte, dieser unerträgliche Angeber. Stechender Herzschmerz noch in der verblassten Erinnerung. Die Nasenfrau erschien alsbald im Idyll am Starnberger See, das der kindliche König Meister zur Verfügung gestellt hatte, mit ihren kleinen Kindern tauchte sie auf, aber ohne Mann. Die Kinder schliefen tief und fest, während ihre Mutter und Meister im Nebenzimmer trieben, was kleine Kinder ohnehin nicht


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verstehen, aber ein ausgewachsner Rüde schnallt sowas ex instinctu. Da wackelten die Fauteuils und flatterten die Satindraperien. Und fünf Hundejahre später war, schwupps (so lang dauert das bei denen), das nächste Töchterlein da. Da waren Meister und ich mitsamt kompletter Entourage schon ins Stadtinnere gezogen, Brienner Straße mit Blick auf die Propyläen, und wieder die ganze Bude durchparfumiert, überall Seidenplunder, Vorhänge, Draperien, Girlanden voller Rosen und Teppiche, in denen die Pfoten versinken – und im Herzen der Wohnung ein Cabinet mit Bett und ringsum vertüddeltem Spiegel, das irgendein Besucher den Gral nannte. Die Nasenfrau war jetzt immerzu da, ihr Bülow hatte sich wohl abgefunden, dabei hatte er zuerst noch Zeter und Mordio geschrien und mit den Fäusten auf den Boden gehämmert, aber dann war er furchtbar kränklich und bettlägrig geworden. Der Vater der Nasenfrau kam bald darauf auch vorbei, der Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten und fürchterlich zornig, mich erinnerte er an ein … na, ich komm grad nicht drauf … genau, an ein karibisches Lisztäffchen! Meister beruhigte ihn aber durch stundenlanges Vorlesen. Mir war gleich klar, der ganze Radau ist sinnlos. Manchmal liegt da einfach ein Duft in der Luft, da erschnupperst du sofort, was Sache ist, egal wie sie alles zuparfumiert haben. So eine Aura, so ein Zauber. Dann ist alles klar. Egal wie klein Meister ist, egal wie leise er spricht (wie ein Schneegestöber, raunte mal ein Gast dem andern zu), manchmal trällert und bellcantiert er auch was vor, lang, lang – sie hören ihm dennoch alle zu, etliche Stunden, und damit meine ich keine Hundestunden, bei diesen abendlichen und nächtlichen Rudelbildungen in seinem Salon. Ach, hu-u, das schöne Haus, der Garten, also auch verloren? Alles futsch? Die Bahn rattert und rattert – Und dann war da eben noch die Liebe des kindlichen Königs. Aber das war alles ein bisschen delirierend, und es wurde auch hintertrieben von irgendwelchen hinterlistigen Pinschern, das konnte ja ein Anosmiker riechen und das kläfften die Tölen aus den Gossen. Einmal hatte Meister (ich lag zu seinen Füßen und hielt die Lauscher offen) soundsoviel Geld vom König bestellt, und später fuhr die Nasenfrau mit zwei Fiakern vor, die gestopft waren mit Säcken voller Moneten, dazu wildes Gekreische, einen bösen Jux hätten die Arschgeigen in der Residenz sich gemacht und alles in Münzen ausgezahlt. Was haben die Straßenköter gelacht über uns! Und gelästert. Wir haben nichts gegen Zugereiste, knurrte irgendeine Gossentöle, aber dieser Zugereiste ist nicht von hier! Überhaupt wurden die Straßenköter von hinter der Glyptothek, zu denen es mich weiterhin heimlich zog (denn ich witterte, man muss mehr denn je die Ohren spitzen), immer frecher wurden die: Meister liege dem Volk auf der Tasche, behaupteten sie, der König wolle ihm eine sündhaft teure Festspielhütte bauen und dazu eine Allee quer durch die Stadt rasieren und was nicht alles. Dazu ein Tohuwabohu im Haus, Besuche rein und Besuche raus, auch ein Frauchen Dangl tauchte mal auf, das sich Wahrsagerin schimpfte, und Briefe hin und Briefe her, dazu Worte wie Intrige und Verrat, und

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immer wieder gings um Pfi und Pfo, da wird ja der Mops in der Pfanne verrückt – aber ich hatte den Eindruck, am Ende blickten die Menschen selbst nicht mehr durch, und Meister und König am allerwenigsten. Alles, was ich weiß: Der Zug rattert. Meister muss fort. Doch nicht ohne Pohl, dem er versonnen den Kopf streichelt. Das Coupé ist warm. Und doch, und doch: hohes Rätsel, tiefster Traum, aus all dem Murks eine Magie. Da war jenes große Ereignis im vorigen Sommer, dreieinhalb Hundejahre ist das auch schon wieder her. Hunde, wie die Zeit vergeht! Alle waren damals ganz ergriffen, was das menschliche Wort für zerzaust ist: Tristan! (Wie das Mistvieh aus der Türkenstraße, grrr.) Ich war – natürlich – dabei, wie ein sehr dicker Mann bellte und jaulte und jaulte und bellte, ich dachte schon, der hört nie mehr auf, aber Meister war völlig ergriffen und viele andere ebenso (einige schnarchten aber auch), der kindliche König natürlich am allerergriffensten und zerzaustesten. Ganz ehrlich, dreißig Hundestunden oder mehr, da bin ich schon ins Dösen gekommen und hab ein bisschen die Zunge über die Schulter gehängt, um mich abzukühlen, zumal diese dicke Luft – aber den Menschen ging es wohl auch so, doch danach sagten sie: Also, mir fehlen die Worte – die Worte fehlen einem da, mehr kann man gar nicht sagen – Schnorr hieß der dicke Jauler, verdächtig katerhafter Name, schon bald darauf war er tot, schnappte ich erschrocken auf, und die Gassenköter von hinter der Glyptothek kläfften mir frech nach, Meister wär schuld, dass er gestorben sei, es käme daher, weil er ihn zu viel hätte singen lassen, der elende Zugereiste. Der Tote sei Schnorr, aber Meister sei Schnorrer, eine richtige Heuschrecke nämlich, etcetera pp., wutheulend fletschte ich die Zähne gegen die heimtückischen Belferer, aber das beeindruckte sie nicht. Na und? Dreißig Hundestunden für die Ewigkeit! Jetzt ist die schwere Stunde nach der Ewigkeit. In ihr steckt Meister mir ein Leckerli zu. Niemals werd ich ihn verlassen, mir kommen glatt die Tränen, wenn ich an unsre Treue denke. * EPILOG: WO DER HUND BEGRABEN LIEGT 29. Januar 1866: Der weiterhin von König Ludwig II. finanzierte Exilant Richard Wagner kehrt von einer Reise durchs warme Südfrankreich nach Genf zurück, in die frostige Villa Aux Artichauts. Dicke Luft in seiner Seele. Vor drei Tagen ist in Dresden seine Frau Minna gestorben, von der er seit Langem getrennt lebte. Er fährt nicht zur Beerdigung. Stattdessen lässt er den seit einer Woche toten Hund Pohl ausbuddeln, der während der Frankreichreise gestorben ist und im Gemüsegarten vergraben wurde. Pohl bekommt sein abgenommenes Halsband umgelegt und wird erneut bestattet, im Sarg gewärmt von seiner alten Lieblingspelzdecke, in einem Hain mit Blick auf den Genfer See. Ein Schwan, von keinem der Anwesenden bemerkt, sieht vom Ufer aus zu. Mehr über den Autor und den Illustrator auf S. 20


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GLANZ-PAARADE Mit Richard Wagners Tristan und Isolde werden Jonas Kaufmann und Anja Harteros ihre sechste gemeinsame Premiere an der Bayerischen Staatsoper bestreiten. In legendäre Stoffe hat das Bühnen-Dreamteam sich auf immer wieder besondere Weisen eingeschrieben – mit Respekt vor der großen Tradition und zugleich voller kreativer Lust, Neues zu schaffen. Der Zeichner Berto Martinez hat den Tenor und die Sopranistin vor diesem Hintergrund in der berühmten Pose des Uraufführungspaares Malvina und Ludwig Schnorr von Carolsfeld in Szene gesetzt.

Die Duette von Anja Harteros und Jonas Kaufmann auf einen Blick: Elsa und Lohengrin (Lohengrin, 2009), Leonora und Manrico (Il trovatore, 2013), Donna Leonora und Don Alvaro (La forza del destino, 2013), Maddalena di Coigny und Andrea Chénier (Andrea Chénier, 2017), Desdemona und Otello (Otello, 2018) sowie Isolde und Tristan (Tristan und Isolde, 2021).










„ELETTRA BRÄUCHTE DIE BESTEN THERAPEUTEN“ Die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller gibt in der Premiere von Idomeneo ihr Rollendebüt als Elettra. Im Interview spricht sie über das Mitleid für ihre Figur, kaputte Seelen und die richtigen Schuhe auf der Bühne.

Interview Gabriela Herpell Fotografien Julian Baumann Festspielpremiere Idomeneo 66



MAX JOSEPH   Frau Müller, Sie haben in München im Opern studio der Bayerischen Staatsoper angefangen. Das ist zehn Jahre her, wie blicken Sie auf diese Zeit zurück? HANNA-ELISABETH MÜLLER Ich bin noch im Studium hergekom men. Das Besondere ist: Man wird in den Opernalltag integriert, muss im Betrieb funktionieren. Man lernt, wie alles läuft, inklusive Stress, Druck, indem man mittendrin ist. Für mich war das Opernstudio ein ganz besonders schönes und lehrreiches Jahr. MJ Schöner

als die Meisterklasse? Neben dem Studium nahmen Sie an verschiedenen Meisterklassen teil, bei Julia Varady zum Beispiel, Dietrich Fischer-Dieskau, Thomas Hampson. HEM Das Opernstudio ist ganz anders. Im Studium und in der Meisterklasse werden Solisten auf das Solisten­ dasein vorbereitet. Sie werden gepampert und darauf trainiert, aufzufallen. Man ist auf sich und das Singen konzentriert. Im Opernstudio dreht sich die Welt nicht um die kleine Hanna, sondern die kleine Hanna muss mitlaufen und klarkommen. Da ist man vielleicht auch mal das Schlusslicht. Es geht schon darum aufzufallen, aber eher im Sinne von sich geschickt anstellen. Jedenfalls nicht negativ auffallen. Man darf in jede Probe, in jede Vorstellung mit den Stars auf der Bühne und kriegt natürlich mit, wie die arbeiten, wie die lernen, wie die mit Kritik oder Verbesserungsvorschlägen umgehen. Es wird einem aber vieles auch noch verziehen. MJ Und

was darf man so singen? ist nicht gleich Ensemblemitglied und singt erst mal kleine Partien, behutsam ausgesucht. Oder bei Konzerten. Man hat ständig Proben, abends Vorstellung, dazu Schauspielunterricht, der übrigens sehr toll ist, und Korrepetition. Da werden die Arien richtig trainiert. Das Opernstudio ist ein ständiger Wechsel.

HEM Man

MJ An

welche Stücke aus dieser Zeit erinnern Sie sich besonders gut? HEM Meine erste Zauberflöte. Rossini, Der Barbier von Sevilla. Zemlinsky. Oh ja, Schlüsselmoment! Der Zwerg. Da habe ich die Prinzessin gesungen, eine kleine Rolle, später habe ich hier im Ensemble die Infantin gegeben. Aber das war auf jeden Fall ein Riesenwendepunkt, weil ich erst da verstanden habe, wie schön das ist, Zemlinsky, das ist jetzt eine meiner liebsten Opern und ich erinnere mich so gerne dran zurück. Oder Don Carlos, mit Anja Harteros, René Pape, eine unfassbare Reihung von Solisten, es war heiß, 40 Grad, und ich trug Lederstiefel bis zu den Oberschenkeln. MJ Die

Schuhe vergisst man nicht? HEM Nein. Ich muss immer an das Buch von Elīna Garanča denken, Wirklich wichtig sind die Schuhe.

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MJ Ist

das so? Man muss sich auf der Bühne in seinen Schuhen sicher fühlen. Darum braucht man die Schuhe ab Probewoche zwei. Wenn ich vier Wochen in den Schuhen, in denen ich spielen soll, über die Bühne gelaufen bin, dann sind das meine Schuhe und dann ist das auch meine Rolle.

HEM Ja.

MJ Wie

wichtig ist für eine Solistin, auf deren Stimme es ja eigentlich ankommt, das Tanzen und Schauspielern? HEM Das ist die halbe Miete. Vielleicht manchmal sogar mehr. Natürlich ist am Ende die Schönheit des Gesangs und auch die Arbeit, die ich da hineininvestiert habe, das Wichtigste. Aber noch bevor ich den Mund aufmache, sieht man mich auf die Bühne laufen. Das ist der erste Eindruck. Und es ist ganz viel wert, wenn man da hinein Zeit investiert. Ich habe schon erlebt, dass das nicht so gut lief, das darf einem am Anfang einer Laufbahn auch ruhig mal passieren. Aber da habe ich verstanden: So kommt man nicht auf die hundert Prozent, die man sich ja wünscht. MJ Selbst

wenn man so singt, dass Steine weinen? HEM Man kann das mit dem Singen wettmachen und einen Abend gewinnen. Aber es bleibt sehr wichtig, was man mit seiner Körperhaltung sagt. Man weiß doch, dass man offen sein kann oder auch so ablehnend, dass niemand sich mit einem unterhalten will. Genauso ist es auf der Bühne auch. Man kann sich vom Publikum körperlich abwenden, eine Schutzmauer hochziehen. MJ Wie

nervös auf einer Skala von null bis zehn sind Sie vor einem Auftritt? HEM Es gibt Abende oder Produktionen, die liegen mir so am Herzen, da bin ich locker eine Neun. Ich werde ruhiger, sobald ich im Theater bin. Aber das Warten bis zum Abend ist furchtbar. MJ Was

machen Sie an so einem Tag? HEM Aufräumen. Ordnung zu Hause ist Ordnung in meinem Kopf. Ich lese den Klavierauszug noch einmal durch. Man macht sich ja zwanzigtausend Notizen, hat Post-its mit Ausrufezeichen darin kleben, was Regisseur oder Dirigent explizit gesagt haben. Es hilft, das noch mal zu sehen. Nicht nur dran zu denken, sondern richtig zu sehen. MJ Sie

haben Familie, ein kleines Kind. Lassen die Sie in Ruhe? HEM Auf jeden Fall. Am Vormittag möchte ich alleine sein. Ich brauche die Ruhe zum Konzentrieren. Dann gehe ich früh in die Oper und bin im normalen Rhythmus. Das hilft mir auch.


„Elettra ist verloren, sie lebt in einem fremden Land, mit dieser Vergangenheit, und verliebt sich unglücklich. Sie hat keinen Halt im Leben. Es ist zu einfach zu sagen, ach, die ist schrecklich.”

MJ Sind Sie nur vor der Premiere so nervös oder vor jedem

Auftritt? HEM Nervosität gehört dazu. Für mich ist das auch etwas Willkommenes. Aber eine erste Aufführung, ein Rollendebüt oder ein Debüt an einem Opernhaus, da bin ich anders nervös. Tagelang. In Neuproduktionen sind das schier endlose letzte acht bis zehn Tage, da läuft man wie ein Rennpferd mit Scheuklappen durch.

schätzt. Aber wenn man sich darauf konzentriert anstatt auf sich selbst, wenn man den ganzen Nebenschauplätzen viel Raum gibt, können die zu stark und groß werden. Dann nehmen sie einem den Raum, sich zu entfalten. Genauso ist es mit der Konkurrenz. Wenn man nur an die Kollegin denkt und ihr die Rolle neidet, ist das destruktiv. MJ Wie

MJ Gibt

es Städte, die Sie nervöser machen als andere? HEM Nein. Man muss jedes Publikum gewinnen. MJ Ist

Ihnen als Sängerin bewusst, dass eigentlich niemand im Publikum erleben möchte, wie sich ein Sänger oder eine Sängerin auf der Bühne verhaspelt? Alle hoffen doch, es wird toll. HEM Es ist trotzdem wie eine Prüfungssituation. Man will gefallen, dem Publikum, dem Intendanten, dem Castingdirektor, dem Dirigenten, dem Regisseur, dem Orchester, den Kollegen. Außerdem möchte man auch wieder engagiert werden. Das sind aber alles auch Gedanken, die einen zerstreuen.

gut können Sie sich davor schützen? habe mal von einer Balletttänzerin gelesen, die gesagt hat, sie hätte ganz und gar aufgehört, sich mit ihren Konkurrentinnen zu beschäftigen. Seit sie sich auf sich konzentriere, sehe sie nicht mehr ihre Fehler und Schwächen, sondern ihre Stärken. Und das ist ein ganz großer Satz, der mir immer im Kopf ist.

HEM Ich

MJ Ein

Satz also, der Ihre Haltung nachhaltig verändert hat. Ein Wendepunkt? HEM Ach, Wendepunkte. Wendepunkte haben einen bitteren Beigeschmack. MJ In einem Rilke-Sonett heißt es, „Wolle die Wandlung …“. HEM Stimmt, das ist sehr schön. Ja, der Mensch wandelt sich

MJ Meinen Sie damit, diese Gedanken verderben die hun-

dert Prozent? ist wichtig, dass einen ein Intendant mag und

HEM Es

ständig. Das ist ja auch gut so, denn dann kann man seine Fehler wiedergutmachen. Und ohne Wandlung ist eine Figur nicht interessant.

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MJ Viele Opern spiegeln allein aufgrund ihres Alters tradi-

tionelle Rollenbilder gerade für Frauen wider. Nervt das manchmal? HEM Wissen Sie, was mich als Sängerin immer wieder beeindruckt: wie stark die Komponisten ihre Frauen musikalisch gemacht haben, auch die schwachen Frauen. Zum Beispiel der Rosenkavalier, die arme kleine Sophie. Sie entwickelt sich, aber sie hat zu funktionieren, da gibt es einen Katalog, wie man ein Gespräch führt, was man fragen darf und was man auf keinen Fall fragen darf, was sich gehört und nicht gehört. Aber Sophie ist von Anfang an musikalisch so stark gezeichnet, dass man sie auch anders deuten könnte. Aber klar, es gibt auch schreckliche Frauenrollen.

MJ Elettra

liebt Idamante, der sie kaum wahrnimmt. Sie leidet und sie hasst ihre Rivalin, Ilia. Was hat sie Ihnen zu bieten? HEM Jeder, der den Namen Elettra hört, denkt sofort an die Rachefigur, die Furie. Doch je länger ich mich mit ihr beschäftige, desto schlimmer finde ich, dass ich das selbst früher auch so gesehen habe. Das ist so oberflächlich! Die Herausforderung für mich ist, das nicht eindimensional darzustellen. Elettra ist völlig verloren, sie lebt in einem fremden Land, mit dieser Vergangenheit, und verliebt sich unglücklich. Sie hat überhaupt keinen Halt in ihrem Leben. Es ist zu einfach zu sagen, ach, die ist schrecklich. MJ Müssen

MJ Sie

sangen zuletzt Cordelia, eine der drei Schwestern im Lear. Das ist ganz anderer Stoff. HEM Das ist die erste zeitgenössische Oper, die ich gesungen habe. Ein gewaltiges Werk, so dicht. Der Stoff ist brutal. Wenn Musik und Inhalt so stark sind, kann das auch gefährlich sein, weil sich alles gegenseitig zu sehr auflädt. Aber dem Komponisten Aribert Reimann ist es gelungen, dass die Musik trotz ihrer Wucht die Brutalität der Handlung auffängt. MJ Ist

Sie eine Figur sympathisch finden, um sie zu spielen? Oder zumindest eine gute Seite an ihr entdecken? HEM Man findet immer einen Zugang zu einem Charakter. Mit Elettra muss man Mitleid haben, das empfindet das Publikum übrigens auch so. Sie wird oft unmenschlich gestaltet, als könnte sie sich ihrer Dämonen gar nicht erwehren, aber sie ist kein Monster, sondern eine zutiefst verletzte Figur. Sie bräuchte im wirklichen Leben die besten Therapeuten, um ein annähernd normales Leben zu führen.

Cordelia eine Traumrolle für Sie?

HEM Cordelia ist fast die einzig wirklich gute Person im Lear.

Sie lässt sich menschlich nicht kaputtmachen. Die Oper beginnt damit, dass der Vater von seinen drei Töchtern ein Liebeszeugnis verlangt. Er möchte sein Reich aufteilen, weil er alt ist. Cordelia sagt, sie kann so ein Liebeszeugnis nicht abgeben, sie liebt ihren Vater einfach, wie eine Tochter ihren Vater liebt, und fertig. Dann nimmt das Schicksal seinen schrecklichen Lauf. Da wird alles zerstört, jede Bindung, die Familie, die Ehen, die Hierarchie, alles stürzt. Ich war sehr glücklich mit Cordelia, es ist eine schöne Herausforderung. Eine zeitgenössische Oper ist ja auch schwerer zu lernen als eine traditionelle. Idomeneo spielen Sie nun bei den geplanten Festspielen Elettra, eine traditionelle Oper, eine tragische Frauenfigur. HEM Und was für eine. Diese Familiengeschichte, die Elettra hat … Alle haben sich gegenseitig umgebracht. Wie soll man da Urvertrauen entwickeln? Denn wem sollte man mehr vertrauen als seiner eigenen Familie? MJ In

MJ Hat

geschrieben und viel Liebe in diese Arien gesteckt. Eine Arie mit Chor, das ist ganz besonders. Sie hat eine solche Reichweite an Emotionen, das drückt sich in der Musik natürlich aus. MJ Durch die Musik einer Figur Größe verleihen, die sie im

Text und in der Handlung nicht hat, das kann nur die Oper, oder? HEM Wenn man das als Schauspiel sehen würde, wäre Elettra vielleicht eine sehr schöne Frau, die ihre Reize einzusetzen weiß, aber kein schöner, komplexer Charakter. In der Musik transportiert sie ihren großen Schmerz in den Rachearien nach außen, das hat eine Wucht, die nur die Oper haben kann. Und dann gibt es sogar liebliche Momente, in denen sie über ihre Liebe nachdenkt. Ich finde die kaputten Seelen schon sehr spannend. MJ Wie

ist ja die Elektra aus der Orestie … HEM … Die Mutter bringt den Vater um, weil der Vater – Agamemnon – seine Tochter, Iphigenie, geopfert hat, Elektra plant mit ihrem Bruder Orest den Rachemord an ihrer Mutter Klytaimnestra und deren neuem Mann Aischylos, Orest führt den Mord durch, Elektra flieht, da beginnt Idomeneo. MJ Elettra

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sie auch eine Größe?

HEM Musikalisch hat sie die. Mozart hat ihr die größte Musik

sehr tragen Sie so eine Rolle, so eine Stimmung, während der Produktion mit sich herum? HEM Ich fühle mich in eine Rolle ein, aber ich werde nicht zu der Figur. Das ist manchmal seltsam, denn auf der Bühne bin ich sehr wenig ich selbst, wenn ich sie bin, weil sie so weit weg von mir ist, dass ich mein eigenes Ich nicht mitnehme. Aber ich bewahre einen klitzekleinen Abstand, verliere mich nicht, weil ich auf der Bühne



ja auch funktioniere. Die Stimme muss so gut sein wie möglich, dafür brauche ich hundert Prozent Konzen­ tration. bleiben, bei aller Identifikation, Hanna-Elisabeth Müller, die singt? HEM Ich brauche sogar eine gewisse Kontrolle über die Gefühle, damit meine Stimme funktioniert. Wenn ich weine und schluchze, kann ich nicht mehr singen. Und manchmal habe ich dann, wenn ich von der Bühne gehe, das Gefühl, das war jetzt wie ein Film.

MJ Wie kommt man denn mit vier Jahren überhaupt auf so

eine Idee? ich das so schön fand. Hänsel und Gretel. Das Weihnachtsoratorium.

HEM Weil

MJ Sie

MJ Wie sehr muss man als Sängerin im Alltag auf sich und

seine Stimme aufpassen? muss sehr auf sich aufpassen, das kann ich nicht schönreden. Umso wichtiger, dass man vorher alles gemacht hat im Leben.

HEM Man

MJ Heißt,

Sie haben vorher alles mitgenommen. Nachtleben? HEM Ja, klar. Dass ich morgens nach Hause kam, wenn meine Eltern zum Bäcker gingen, musste sein. Auch noch im Studium. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich merkte, ich brauche jetzt eine gewisse Disziplin, um da hinzukommen, wo ich hinmöchte. Da muss ich mehr tun, als nur anwesend zu sein und irgendwie meine Hausaufgaben zu machen. MJ War

Weihnachtsoratorium hat Ihnen mit vier Jahren gefallen? HEM Dass sich Menschen so bewegen und singen können, ja. Der Chor, so unglaublich schön, da war ich im Himmel. Und dass das Publikum einen Auftritt so wertschätzt, das fand ich atemberaubend. Ich habe meine Eltern mal gefragt, ob sie mich und meine Geschwister damals eigentlich da hinzwingen mussten, aber sie sagten sehr überzeugend, nein, ihr seid gern mitgegangen, es war etwas Besonderes. MJ Das

Gabriela Herpell wurde in Brüssel geboren und liebt, obwohl sie nur sechs Jahre in Belgien gelebt hat, belgisches Bier, Jacques Brel und koffie verkeerd. Zum Journalismus fand sie als Plattenkritikerin der Szene Hamburg sowie in der Nachrichtenredaktion des Stern. In den nächsten 30 Jahren arbeitete sie teilweise als freie Journalistin, dazwischen immer wieder als Redakteurin: bei Tempo, Glamour und Emotion, heute beim SZ-Magazin.

das eine Umstellung? Ein Opfer?

HEM Ich habe eigentlich nichts vermisst. Ich achte allerdings

immer darauf, dass ich einmal im Jahr vier Wochen komplett raus bin. Diese vier Wochen, die lebe ich nicht als Sängerin, da darf ich auch ohne Pullover abends weggehen. Ich brauche das für den Rest des Jahres. Das ist wie Akku aufladen. Das bedeutet aber, dass ich nachher zwei Wochen brauche, um die Stimme wieder auf Vordermann zu bringen. MJ Und

die anderen elf Monate, wie sehen die aus?

HEM Man ist diszipliniert, trinkt keinen Alkohol, ernährt sich

gesund, macht Sport für die Ausdauer, denn Ausdauer braucht man einfach. MJ Was

passiert, wenn die Ausdauer fehlt? HEM Dann kann eine Produktion richtig schieflaufen. Denn wenn man einmal drin ist, kann man sich die Ausdauer nicht mehr holen. Da muss man fit reingehen, um das durchzustehen. MJ Wann wussten Sie, dass Sie Sängerin werden möchten? HEM Ich

habe es das erste Mal tatsächlich gesagt, als ich vier war. Und ich habe dann immer gesungen. Ich war im Chor. Geige. Gesangsunterricht. Das hat sich so durchgezogen.

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HANNA-ELISABETH MÜLLER studierte Gesang in Mannheim und gastierte u. a. an der Metropolitan Opera in New York, am Teatro alla Scala in Mailand, in der Londoner Wigmore Hall, an der Semperoper Dresden, am Teatro dell’Opera in Rom sowie bei den Osterfestspielen Salzburg. 2010 wurde sie Mitglied des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper, von 2012 bis 2016 war sie Ensemblemitglied. Ihr Repertoire umfasst Partien wie Susanna (Le nozze di Figaro), Woglinde (Das Rheingold/Götterdämmerung), Sophie (Der Rosenkavalier), Zdenka (Arabella), Marzelline (Fidelio), Donna Anna (Don Giovanni), Pamina (Die Zauberflöte) und Cordelia (Lear).

Alle Termine im Spielplan ab S. 188 und unter www.staatsoper.de/spielplan


OSTERFESTSPIELE IM HERBST 2021 CHRISTIAN THIELEMANN SÄCHSISCHE STAATSKAPELLE DRESDEN IN SALZBURG

29. Oktober — 1. November FR • 29. Oktober Mozarts REQUIEM Golda Schultz, Christa Mayer, Sebastian Kohlhepp, René Pape, am Pult Christian Thielemann SA • 30. Oktober Orchesterkonzert Daniele Gatti Hilary Hahn – Violine Musik von F. Mendelssohn Bartholdy, W. A. Mozart und R. Schumann SO • 31. Oktober WINTERSTÜRME Konzert mit Ausschnitten aus Richard Wagners Der Ring des Nibelungen Anja Kampe, Stephen Gould, René Pape, am Pult Christian Thielemann Foto: © shutterstock • Design: Pratter

MO • 1. November Orchesterkonzert Christian Thielemann Denis Matsuev – Klavier Musik von E. Grieg und R. Strauss

OSTERFESTSPIELE SALZBURG 2022

9. — 18. April 2022

Karten für Förderer ab sofort: +43 662 8045 361 karten@ofs-sbg.at Einzelkartenverkauf ab 3. August 2021

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DIE BRATSCHE, DIE NICKTE Zu jeder Uraufführung, die an der Bayerischen Staatsoper gespielt wurde, gibt es eine Geschichte. Wir haben einige der schönsten Anekdoten hinter den Kulissen gesammelt.

Text Florian Heurich Illustrationen Jan Robert Dünnweller 74


DIE BRATSCHE, DIE NICKTE Wolfgang Amadeus Mozart, Idomeneo (1781) „Warm und trotzdem klar“, so beschreibt Andreas Grote den Klang einer Bratsche, die rund 300 Jahre alt ist und vermutlich genauso lange im Besitz der Bayerischen Staatsoper. „Darauf lassen zwei Stempel an der Rückseite des Instruments schließen.“ Deshalb sei es auch sehr wahrscheinlich, dass genau diese Bratsche schon bei der Uraufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts Idomeneo am 29. Januar 1781 im Cuvilliés-Theater gespielt wurde. Grote kam vor 28 Jahren als Bratscher ins Bayerische Staatsorchester und fand das Instrument in einem desolaten Zustand im Instrumentenlager. Mit großem finanziellen Aufwand ließ die Oper die Bratsche restaurieren, und Grote war begeistert vom runden, sonoren Ton und der leichten Spielbarkeit. „Trotzdem ist es ein sehr robustes Instrument. Es ist für jede Art von Musik geeignet und hält auch eine große Wagner-Oper aus, bei der man ja sehr viel mehr Kraft ins Instrument hineingibt als bei Mozart.“ Mittlerweile befindet sich Grote im Ruhestand und hat die Bratsche an seine Kollegin Anne Wenschkewitz weitergegeben. Als er 2008 bei der vorherigen Münchner Neuinszenierung von Idomeneo im Orchestergraben des Cuvilliés-Theaters saß, fragte er „seine“ Bratsche, ob Erinnerungen wach werden. Er meinte zu spüren, wie das Instrument nickte. DIE SENSIBLE TROMPETE Richard Wagner, Tristan und Isolde (1865) Man müsse schon ein bisschen kämpfen, damit man einen sauberen Ton trifft, sagt der Trompeter Christian Böld, der jahrelang die sogenannte Tristan-Trompete gespielt hat, ein Holzinstrument, von dem es heißt, es sei schon in der Münchner Uraufführung von Richard Wagners Oper am 10. Juni 1865 verwendet worden. „Sie klingt härter und aggressiver als eine normale Trompete und ist relativ unsicher im Tonansatz.“ Man könnte sogar manchmal meinen, es klinge falsch, so Böld, aber genau diesen seltsamen Klang habe Wagner gewollt. Nur ganz kurz ist der Auftritt dieses Instruments, insgesamt knapp eine Minute. Es ist das Signal von hinter der Bühne, das im dritten Akt Isoldes Ankunft per Schiff ankündigt: Ein Hirte bläst eine fröhliche Melodie. Da das in dieser Szene sonst so prominente Englischhorn für diesen Zweck zu leise war, musste ein neues Instrument entworfen und eigens angefertigt werden, irgendwo zwischen Trompete und Englischhorn, das sonst in keinem anderen Werk auftaucht. Ein sensibles, kompliziertes und unhandliches Instrument, das man gut pflegen und vor dem Einsatz vorbereiten muss. „Wenn es lange unbenutzt war, muss das Holz erst wieder befeuchtet werden. Eventuell muss man es sogar längere Zeit ins Waschbecken legen“, erläutert Böld, der genau weiß, wie diese ungewöhnliche und empfindliche Holztrompete behandelt werden will. Mehrfach wollten andere Theater das Instrument mit seinem speziellen Klang ausleihen. Es in fremde Hände zu geben, kommt für ihn jedoch nicht in Frage.

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NEUES LEBEN IN BAYERN Ermanno Wolf-Ferrari, Il segreto di Susanna (1909) Als Il segreto di Susanna am 4. Dezember 1909 in München uraufgeführt wurde – damals auf Deutsch als Susannens Geheimnis, zusammen mit den beiden einaktigen Opéras comiques Djamileh von Georges Bizet und Gute Nacht Herr Pantalon von Albert Grisar unter der musikalischen Leitung von Felix Mottl –, lebte Ermanno Wolf-Ferrari zwar gerade in seiner Geburtsstadt Venedig als Direktor des dortigen Liceo Musicale, den größten Teil seines Lebens verbrachte er jedoch in München und Umgebung. Schon zum Studium kam er hierher, zog später in den Ottobrunner Raum, dann nach Krailling. „Vita nova“, diesen Schriftzug nach Dante ließ der Komponist über der Eingangstür seiner Villa in Ottobrunn anbringen, und das neue Leben in Bayern endete erst nach rund drei Jahrzehnten, als er kurz vor seinem Tod nach Venedig zurückging. Wolf-Ferraris Ottobrunner Villa wurde danach zum Rathaus der Gemeinde umfunktioniert, heute hat ein Begegnungszentrum für Senioren dort seinen Sitz. Zu Wolf-Ferraris Münchner Spuren zählt auch ein im Archiv der Bayerischen Staatsoper aufgetauchter Klavierauszug von Il segreto di Susanna, in den der Inspizient der Uraufführung das gesamte Bühnengeschehen minutiös notiert hat. Damit könnte man die damalige Inszenierung relativ genau rekonstruieren. SABOTAGE DER MODERNE Walter Braunfels, Die Vögel (1920) Döbereiner, dieser Name findet sich unter den Cellisten an siebter Stelle auf der Orchesterdienstliste des 30. November 1920, dem Uraufführungsabend von Die Vögel. Die spätromantische Klangopulenz von Walter Braunfels‘ Musik hat jedoch sicher nicht ganz dem Geschmack dieses Cellisten entsprochen. Christian Döbereiner war seinerzeit ein Pionier der historischen Aufführungspraxis und einer der ersten, die sich intensiv mit Alter Musik und deren Interpretation beschäftigten. Als künstlerischer und musikalischer Leiter der 1905 in München gegründeten „Deutschen Vereinigung für alte Musik“ erweckte er zahlreiche Werke des 17. und 18. Jahrhunderts in originaler Gestalt zu neuem Leben und spielte wohl weit lieber auf der Gambe als auf dem modernen Cello. Sein Engagement im Orchester der Münchner Oper scheint bisweilen darunter gelitten zu haben, insbesondere wenn es um die großen Romantiker ging. So sah sich Bruno Walter nach einer Aufführung des Fliegenden Holländers im Oktober 1921 gezwungen, Döbereiner eine schriftliche Abmahnung zukommen zu lassen, in der der Dirigent die „unlustige und nachlässige Behandlung [seiner] musikalischen Tätigkeit“ kritisierte. Er habe „bei keinem Tremolo, bei keinem Fortissimo, bei keiner rhythmisch markanten Stelle (…) diejenige Energie aufgewendet, die von jedem Mitglied hierbei verlangt werden muss.“ Man könnte also meinen, er habe genau diejenigen „modernen“ Klangwelten sabotiert, die Bruno Walter auch im Jahr zuvor bei den Vögeln heraufbeschwören wollte.

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DER DURCHGESTRICHENE KÖNIG Aribert Reimann, Lear (1978) Im Vertrag vom 23. Juni 1977, den der Schott Verlag mit der Bayerischen Staatsoper abgeschlossen hat und in dem die Aufführungsrechte für Aribert Reimanns neue Oper festgelegt wurden, springt vor dem Werktitel ein mit dickem Stift durchgestrichenes Wort ins Auge. Beim genauen Hinsehen kann man erkennen, dass dort einmal „KING“ gestanden hatte und nachträglich wegretuschiert wurde. Auch in der Korrespondenz zwischen Opernhaus, Verlag und Komponist und im Vertrag vom 31. Juli 1975 mit Reimann über den Komposi­ tionsauftrag ist immer von „König Lear“ die Rede. Schließlich entschloss sich Reimann jedoch dazu, seine Oper schlicht „Lear“ zu nennen. Das Allgemein-Menschliche in dieser Figur war ihm wichtiger als der royale Aspekt und die politische Funktion. Es ging ihm um „die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit, der Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens ausgesetzt“, so Reimann. Der Verfasser des Aufführungsvertrags hatte offensichtlich Reimanns künstlerische Überlegungen noch nicht mitbekommen, obwohl das Werk zu diesem Zeitpunkt schon relativ weit fortgeschritten war. Wer allerdings schließlich den „KING“ eliminierte und damit Lear vermenschlichte, darüber kann man heute nur spekulieren.

Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR und andere ARDRundfunkanstalten über Themen im Bereich Oper, Gesang, Literatur und Weltmusik und gestaltet die Onlineformate Videomagazin und Opernsteckbrief der Bayerischen Staatsoper.

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BREAKING THE WAVES Die britische Bildhauerin Phyllida Barlow hat ihr erstes Bühnenbild für die Oper geschaffen. Ihre Skulpturen sind dramatische Statements im Raum. Eine künstlerische Reise von der Küste Englands über Venedig bis nach München.

Text Nicola Kuhn Festspielpremiere Idomeneo 78


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Phyllida Barlow in ihrem Studio, 2018 © Phyllida Barlow, Courtesy the artist and Hauser & Wirth, Foto Cat Garcia


Im Frühsommer 2017 gestaltete Phyllida Barlow den britischen Pavillon bei der Biennale von Venedig. Den klassizistischen Tempelbau stattete sie üppig mit ihren abstrakten, rauen Gebilden aus Bauholz, Beton, Maschendraht, Gummi, Sand, Pappe und Klebeband aus. Ein opulentes Szenario, ein machtvoller Auftritt. Der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, entdeckte Barlows Arbeiten damals in den Giardini, war fasziniert von ihnen und besuchte Barlow daraufhin in ihrem Londoner Atelier, um sie zu fragen, ob sie Lust hätte, ein Bühnenbild zu entwerfen. In den vergangenen Jahren holte er zahlreiche bildende Künstler und Künstlerinnen wie Georg Baselitz, Hermann Nitsch, Ilya und Emilia Kabakov sowie Marina Abramović für Kooperationen nach München. Immer ließ er ihnen freie Hand – so wie auch jetzt bei Barlow. „Er sagte nur zu mir, er hätte gerne eine BarlowSkulptur auf der Bühne“, erzählt sie bei einem Gespräch am Telefon. „Das habe ich als sehr großzügig empfunden.“ Mit Phyllida Barlow lädt Nikolaus Bachler eine der bedeutendsten britischen Bildhauerinnen ein und gleichzeitig eine der ganz großen Entdeckungen jüngster Zeit, denn Barlows internationale Karriere hat eigentlich erst vor wenigen Jahre begonnen. Lange galt sie als artists‘ artist, als Tipp unter Künstlern. Während ihrer Laufbahn hat sie fünf Kinder geboren und aufgezogen, zusammen mit ihrem Mann, dem Maler Fabian Peake, den sie zu Beginn ihres Studiums Anfang der 1960er Jahre am Chelsea College of Arts in London kennenlernte. Als Professorin der Slade School of Fine Art, ebenfalls in London, brachte sie anschließend viele große Talente an den Start: Rachel Whiteread, Steven Pippin, Douglas Gordon, Angela de la Cruz oder Eva Rothschild. Was die Künstlerin in dieser frühen Zeit in ihrem Atelier schuf, wurde am Ende ihrer Ausstellungen meist für neue Werke wiederverwendet oder verschwand irgendwann im Stadtraum, wo Barlow ihre Skulpturen zeitweilig einfach platzierte. Eine eher anarchische Strategie, um Öffentlichkeit jenseits des Ausstellungsraums für ihre Arbeiten zu gewinnen. Erst mit ihrer Emeritierung im Jahr 2009 und den seither immer weiter ausgreifenden Werken wurde ein größeres Fachpublikum auf Barlow aufmerksam. Nach einer Ausstellung in der Serpentine Gallery gemeinsam mit der Iranerin Nairy Baghramian, 2010 kuratiert unter anderem von Hans Ulrich Obrist, nahm die Zürcher Galerie Hauser & Wirth sie unter Vertrag. Von hier war es dann nicht mehr weit bis nach Venedig und schließlich bis nach München, an die Oper. Phyllida Barlow will Wolfgang Amadeus Mozarts Idomeneo weniger buchstäblich umsetzen als vielmehr psychologisch und symbolisch interpretieren. Mithilfe szenographischer Elemente versucht sie, bestimmte Charakteristika herauszu­ arbeiten, die für das Stück prägend sind. Genau mit diesem Ansatz trifft sie sich gedanklich mit dem Regisseur Antú Romero Nunes, für den die Oper, angesiedelt im antiken Griechenland, vor allem einen Generationenkonflikt verhandelt: die Ablösung einer alten Macht durch die Jugend, das Ende eines kriegerischen Konflikts zugunsten eines harmonischen

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Zusammenlebens. Für Barlow gibt es zwei Sphären, die sich hier überlagern: die religiöse und die emotionale. Auf der einen Seite befinden sich die Götter, nach deren Plan die Menschen agieren, auch wenn alles Fantasie sei, eine Erfindung der menschlichen Vorstellungskraft, wie die Bildhauerin betont, auf der anderen Seite die Gefühle, der Kampf um die Liebe. „Das hingegen ist eine große menschliche Realität“, sagt sie. „Die Küste erschien mir als der passende Schauplatz für Idomeneo, wo Land und Meer aufeinandertreffen“, so Phyllida Barlow. Die Künstlerin ist in Newcastle upon Tyne aufgewachsen, einer mittelgroßen Stadt unweit der Nordostküste Englands. Auch mit ihrer Familie lebte sie später zeitweise am Meer und kennt seine eigentümliche Stimmung. Motive der Küste finden immer wieder Eingang in ihre Werke, so tauchen auch in Barlows Bühnenbild imposante Wellenbrecher und gewaltige Felsformationen auf. Ebenso wie Aussichtsposten, wie es sie heute noch mancherorts in Großbritannien gibt, mit denen früher nach Booten in Seenot Ausschau gehalten wurde, nach Schmugglern und Piraten. „Ich mag ihre spezifische Form“, sagt Barlow, „sie repräsentieren für mich nicht nur die Fähigkeit, in die Ferne zu schauen, sondern auch die Möglichkeit, etwas zu sehen, das aus der Zukunft kommt.“ Diese Idee der Zeitlichkeit wiederholt sich im Bild des Felsens, der für Barlow Langlebigkeit symbolisiert, für die alte Zeit steht, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragt. Wenn Phyllida Barlow ihr Bühnenbild beschreibt, dann hebt sie selbst daran eine Mischung aus Intuition und intellektueller Erfassung hervor. Diese Mischung verleiht auch ihren Skulpturen eine phänomenale Präsenz. Sie scheinen zwar grob zusammengehauen; die Alltagsmaterialien, die sie zum Großteil im Baumarkt findet, sind roh aufeinandergestapelt oder ineinandergeschoben. Und doch wägen sie sehr genau den Raum aus, ergeben ein fein austariertes Zusammenspiel von Tragen und Lasten, Form und Farbe, Gespürtem und Gesehenem. So auch auf der Bühne des Prinzregententheaters. Im Münchner Haus der Kunst lässt sich die Wucht und das Spielerische von Barlows Werk theoretisch gerade unmittelbar erleben, sofern es die Inzidenzwerte zulassen. Noch bis Ende Juli wird ihre Restrospektive als Auftakt einer Ausstellungsreihe gezeigt, mit der der neue künstlerische Leiter Andrea Lissoni ausschließlich zeitgenössische Künstler­innen in den Fokus rückt. Der Besucher begegnet einer Armada bunter Banner, mit farbigen Brettern bedeckten Betonstützen und fünf haushohen Säulen mit gestapelten Platten obendrauf, die sich über das falsche Pathos der NS-Architektur lustig zu machen scheinen. Dass die bislang größte Werkschau zum 50 Jahre umfassenden Œuvre Barlows parallel zu ihrer Premiere als Bühnenbildnerin an der Oper stattfindet, quittiert die Künstlerin mit einem glucksenden Lachen und einem zufriedenen „Yes, extraordinary!“. Es ist kein Zufall, dass München die Bildhauerin so umfassend würdigt. 2011 nahm sie bereits im Haus der Kunst an


der Gruppenschau Skulpturales Handeln teil und präsentierte ihre erste Einzelausstellung in Deutschland, im Kunstverein Nürnberg, wo sie die gesamte Raumhöhe des ehemaligen Verwaltungsgebäudes eines Milchhofs nutzte. Ein Jahr später erhielt sie den Kunstpreis Aachen, zu dem eine Schau im Ludwig Forum gehörte. Hier ging sie nicht nur bis unters, sondern gleich aufs Dach, indem sie eine Skulptur auf dem Sheddach des früheren Fabrikgebäudes platzierte, die für das Publikum nur von schräg unten durch eine Fensterfront zu sehen war. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf zeigt in diesem Jahr – parallel zur Retrospektive im Haus der Kunst – in einer Ausstellung zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys als monumentalsten Beitrag Barlows STREET (2010): Darin finden sich ebenfalls farbige Banner, die hier wiederum einen demokratischen Aufbruch markieren. Ihr Entwurf für Idomeneo ist die erste Arbeit der 77-Jährigen für das Operngenre. Erfahrungen als Szenographin sammelte die Britin bislang nur bei einer Inszenierung am Wimbledon Theatre in London, Knives in Hens, das war 2001. Aber Phyllida Barlow war schon immer offen für Herausforderungen. Auch Idomeneo wird ein Wagnis – aber ein beglückendes, folgt man der Künstlerin. Außerdem ist ihr das Musiktheater nicht fremd. Sie habe es geliebt, als Kind mit ihren Eltern in die Oper zu gehen, erzählt sie. Als junges Mädchen faszinierte sie die immersive Erfahrung: das Orchester, die Bühne, die Sänger, die Szenerie, die Kostüme. „Ich mag dramatische Ereignisse wie Karneval, bei denen viele Faktoren gleichzeitig eine Rolle spielen, das Publikum hineingezogen wird, nicht zuletzt emotional.“ Auch Skulptur könne ein dramatisches Statement sein, in der Art, wie Raum besetzt werde. Zwischen Bühne und Bildhauerei gebe es durchaus Gemeinsamkeiten. Und doch hat sich die Künstlerin Idomeneo anders genähert als ihren bisherigen Arbeiten. Es war ein Herantasten: „Wenn ich sonst in meinem Atelier bin, denke ich nicht an das Publikum. Ich konzentriere mich auf meine Skulptur und lasse auch Fehler zu, um etwas herauszufinden, etwa beim Material. Es ist nie von vornherein klar, wie es ausgeht. Wenn ich dann ein Werk installiere, kann sich immer noch etwas ändern. Es scheint, als ob mir ein Skript für ein Stück gegeben worden wäre, das ich vorher noch nicht kannte.“ Diesmal gibt es eine Partitur, einen Regisseur und eine Bühnenwerkstatt für die engen Absprachen bei der Realisierung, die sie coronabedingt ausschließlich via Onlinekonferenz umsetzt. Eine ungewohnte Situation, die Barlow gelassen meistert. Zunächst arbeitete sie mit einer Blackbox als Modell, in dem sie mit kleineren Skulpturen operierte, bis sich schließlich die Komponenten Fels, Wellenbrecher, Aussichtsposten herausbildeten. Waren es zu Beginn noch drei Felsblöcke, so reduzierten sie sich im Verlauf auf einen einzigen, der sich stark vergrößerte. Barlows ursprüngliche Idee, den Fels benutzbar zu machen, eine Plattform für die Sänger darauf zu platzieren, musste aus Gründen der Sicherheit wieder aufgeben werden. „Die Skulptur musste etwas von ihrer

Skulpturhaftigkeit verlieren, um Teil der Bühne zu werden“, sagt sie. „Das war eine neue Erfahrung für mich.“ Auch umgekehrt nimmt das Ausstattungsteam an einem Lernprozess teil und erlebt eine Wandlung: Als es um die Gestaltung der Felsoberfläche geht, dessen Textur, empfiehlt Barlow den Münchner Mitarbeitern, den Brocken nicht länger als solchen wahrzunehmen, sondern sich ihn als individuelle Gestalt vorzustellen, die ein Eigenleben besitzt. „Das ist für mich der entscheidende Punkt in meiner Arbeit: wenn das Werk selbst übernimmt.“ Vergesst den Felsen, habe sie als Devise ausgegeben, entlasst ihn! Schließlich entwickelten auch die Charaktere des Stücks im Laufe einer Produktion eine eigene Dynamik. „Ich liebe diesen Moment des Übergangs“, beschreibt sie das Mysterium ihrer bildhauerischen Arbeit, wenn banales Material sich mit Bedeutung auflädt und eine neue Kraft gewinnt. Für Idomeneo hat die Bildhauerin ihre Skulpturen in den Dienst der Oper gestellt. Nicola Kuhn ist Kunstredakteurin beim Berliner Tagesspiegel sowie Autorin, zuletzt der Autobiographie des Kunsthändlers Rudolf Zwirner, Ich wollte immer Gegenwart (Wienand Verlag). Sie lehrt Kunstkritik an der Universität der Künste, Berlin.

IDOMENEO – Am 29. Januar 1781 war das Münchner Cuvilliés-Theater Schauplatz einer besonderen Uraufführung: Auf dem Programm stand Idomeneo des gerade mal 25-jährigen Salzburger Junggenies Wolfgang Amadeus Mozart. Die Oper ist ein Meilenstein im Schaffen des Komponisten. Erstmals konnte er für das damals wohl weltbeste Orchester eine Musiksprache entwickeln, die an Klangfarben und musikalischen Formen absolute Avantgarde darstellte. Auch der antike Stoff um den kretischen König, der nach dem trojanischen Krieg wieder in seine Heimat zurückkehrt, war in seiner archaischen Wucht einzigartig. Doch diese wendete Mozart ins Aufklärerisch-Humane. Denn den Konflikt Idomeneos, der dem Meeresgott versprochen hatte, den ersten Menschen auf Kreta zu opfern, dem er begegnet, löst die Oper auf unerwartete Weise. Idomeneo begegnet tragischerweise seinem Sohn Idamante, der folglich als Menschenopfer sein Leben lassen müsste. Zwischen Verzweiflung, Schmerz und der Erkenntnis der Unausweichlichkeit des Schicksals bahnt sich ein versöhnlicher Weg an: Idomeneo verzichtet auf seine Macht, der Gott wiederum auf sein Opfer. Ein solcher Bick auf politische und göttliche Macht ist bahnbrechend für die Zeit. Dramma per musica in drei Akten von Wolfgang Amadeus Mozart Musikalische Leitung: Constantinos Carydis Inszenierung: Antú Romero Nunes Montag, 19. Juli 2021, 18:00 Uhr, Prinzregententheater Alle Termine im Spielplan ab S. 188 und unter www.staatsoper.de/spielplan

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Illustration Bureau Borsche


DIE ABWENDUNG EINE KURZGESCHICHTE VON FERIDUN ZAIMOGLU

Der Heilige hat versucht, seinem Erstgeborenen den Kopf abzuschlagen, doch als das Beil niedersaust, stößt sich der gefesselte Junge mit der Brust vom Hackklotz ab, und er läuft trotz der geschnürten Hände am Rücken dem Vater davon, er läuft, heulend wie ein junger Wolf, brüllend wie ein alter Kneipensäufer, an der Brandmauer des großen Nachbarhauses entlang, er stolpert über die Beete mit den Herbstastern, Blauschwingeln und den schwefelgelben Schafgarben, er stolpert über die Hintergärten mit den bunten Kübeln, den kleinen Teichen in den Zinkwannen, den aufgestapelten Weinkisten, in denen am helllichten Tag Sturmlaternen und Öllampen brennen, er trampelt sich durch die Ziersträucher einen Weg frei, und es ist ein Wunder, daß zu dieser Stunde keine Frau auf ihrer Terrasse ihren Thymiantee trinkt, und daß kein Mann neben seinem kotenden Rottweilermischling steht, er läuft an zerstreuten Spaziergängern vorbei, die ihn für einen fanatischen Sportler im Ausdauertraining halten, doch welcher Läufer trägt beim Laufen eine Jeans mit ausgefransten Löchern und einen dicken schwarzen Grobstrickpullover, der Junge schafft es, nicht hinzufallen, die Todesangst treibt ihn voran, nur ein einziges Mal stürzt er fast zu Boden, weil er plötzlich heftig niesen muß, das tun Hunde bei der Begrüßung oder beim Spiel, sie wedeln aber auch freudig mit dem Schwanz, das alles denkt er, er denkt aber auch an den Wind, der seinen Nacken streifte, er hat es sich be­stimmt eingebildet, der flammende Schmerz, der ihm in den Hinterkopf fuhr, war aber echt, das Schlachtopfer hat sich dem Willen des Schlächters nicht gebeugt, der Sohn flucht dem Vater den Tod an, er nimmt ihn aber gleich wieder zurück, ein Tier­ schrei entfährt ihm, und nur deshalb schaut ein junges Mädchen zu ihm herüber, und wahrscheinlich glaubt sie, ein blöder Kerl mit nassem Gesicht wolle sie anmachen, also biegt sie hastig in eine Gasse ein, der Junge erinnert sich an den Eingangssatz der Morgenpredigt seines Vaters: „Die Seele ist ein trauriges Tier“, er läuft, da in seinem Kopf die Worte klingen, in kleineren Schritten, er merkt, daß er sich hinten am Hosenbund festgekrallt hat, als wolle er verhindern, daß ihm die Hände abfallen, ihm ist halb kalt und halb heiß, er denkt: Ich lasse mich nicht als Drückeberger verschreien, nicht von diesem Mann, er denkt an den Mann, der sein Vater ist, der zu ihm sprach, nach einer Predigt: „Da wo ich herkomme, schiebt man ein aufgeschlagenes Buch unter ein Bein des kippligen Tisches. So kommt das Buch in Gebrauch. Die Bibel ist davon ausgenommen“, wie kann dieser Mann ihn enthaupten wollen aus Eifer für Gott, zur größeren Ehre Gottes, wie kann er mich, einen Gottgläubigen, opfern wollen, und hätte er unter Aufsagen von Gebeten meinen Kopf in einen Sack gesteckt, denkt er, und hätte er den Sack zu­ geschnürt, um ihn, getrennt von meinem Restrumpf, zu verscharren, in seinem Hintergarten, wäre ihm vor Eifer für den Himmel ein Jubelruf entfahren, der Sohn läuft an einer losgerissenen Terrassenplane mit Sturmstange vorbei, heftig wehte der Wind in der Nacht, und er löste das Feste mit einer Wucht, daß er, der Sohn, sich fürchtete vor einem Unheil, das über ihn kommen würde, doch dann herrschte jähe Windstille, daran denkt er, und er zerspringt fast vor Wut, weil die Fessel nicht nachgibt, die Handgelenke reiben

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aneinander, das rechte Knieloch reißt weiter ein, wie kann er mich nur enthaupten wollen, ich bin guten Willens, aber nicht fügsam, ich bin willig, aber kein willfähriger Gehilfe, hätte Vater den tropfnassen Sack der Frau übergeben, die bei uns als Aufwartung be­schäftigt ist, sie kann Tücher in der Luft falten: Kante auf Kante, Zipfel auf Zipfel, und hätte die Haushälterin gesagt: „Jawohl, ich werde, wie es sich für eine Magd des Herrn gehört, gehorchen. Jawohl, ich werde nicht nach dem alten Brauch unserer Vorfahren ein Stück Fleisch abknei­fen und trocknen und als Amulett hinten unter dem Kragen vernähen, als Schutz vor Hexerei, das Stück würde doch schnell stinken, und man würde glauben, daß mein eigenes Fleisch den Gestank verströmt und nicht das fremde Fleisch. Jawohl, furchtbar ist es, heidnisch ist es, meine Ahnen haben sogar von Totenschädeln Späne geraspelt und gekratzt und die Späne dem Mus und dem Brei beigegeben“, die Frau wäre schreiend vor meinem Vater geflohen, denkt er, eine Verdorbenheit aus Mist, Brunz und Ekel nennt er die Sünden, bin ich in seinen Augen der größte Sünder, daß er mich kaputt­ hauen will, ein Span fiel vom sausenden Beil auf den Hackklotz und ich schnappte danach, der Span zerschnitt mir die Zunge, ein Mundvoll Blut, den ich nicht schlucken will, ein Mundvoll Blut, der an meinem Gaumen kitzelt, und der Sohn bleibt an meiner Tür stehen, er stößt mit dem Kopf schwer gegen die Tür, ich schaue durch den Türspion, und als er bemerkt, daß es sich hinter der Linse verdunkelt, zeigt er mir seinen Rücken, seine gefesselten Hände, ich lasse ihn sofort herein. Dies ist sein Sohn. Es quält ihn, daß es lange dauert, bis ich die Fesseln zerschnitten habe. Er verschluckt sich und speit mir Blut vor die Füße, beim Wischen verschliert das Blut, und er fällt vor Erschöpfung auf die Knie und atmet und atmet, bis ich ihm das volle Wasserglas reiche. Er trinkt. Dies ist sein Sohn. Er trinkt ein zweites Glas leer. Er hat ausgerechnet an meine Tür geklopft. Jetzt betrachtet er, laut durch die Nase schnaufend, das einzige Bild, das im Windfang an der Wand hängt: Trödelhöker mit seinem Handkarren, Aquarell, in der Sonne verblichen. Er erzählt vom Anschlag seines Vaters, des Heiligen, und während er stockend und stammelnd spricht, denke ich über meinen Halbbruder nach, ist sein Wahn ein spätbürgerlicher Irrsinn, oder hat er sich nicht gewandelt, als Kind schmiß er Steine über die Friedhofsmauer, und wenn ein Mann oder eine Frau aus der Trauergemeinde vor Schmerz aufschrie, lachte er auf, ich erinnere mich an seinen Schlachtruf: „Mit Gottvertrauen schlag mutig drein!“, habe ich es kommen sehen, ich habe ihn doch nicht ernst genommen, wenn er als Mannskerl in modischen Fetzen daherschritt, im Wohnzimmer unseres gemeinsamen Vaters, wenn er ausrief, daß man den Feind zum Ausbluten bringen müsse, daß man es nicht bei drohenden Gebärden belassen dürfe, sonst stehe man doch unter dem Fluch der Feigheit, damals, in dem voll­gestellten Zimmer, hielt ich ihn für einen kleinen Menschen mit angeleimten Rattenzähnen im Maul, wer bunte Hemden trug, wer die grell gemusterte Krawatte zwischen dem dritten und vierten Knopf seitlich ins Hemd stopfte, wer mit zerbissenen Fingerspitzen in der Luft wedelte, durfte nicht auf Verständnis hoffen. Ich habe es nicht kommen sehen. * Das ist der Mann, der in diesen Seuchenzeiten jede Münze einzeln mit dem nassen Tuche entkeimt. Das ist der Mann, den man auch den Heiler heißt, weil er die Häute säubert mit dem Essigschwamm. Das ist der Mann, der das Entsetzen der Gottlosen kennt, weil er selber gottlos war, und der deshalb allen Frauen befiehlt, die Schwellen zu scheuern, alles Blut und alle Schuppen und alle Haare, die die Menschen hinterlassen, sind Leichenpartikel, sie locken das Geziefer an. Ich dachte, er komme in große Verlegenheit, wenn ich ihn stelle. Er aber steht still. Ich sehe: Er hat verkrustete Herpesbläschen im Eingang der Nasenlöcher. Ich sage: „Dein Sohn war nicht dazu zu bewegen, zur Polizei zu gehen.“ Er sagt: „Ich wußte nicht, daß sein Nacken so bleich ist.“ Dann schweigen wir. Der Hei­lige reibt mit Franzbranntwein den geschwollenen Finger ein, er hat den Schlag nicht ausführen können. Er hat den Sohn nicht enthaupten können. Ich sitze in seinem Hintergarten, ich lasse den Thymiantee kalt werden, ich traue

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ihm zu, daß er mich vergiftet. Eine alberne Angst. Ein Satz aus der Bibelstunde fällt mir ein: Dem Schuldigen schau­dert. Doch der Mann im knöchellangen schwarzen Gewand zittert nicht, er haucht in die hohlen Fäuste, eine sinnlose Geste, denn die Hände trocknen schnell an der frischen Luft. Ich frage ihn, was er zu tun gedenkt, ich sage, daß ich von einem baldigen weiteren Anschlag ausgehen müsse, denn er sei kein Mensch, der sich mit einem anderen Menschen aussöhne, darüber würde der dampfende Tee nicht hinwegtäuschen, was also tun, wolle er sich vielleicht selbst anzeigen als ein unvollendeter Mörder, wolle er bitteschön einsehen, daß er seinen Sohn in Angst und Schrecken versetzt habe, er solle jetzt bloß nicht mit Geschichten von unserem Vater kommen, der ein derart armer Bauer gewesen ist, daß er im Viehtrog schlief, mit diesen Anekdoten könne er den alten Jungfern zur Erhebung des Gemüts verhelfen, er sehe zwar aus wie die Propheten Palästinas, die er verehre, über seine Heiligkeit könne ich aber nur lachen, was also tun. Da sagt er leise: „Sollen uns die Haustiere trösten?“ Und er sagt, gegen die Waschmaschine im Schleudergang anschreiend, die im nahen Waschraum laut rattert: „Das ist eine seelische Sache.“ Die Männer und die Frauen, die sich an ihn gebunden haben, die ihm folgen, die ihm hörig sind – sie würden, wenn ich den erfolglosen Axtanschlag bekannt machte, mit der wi­derwärtigen Verhimmelung des Heiligen sehr weit gehen, denn es wäre der Beweis, daß er die Zeichen der Offenbarung erkenne. Ich sehe: Ein Mann sitzt mir gegenüber im Gartenstuhl, mit unanständig roten Lippen, ein Armreif aus Schaumgold glänzt in der Sonne. Das ist der Mann, der seine Befehle von Himmel bekommt, er vernimmt die Stimme wohl, die Stimme ist Gewisper und Geklirr, der Mann ist kein Prediger, er hat vor fünf Jahren die bunten Hemden abgelegt, und er ist hinausgegangen, um sich, wie er nicht müde wird zu sagen, dem Weltbetrug zu widersetzen. Ich glaube ihm kein Wort. Ich glaube: Er fühlt nichts. Er fühlt nicht voller Schmerzen die kommenden Gemetzel. Er führt nur vor den Verblendeten seines Anhangs ein würdeloses Schauspiel auf. Vorstellbar muß ihm alles sein, sonst platzt er. Er sagt, es werde sich alles zum Guten wenden, auch wenn sich sein Sohn als feiges Opfer entpuppt habe. Der Vater verachtet den Sohn, weil er noch nicht unterworfen ist. Die Aufwartefrau stellt einen Brotkorb auf den Tisch, dann kommt sie mit Käse und Wurstaufschnitt auf einer Schieferplatte. Im Korb sind zwei Brötchen, ein glattes und ein bemehltes. Bin ich korrumpiert, wenn ich sein Brot und seinen Käse esse? Sein Sohn ist nicht feige, er ist ein verdorbener Vater, daß er ihn schlechtmacht. Leidet er immer noch an Herzkrämpfen? Die Waschmaschine hat zu Ende geschleu­ dert, ich versuche, nüchtern und sachlich zu bleiben, ich schaue auf den Aufschnitt und erkenne ovale Gutsherrenwurst, ich sehe auf den Käse und erkenne Gouda. Nichts essen. Nichts annehmen. Nichts trinken. Er greift zum bemehlten Brötchen, er rupft ein Stück und schiebt es in den Mund, er kaut nicht, er schluckt nicht, die Wange ist ausgebeult, es sieht aus, als würde ein kleines Tier in seiner Backentasche eingerollt Winterschlaf halten. Der Heilige, der Mund des Heiligen, sein Speichel, den er auf die Lider der Kinder streicht, die ihm seine Gläubigen vor seine Hände schieben, die verschreckten Kinder, denen es verboten wird, die Spucke wegzureiben, der Heilige. Die Kinder, Geisel der Heiligen, Kinder mit nassen Lidern, das Mundwasser eines fremden Mannes rinnt ihnen in die Augen, und ihre Mütter und Väter stimmen jauchzend ein Gotteslob an, während ihr Meister, mein speichelnder Halbbruder, die Geschichte von Mose erzählt, der in der Wüste die Schlange erhöhte, denn der Herr schickte feurige Schlangen, sie sind die fleischgewordenen Sünden und sie sind auch die Strafe für die Sünden, und die Söhne Israels litten sehr, und Mose bat um Erbarmen, um die Verzeihung der Fehlgriffe und Untaten, und der Herr wies ihn an, eine kupferne Schlange an einer Stange hoch aufzurichten, daß der, der sie anschaut, vom Biß der feurigen Schlange geheilt werde, die Kinder, die Augen nass, der Speichel, die Tränen, die sie vergießen aus Angst vor dem Biß, aus Angst vor der Sünde, die ihre Herzen schwärzt, das schreit der Mann auf dem hohen Predigtstuhl, der Mann, der Worte kennt, gegen den bösen Einfluß, der Gebete spricht, gegen Kropf und Überbein. Ich war dabei, als er sich heiser schrie, der Heilige.

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Das kleine Tier in seiner Backentasche zerfällt in der Spucke. Ich frage ihn, warum er seinen Sohn exekutieren wollte. Er verpreßt die Lippen, weil ihm das Wort mißfällt. „Keine Exekution“, sagt er, „nur eine notwendige Entsühnung. Das versteht jeder Christ. Du wirst es niemals begreifen, denn du lebst blind und taub in dieser Welt. Für dich ist der Heiland nicht gekommen. Und wenn er wiedererscheint, wirst du einer der letzten in der Schlange der Sünder sein!“ Ich springe auf, ich stoße den Tisch beiseite, ich sehe noch die Wurstscheibe durch die Luft fliegen, die Käsescheiben bleiben aneinander kleben, ich falle ihn an, ich verbeiße mich in seinem Haar, ich beiße und beiße, bis ich ihm eine Locke abgebissen habe, und mit der Beute im geschlossenen Mund laufe ich ihm davon, fast stoße ich mit der Aufwartefrau zusammen, da sehe ich, daß sie keine Weiße ist und keine Schwarze, und schon stürme ich an ihr vorbei, ich laufe und laufe und laufe, und hinter meiner Hausschwelle spucke ich die Locke meines Halbbruders auf den Boden. Feuchtes Haar. Mein nasser Mund. Der Ekel würgt mich. Ich keuche, bis ich wieder zu Atem komme, dann blicke ich auf: Der Sohn weicht vor mir zurück. Ich sage, daß ich seinem Vater vor Wut Haare abgebissen habe, der entsetzte Heilige wäre mir nicht gefolgt, er müsse sich nicht ängstigen. Der Schmerz beißt. Ich trinke zwei Gläser Wasser, dann fühle ich mich besser. Ich sehe: der Sohn gebeugt über seines Vaters speichelnasses Haar, soll er es berühren, soll er es zertreten, er ist immer noch die Geisel des Heiligen. Er beginnt zu erzählen. Wegen einer Frau. Die Haushälterin, jung, still, unscheinbar, warmblütig, dunkel, ein folgsamer Schatten aus dem fernen Äthiopien, ihre Mutter trug einen Lippenteller, das ist eine Tonscheibe, um die sich die Unterlippe spannt, das taten die Frauen früher, damit sie nicht geraubt und als Sklavin verkauft wurden, zum Essen nahm die Mutter übrigens die Scheibe ab, sie ist vom Stamme der Mun, der im Omo-Tal lebt, da gibt es Städte mit fabelhaften Namen in Äthiopien: Yirgalem, Kebri Dehar, Gambella, Lalibela, Bahir Dar, Yabello, da gibt es Flüsse, die heißen: Sobat, Obel, Juba, Gilo, Mile, Awash, Baro, die Griechen sprachen vom Land der gebrannten Gesichter, die Araber vom Land der gemischten Rassen. Die Mädchen und die jungen Frauen betupfen ihr Gesicht mit einem Pigment aus Pflanzen und Viehharn, sie sehen aus, als hätten sie Masern mit weißen, statt mit roten Flecken. Das hat sie ihm, dem weißen Sohn ihres weißen Hausherrn, verraten? Nein, er hat sich dieses Wissen im Laufe der letzten Wochen mühsam erschlossen. Seltsame Antwort. Wegen dieser Frau? „Ja“, sagt er, „ich weiß doch selber, daß ich unbrauchbar bin. Hätten wir uns zusammengetan, sie und ich, wäre jeder von uns mehr als doppelt so stark gewesen. Ich habe sie gebeten: Leiste mir doch bitte bis in die Frühe die ganze Nacht durch Gesellschaft. Sie blieb und hörte mir zu. Wer hatte ihr hinterbracht, daß ich im Dunkeln nicht die Augen schließen will? Ich habe sie gefragt: Bist du eine Gefährtin, oder gaukelst du mir Häuslichkeit nur vor?“ Sie tat ihm nicht schön. Daß sie in seiner Gegenwart manchmal lächelte, verleitete ihn zu dem Glauben, sie wolle eine Verrücktheit zu zweit begehen. Einmal zerbrach sie beim Fegen der Terrasse den dünnen Besenstiel. Ein anderes Mal erstarrte sie und wischte vor ihren Augen den dichten Staub, den nur sie sah. Die Leere wird größer, die Leere frißt und frißt, und er rennt weg vor den Löchern, die sich in seiner Nähe auftun. Ich halte mich aus gutem Grund von verliebten Männern fern, denn ich kenne solche Männer: Sie sind verschmort, die Liebe hat sie hingemacht. Ich werde keine Frau zum Tanzen auffordern. Jetzt aber sagt dieser Junge: „Sie hat eine silbrige Art. Ihr Stamm muß die Schande der Knechtschaft ertragen, doch sie ist hier bei uns, sie ist frei, sie müßte eigentlich nicht ihre Herkunft verschleiern, ihre Gutheit bleibt unangefochten, die Schuhe aus Schlangenleder, die meiner Mutter gehörten, hat sie als Geschenk nicht angenommen, sie sagte, sie könne nicht ihren Fuß in den Schuh zwängen, wenn doch schon ein Frauenfuß den Schuh ausfüllte. Mein Vater, der Hochheilige, hat vor ihren Augen die Schuhe mit dem Teppichmesser zerschnitten, denn er duldet keine weichliche Moral, die Vorschrift muß eine Anwendung finden, das ist seine Auffassung, und wenn Aijana, so heißt sie, jedenfalls gibt sie vor, so zu heißen, Vater nennt sie beharrlich falsch Antonia, wenn also Aijana sich diese Auffassung nicht zu eigen macht, in seinem Haus, muß er ihr darlegen, was es damit für eine besondere Bewandtnis hat, wenn wir vom Wesen sprechen, daß also zwischen Magen, Milz und Nieren eine Geistesart Platz hat, und jede Ansicht ist der Botenstoff dieses ver-

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steckten Organs. Ich habe mir das alles jahrelang anhören müssen, ich kann das alles Wort für Wort wiedergeben. Was mich aber wirklich beschäftigt, ist die Farbe ihrer Haut.“ * Aijanas Haut. Aijana, die sich weigert, aus Fleischresten Klöpse zu braten, weil man Abfall Hunden und nicht Menschen vorsetzt. Die sich fürchtet, in der Dämmerstunde die Nägel zu schneiden, weil sonst ein Unheil geschehe. Der Heilige duldet keine lackierten Fingernägel. Sie hält sich daran. Der Sohn denkt nach über ihre Haut. Ist sie gräulich oder bräunlich? Hellbraun, Rehbraun, oder Walnuß mit Beige aufgehellt? Ocker, Ockergelb, Gelb- oder Orangebraun? Felsengrau, Kupferbraun? Melem oder Macao? Helles Loh? Savanne. Vanille pur verdunkelt? Rost, blass. Nussbraun, hell. Graubraun, lehmstichig? Schimmer Mattgrün. Taupe oder Sepiabraun? Calypso oder Koralle mit Sandgrau gemischt? Fahlorange. Hell­ elfenbein. Metallorange. Naturocker, ein Tupfer Marsala beigemischt. Senf oder Safran? Cognac? Reifes, sattes Beige? Blass, wer ist blass? Ist er blass oder bleich? Seine Haut, Fleischton, wirklich Inkarnat? Beige mit einem Rotstich. Minzmakrone mit Altrosa ge­mischt. Neugeborenes Pink. Mandel und Puderrosa. Melonensorbet mit viel Milchweiß. Reinweiß, Grundweiß. Perlweiß mit Graubeige gemischt, und mit einen Schuß Ginstergelb. Elfenbein gebleicht. Pflaumenbaum, oder eher Sommerbeere, aufgeweißt. Mischhaut. Osterglocke und Titanweiß. Lachs, Limette. Nelke, Limone. Flüsterweiß und Waldhimbeere. Fehgrau. Signalgrau. Ein Haus der Mischhäute. Die Farbe von Mandel. Die Farbe von Knochenmehl. Die Farbe von Farbe. Der Sohn, im Rausch, der Sohn in Aufruhr, er hat den Luftzug an seinem Nacken vergessen, er denkt jetzt nur noch an die Dunkle, an die Fremde, an Aijana, und ich denke an das bemehlte und das nackte Brötchen, bestimmt hat sie die Wurstscheiben entsorgt, vielleicht hat sie aber auch eine Wurstscheibe übersehen, und ein Gewimmel von dreißig vierzig fünfzig Ameisen zerbeißt die Wurst und trägt die Stücke zum Erdnest, zur Brutkammer, zu den nimmersatten geflügelten Ameisen. Abfall, zerkleinert, zerfressen. Wegen einer Frau? Ich glaube es nicht. Weshalb sollte er schleunig sterben? Das Haar seines Vaters: keine Locke, ein Büschel, ich habe es ihm mit den Zähnen ausgerissen, er wird am Scheitel eine kahle Stelle haben. Er wird das Vorkommnis als eine alberne Sache abtun, er wird es als ekles Schauspiel verdammen. Der Vater log mich an, der Sohn lügt mich an, sie haben mich zu einem Haarbeißer herabgewürdigt. Ich sage: „Was wirst du tun? Bringst du den Gehorsam auf, dich abschlachten zu lassen?“ Er schreit, daß ich ihn in Frieden lassen solle. Er hat den Anschlag überlebt, was ist er betäubt, was spricht er mir von der Farbe der Dunklen und von seiner Haut, was träumt er von Begehr und Liebesnacht, den Redeschwulst hat er dem Vater abgelauscht, er ist nichts weiter als ein kleiner Kerl, der auf der Kirchenbank saß und so lange auf den überlebensgroßen Leib mit Lendenschurz starrte, auf den Leib, den man an schwere Kantholzbalken geschmiedet hatte, der den Gekreuzigten, und dann seinen brüllenden Vater auf der Kanzel anschaute, so lange, bis er begriff: Das ist mehr als eine bloße Schwärmerei. Jetzt fühlt er sich wichtig, weil er als Opfer nicht angenommen wurde, der Heilige irrt sich nicht, wenn er ihn ein feiges Opfer nennt, was wäre wenn. Was wäre, wenn ich ihm den Kopf abhackte und in meiner Sporttasche oder in der roten Lackledertasche meiner Exfrau versenkte, und was wäre, wenn ich dem Halbbruder das Haupt seines Sohnes schenkte, und ihm lächelnd sagte: „Da sind wir in eine schöne Sauerei gera­ ten“, ginge es über meine Kräfte, es gibt viele gute Gründe, wieso ein Mensch verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen, wir würden von der Polizei sicherlich nicht als Mörder entlarvt werden, wie aber gelänge mir die Überlistung des feigen Opfers, er ist ja eigentlich ein Märzhase, die Stunde ist gekommen, daß man ihn mit dem Beil hinrichtet, das ist ein ganz blöder Liebeskasper, der bei einer Äthiopierin das Gefieder sträubt, von seinem elenden Geplärre habe ich Ohrenklingen, aber nein, ich halte mich im Zaum. Diese schrillenden Schwalben draußen sind mir auch ein Gesindel! Ein antigeistiger Mensch ist der Junge, ein harter Herr ist sein Vater, wer steht mir wohl näher. Im Zeugnis dieses Menschleins stand unter sittlichem Betragen: befriedigend, da wurde er zu Hause verprügelt, daß ihm das Blut aus der Nase schoß, und auch damals floh er, er floh zu der Mutter. Sie aber hielt sich und

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hält sich an den Grundsatz: Man darf an den Dingen nicht rühren, sie erledigen sich von selbst. Deshalb ist der Junge zur feigen Kanaille geraten. Durch und durch korrupt. Durch und durch verlogen. Ein scheußliches Wunder, daß er entkommen ist. Ein Mißratener. Er hat mich als Bittsteller mißbraucht. Was wäre wenn. Ich gehe vor die Tür, ich gehe mir den Kopf kühlen. Ohne die richtige Gerätschaft ist das nicht zu machen, er würde mir die Wände verspritzen. Den Kopf übernähme mein Halbbruder, was geschähe mit dem Rest? Ich sehe: geborstene stachelige Fruchtbecher auf dem Gehsteig und auf der Straße, ich sehe: glänzende Kastanien, ich sehe: haarige Stacheln. Der Junge tritt mit nassem Gesicht neben mich, wir stehen im Zugwind, will er mir sagen, daß er rein vor Gott sei, wenn er wieder ein Gewimmer anstimmt, könnte ich den Ekel nicht mehr überwinden, er schluckt geräusch­ voll, schnürt es ihm in einem Anfall von Sentimentalität die Kehle zu, ich bin kurz davor, ihm einen Stoß vor die Brust zu geben, hier draußen bei den aufgeplatzten Kastanienhüllen, da sagt er: „Ich sollte eine Aufgabe übernehmen, das war der höhere Befehl des Heiligen, er hat es verlangt, ich würde einen guten Dienst tun“, ein Abtrünniger, verbissen und unbelehr­ bar, herzlos und vereist, ein Mann, der Trichterhosen trug, als wäre er ein Zimmermann, mein Vater ermahnte mich: „Hau zu, daß es klirrt! Die Knochen müssen tropfen!“, es hatte seine Richtigkeit, daß er es mir befahl, der Mann hatte meinen Vater verlästert, der Mann hatte während des Gottesdienstes einen Haßschrei ausgestoßen, mein Vater ermahnte mich: „Der Hund hat im Gotteshaus gebellt!“, endlich war ich der Jäger, der den Schlag gegen den Sünder führte, mein Vater ermahnte mich: „Wenn brennende Steine vom Himmel stürzten, und wenn er in einem windschiefen Wartehäuschen Zuflucht suchte, er würde nicht getroffen werden, denn er wird von dem alten Feind geschützt. Unterschätze ihn nicht!“ Ich war meines Vaters schlagender Arm, der Sünder schmiegte sich an uns, das durfte er nicht, aber als ich ihn stellte, auf einem Waldweg, packte er mich einfach am Handgelenk und drehte mir den Arm auf den Rücken, er tat mir nichts an, er ging stillschweigend weiter, ich krümmte mich am Boden, und als der Schmerz an der Schulter verging, lief ich schnell zurück und erstattete den Heiligen Bericht. Er sagte nur: „Du bist entehrt.“ Ein Geständnis. Eine Beichte. Vielleicht eine weitere Lüge. Es kommt bestimmt ein Tag, da alle Schlechtigkeit zerrinnt. Nicht heute, nicht morgen. Der dumme Junge versteht in seiner Niedrigkeit nicht die alten Gesetze. Er sieht nicht, daß die feurigen Schlan­ gen aus den Nestern quellen. Er sollte das Hemd in die Tasche stecken und nach Hause gehen. Er gehört zum Gespei der Zeit. Seine schlaffen Gebärden, seine glatten Wangen, seine verbitterten, verbitternden Worte. Er sieht nicht: Das Böse beschmutzt. Daß er lebt, ist ein erzwungenes Glück. Ich wende mich ab. Ich biete ihm für diese Nacht eine Schlafstelle an. Ich muß hinaus. Ich verspreche ihm, bald heimzukommen. Ich gehe den Weg zurück, ich besuche meinen Halbbruder das zweite Mal an einem Tag, das ist bislang noch nie vorgekommen, ich werde von der Haushälterin auf die hell erleuchtete Terrasse geführt, ich lasse den Blick über die Gartenwiese schweifen, keine Wurstscheibe, keine Ameisenstraße. Er sitzt im Licht und rührt mit dem Cocktaillöffel in seiner Zitronenlimo­nade, die kleinen Fruchtfleischstücke wirbeln im Strudel, dann leckt er den Stiel ab und wartet, bis der Saft im Glas stillsteht. Ich wende den Blick ab. „Dein Sohn ist ein unfähiger Meuchler“, sage ich, „und du bist ein unbegabter Henker. Wer bin ich? Nach fast fünfzig Jahren Arbeit will ich in Ruhe leben. Es tut mir leid, daß ich dich ge­bissen habe. Ich bereue es fast, daß ich deinen Sohn aufnahm. Er taugt nichts, sein Leben ist nicht viel wert, ich bezweifle, daß ihn der Herr als Opfer annimmt. Was sollen wir tun? Diese kleinen Gemetzel bringen uns nicht weiter. Was willst du tun? Ich hoffe, daß dir die Limonade schmeckt. Sie hat sie dir gemacht, die Dunkle, oder nicht? Willst du sie für dich? Will er sie für sich? Wahrscheinlich möchte sie von euch beiden nichts wissen. Sag ehrlich, was tun?“ Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit seinem sechsten Lebensmonat in Deutschland und studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel. Der Schriftsteller wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Hebbel-Preis, dem Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt sowie dem Berliner Literaturpreis. 2016 erhielt er die Ehrenprofessur des Landes Schleswig-Holstein. Zuletzt erschien sein großer Luther-Roman Evangelio und Die Geschichte der Frau bei KiWi.

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OPER FÜR ALLE Die Open-Air-Veranstaltungsreihe ist endlich zurück! Und sie feiert mit zwei Opern den Sieg der Liebe über Macht und Loyalität – dank BMW bei freiem Eintritt.

Collage Patrick Widmer 92


Stellen Sie sich bitte einmal folgende Szene vor: ein lauwarmer Sommerabend auf dem Max-Joseph-Platz, Mondschein, der Himmel sternenklar. Sie sitzen auf mitgebrachten Picknickdecken, dicht an dicht, andere haben Stühle oder gar ein Sofa mitgebracht, Sie trinken aus Weingläsern, stoßen an, prosten sich zu, eine Kleinigkeit zu Essen haben Sie auch dabei. Wenn Sie sich umschauen, sehen Sie Menschen, die in Programmbüchern lesen, die aufmerksam lauschen oder in ihre Smartphones tippen. Sie umarmen sich, sie küssen sich, sie lachen und unterhalten sich, während im Hintergrund womöglich noch eine Tram vorbeirattert. Nach einem Jahr der Einschränkungen im privaten wie im öffentlichen Leben ist das nun tatsächlich wieder möglich. Deshalb möchten wir mit Ihnen das gesellschaftliche Prinzip von Oper für alle feiern: Kunst und Kultur zu bieten auf höchstem Niveau – kostenlos, dank BMW. Denn darum geht es bei dieser Veranstaltung: einen Rahmen zu schaffen, in dem Sie einander begegnen können, in dem Sie teilhaben, miteinander einer Oper lauschen und sich anschließend da­ rüber austauschen können. Hoffentlich ohne vom Regen überrascht zu werden. Im Rahmen der Münchner Opernfestspiele sind dabei zwei besondere Vorstellungen zu erleben. Am 17. Juli 2021 wird Giuseppe Verdis Aida konzertant aufgeführt, eine Oper, bestimmt durch das Wechselspiel von Liebe und Macht, in der Krassimira Stoyanova die Titelpartie singen wird und Fabio Sartori den Radamès. Diesen Antagonismus führt Verdi schon im Vorspiel ein, wenn er das sehnsüchtige chromatische AidaMotiv mit der Streicherfigur in Quarten konfrontiert, die im vierten Akt den Auftritt der Priester in der Gerichtsszene begleiten wird. Die beiden kontrastierenden Themen bedeuten Leid und Segen zugleich. Der ägyptische Hauptmann Radamès muss sich zwischen der Loyalität gegenüber dem Pharao und der damit verbundenen Hochzeit mit Amneris, der Tochter des Pharaos, und seiner Liebe zur äthiopischen Königstochter Aida, die als Geisel nach Ägypten verschleppt wurde, entscheiden. Liebe oder Macht? Am Ende nehmen Aida und Radamès unter den Gesängen der Priesterinnen, die aus dem Innern des Tempels erklingen, Abschied vom Leben – zwar fleht danach noch mit tränenerstickter Stimme Amneris um Frieden für Radamès, für die beiden Liebenden ändert sich aber nichts. Der Preis für ihre Liebe ist der Tod. Am letzten Tag der Festspiele und damit zum Abschluss dieser Spielzeit folgt dann noch eine Live-Übertragung von Richard Wagners Tristan und Isolde aus dem Nationaltheater, in der Jonas Kaufmann und Anja Harteros ihre Debüts als Tristan und Isolde geben werden. Um den Frieden zwischen dem englischen Königreich Cornwall und Irland zu sichern, soll die irische Königstochter Isolde mit Cornwalls König Marke verheiratet werden. Isolde liebt jedoch insgeheim Tristan, Markes Neffen und treuesten Gefolgsmann. Tristan, der für den Tod von Isoldes Verlobtem Morold verantwortlich ist, soll mithilfe eines Todestranks sterben. Isoldes Vertraute Brangäne hat jedoch den Trank gegen

ein Liebeselixier vertauscht; sowohl Tristan als auch Isolde trinken davon. Angesichts des bald erwarteten Todes beschwören die beiden ihre gegenseitige Liebe. Nachdem Tristan in einen folgenschweren Kampf verwickelt wurde, stirbt er schließlich in Isoldes Armen. Über seine Leiche gebeugt singt sie den sogenannten Liebestod – auch hier kommt es zu einer irdischen Versöhnung, denn König Marke, der von Brangäne informiert wurde, akzeptiert die Beziehung zwischen Tristan und Isolde. Wie im Aida-Vorspiel die Gegensätze der Oper dargelegt werden, spielt auch am Ende von Tristan und Isolde das Orchester die tragende Rolle. Der funktionsharmonisch mehrfach deutbare Tristan-Akkord, wie er zum ersten Mal im zweiten Takt des Musikdramas erklingt, ist nun überwunden, aufgelöste ekstatische Klänge, einem Trancezustand ähnlich, dominieren die Musik, die als ein Symbol für die Vereinigung der Liebenden im Tode verstanden werden soll. „In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehendem All ertrinken, versinken, unbewusst höchste Lust!“, singt Isolde in ihrer großen Schlussarie. Auf dass Sie Schall und Schwall von Oper für alle im Anschluss gut nach Hause tragen. (BS)

OPER FÜR ALLE 2021 AIDA Konzertante Aufführung Musikalische Leitung: Zubin Mehta Samstag, 17. Juli 2021, 19:30 Uhr, Max-Joseph-Platz TRISTAN UND ISOLDE Handlung in drei Aufzügen von Richard Wagner Musikalische Leitung: Kirill Petrenko Inszenierung: Krzysztof Warlikowski Audiovisuelle Live-Übertragung aus dem Nationaltheater Samstag, 31. Juli 2021, 17:00 Uhr, Max-Joseph-Platz EINTRITT FREI Bitte informieren Sie sich vorab auf www.operfueralle.de

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JENER ENTWERFENDE GEIST, WELCHER DAS IRDISCHE MEISTERT, LIEBT IN DEM SCHWUNG DER FIGUR NICHTS WIE DEN WENDENDEN PUNKT.

Auch die bildende Kunst schreibt ihre Geschichte durch Wendungen. Sie lässt sich nicht festhalten, bleibt in Form und Thematik flüchtig. Ein Bilderbogen entlang der wiederaufgenommenen Münchner Uraufführungen und Neuinszenierungen der Spielzeit 2020/2021. 94

Text Katrin Dillkofer


Foto © akg-images

Walter Braunfels greift unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Oper Die Vögel, die 1920 in München uraufgeführt wurde, die antike Komödie von Aristophanes auf. Das Wolkenkuckucksheim, welches die beiden Weltenflieher Hoffegut und Ratefreund gemeinsam mit den Vögeln erschaffen, ist im Gegensatz zum antiken Vorbild dem Untergang geweiht. Dass die Sehnsucht nach der besseren Welt jedoch ihr Recht erhält, davon zeugen auch die expressiven Gemälde Max Beckmanns, der beide Weltkriege erlebt hat. Sein Abstürzender fällt auf eine Erde zurück, die gleichsam schrecklich und schön ist. In weiter Ferne eilen geflügelte Wesen in Traumschiffen davon.

Max Beckmann, Abstürzender, 1950, National Gallery of Art Washington


1865 fand die Uraufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde in München statt. Melodie und Gesang zeugen von der hybriden Gefühlswelt des Paares, das in der Transzendenzerfahrung eines gemeinsamen Todes das einzige Lebensglück erkennt. Schließlich sinkt Isolde verklärt über Tristans Leiche und glaubt sich im Tod mit ihm vereint: „Ertrinken, versinken, unbewusst – höchste Lust“, sind ihre letzten Worte. Edvard Munch hingegen lässt sein Paar auseinanderweichen. Er mit gesenktem Haupt, dunkel gewandet und mit schmerzendem Herzen – sie eine ideale Lichtgestalt, die sich verflüchtigt. Ihr langes arabeskes Haar scheint ihn noch zu berühren. Die Liebe, so wirkt es, kann ohne ihren Verlust nicht gedacht werden. Weder von Munch noch von Wagner.

Edvard Munch, Die Loslösung, 1896, Munch-Museum Oslo


© VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto © bpk | The Metropolitan Museum of Art

Aribert Reimann akzentuiert den Wendepunkt in seinem Lear (1978) durch einen brachialen Einsatz des Orchesters. Der Moment, in dem Lear den Liebesbeweis seiner jüngsten Tochter missversteht, ist der Beginn einer tragischen Abwärtsbewegung, der Reimann in einer minutiös austarierten Partitur Gestalt verleiht. Auch Jackson Pollock erschafft seit den frühen 1950er Jahren vielschichtige Partituren. Er macht den Prozess der Bildherstellung erstmals zum Gegenstand, indem er sich in einer intuitiven Choreographie über die Leinwand bewegt und die Farben mithilfe einer löchrigen Konservendose darauftröpfelt. Rhythmus und Zeitlichkeit gelangen in Pollocks Allover Paintings zu einer neuen, sichtbaren Dimension.

Jackson Pollock, Autumn Rhythm (Number 30), 1950, Emaille auf Leinwand, Detail


Foto © Gryf / Alamy Stock Foto

7 Deaths of Maria Callas ist die erste Opernproduktion, bei der Marina Abramović selbst Regie geführt hat. Als eine Ikone der jüngeren Kunstgeschichte vergegenwärtigt die Performancekünstlerin die Tode derjenigen Rollen, die Maria Callas einst auf den Opernbühnen zu Weltruhm verholfen haben. In den 1970er Jahren etabliert Abramović eine neue Kunstform: In ihren Performances lotet sie ihre psychischen und physischen Grenzen aus. Ihre Praxis zielt auf die energetische Spannung, die sich auch auf die Anwesenden überträgt. Abramović und ihr damaliger Partner Ulay halten mit ihrem Körpergewicht über vier Minuten einen Bogen in Spannung. Sie müssen einander vertrauen. Jeder Kontrollverlust könnte den Pfeil zum Abschuss bringen. Das Leben der Künstlerin ist in Gefahr.

Marina Abramović und Ulay, Rest Energy, 1980 (Performance)


Foto © The Print Collector / Alamy Stock Foto

Mozart widmet sich in seinem Idomeneo der Frage nach der Natur des Menschen und dessen Fähigkeit zu vergeben. Francisco de Goya ist als Wegbereiter der Moderne ein wachsamer und hintergründiger Beobachter des menschlichen Verhaltens und bestaunt es – im Guten wie im Schlechten. Eine Radierung aus seinen berühmten Caprichos betitelt er 1799 wie folgt: „Gott verzeihe ihr. Es war ihre Mutter.“ Vergebung ist offensichtlich notwendig.

Francisco de Goya, Los Caprichos, 1793 – 1799


SPHINX OPERA

Eine Ausstellung von Alexander Kluge Alexander Kluge hat die vergangenen 13 Jahre der Intendanz von Nikolaus Bachler filmisch begleitet. Die Ausstellung Sphinx Opera vergegenwärtigt bedeutende Inszenierungen, Gesichter und Stimmen, welche die Bayerische Staatsoper während dieser Zeit geprägt haben. Kluge nähert sich dem geheimnisvollen Kosmos Oper, indem er ihn in einzelne Elemente zersplittert und die entstandenen Versatzstücke sogleich wieder miteinander in Korrespondenz bringt. Dabei erzeugt er kühne Kurzschlüsse. Künstlerische Arbeiten von Katharina Grosse, Jonathan Meese und Georg Baselitz interagieren mit den Videoarbeiten des Filmemachers und rücken das Zusammenwirken der Künste im Gesamtkunstwerk auf unkonventionelle Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So

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hat Katharina Grosse Bühnen gebaut, auf die Alexander Kluge seine Filme projiziert. In einem zweiten Schritt destilliert er daraus Standbilder, deren Oberflächen sich durch die Drapierung der Projektionsfläche magisch verwandeln. Jonathan Meese gewährt Einblicke in eine ganz besondere Kinoapparatur und Georg Baselitz zeigt Zeichnungen, die im Zusammenhang mit seiner Opernproduktion Parsifal entstanden sind. Kluge nimmt diese wiederum filmisch ins Visier. Die Ausstellung findet vom 24. Juni bis zum 31. Juli 2021 in verschiedenen Räumen im Vorderhaus des Nationaltheaters statt: im Königssaal, in den Ionischen Sälen, im Murano-Foyer vor der Königsloge, in der Sondergarderobe sowie im neu renovierten Restaurant Ludwig Zwei und in der Rheingoldbar. (KD)


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© Alexander Kluge


KÖRPER UND REPRÄSENTATION Welche Wirklichkeit soll im zeitgenössischen Tanz auf den Bühnen dieser Welt abgebildet werden? Über die Berührungsängste zwischen klassischem Ballett und postmigrantischen Bewegungstraditionen.

Text Marko Kölbl Festspielpremiere Heute ist Morgen 102



In Europa herrscht ein weitgehend professionalisiertes Verständnis von Tanz, das stark an die europäischen Bühnentraditionen und deren Virtuosität gekoppelt ist. Im mitteleuropäischen Opern- und Theaterbetrieb steht er in der Tradition des klassischen Balletts mit seinem strengen Körperregime, das nicht erst seit #MeToo vermehrter Kritik ausgesetzt ist. Problematisiert wurden und werden abgesehen von der an die Ballettpraxis gebunden scheinenden verzerrten Körperwahrnehmung von Tänzerinnen und Tänzern – die maßgeblich die Bewertung ihrer Leistung beeinflusst – auch eine unklare Trennlinie zwischen künstlerischer Arbeit und Machtmissbrauch. Gerade zeitgenössische Strömungen gelten inhaltlich und künstlerisch als progressiv und positionieren sich heute oft kritisch zum klassischen Bühnentanz. Dem extrem stilisierten Repertoire im konventionellen Ballett, besonders im Spitzentanz, wurden schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts natürlichere, aber auch abstraktere Bewegungsformen entgegengestellt. Der Körper wird in seinem Ausdruck vielgestaltiger; historisch tradierte, ästhetische Dogmen werden über Bord geworfen und Geschlechtergrenzen außer Kraft gesetzt. Immer häufiger sieht man Körper, die in puncto Gewicht, Muskelmasse und Form Alternativen zu den festgelegten Normen bieten, man sieht die queere Community bei Aufführungen repräsentiert, das Gefühl von Demokratisierung und Body Positivity wird gestärkt. Auch versucht sich der zeitgenössische Tanz mittlerweile in der Regel von exotisierenden Stereotypisierungen in der Darstellung des Anderen zu distanzieren. Dennoch bleiben immer wieder rassistische Ausschlüsse bestehen: Wer

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bekommt wo die Möglichkeit zu kuratieren, zu choreographieren, zu tanzen? Der moderne Tanz wird als globales Phänomen dargestellt – seine Entstehungsbedingungen sind aber mit bestimmten Schauplätzen dieser Welt verknüpft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der zeitgenössische Tanz einem Kanon ästhetischer Prinzipien unterworfen ist, der hochkulturelle Bedeutung zu generieren versucht, trotz aller bewusster Brüche. Es ist tatsächlich fraglich, warum die vielfältigen kulturspezifischen Tanzformen unserer Welt kaum künstlerisch verhandelt werden und äußerst selten auf die Bühne finden. Gerade für eine postmigrantische Gesellschaft wäre eine angemessene Repräsentation auch bei den historisch etablierten Institutionen erstrebenswert. Es geht schließlich nicht nur darum, Publikum zu gewinnen, das den die Opernhäuser umgebenden demographischen Realitäten entspricht, sondern auch um eine Erweiterung des Bühnenkanons selbst. In alltäglichen tänzerischen Praktiken, vor allem in tradi­ tionellen, können gewisse Bewegungen wirkmächtige Bedeutung in Bezug auf ethnische oder soziale Differenz erlangen und eine zentrale Ausdrucksform für kulturelle Communitys darstellen – gerade weil sie auf der sinnlichen Ebene von körperlichen Erfahrungen stattfinden. Derartige Tanzstile sind historisch häufig regionalspezifische Verbindungen mit Bühnentanz eingegangen: von den Ballett-Folklore-Fusionen in Zentralasien bis hin zum Irish Dance. Wie aber könnte ein zeitgenössischer Tanz aussehen, der stärker auf lokale Tanzformen eingeht? Ein Team aus Tänzerinnen, Performancekünstlern, Volksmusikforscherinnen und Ethnomusikologen an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien hat in einem Artis-


tic-Research-Pilotprojekt, das von 2018 bis 2019 durchgeführt wurde, nach Antworten auf diese Frage gesucht. Zeitgenössische Tanzarbeiten, die sich mit traditionellen Tanzformen beschäftigen, wurden auf Entstehung, Inhalt und Ästhetik untersucht, was methodische und künstlerische Schlüsse für das Erarbeiten von Kreationen ermöglichte. Anstatt Tanz über Sprache zu erklären, wie in der herkömmlichen Wissenschaftspraxis üblich, wurde versucht, gesellschaftspolitische Themen, theoretische Fragen und Forschungsaussagen über Körperbewegungen erfahrbar zu machen. Das bringt ein unorthodoxes Selbstverständnis mit sich, beispielsweise ein notwendiges Verschwimmen der Grenze zwischen Performancekunst und Tanz. Zentrales Thema der Forschung war der erwähnte Zusammenhang zwischen regional- oder gruppenspezifischen Tanz- und Musiktraditionen, Differenz und Identität sowie die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Verhandlung auf der Bühne. Auch das Bayerische Staatsballett setzt hier deutliche Akzente, wie der dreiteilige Abend Heute ist Morgen mit Arbeiten junger Choreographinnen und Choreographen zeigt. Wie aus den inhaltlichen Ansätzen, persönlichen Hintergründen und künstlerischen Konturen von Charlotte Edmonds, Yoshito Sakuraba und Philippe Kratz deutlich wird, nimmt die Compagnie eine gesellschaftspolitische Verantwortung wahr. Kratz beispielsweise thematisiert in seiner Kreation To Get To Become das Spannungsfeld zwischen europäischem Bühnentanz und alltäglichen kulturellen Lebensrealitäten sowie implizit auch seines eigenen Standpunktes. Die von Kratz gewählten musikalischen Repräsentationen zum Thema Blackness unterstützen die tänzerische Konfrontation mit der kaum hinterfragten weißen Selbstsicht des europäischen

Bühnentanzes. Der Choreograph sucht und findet andere Wege, er erweitert vor diesem Hintergrund auch das Bewegungsrepertoire und bricht so mit klassischen Konventionen. Bühnentanz hat einen Selbstzweck als künstlerische Erfahrung – für Tanzende und Publikum gleichermaßen. Die choreographische Ästhetik, die unmittelbare Aussagekraft von Bewegung muss nicht zwangsläufig politische Bedeutung tragen. Gleichzeitig ist es erfreulich, dass die Kapazitäten, gesellschaftspolitische Fragen zu stellen und zu beantworten, immer stärker wahrgenommen werden. Auch weil der zeitgenössische Tanz mitunter im Publikum auf mehr Offenheit trifft. In einer möglichen Zukunftsvision schafft es der Bühnentanz, seine Nähe zur Performancekunst als Chance wahrzunehmen, um langfristig auch die Frage obsolet werden zu lassen, welcher zeitgenössische Tanz in das Repertoire einer Ballettcompagnie passt und welcher nicht. Die Definition dessen, was überhaupt als Tanz gilt, ist folgenreich und orientiert sich nicht selten an der Erfüllung normierter Ausbildungswege und eines entsprechenden Habitus. Wenn die Berührungsängste gegenüber alltäglichen Tanzkulturen, Communitys und postmigrantischen Traditionen abgebaut werden, gelingt auch eine Repräsentation der die Theater umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten auf den Bühnen. Marko Kölbl lehrt am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Er forscht im Bereich Musik und Tanz von Minderheiten und migrantischen Communitys in Österreich mit einem Fokus auf gesellschaftspolitische Anwendung. Termine im Spielplan ab S. 188 und unter www.staatsoper.de/spielplan

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WIE DER TANZ DAS DENKEN FORMT

Interview Serge Honegger Fotografie Thérèse Rafter Uraufführung Generation Goldfish 106

Fish in Plastic, 2018

Unsere Aufmerksamkeitsspanne soll auf acht Sekunden gefallen sein. Wovon lassen wir uns noch gedanklich fesseln? Neurowissenschaftler Crawford Winlove über die Voraussetzungen menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit.



MAX JOSEPH   Herr Winlove, für die Choreographie Generation Goldfish von Charlotte Edmonds, die in der Reihe Heute ist Morgen zu sehen sein wird, haben Sie als Neurowissenschaftler an der Konzeption des Stücks mitgewirkt. Was interessiert Sie am Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst? CRAWFORD WINLOVE   In der Wissenschaft ist es oft so, dass Entdeckungen nur innerhalb des universitären Rahmens diskutiert werden. Im künstlerischen Bereich dagegen schaut man ganz anders auf die Dinge. Man bekommt eine Bühne, kann bei einem breiteren Publikum etwas bewirken. Es ist wichtig, dass Wissensbestände, die von Forschern erarbeitet werden, um bestimmte Lebensbereiche zu beleuchten, geteilt werden. MJ Wie

gelingen Übersetzungen von wissenschaftlichen Inhalten in künstlerische Formen? CW Mit Themen aus Erfahrungsbereichen, die wir alle kennen, ist es etwas einfacher, als wenn wir erklären wollen, wie ein paar wenige spezielle Moleküle zusammenwirken. Manchmal stellt sich die Forschung die Frage gar nicht, warum diese Moleküle interessant sein sollten. Man erforscht sie trotzdem, nicht weil es wichtig wäre, sondern weil man es kann. Den menschlichen Faktor in den Vordergrund zu stellen, hilft bei der Prüfung, ob etwas relevant ist. Auf der anderen Seite können Daten aus der Forschung in der Kunst als Trigger für einen Gestaltungsprozess dienen. Im Tanz lassen sie sich beispielsweise in Bewegungen übersetzen, in etwas, das räumlich erfahrbar ist. MJ Die

Begrifflichkeit von „künstlerischer Forschung“ ist derzeit sehr populär. Wie stehen Sie dazu? CW Man muss aufpassen, dass man keine Kompromisse in der Forschungsarbeit macht. Es reicht nicht zu sagen: Lasst uns bei diesem Projekt noch ein paar zusätzliche Fakten sammeln, um das Kunstwerk als Vehikel zu verwenden. Als Resultat einer solchen Herangehensweise kommt meistens weder gute Forschung noch besonders gute Kunst heraus. Denn Kunst und Wissenschaft sind zwei komplementäre Weisen, wie man die Welt betrachtet. Trotzdem bedient sich die Kunst immer wieder bei wissenschaftlichen Erkenntnissen, um daraus Inhalte zu entwickeln. Das ist absolut zu begrüßen, da uns die Kunst mit Phänomenen in Verbindung bringen kann, ohne sie gleichzeitig erklären zu wollen. Sie kann Daten sinnlich erfahrbar und verständlich machen, also gemeinschaftlich teilbare Erfahrungen ermöglichen. MJ Sie

haben einen intensiven Dialog mit Charlotte Edmonds über das Thema Aufmerksamkeit geführt. Welche Aspekte kamen dabei zur Sprache? CW Charlotte interessierte sich dafür, wie lange wir uns auf

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eine bestimmte Sache konzentrieren können. Neurowissenschaftlich ist das eine sehr relevante Fragestellung. So haben wir uns intensiv mit dem Verhältnis von Aufführung und Aufmerksamkeit beschäftigt. Man kann sagen, dass was man in einer Aufführung sieht, einem später widerfährt. Unsere Aufmerksamkeit wird von Elementen der Aufführung gefesselt und wird uns über kurz oder lang beeinflussen. MJ Stimmt

es, dass die Aufmerksamkeitsspanne beim Menschen von zwölf auf acht Sekunden gefallen ist? Beim titelgebenden Goldfisch liegt sie angeblich bei neun Sekunden … CW Dafür gibt es keine gesicherte Datenlage, aber das mediale und wirtschaftliche Umfeld, in dem wir Menschen uns begegnen, stellt eine Herausforderung für unsere Fähigkeit dar, uns zu konzentrieren. Aus diesem Grund ist die Aufmerksamkeit ein wichtiges Thema. Sie dient als Regulatorin für mentale Vorgänge und formt dadurch die Weise, in der wir die Welt sehen. MJ Welche

Effekte nagen an unserer Aufmerksamkeit?

CW Hier gilt es, zwei verschiedene Prozesse zu unterschei-

den. So wird unsere visuelle Aufmerksamkeit schnell von äußeren Reizen angezogen, aber die kognitive Aufmerksamkeit ist in ihrer Reaktion und Verarbeitung dieser Impulse viel langsamer. Deshalb konkurrieren natürliche und künstliche Reize um beide Formen der Aufmerksamkeit, und das mit zunehmender Häufigkeit und Raffinesse. Vieles davon begegnet uns im Alltag als Werbung, die darauf abzielt, unsere Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Es ist möglich, dass dieses ständige Herausfordern unserer Aufmerksamkeit letztlich unsere Fähigkeit zu vertiefter Konzentration verringert. Ganz sicher erschwert sie die Erfahrung anhaltender Aufmerksamkeit. MJ Aber

ist es nicht so, dass die Verkäufer früher auf dem Markt einfach ihre Ware laut rufend angepriesen haben, während heute das Schreien digital stattfindet? Vielleicht hat sich gar nicht so viel verändert? CW Das sehe ich nicht so, denn die Verfügbarkeit von Möglichkeiten der Einflussnahme ist heute über die mobilen Geräte viel stärker. Die Algorithmen kennen unsere Vorlieben und zeigen uns bestimmte Inhalte in austarierten Zeitabständen. Man braucht ja bloß irgendwo zu klicken und schon hat man seine neue Küche oder ein neues Paar Schuhe bestellt! Solche Botschaften erreichen uns laufend, sie sind omnipräsent. Es ist nahezu unmöglich, sich dem zu entziehen. Es sind neue Intensitäten, mit denen wir es hier zu tun haben. Und sie verfolgen uns bis in jene Momente, in denen wir am widerstandslosesten sind, vor dem Schlafengehen zum Beispiel.


MJ Das

Theater selbst ist ein Medium, das Einfluss ausüben, Aufmerksamkeit wecken und mit Inhalten überzeugen will. Was passiert, wenn ein Teil der Bevölkerung kein Vergnügen daran findet, Werken zu folgen, die zwei, drei, vier Stunden oder noch länger dauern? CW Die zynische Antwort lautet, dass die Theater Aufmerksamkeit über Techniken einfordern könnten, wie sie die Werbung kennt. Sie müssten unmittelbare Reaktionen, Handlungen, Entgegnungen provozieren, eine WagnerOper als Swipe-Erlebnis zum Beispiel, was natürlich fürchterlich wäre! MJ Oder die Theater beginnen sich als privilegierte Orte der

Aufmerksamkeit zu verstehen, weil man hier nicht von ökonomisch getriebener Einflussnahme belangt wird? CW Der Theaterbesuch könnte so gesehen als Übungsfeld verstanden werden oder zumindest als eine Pause von anderen Erfahrungsräumen. Ganz sicher ist Aufmerksamkeit etwas, das trainiert werden kann und sich in Veränderungen zwischen Hirnregionen abbildet. Dass es solche Phänomene gibt, ist nicht neu.

Tätigkeit kognitive Strukturen ausgebildet, die ihnen ermöglichen, komplexe Abläufe zu bewältigen. MJ Ein Fokus Ihrer Forschungstätigkeit ist die visuelle Vor-

stellungskraft. Inwiefern spielt diese im choreographischen Prozess der Tänzerinnen und Tänzer eine Rolle? CW Ich bin fasziniert von der Tatsache, dass sich die meisten von uns Bewegungen vorstellen können. Es gibt gute Belege dafür, dass talentierte Tänzerinnen und Tänzer, aber auch Sportler und Musikerinnen sogar trainieren können, indem sie ihre Bewegungen mental durchgehen. Sie sind in der Lage, komplizierte Bewegungsabläufe zu visualisieren und dabei die räumliche und zeitliche Präzision zu berücksichtigen. Ähnliche Imaginationstechniken könnten bei der Rehabilitation von Menschen helfen, deren Bewegungsfähigkeit durch Krankheit oder Verletzung eingeschränkt wurde. Es gibt dazu einige erstaunliche Berichte und Studien. Es gäbe aber viel mehr, das in diesem Bereich getan werden sollte. MJ Gibt

MJ Unser

Bewusstsein wird hin und wieder mit der Metapher des Theaters beschrieben, ein Theater, das sich in unserem Inneren abspielt. CW Es handelt sich um ein erklärendes Bild. Und es kann, wie jede Metapher, anfangs nützlich sein. Aber die Metapher führt uns vielleicht auch auf falsche Fährten. Nichtsdestotrotz habe ich das Gefühl, dass diese poetische Umschreibung eine Vorstellung davon einfängt, wie unser Denken die Welt erfasst. Unsere Kognition ist integraler Teil von Prozessen, die sie beeinflussen, aber nicht kontrollieren kann. Unsere Fähigkeit, diese Prozesse zu formen, nimmt zu, wenn wir uns dem Erwachsenenalter nähern und Erfahrungen machen. Wir werden jedoch nicht einfach durch Erfahrungen programmiert. Denn die Modelle der Welt, die wir konstruieren, werden fortlaufend in die Welt zurückprojiziert. Dadurch gleichen wir ständig das Modell mit der Realität ab. man die Kreation Generation Goldfish betrachtet: Inwiefern lassen sich solche Aktivitäten des Gehirns beim Tanzen beobachten? CW Der Körper stellt nicht einfach eine Art Behältnis für das Gehirn dar, sondern unterstützt und formt die neuronalen Aktivitäten. Wenn wir mit unseren Händen arbeiten, können wir die mit dem Körper vernetzte Kognition gut beobachten. Hier ist ein Wissen involviert, das wir nicht jedes Mal neu durchdenken müssen. Das wird ganz besonders auch bei Tänzerinnen und Tänzern deutlich. Sie sind Expertinnen und Experten für Bewegungen. Dafür verfügen sie über eine gesteigerte Wahrnehmung ihres Körpers und haben während ihrer MJ Wenn

es Übungen zur Verbesserung unserer Aufmerksamkeit, die man im Alltag umsetzen kann? CW Ein sehr effektives Mittel ist das Meditieren. Das dafür nötige neuronale Netzwerk weist sehr viele Ähnlichkeiten mit jenen Strukturen auf, die wir benötigen, um uns konzentrieren und fokussieren zu können. Je mehr man übt, im Moment zu sein und seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was zu einem gewissen Zeitpunkt wichtig ist, desto intensiver ist das Erleben. So können wir das Hier und Jetzt besser wahrnehmen. Das hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern hilft uns bei der Unterscheidung, was unsere volle Aufmerksamkeit erfordert und was nicht.

Serge Honegger ist Dramaturg beim Bayerischen Staatsballett.

CRAWFORD WINLOVE wuchs in London auf und studierte an der University of Bristol. Nach Abschluss seiner Promotion forschte er zu kognitiven Prozessen und untersuchte zielgerichtete Verhaltensweisen des Menschen. 2011 wurde er an die University of Exeter berufen und dort 2018 zum Senior Lecturer ernannt. In jüngster Zeit konzentriert sich seine Arbeit auf die menschliche Fähigkeit, sinnesähnliche Erfahrungen in Abwesenheit entsprechender externer Reize machen zu können. GENERATION GOLDFISH – Das Fischwesen übersetzt sich in der Choreographie von Charlotte Edmonds in die Körper der Tänzerinnen und Tänzer. Füße und Hände verwandeln sich in Flossen, der Körper wird von Strömungen erfasst und die Schwarmintelligenz lässt die Gruppe sowohl synchron als auch individuell agieren. Die elektronische Musik von Katya Richardson spielt akustisch mit Luftbläschen sowie Wasserbewegungen und nähert sich teilweise einer möglichen Fischsprache an. Das Motiv der Aufmerksamkeit zieht sich anhand fokussierter Bewegungsmomente durch das ganze Stück.

Termine im Spielplan ab S. 188 und unter www.staatsoper.de/spielplan

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„DAS BALLETT AUFZUGEBEN WAR WIE MICH SELBST AUFZUGEBEN“ Evelyn Hart war die erste Primaballerina am Bayerischen Staatsballett, das vor 30 Jahren gegründet wurde. Zum Jubiläum blickt sie zurück und spricht über Scheuklappen, Schubladen und den Preis der Hingabe.

Interview Astrid Kaminski 110



Toronto, 23. Stock. Evelyn Hart trägt Trainingskleidung. Nach dem Interview, das sie in ihrem Studioapartment um neun Uhr morgens gibt, wird die 65-Jährige das tägliche Training an der Stange absolvieren. Um sie herum ist im Videoausschnitt durch die Glaswände ihrer Wohnung der kanadische Himmel zu sehen. Die Wohnung sei klein, fast transparent, sagt Hart, die in 132 Ländern der Welt auf der Bühne stand. Als würde sie über der Stadt schweben, wirkt sie, während die Tänzerin über ihre Zeit als Primaballerina in München spricht. Hier war sie von 1990 bis 1993 engagiert, in den ersten Jahren des damals neu gegründeten Bayerischen Staatsballetts. Auf überraschende Fragen reagiert sie mit kleinen Sprüngen auf dem Stuhl. MAX JOSEPH Frau Hart, haben Sie sich jemals wie ein Pferd gefühlt? EVELYN HART Wie ein Pferd? Oh, interessant! Wenn wir uns ein Pferd mit Scheuklappen vorstellen, das nur in eine Richtung schaut, dann muss ich sagen: Ja. Ich habe mit zehn Jahren zum ersten Mal ein Ballettstück gesehen und mit 14 selbst zu tanzen begonnen. Sehr spät also. Dreimal wurde ich von der National Ballet School of Canada abgelehnt. „Machen Sie Ballett als Hobby“, wurde mir geraten. Aber ich habe es als Beruf gewählt. Aus schierer Blindheit. MJ Sie

galten als Zugpferd für die Anfangsjahre des 1990 von Konstanze Vernon gegründeten Bayerischen Staatsballetts. In dieser Spielzeit feiert es sein 30-jähriges Bestehen. EH Als ich anfing, bei Konstanze zu tanzen, hatte ich gerade meinen Mentor verloren. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wonach ich zu jener Zeit gesucht habe, war jemand, der diese Leerstelle füllt. Konstanze war diese Person, und sie hat mir großartige Möglichkeiten verschafft. Allein schon die, in diesem wunderschönen Münchner Opernhaus aufzutreten! Andererseits sehe ich nun die Rolle klarer vor mir, die sie mir dabei gegeben hat. Ich war eine Art Modell für die Jüngeren, eine sehr gewissenhafte romantische Ballerina. Ich habe diese Rolle ausgefüllt und ihr so vielleicht etwas den Rücken freigehalten für die politischen Verhandlungen, die sie im Zuge der Gründung der Compagnie führen musste. Sie war geschickt darin, sich mit einem gut funktionierenden Team zu umgeben. Trotzdem stand sie sehr unter Druck in jenen Jahren. Ich erinnere mich, wie nervös sie war, als wir zum ersten Mal auf Tournee nach New York gingen. MJ Wie

war das? lief gut. Aber ich glaube, Konstanze war etwas enttäuscht. Wenn ich mich recht erinnere, wurde uns der Stempel einer Art Studierendencompagnie aufgedrückt. Irgendwie hatte man mitbekommen, dass in

EH Es

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München eine Ballettschule aufgebaut wurde. Aber auch das Londoner Royal Ballet hat ja seine eigene Schule, und man würde sie nicht „Studentencompagnie“ nennen. Ich selbst hatte gar keinen so großen Respekt vor New York. Ich wurde in Kanadas Royal Winnipeg Ballet mit dem Selbstbewusstsein ausgestattet, dass große Kunst überall und manchmal erst recht außerhalb der Zentren entstehen kann. Es ist ja alles immer auch eine Frage der Wahrnehmung. MJ War

das ein Grund, warum Sie in München den Vertrag unterzeichnet haben, obwohl dieser Ort zu der Zeit nicht gerade den Ruf einer Weltstadt des Tanzes hatte? EH München hat sich sehr weltstädtisch für mich angefühlt, aber in dieser Kategorie habe ich nicht geurteilt. Ich bin Konstanzes Ruf gefolgt. Sie sagte: „Komm mit mir und lass uns etwas Schönes schaffen!“ MJ Wie

haben Sie sich kennengelernt? hatte meinen Mentor zur Heinz-Bosl-Stiftung begleitet. Das muss etwa 1988 gewesen sein. Wir saßen in einem Café vor dem Gebäude in der Sonne, zu dritt, und ich hatte das Gefühl, mich zu verlieben. Es gibt Ballett­direktoren, die Direktoren sind, und solche, die Künstler sind. Sie war beides.

EH Ich

MJ Hat

die Liebe angehalten?

EH Am Ende war es schwierig. Ab einem bestimmten Zeit-

punkt fühlte ich mich zu sehr in eine Schublade gesteckt. Sie sah mich wie sich selbst, als romantische Tänzerin. Einer der großen Konflikte, die wir hatten, betraf Don Quichote. Ich wollte Kitri tanzen. Aber Konstanze sah mich nicht in dieser Rolle. Ich sagte: „Ich bin vielleicht keine traditionelle Kitri. Meine Interpretation wäre eher an Gelsey Kirkland orientiert feministisch, hexerisch, clever, stark.“ Es half nichts. Kurz darauf wurde ich nach Südamerika eingeladen, um Kitri zu tanzen. Aber Konstanze ließ mich nicht gehen. Das hat uns entzweit. MJ Woran

haben Sie gedacht, als Sie 2013 vom Tod Konstanze Vernons erfuhren? EH Sie hat mir so viel gegeben. Aber wenn jemand viel gibt und es ist nicht das, was man gerade braucht, kann man es nicht annehmen. Dennoch würde ich die Jahre mit ihr und in München nicht missen wollen. Ich habe so viel gelernt. Was mir das Münchner Publikum gegeben hat, werde ich für den Rest meines Lebens in mir tragen: diese Dankbarkeit, dieses Interesse. Die Menschen haben nach der Aufführung immer am Bühneneingang gewartet, um mit mir zu sprechen. Sicher, es gibt auch in Kanada tolle Gäste, aber so eine enge Verbindung wie in München ist selten. Für viele Menschen war das Ballett ebenso Teil ihres Lebens wie für mich.


„Tänzerin zu sein ist kein Beruf, es ist eine Identität. Wer bin ich ohne Bühne? Alle Tänzerinnen müssen mit dieser Frage umgehen.“

MJ Es

heißt, das Ballett sei wie ein Kloster für Sie gewesen. Hatten Sie überhaupt Freizeit? Haben Sie in München Cafés oder Clubs besucht oder andere Dinge unternommen? EH Eigentlich nicht. Die Scheuklappen ... Mein ganzes Leben hat sich im Theater abgespielt. Ich habe das geliebt. Alles. Das Abschminken. Die Zeit in der Garderobe. Die Musik aus dem Studio zu hören. Mich aufzuwärmen. Nur um ins Bett zu gehen, bin ich rausgegangen. Aber auf dem Weg vom Bett ins Theater und abends zurück nach Hause habe ich die Sinnlichkeit Münchens in mich eingesogen. Das Grün, die Parks, auf den Pflastersteinen zu gehen, die Effizienz und Sauberkeit der U-Bahnen, diese Atmosphäre hat mich beschwingt. Es ist, als ob man durch ein Fest für die Augen spazieren würde. Wäre ich eine Malerin gewesen, hätte ich meine Wege gemalt.

einen Partner auf Augenhöhe. Andernfalls kommen einem zwei Dinge in der Arbeit dazwischen: das Interpreten-Ego und die Angst. Wenn wir dagegen auf einer Ebene sind, können wir gemeinsam das nächste Level erreichen. Uns in unserer Technik, unserem Musikempfinden synchronisieren, zusammen neue Möglichkeiten entdecken. Das geht nicht, wenn eine Person sich an einer Leiter hochzieht, die die andere halten muss. Als wir Onegin einstudierten, fühlte ich mich dagegen ganz und gar verliebt. Es ist keine Liebe, die ich mit nach Hause genommen hätte. Es ist Schauspiel. Man liebt sich in der Rolle, aber das funktioniert nur, wenn die Basis dazu stimmt, wenn die Affinität da ist. Ohne eine solche Verbindung ist es trist. Ich mache meinen Job. Aber mit Oliver Matz die Bühne zu betreten, war der reinste Genuss. MJ Ihre

MJ Einer

Ihrer ersten Tanzpartner in München war Oliver Matz in John Crankos Onegin. Er war der damals bekannteste Tänzer aus der Ex-DDR. Das war ein Jahr nach dem Fall der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland. Haben Sie darüber gesprochen? EH Nie. Kein einziges Wort. Wir haben viel gelacht. Er war sehr, sehr lustig. Höflich, optimistisch. Er wusste, wer er war, aber hatte keine Attitüden, stand mit beiden Beinen auf der Erde. Und er hatte einen unglaublich weiten Horizont. Ein Mensch, mit dem es sehr schön war, zusammenzuarbeiten. Ein wunderbarer Tänzer! Er hatte auch eine solch angenehme Beziehung zu Konstanze. Kaum hatte er den Raum betreten, haben sie angefangen zu scherzen. Wenn wir zu dritt waren, gab es eine sehr dichte Atmosphäre: die Liebe zur Arbeit. MJ In

einem Pas de deux sind Sie auf den anderen angewiesen, was Ihre körperliche Sicherheit betrifft wie auch das künstlerische Gelingen. Wie kann man sich das vorstellen: als Partnerschaft unter Laborbedingungen? EH Der ehemalige Leiter des Royal Ballet in London, Anthony Dowell, hat einmal in einem Interview gesagt: „Innerhalb von zwei Minuten weißt du, ob du mit einem Partner auskommst.“ Das ist wirklich wahr. Man braucht

berühmteste Rolle ist die der Giselle. Es ist das Schicksal eines Mädchens, das sich in ein Elementarwesen verwandelt und unerreichbar für die Menschen ist. Was bedeutet Ihnen diese Rolle? EH Unendlich viel. Den Pas de deux hatte ich in meiner Studienzeit von Ludmila Bogomolova vom BolschoiBallett gelernt. Meine Lehrerin sagte einmal während der Probe: „Sie tanzt sie nicht nur, sie ist Giselle.“ Als ich dann mein Debüt gab, nahm mich Peter Wright eine Woche vorher an die Hand, um alle Szenen noch einmal mit mir durchzugehen. Mein Traum wurde wahr. Und dann kamen die ersten Rezensionen. Da stand: „Offensichtlich hat sie ihre eigene Idee von Giselle.“ Dabei hatte ich das Gefühl, genau das zu tun, was mir Wright gesagt hatte. Ich wurde danach als Gast nach Toronto eingeladen, und darüber schrieb die New York Times: „Kanadas neue Ballettheldin“. Dann ging es weiter durch die Presse. Mein Renommee als natural born Giselle hatte ein Eigenleben bekommen, und ich tanzte sie überall. Diese Rolle wurde zu meiner Signatur. Die Art, wie sich dieser mädchenhafte Geist bewegt, ist mir sehr nah. Es ist ein Fließen, Treiben, wie ohne Knochen. MJ Erinnern Sie sich an etwas Besonderes bei den Münch-

ner Aufführungen?

113




EH Da

waren Pferde auf der Bühne.

MJ Moment. Echte Pferde? In der Choreographie von Peter

Wright? EH Ja, sie brachten echte Pferde auf die Bühne. Oder war das in Russland? Verzeihung, ich habe Giselle an so vielen Orten getanzt. Sie überlagern sich in meiner Erinnerung. Aber warum ich auf die Pferde komme: Die Ausstattung für die Choreographie von Peter Wright war in München viel bombastischer, als ich es bis dahin gewöhnt war. Ich kannte bis dahin nur Budgete­ngpässe. Mein Eindruck war: Du bist hier definitiv nicht mehr in Amerika! MJ 2003

haben Sie Ihre letzte Giselle in Kanada getanzt. Danach wurde geschrieben, dass Sie nun erst recht wie die Figur seien: ein Geist Ihres früheren Selbst. Wie war es, aus einem System von enormer Arbeit und enormer Anerkennung auszusteigen? EH Seit ich etwa 35 war, habe ich mich darauf vorzubereiten versucht. Ich habe mich von Empfängen ferngehalten, bei denen ich das Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen wäre. Ich wollte mich aus dem öffentlichen Fokus ziehen. Aber es war nicht leicht. Der erste Verlust ist der Verlust, etwas zu sagen zu haben. Es gab keine Rollen mehr für mich, keine Coaches, kein Training, das Durchhalten lohnte sich nicht mehr. Als es dann zu Ende ging, war es einerseits eine Erleichterung, andererseits durchlebte ich drei Jahre lang eine schwere Depression. Wir haben hier in Toronto ein Transitionszentrum für Tänzerinnen. Einer der Gründe, warum es eingerichtet wurde, ist, dass viele nach Ablauf ihrer Karriere den Ausweg im Suizid suchen. Tänzerin zu sein ist kein Beruf, es ist eine Identität. Wer bin ich ohne Bühne? Alle Tänzerinnen müssen mit dieser Frage umgehen. Manche bleiben nah an der Bühne, als Ballett­meisterin oder Choreographin. Aber das sind nur wenige. Manche haben Glück, weil sie andere starke Interessen haben, und fangen etwas ganz Neues an. Ich war so eng verbunden mit dem Ballett. Es aufzugeben war wie mich selbst aufzugeben. MJ Der

Preis der Hingabe.

EH Ja. Und vielleicht auch von Scheuklappen. Wir kommen

auf das Pferd zurück. Auf dem Niveau zu tanzen, auf dem ich getanzt habe, das tut man wohl nur, wenn man das Gefühl hat, wirklich etwas bedeuten zu können in Bezug auf die Leben anderer Menschen. Als ich abtrat, war es nicht, weil ich das Gefühl hatte, dass ich die Menschen nicht mehr erreiche. Diese Verbindung gab es noch. Aber die Unterstützung brach weg. Es gab innerhalb des Ballettsystems keine Vision mehr für meinen älter werdenden Körper, auch wenn meine Seele weiter tanzen wollte. Der Weg runter von der Bühne

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war also keine einfache Umstellung für mich. Ich habe dann begonnen zu unterrichten. Aber auch das ist nicht leicht. Es bedeutet, weiter für ein System zu arbeiten, das in bestimmten Schubladen denkt. Außerhalb der Schubladen zu denken, ist origineller. Aber es ist gewissermaßen einfacher, ein hermetisch geschlossenes System aufrechtzuerhalten und aufzupassen, dass es nicht leckt. Dieser Widerspruch begleitet mich in meinem Leben. MJ In

den vergangenen Jahren haben Sie in den Choreographien von James Kudelka getanzt. Sie haben es als „atmosphärisches Gehen“ bezeichnet. EH Leider können wir das durch die Pandemie erst einmal nicht fortsetzen. Aber ich freue mich, dass sich, sobald ich Musik höre, noch immer die Dimensionen des Raumes für mich öffnen. Diese Erfahrung möchte ich gern weitergeben. MJ Sie

legen die Scheuklappen ab. EH Ein wenig. Ich bin immer noch sehr für mich. Ich habe kein ausgiebiges Sozialleben. Ich arbeite immer noch jeden Tag an der Stange. Aber ich glaube, es gibt eine Art Schalter, mit dem das Innere geöffnet werden kann. Astrid Kaminski publiziert zu Kunst, Kultur und Sozialpolitischem und entwickelt öffentliche und dialogische Formate im Bereich Kreatives Schreiben und kritische Meinungsbildung. Als Journalistin begleitet sie seit Jahren intensiv die internationale Tanzszene mit besonderem Interesse an körperpolitischen Fragen. Sie lebt in Berlin und Athen.


O P E R

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www.salzburgfestival.at

Stand: 20.5.2021

William Kentridge, Drawing for Second-hand Reading, 2013/2020, © William Kentridge, Foto: William Kentridge Studio

SALZBURGER FESTSPIELE 17. JULI — 31. AUGUST 2021


Viele Jugendliche fühlen sich von der Pandemie betrogen, weil sie auf das verzichten müssen, was sie zum Erwachsenwerden brauchen: Freiheit. Der Fotograf Tobias Kruse erinnert mit Into The Sun an eine eigentümliche Suche.

Fotoreportage Tobias Kruse 118

Abbildungen © Tobias Kruse / OSTKREUZ

SEHNSUCHT NACH DER WELT


Der Berliner Fotograf Tobias Kruse reiste für sein Projekt Into The Sun im Jahr 2010 nach Lloret de Mar, ein Urlaubsziel, in dem Tausende enthemmte Teenager aus ganz Europa miteinander verschwimmen.


Sie alle sind hier auf der Suche nach dem nächsten Drink, dem Strand, einem Platz an der Sonne, nach der nächsten Party, auf der sie Einlass finden.


Was sie suchen? Rausch und Liebe, den ersten Sex, beseelt von Sehnsucht nach einer Welt, die sie noch nicht verstehen.


Abiturfahrten wie diese sind für viele so etwas wie das inoffizielle Siegel, das die Schulzeit beschließt und gleichzeitig Aufbruch bedeutet. Sie markiert das Ende der Kindheiten von Schülerinnen und Schülern, denen vereinzelt noch der Babyspeck in den Wangen hängt. Sie bedeutet, keine Angst mehr vor schlechten Noten haben zu müssen oder vor unberechenbarem Lehrpersonal. Nach der ersten Party, dem ersten Verliebtsein, nach all diesen Momenten, die man nur ein einziges Mal zum ersten Mal erlebt, ist dieser Urlaub womöglich ihr letztes gemeinsames erstes Erlebnis.


Im Jahr 2020 fühlten sich viele Jugendliche von der Pandemie genau darum betrogen, um die Freiheit, die sie womöglich auch nicht auf dieser Reise gefunden hätten – aber vielleicht hätten sie doch zumindest das Gefühl der Idee von Freiheit als junge Erwachsene erahnt. Und auch in diesem Jahr wird es, trotz Impfschutz und Lockerungen, noch immer für die allermeisten bedeuten, weiterhin zu verzichten.


Durch deutsche Vorstädte führt die Reise zu Beginn, in denen kleine Grüppchen hungriger und durstiger Jugendlicher mit kleinen Augen und großen Kopfhörern von Reisebussen eingesammelt werden. Zwanzig Stunden fahren die Teenager anschließend auf engen Sitzen durch ein nachtdunkles, gesichtsloses Frankreich, bis sie am frühen Morgen die Küste Nordspaniens erreichen.


Es sind die letzten großen Ferien, eine letzte gemeinsame Reise, nach den hoffentlich bestandenen Abiturprüfungen, damit der Abschied voneinander, der danach kommt, nicht mehr ganz so wehtut.


Ob sie tatsächlich eine Freiheit gefunden haben, ist vielleicht am Ende gar nicht von Belang.


Die Hoffnung ist: dass eine solche Möglichkeit an jenen jungen Erwachsenen, die jetzt gerade in den Startlöchern stehen, nicht einfach vorübergezogen ist.


LUFT HOLEN Der Tenor Charles Castronovo erkrankte Anfang des Jahres schwer an Covid-19. Bei der Genesung helfen ihm klassische Gesangsübungen – und nicht nur ihm. Wie Opernsängerinnen und -sänger Corona-Patienten beibringen, wieder zu atmen.

Reportage Jörg Böckem 128


Girl Blowing Bubble in Contest © Bettmann / Getty Images

Singen, so der gesellschaftliche und wissenschaftliche Konsens, ist eine tolle Sache: Es hellt die Stimmung auf, hilft Stress und Ängste abzubauen, vermindert das Burn-outRisiko. Es unterstützt Herz, Kreislauf und Immunsystem. Beim gemeinsamen Singen wird außerdem das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet, das stärkt das Gruppengefühl. Zu Beginn der Corona-Pandemie begann man jedoch, den Gesang mit Argwohn zu betrachten: Aufgrund stark steigender Infektionszahlen, gerade auch nach Konzerten und Gottesdiensten, galt das Singen als Virenschleuder. Chöre mussten das Proben aufgeben, das gemeinschaftliche und öffentliche Singen sollte vermieden werden. Auch wenn aktuelle Untersuchungen zeigen, dass der Aerosolausstoß beim Singen kaum höher ist als beim Sprechen: Der entscheidende Faktor sei die Lautstärke, die bei der Übertragung infektiöser Tröpfchen von Bedeutung sei. Und die ist beim Gesang eben oft höher. Für passionierte Laiensängerinnen und -sänger bedeutet das, ein weiteres lieb gewonnenes Hobby während der Pandemie zumindest zeitweise aufgeben zu müssen, um ein mögliches Ansteckungsrisiko zu verringern. Für Berufssänger sind die Auswirkungen deutlich gravierender, auf vielen Ebenen. Bei Charles Castronovo, 46, beginnt es im Januar. Der amerikanische Tenor, der in Berlin lebt, ist mit seiner Familie in Wien. Die dortige Staatsoper plant im Februar eine TV-Premiere von Georges Bizets Carmen, mit Castronovo als Don José. Nach negativen Corona-Tests der Beteiligten beginnen die Vorbereitungen, bis die Klavierhauptprobe ansteht. „Wir haben alle lange nicht mehr auf der Bühne gestanden“, sagt Castronovo in einem Videogespräch Ende April. „Wir haben uns gefreut, wieder gemeinsam zu singen. Ohne Maske. Eine Oper mit Maske zu singen, ist kaum möglich.“ Die CarmenInterpretin Anita Rachvelishvili und Castronovo bewegen sich nah beieinander, sie sehen sich an, singen laut. „Wir haben uns die Lunge aus dem Leib gesungen. Wie das bei Carmen so ist, eine Menge Drama“, sagt Castronovo und lacht. Am nächsten Tag kontaktiert ihn Rachvelishvili, sie fühle sich nicht gut. „Mir ging es prima, ich habe mir zuerst keine Sorgen gemacht“, sagt Castronovo. Das ändert sich. Am Tag darauf geht es seiner Kollegin zunehmend schlechter. Der Sänger isoliert sich schließlich von seiner Familie. Wieder einen Tag später, es ist ein Montag, ist Rachvelishvilis CoronaTest positiv, Castronovos Ergebnis folgt am Dienstag. Fieber, tiefe Erschöpfung, Gliederschmerzen, das Sprechen allein löst Hustenanfälle aus, irgendwann lässt er es ganz sein. Castronovos Zustand verschlimmert sich dramatisch, am Sonntag sucht er eine Klinik auf. In seiner Lunge wird eine hohe Viruslast festgestellt, die Sauerstoffwerte in seinem Blut sind sehr schlecht. Er wird er auf die Intensivstation verlegt, bekommt Sauerstoff, Blutverdünner, Vitamine und Steroide. „Ich fühlte mich fürchterlich und ich hatte Angst“, sagt er. „Es war nicht klar, in welche Richtung sich die Infektion entwickeln würde. Ob sich meine Atmung wieder normalisieren, ob ich je wieder auf einer Bühne stehen und singen können

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„Ich habe Gesangsübungen keine große Bedeutung mehr beigemessen. Ich stand ständig auf der Bühne, alles funktionierte. Nun leisten sie einen großen Beitrag dazu, dass sich meine Atmung und meine körper­ liche Belastbarkeit verbessert.“

würde.“ Drei weitere Kollegen aus der Carmen-Produktion infizieren sich trotz Einhaltung aller Vorsichtsmaßnamen, Castronovo ist jedoch der einzige mit einem schweren Verlauf. Der Grund dafür liegt wohl im Gesang: Die Theorie sei, dass im Moment der Infektion die Höhe der Virusbelastung in der Lunge über die Schwere des Krankheitsverlaufs entscheidet, erfährt Castronovo im Krankenhaus. „Anita und ich standen nah zusammen, haben uns angesehen und laut gesungen, ich habe dabei tief geatmet und so eine hohe Virendosis erwischt. Die anderen standen weiter weg und haben weniger abbekommen.“ Aus dem gleichen Grund erkranken auch Sportler, die sich beispielsweise während des Trainings infizieren, oft schwer, auch wenn sie eigentlich fit und gesund sind. Auch bei ihm geht es wieder aufwärts, aber nur sehr langsam. Nach zwei Wochen wird der Sänger aus dem Kran­ kenhaus entlassen. „Ich fühlte mich, als wäre ich 95“, sagt Castronovo. „Ich war extrem kurzatmig und kraftlos, bei Spaziergängen war ich nach 15 Minuten völlig erschöpft.“ Eine Lungenärztin und Stimmspezialistin behandelt ihn, betreut seinen Genesungsprozess. Die Sauerstoffwerte verbessern sich glücklicherweise, der Husten ist weg, die Stimmbänder sind in Ordnung, die Mechanik funktioniert. Nach einem Monat kann der Tenor wieder singen. Doch Scans lassen auf der Lunge immer noch Schatten erkennen. „Mein Lungenvolumen und die Atemkontrolle sind noch nicht wieder bei 100 Prozent. Wenn ich tief einatme, spüre ich diese Enge“, sagt er. Für sein Rehatraining nutzt Castronovo Asthmaspray und ein Mundstück, mit dem man den Widerstand beim Ein- und Ausatmen regulieren kann. Hinzu kommen Atem- und Stimmübungen, die er aus seiner Praxis als Opernsänger kennt. Der Gesang hilft ihm gegen die Folgen der Infektion. „In den vergangenen Jahren habe ich diesen Übungen keine große Bedeutung mehr beigemessen“, sagt er. „Ich stand ständig auf der Bühne, bei Proben oder Aufführungen, alles funktionierte.“ Nun leisten diese Übungen einen großen Beitrag dazu, dass sich seine Atmung und seine körperliche Belastbarkeit verbessern. Die stetige Steigerung zu spüren, die Fokussierung darauf, hätte außerdem eine therapeutische Wirkung, sagt Castronovo. Und: Die großartige Musik, die er singe, sei gut für seine Seele und sein Wohlbefinden. Seine Ärztin bestätigt das: Castronovos Lungenkapazität entspricht gut zwei Monate nach der Erkrankung wieder dem Durchschnitt, auch wenn er damit noch unter seinen eigentlichen Möglichkeiten als Berufssänger liege. Die English National Opera (ENO) in London hat die heilsame Wirkung des Gesangs für Corona-Patienten früh erkannt und Anfang des Jahres ein wegweisendes Pilotprojekt gestartet: Das britische Gesundheitssystem drohte unter der schieren Anzahl an Erkrankten zusammenzubrechen, dazu häuften sich Fälle von Long Covid – Patienten litten oft noch Wochen oder Monate nach der Infektion, auch nach milden Verläufen, unter Symptomen wie Erschöpfung, Kurzatmigkeit oder HerzKreislauf-Problemen. In der Oper dreht sich alles um den

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Gesang und damit auch um den Atem, warum diese Expertise also nicht einbringen, so der Grundgedanke. Schon allein deshalb, weil das Gesundheitssystem nur wenige passende Behandlungsangebote für diese Fälle zur Verfügung stellen kann. In Zusammenarbeit mit dem National Health Service und einem Team von Fachleuten hat die Gesangslehrerin Suzi Zumpe, die normalerweise die Ausbildung junger Opernsängerinnen und -sänger leitet, ENO Breathe ins Leben gerufen, eine Plattform, auf der Sängerinnen und Sänger der Oper Menschen nach einer überstandenen Corona-Infektion online bei Atem- und Gesangsübungen anleiten. Anfangs gab es zwölf Patientinnen und Patienten, mittlerweile werden auf diese Weise über 1.000 Menschen behandelt. Teilnehmer berichten von schnellen Erfolgen, in vielerlei Hinsicht: Das Atemvolumen verbessere sich deutlich, die Stimmung durch das gemeinsame Singen ebenso, die Erschöpfung sei weniger geworden, Ängste und dunkle Gedanken seien verschwunden. Aber nicht nur die Patienten profitieren: Das Programm habe vielen Beteiligten der Oper eine völlig neue Perspektive eröffnet und in der für sie extrem schwierigen Zeit eine sinnvolle Beschäftigung geboten, sagt eine Mitarbeiterin. Es sei großartig, festzustellen, dass die eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse, die während der Pandemie so lange brach lagen und wenig gewürdigt wurden, nützlich sein können und eine neue Wertschätzung erfahren. Die Münchner Stimmtrainerin und Gesangslehrerin Gudrun Ayasse kennt die Nöte und Ängste von Sängerinnen und Sängern in der Pandemie. Und sie weiß ebenfalls um die therapeutische Wirkung des Gesangs. Die 57-Jährige hat zwei ihrer Schülerinnen, die an Corona erkrankt waren, bei der Rehabilitation begleitet. „Atemarbeit und Stimmtraining sind nicht nur eine hervorragende Prophylaxe, sie können auch bei der Behandlung möglicher Folgen einer Infektion, also Kurzatmigkeit, Fatigue-Syndrom und depressiven Stimmungen helfen“, sagt sie. „Vor allem wenn die Atemmuskulatur aufgrund der künstlichen Beatmung atrophiert ist, kann ein Training der Atemmechanik die Atemleistung deutlich verbessern.“ Darüber hinaus sei bei den Patienten in der Regel das Stresslevel und die Anspannung hoch. „Sie befinden sich im Panikmodus“, sagt Ayasse. „Das Atemzentrum gewöhnt sich an eine Stressatmung, die eigentlich nicht der Regelfall sein soll. Wenn sich das chronisch verfestigt, ist es schwierig, wieder runterzukommen.“ Spezielle Übungen könnten da helfen, die sich anschließend auch in den Alltag integrieren ließen. Gudrun Ayasse möchte ihre Profession in der Pandemie weiterhin nutzbringend einsetzen. Zu Beginn des ersten Lockdowns hat sie sich in der Buteyko breathing method, einer speziellen Atemtherapie, weitergebildet. Auch um Corona-Patienten mit akuten Problemen oder Spätfolgen gezielter betreuen zu können. Das Problem sei die Vernetzung, so Ayasse. Denn obwohl sie mit HNO-Ärzten zusammenarbeite, fänden Erkrankte nur schwer den Weg zu ihr. „Stimmtherapie als ein wirksames Element in der Behandlung

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ist in unserem Gesundheitssystem leider nicht vorgesehen.“ Das könnte sich nun ändern: Ende April hat das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf eine Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper initiiert – die Sängerinnen und Sänger sollen den Patienten nach Londoner Vorbild in digitalen Coachings helfen, ihre durch die Infektion geschwächte Atemmuskulatur zu trainieren und die Luftnot zu reduzieren. Singen als Heilmittel – vielleicht steht der Gesang in Zeiten der Pandemie vor einem Imagewechsel. Die Vorstellung, mit Gesang die Genesung von Erkrankten unterstützen zu können, sei jedenfalls wunderbar, sagt Charles Castronovo. Ein wichtiges sinn- und identitätsstiftendes Signal, davon ist er überzeugt. In dieser Erkenntnis stecke aber auch Wehmut, sagt der Tenor: „Meine Frau, Ekaterina Siurina, ist ebenfalls Opernsängerin. Während der Pandemie haben wir uns oft wirklich mies gefühlt“, sagt er. „Ich bin Sänger, ich bin nur komplett, wenn ich singe.“ Dass er irgendwann wieder das tun kann, was seine Aufgabe im Leben sei, daran glaubt Castronovo aber fest. Jörg Böckem, 55, war noch nie ein guter Sänger. Als Asthmatiker und ehemaliger Kampfsportler weiß er aber um die heilsame Wirkung von Atemübungen.

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Nikolaus Bachler Sprachen des Musiktheaters Dialoge mit fünfzehn zeitgenössischen Regisseuren

SchirmerMosel Literatur

Nikolaus Bachler im Gespräch mit fünfzehn zeitgenössischen Regisseuren Ab Juli 2021 im Handel und über www.staatsoper.de/shop

220 Seiten, Format: 11,5 x 19 cm, gebunden ISBN 978-3-8296-926-5


DER ABGRUND, AN DEM WIR STEHEN Vom Klimawandel bis zur Pandemie: Können die aktuellen gesellschaftlichen Bewegungen und Krisen eine wirkliche Wende herbeiführen? Und wie sieht in diesem Kontext die Rolle der Kunst aus? Fragen an einen Nachhaltigkeitsforscher.

Interview Maria März Collage Joe Webb 134


Hot Off The Press, 2019

MAX JOSEPH   Herr Blühdorn, der UN-Generalsekretär António Guterres sagte im April: „Wir stehen am Rande des Abgrunds.“ Der jüngste Bericht der Weltorganisation für Meteorologie bestätigte erneut den „unerbittlichen Klimawandel“. Das Jahr 2021 sei entscheidend. Befinden wir an einem wendenden Punkt? INGOLFUR BLÜHDORN   Gerade in unseren westlichen Gesell schaften, die sich bisher immer als besonders fortschrittlich, aufgeklärt und modern verstanden haben, ist das unbestimmte Gefühl, an einem Punkt des fundamentalen Umbruchs zu sein, weit verbreitet. Und es ist berechtigt. MJ Für viele sind neue Bewegungen wie „Fridays for Future“

oder „Black Lives Matter“ Anzeichen einer großen transformativen Energie. Auch die Corona-Pandemie wurde schnell als möglicher Katalysator für eine sozial und ökologisch bessere Welt gesehen. Teilen Sie diese Ansicht? IB Ich bin vorsichtig. Dass „weiter so“ keine Option sei, weder wirtschaftlich noch politisch, sozial, kulturell und ökologisch, ist ja immer wieder betont worden, schon seit den 1970er Jahren, vor allem von den ambitionier-

teren Teilen der Umweltbewegung. Und beinahe ebenso oft ist behauptet worden, gerade jetzt im Moment gerate wirklich etwas in Bewegung. Wenn wir diese Hoffnung nun erneuern, bedarf sie einer stichhaltigen Begründung. MJ Dann

trügt uns unser Gefühl des tiefgreifenden Umbruchs? IB Nein. Aber die Sache ist komplexer. Frühere Aufbruchsbewegungen haben vielfältige Reformen bewirkt, aber letztlich das „Weiter so“ nie ausgesetzt. Vielmehr sind die Kernelemente der Logik, die dem Erfolg unserer „fortschrittlichen“ Gesellschaften zugrunde liegt, immer unangetastet geblieben. Das ist die Logik des ökonomischen Wachstums, der Expansion, der Beschleunigung, des Wettbewerbs, der Ungleichheit, des Naturverbrauchs. Die Frage wäre also, ob die aktuellen gesellschaftlichen Bewegungen und Krisen diese Logik nun wirklich durchbrechen können. MJ Und

können sie das? Haben wir ausreichend Grund, von einem wendenden Punkt zu sprechen?

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IB Nach

Jahrzehnten der Mobilisierung hat sich das Vertrauen in die entscheidenden Strategien für die Wende, die schon seit den 1970er Jahren eingefordert wird, in sonderbarer Weise erschöpft, allen voran das Versprechen wahren Glücks ohne Konsum, das Vertrauen auf die zunehmende Einsichtsfähigkeit der Menschen, auf die Demokratisierung und auf die technologische Innovation. Und trotzdem: Genau in dieser Hinsicht, mit Blick auf diesen Vertrauensverlust, stehen wir heute doch an einem wendenden Punkt.

Sie das genauer erklären? IB Zunächst sollten wir klären, dass der Abgrund, vor dem der UN-Generalsekretär warnt, wohl nicht das Ende der Menschheit ist, wie es immer wieder als Untergangsszenario beschworen worden ist. Ein solches Ende ist einstweilen nicht abzusehen, und diese Bedrohungskulisse lenkt auch ab von dem Schreckensszenario, das sich unmittelbar vor unseren Augen entfaltet: die sich unerbittlich zuspitzenden Verteilungs-, Exklusions- und Überlebenskämpfe, die sich innerhalb von Gesellschaften und zwischen Teilen der Menschheit abspielen, im Mittelmeer, auf Lesbos, in Brasilien, in großen Teilen Afrikas und anderswo. Und bei diesen Kämpfen sind wir nicht unbeteiligte Beobachter, sondern wir sind aktive Mitspieler, als Konsumenten, als Aktionärinnen, als Wähler. Diese immer aufdringlicher sichtbar werdende Verstrickung ist aber kategorisch unvereinbar mit unserem europäisch-westlichen Selbstverständnis von Zivilisiertheit und Überlegenheit. Nicht zufällig wird neuerdings oft eine Verrohung und Entzivilisierung unserer Gesellschaften festgestellt, und dass unsere angeblich so aufgeklärte Kultur bis in die Gegenwart hinein strukturell männlich, weiß, rassistisch, kolonial und imperial ist. Insofern könnte man sagen, der Abgrund, an dem wir stehen, betrifft weniger das Überleben der Menschheit als das Überleben, die Nachhaltigkeit, ja die Haltbarkeit unserer westlichen Werte und unseres Selbstverständnisses.

„Der Abgrund, an dem wir stehen, betrifft weniger das Überleben der Menschheit als das Überleben, die Nachhaltigkeit, ja die Haltbarkeit unserer westlichen Werte und unseres Selbstverständnisses.“

MJ Können

MJ Warum

sollte dieses Selbstverständnis am Abgrund sein? Woraus folgern Sie, dass es nicht haltbar ist? IB Ein Indikator ist, dass das Wirtschaftssystem, das westliche Gesellschaften so erfolgreich und selbstbewusst gemacht hat, seit Jahren am seidenen Faden der Niedrigzins- und Geldpolitik der Zentralbanken hängt. Ohne diese Unterstützung wäre es wohl längst kollabiert, mit unabsehbaren Folgen für den gesellschaftlichen Frieden und die demokratische Ordnung. Diese Interventionspolitik wird aber nicht ewig möglich sein, denn sie schädigt die Sparer und beflügelt die Inflation. Weitere Faktoren sind die immer stärkere Abhängigkeit von China sowie schlicht unsere planetarischen Grenzen. In Bezug auf diese Grenzen haben wir lange geglaubt,

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dass es mithilfe von technologischen Innovationen gelingen könnte, wirtschaftliches Wachstum vom steigenden Ressourcenverbrauch abzukoppeln und so nachhaltig zu machen. Dieser Glaube hat sich inzwischen zerschlagen. Zwar können neue Technologien die Ressourceneffizienz noch weiterhin erhöhen, aber der stetige Anstieg von Produktion und Konsum führt dazu, dass der Ressourcenverbrauch unterm Strich doch immer größer wird und die planetarische Belastbarkeit längst überschritten hat. MJ Welche

Rolle spielt das Verhältnis zu China? IB China hat sowohl als Werkstatt für unsere billigen Konsumgüter als auch als Absatzmarkt für die Produkte unserer Industrie ungeheure Bedeutung. Gerade Deutschland, wo man gern auf Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Umweltstandards pocht, gründet seinen wirtschaftlichen Erfolg, seine Lebensweisen und seinen sozialen Frieden in höchstem Maße auf die Nichteinhaltung genau dieser Werte in China. Das illustriert die schon angesprochene Verstrickung und die Unhaltbarkeit unserer westlichen


Werte, wenn wir gleichzeitig die Dividenden der Aktio­ näre, unsere Konsumkultur und unser Freiheitsverständnis für unverhandelbar halten. MJ Aber

ist die Klimabewegung nicht doch ein Aufbruch? Sie hat am 24. März ein wichtiges Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz von 2019 erstritten. IB Die neue Klimabewegung ist ein Hoffnungsträger. Ob sie ein wendender Punkt ist, bleibt abzuwarten. Zunächst hat sie in neuer Weise den Konflikt zugespitzt zwischen einer gut gebildeten, privilegierten und artikulationsstarken jungen Generation, die sich völlig zu Recht um den Erhalt ihrer Zukunftschancen sorgt, und denen, die sich bereits in der Gegenwart ebenfalls völlig zu Recht zurückgelassen, ausgegrenzt und chancenlos fühlen. Dieser Konflikt wird sich weiter verschärfen. Der Riss, der schon jetzt durch die Gesellschaft geht, und die zunehmende Polarisierung, die sich in Hass und Konflikten entlädt, sind der Abgrund, an dem wir stehen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist klimapolitisch ein Meilenstein, aber in Bezug auf den Abgrund auch noch kein wendender Punkt. Es bestätigt denen, die geklagt haben, den Anspruch, in ihren Freiheitsrechten auch in Zukunft unverletzt zu bleiben. Das ist gut so. Es thematisiert aber nicht, dass die Freiheiten bereits in der Gegenwart höchst ungleich verteilt sind, und dass das Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung, das gerade in den privilegierten Teilen der Gesellschaft mit aller Entschiedenheit verteidigt wird, sowohl aus sozialen wie auch aus ökologischen Gründen dringend neu ausgehandelt werden müsste. MJ Und

die Pandemie? Pandemie wirkt vor allem als Beschleuniger für Entwicklungen, die längst vorher eingesetzt hatten. Neu ist aber die Deutlichkeit, mit der sie gezeigt hat, wie wenig unsere Gesellschaft zur Transformation bereit und in der Lage ist. Die Einschränkungen, die im Rahmen der Pandemiebekämpfung verhängt wurden, waren im Vergleich zu dem, was eine Nachhaltigkeitstransformation erfordern würde, bescheiden und sie waren nur kurzfristig. In den verschiedensten Teilen der Gesellschaft wurden sie dennoch, nicht immer unbegründet, als Unerträglichkeit wahrgenommen. Die uneingeschränkte „Rückkehr zur Normalität“ wurde bald oberstes Prinzip der Pandemiepolitik. Und die Aufhebung der Beschränkungen wurde in den Medien zur Wiedererlangung der Freiheit stilisiert, als hätten wir Jahrzehnte der Diktatur und Entrechtung erlitten. Nie war so deutlich, wie sehr die Sicherung der nicht nachhaltigen Normalität eine Bedingung unserer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stabilität ist. Das ist der Abgrund.

IB Die

MJ Was

müsste passieren, um dieses Dilemma zu durchbrechen? IB Ein erster Schritt wäre, sich von den schnellen Hoffnungen und angeblich sofort wirkenden Rezepten zu verabschieden, die allenthalben angeboten werden. Technologische Innovation, grünes Wachstum, die Beschleunigung der digitalen Revolution und gesteigerte Exporte nach China werden das Problem ebenso wenig lösen wie ein schlichtes Mehr an Bürgerbeteiligung. Eben weil unser Glaube an diese altbekannten Rezepte sich erschöpft hat, ist „am Abgrund“ die Stimmung oft so gereizt. Der zweite Schritt wäre dann, von der Sicherung unserer Freiheitsrechte zu deren inhaltlicher Neubestimmung fortzuschreiten. Gerade für die privilegierteren Teile der Gesellschaft wird das eine erhebliche Beschränkung etablierter Freiheiten bedeuten müssen, nicht nur zugunsten zukünftiger Generationen, sondern ebenso zugunsten der sozialen Gerechtigkeit in der Gegenwart. MJ Wo sehen Sie in diesem Kontext die Rolle und Aufgabe

der Kunst? haben zunächst auch keine bessere Vorstellung von dem Abgrund, an dem wir stehen, und der Wende, die zu bewältigen wäre. Sie sind auch keine moralischen Autoritäten. Die Kunst insgesamt ist immer weniger in der Lage, im herkömmlichen Sinne kritisch zu sein und Alternativen aufzuzeigen. Aber gerade wenn die Verständigung zwischen gesellschaftlichen Gruppen und der Brückenschlag zwischen ihren jeweiligen Echokammern immer schwieriger wird; in einer Debattenkultur, in der Gefühlsausbrüche, verletzte Identitäten und die sogenannte Cancel Culture immer mehr die verständigungsorientierte Argumentation verdrängen, hat die Kunst die Möglichkeit, zwischen den identitär verhärteten Standpunkten Ambivalenzen auszuloten und das zu artikulieren, was in anderen Formen der Kommunikation schnell im Shitstorm erstickt. Gerade jetzt brauchen wir die Kunst daher dringender denn je.

IB Künstler

Maria März ist Theaterwissenschaftlerin und Juristin. Sie lebt als freie Autorin in Brüssel. Von 2011 bis 2019 war sie Redaktionsleiterin von Max Joseph.

INGOLFUR BLÜHDORN ist Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN), Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Soziologie, Gesellschaftstheorie, der Wandel moderner Demokratien und umweltpolitische Theorie. Zu den wichtigsten deutschsprachigen Publikationen gehören Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende (Suhrkamp, 2013) und Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet (Transcript, 2020).

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ZWISCHEN S T O F F MENGEN S. 138

Illustration Bureau Borsche

Von Elfriede Jelinek für Nikolaus Bachler


Die Neuproduktion von Richard Wagners Der Ring des Nibelungen im Jahr 2012 war Raum und Rahmen, in dem Elfriede Jelineks Bühnenessay rein Gold entstand. Er wurde zu einem der wichtigsten Texte der Nobelpreisträgerin. Für Max Joseph erinnert sie sich an die Entstehung dieses Textes zurück und notiert an ihm entlang Gedanken über die (literarische) Arbeit am Material.

S. 139


Zwischen

Ich verdanke Nikolaus Bachler einen meiner (für mich) wichtigsten Texte: rein Gold. Gedacht war der Text, der dann später ein Essay für die Bühne wurde, als eine Art Beiprogramm zur Münchner Aufführung von Wagners Der Ring des Nibelungen. Aus dieser kurzen Beilage wurde für mich geradezu ein Moloch, ein überdimensionaler Zweikampf zwischen Wotan, dem Wanderer, und seiner Tochter Brünnhilde. Bachler hat mich sozusagen herausgefordert (obwohl er das sicher gar nicht vorhatte), mich in ein Verhältnis zu dem gigantischen Werk Wagners zu setzen. Da war es also, das Werk, und am Anfang wollte ich irgendwo den Eingang dazu finden, in der Hoffnung, es würde sich mir in Höhle, Wald oder Hain etwas eröffnen, das ich nicht wußte. Am Ende wußte ich noch weniger, dazwischen aber war viel, das Bachler aus mir herausgeholt hat. Und es begann zu fließen wie der Rhein. Würde ich mit einer Füllfeder schreiben, könnte man sagen: Ich konnte die Tinte nicht halten. Auch etwas Fließendes. Mit dem Bach-ler also zum Rhein, ich kalauere ja so gern. Will man etwas enthüllen, am besten natürlich immer einen inneren Kern, muß man sich Arbeit machen, wobei die immer noch weniger Aufwand ist als das Verhängen, das Verschleiern. Nach Martin Heidegger, den ich immer zitiere, weil ich ihn auch nicht verstehe, ist es keineswegs nötig, das, was einem vorliegt, in seinem ganzen Wesen zu enthüllen. Aber nur dort, wo dieses Enthüllen geschieht, ereigne sich das Wahre. Deshalb sei aber das bloß Richtige noch nicht das Wahre. Mit dem Richtigen habe ich im Fall Wagners mich nicht einmal zu beschäftigen versucht, aber das Wahre habe ich dann natürlich auch nicht gefunden, nicht

S. 140


Stoffmengen

finden können, weil es das nicht gibt. Ich selbst habe dafür gesorgt, daß ich nicht näher rangekommen bin. Dabei hätte mich erst das Wahre überhaupt in ein Verhältnis zum Richtigen bringen können. Statt eine Wahrheit zu enthüllen, habe ich immer nur noch mehr Hüllen (ja, die fließen auch!) über meinen Gegenstand geworfen, als hätte ich, um ihm wenigstens in die Nähe zu kommen, Hindernisse aufgehäuft, aber solche, die sich leicht wieder wegräumen (abziehen) lassen würden. Ein sehr interessanter Vorgang für jemanden, der nur selten sagen kann, „was Sache ist“, sondern immer nur um einen heißen (oder eisigen) Kern, der oft ein Brei ist, herumschreibt und in diesem Umkritzeln des Gegenstands diesem irgendwann eine Kontur aufzwingt. Und zwar für mich selbst. Doch jeder erkennt etwas anderes, ja, auch als wahr, und die, die etwas kennen, erkennen oft gar nichts. Das Richtige über den Ring (das es, wie gesagt, nicht geben kann) hätte mich nur von dem Wahren abgehalten, dem ich aber selbst nicht ins Gesicht sehen konnte. Ich konnte es ja nicht einmal anschauen, ohne es vorher in viele Schichten verpackt zu haben. Die Verpackung war dann das Wahre, große Ursache, kleine Wirkung. Das Material ist der Stoff, woraus etwas gefertigt wurde. Ich habe über Wagners Ring-Material geschrieben, indem ich den ganzen Stoffhaufen wieder darüber gehäuft und dann, schließlich wütend geworden, geschmissen habe (wobei ich zufällig oft etwas ganz anderes enthüllt habe). Daß ich auf diesem Weg immerhin eine Ahnung von etwas anderem bekommen habe, einen Busch gesehen habe, auf den ich klopfen konnte, dafür danke ich Nikolaus Bachler.

S. 141


rein Gold

Liebe Menschen, es ist Zeit, es ist jetzt eine Zeit gekommen, keine Ahnung, welche, es ist eine Zeit, in der, nein, was immer dann herrschen wird, Stille und Ruhe werden es nicht sein, das steht fest, nichts steht fest, das aber schon, liebe Menschen, sprecht euch doch nicht gegenseitig euren Wert ab! Der Held hat seinen, ihr aber habt auch einen! Der Held hat mehr Wert, ihr weniger, aber ihr habt nicht keinen!, denn brav klebt ihr an die Tüten mit dem Warenwert das Klebe-Brandzeichen, so praktisch!, drückt dem Ding in der Tüte also euren Wert auf, es ist nur der neue Mantel drin, ich weiß, ihr habt ihn nicht hergestellt, aber ihr drückt ihm einen Wert auf, der auf einem kleinen Etikett geschrieben steht, das ist auch Arbeit, sowas herzustellen, etwas aufs Etikett zu schreiben, wem sagen Sie das, wenn jemand weiß, daß Schreiben Arbeit ist, dann ich, überhaupt: alles herzustellen ist Arbeit!, der Wert stellt Arbeit dar, er macht das nicht sehr gut, finde ich, dieser Wert ist kein begabter Schauspieler, ich nehme lieber die Ware selbst, also das Gerät, und mache die Arbeit dann nicht, die ist trotzdem irgendwie so hineingeflossen, so wie die Menschenmengen fließen, bei der Love-Parade oder wo immer, wo sie einander zertreten. Alles fließt, die Menschen fließen herum und zertreten einander gegenseitig, im Takt der Musik, ich bin leider taktlos, deshalb schreibe ich dies, deshalb: dauernd schreiben!, nur nicht aufhören!, die Menschen bewegen sich ja auch dauernd, aber Musik ist Musik, sie turnt einen an, es gibt ja so viele von ihnen, die sie hören wollen, am besten mit anderen gemeinsam, Musik hören mit anderen Menschen, was könnte schöner sein?, es gibt so viele unter ihnen, unter ihren Turnschuhen, die dabei verlorengehen, wenn sie einander zertreten oder sonstwie die Luft abschnüren, die Schnürung der Schuhe hält nicht, weil die Menschen so rasch dahinfließen, so viele von ihnen, alles fließt, auch die Musik, ganz ungehindert, wollte sie jemand hindern – da würd erst eine Panik ausbrechen! Wenn sie nichts hören können, werden die Menschen wirklich böse. Was tun? Was machen wir mit ihnen, was machen wir mit den Strebenden, zur Bühne Strebenden, die dort rauf wollen, dort spielt die Musik, was machen wir jetzt, da sie ihre Schuhe verloren haben, wo sollen die denn hin? Wo sie

hinwollen und worauf sie hinauswollen, ist klar. Zur Musik. Sie sind keine Helden, bitte, manche können es werden in dieser Ausnahme-Situation (nicht zu verwechseln mit der Aufnahme-Situation!), wenn es Ausnahmesituationen gibt, kann es auch Ausnahmemenschen geben, aber auch die werden nicht ausgenommen, bitte, sie werden vom Veranstalter ausgenommen, aber sie sind nicht ausgenommen vom Verfall, vor der Atemnot, was ist es, das da entsteht?, ein Vakuum? Was ballt sich zusammen im Helden?, in dem Mann, der dieses Mädchen hochhält, damit es atmen kann, er hat es nicht geschaffen, aber er hält es trotzdem hoch, damit sie ihre Atmung schafft, die kleine Maus. Was da entsteht, in den meisten nicht, die die andren zertreten, welcher Mensch da entsteht, das ist nicht der oder das, was ich unter einem Helden verstehe. Der ist es, oder er ist es nicht. Nein, der andre ist es! Nein, der auch nicht. Die Arbeit, die auf etwas verwendet wurde, muß ja auch die Möglichkeit bekommen, sich irgendwie auszudrücken, und sie drückt sich jetzt aus, wie die Frau Waltraud oder wie sie heißt, drückt sich die Arbeit jetzt aus und rinnt den Leuten über die Ohren herunter. Und sie lächeln ewig wie ein Gott, sind aber keiner. Der Held hat sie erwählt, das Mädchen hat das Leben gewählt, es hat sich entschlossen zu atmen, und diese Dame hier hat sich einen neuen Mantel erwählt, in den die Arbeit von Menschen eingeflossen ist, die oft noch Kinder sind, ich sagte es schon, geflossen wie der Rhein, nur eben in Klein, sag ich doch! Ich will nicht länger abschweifen, Papa, denn es geht ja um uns beide. Letztlich geht es nur um uns. Mein Held wird das Gold gar nicht ansehen, er wird es anderen verschaffen, aber er selbst wird sich nicht dafür interessieren. Er wird sich nur für sich selbst interessieren, der Selbstgeborene, der Eingeborene, der Eigengeborene. Der braucht keinen Helden, der Vater, der Gott braucht ebenfalls niemanden. Aber er hat alles, was er braucht, weil er es selbst geschaffen hat. Nur Einer herrsche: der Vater! Der Allvater, also der Vater von allem, ja, auch vom All. Gottvater, der Herrliche! Nur Er. Du! Vater! Ich weiß zwar nicht, wer dieser Held sein wird, aber ich werde ihn dir zuführen, ich werde dir den Helden zuführen, sei nett zu ihm, bitte! Sei

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(Auszug)

gütig. Er ist der Bürge deiner ewigen Macht, Vater. Die braucht zwar keinen Bürgen, aber wenn einer da ist, wird sie ihn schon nehmen. Gut, daß er ermordet worden sein wird! So wird er leichter transportabel sein. Der Held wird dein Leibeigener sein, doch in diesem einen Fall nach mir, erst werde ich seinen Leib haben, dann kriegst du ihn. Wenigstens einmal kommt die Tochter vor dir, Vater! Ich weiß, so hast du es dir nicht vorgestellt, aber immer gewinnst du auch nicht. Die Helden unterliegen dir, alles unterliegt dir, selbstverständlich auch dieser Held, keine Frage. Er wird das Gold nicht lang genug anschauen, um zu erkennen, daß ja auch das Gold, das Geld ein menschliches Produktionsverhältnis darstellt, er wird sich für dieses Verhältnis aber nicht interessieren, der Held, nur für sich selbst, wie du, Vater, aber du kannst dir das leisten, du hast dich selbst gemacht, der Held jedoch wurde gemacht, seinen Vater hast du umbringen lassen, obwohl er nie Konkurrenz für dich gewesen wäre, der doch nicht!, aber sicher ist sicher, da war der Held schon im Schoß, im Schoß einer Frau, kaum zu glauben, daß ein Held aus einer Frau kommen kann!, bei der kommt ja nie viel heraus, aber freu dich dieses neuen Streiters, Vater! Einem Brunnen hast du dich genähert, und dort war das goldene Seil deiner Nornen irgendwo eingehängt, die Normen sind auch irgendwo verzeichnet, wo wir sie nicht finden, und du hast dann an dem Seil gezogen, und du hast einen Eimer Wasser, nein, du hast einen Einen herausgezogen, mit dem Schicksalsseil, an dem andre arbeiten, auch Frauen, ihrem Brunnen näherst du dich, weil du dich immer Frauen nähern mußt, wo du welche siehst, schon näherst du dich, dein einziges Auge nähert sich der Quelle, dabei ist er ja selbst die Quelle, dieser Held, aber das sieht er nicht so gut mit dem einen Auge, der Vater, ja, du!, Vater! Entschuldigen Sie, er sieht nicht räumlich, es ist egal, denn alles, was er sieht, hat er ja gemacht, er weiß, was es ist, noch bevor er es gesehen hat, er horcht, was die Frauen, die am andren Ende des goldenen Seils hängen, ihm sagen werden, was sagen sie ihm? Bangen sehen sie die Götter, die durch Verrat herrschen, sogar zwei Riesen haben sie verraten, jeden würden sie verraten, es ist bloß keiner mehr da, ja, die Riesen, zuerst

warens noch zwei, zwei kleine Riesen, dann der Verrat, und dann wars nur noch einer, der sich zur Sicherheit auf den Schatz draufgelegt hat, damit er manchmal auch schlafen kann, kein Held der, ja, Unfreien erscheinen sie gewaltig, die Götter, ja, den Freien aber nicht. Irgendwie nicht. Und nur ein Gott wird wissen, und er wird es auch sagen, daß ein Mensch größer ist als er, und der muß kein Held sein, bitte, in diesem Fall ist es einer, aber er muß frei sein, also ich habe einen freien Menschen noch nie gesehen und einen freieren daher auch nicht, aber wenn er frei ist, ich sagte nicht Freier!, frei, wenn er frei ist, ist er mehr als Gott, dann ist er der einzige, der mehr ist als Gott, bitte, ich habe so einen noch nie gesehen und werde es auch nicht, aber er wird mehr sein als Gott, und er wird den Göttern trotzen, und wenn er für die Götter streitet, wird er es vollkommen freiwillig machen, zumindest wird er sich das einbilden, daß es freiwillig ist, bitte, er wird sich vielleicht für Naturdinge interessieren, schon damit hebt er sich heraus aus der Menge, außer den Natur- und Naturkosmetik-Anhängern, er wird das Waldvögelein vielleicht verstehen, er wird die Sprache der Tiere verstehen, er wird den Moderator der Fernsehsendung auch verstehen, meinen absoluten Helden, was schon keine so große Kunst mehr ist, meinetwegen, er wird alles verstehen, aber er wird die sonderbaren gesellschaftlichen Eigenschaften nicht ansehen, trotz seines hohen Ansehens wird er keine Eigenschaften einer Sache ansehen können, dieser Sache, diesen Eigenschaften, er wird es den gesellschaftlichen Eigenschaften und Eigenschaftswörtern nicht ansehen, und er wird auch keinen Satz daraus bilden können, weil er nicht wissen wird, wovon er überhaupt spricht, er wird nicht sagen können, daß sie alle, alle diese Eigenschaften und Eigenschaftswörter, viele von ihnen herrenlos, zu Geld geworden sind, er wird der einzige sein, den das Geld nicht interessiert, zu dem alles geworden sein wird, er wird eher spielerisch damit umgehen, es wird ihm nicht in die Hand gegeben sein, es zu vermehren, er wird es gar nicht erst in die Finger kriegen, damit es dort nicht hindurchrinnen kann.

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Mehr über die Autorin auf S. 20


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M

A

Joseph

X

Das Magazin der Bayerischen Staatsoper Münchner Opernfestspiele 2021 Spielzeit 2020 ­­­­– 2021 Der wendende Punkt Nº 4

Agenda S. 146 REPRISE

Die schönsten Cover aus 13 Spielzeiten S. 154

DIE SPIELZEIT 2020 / 21 Der wendende Punkt

S. 188

SPIELPLAN

S. 194

FESTSPIELPREIS

S. 198

ENGLISH EXCERPTS

S. 206

DER SCHWUNG DER FIGUR Von Luc Tuymans

S. 208

UND VORHANG! Max Joseph verabschiedet sich

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REPRISE Seit 13 Jahren reflektiert Max Joseph die Neuproduktionen und die thematischen Setzungen der jeweiligen Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper. In der letzten Ausgabe präsentieren wir die schönsten Cover – und Nikolaus Bachlers Gedanken zu den Spielzeitthemen.

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2008/09: LOVE IS A PRISON, LOVE IS A POSSIBILITY

2009/10: VERFLUCHTE KÖRPER – GERETTETE SEELEN

Premieren: Macbeth, Wozzeck, Palestrina, Lucrezia Borgia, Jenůfa, Aida, Lohengrin

Premieren: Don Giovanni, L’elisir d’amore, Die Tragödie des Teufels, Dialogues des Carmélites, Medea in Corinto, Tosca, Die schweigsame Frau

Ein Satz über das Theater. Aber in Werken wie Wozzeck, Macbeth, Aida, Jenůfa und Lucrezia Borgia manifestiert sich dieser Gedanke im Stoff: die Liebe als Gefängnis, die Liebe als Möglichkeit – als Ausweg. Die Werke scheinen diese zweite Möglichkeit nicht einzulösen. Immer steht der Tod am Ende. Vielleicht ist die einzige Flucht aus dem Gefängnis die in den Tod?

Ein Zitat aus Aribert Reimanns Lear trifft hier vieles: „Das größte Elend ist noch nicht da, solange man sagen kann: Dies ist das größte.“ Ein einziger Ausweg ist den auf verschiedene Weisen verfluchten Körpern gemeinsam: der der Musik.

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2010/11: UNFREI – FREI

2011/12

Premieren: Rusalka, Fidelio, L’Entfant et les sortilèges/Der Zwerg, I Capuleti e i Montecchi, Saint Francois d’Assise, Mitridate, rè di Ponto

Premieren: Les Contes d’Hoffmann, Turandot, Der Ring des Nibelungen Ein Ring ist ein Ring ist ein Ring ist ein Ring.

Mit Jean-Jacques Rousseaus Émile gesprochen: „Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt.“

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2012/13 : VOX POPULI

2013/14 : WIE MAN WIRD, WAS MAN IST

Premieren: Babylon, Rigoletto, Boris Godunow, Hänsel und Gretel, Simon Boccanegra, Il Trovatore, Written on Skin

Premieren: Die Frau ohne Schatten, La forza del destino, La clemenza di Tito, Die Soldaten, Guillaume Tell, L’Orfeo

Rigoletto oder Boris Godunow zeigen uns die Ambivalenz des Redens über „Volkes Stimme“. Die Stimmen der meisten sind nicht die Stimmen der besten. Oder in den Worten von Franz Josef Strauß: dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden.

Johann Wolfgang Goethes Urworte. Orphisch:

, Dämon Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist also bald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Das ist der Urbegriff von „Wie man wird, was man ist“.

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2014/15: BLICKE, KÜSSE, BISSE

2015/16: VERMESSEN

Premieren: Die Sache Makropulos, Manon Lescaut, Lucia di Lammermoor, Lulu, Pelléas et Mélisande, Arabella

Premieren: Mefistofele, Der feurige Engel, South Pole, Un ballo in maschera, Die Meistersinger von Nürnberg, La juive, Les Indes galantes

Der Kern ist Heinrich von Kleist, aus Penthesilea: „Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen.“ Zusammen mit den Blicken bilden diese verwechselbaren beiden ein Reservoir des Theaters. Emilia Marty, Manon, Lucia, Lulu, Elisande und Arabella lassen sich aus dem Reichtum dieser drei Begriffe erzählen.

Vermessen: einerseits sich überheben, andererseits etwas messen, quantitativ ausloten, es in seinen unterschiedlichen Richtungen bewerten. In einem Satz: Der Irrtum führt zum Ziel oder in den Untergang.

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2016/17: WAS FOLGT

2017/18: ZEIG MIR DEINE WUNDE

Premieren: La favorite, Lady Macbeth von Mzensk, Semiramide, Andrea Chénier, Tannhäuser, Die Gezeichneten, Oberon, König der Elfen

Premiere: Le nozze di Figaro, Il trittico, Les vêpres siciliennes, Aus einem Totenhaus, Parsifal, Orlando Paladino

Über Zhou Enlai, Premierminister und Weggefährte Mao Zedongs, wird folgende Geschichte kolportiert: Beim Besuch des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon im Jahr 1972 kam die Rede auf die französische Revolution, und Zhou Enlai wurde gefragt, wie er ihre Folgen bewerte. Er antwortete: „Too early to say.“ So haben wir „Was folgt“ gedacht: Was aus dem Tannhäuser folgt, was aus dem real existierenden Sozialismus gefolgt sein wird und was aus unserem gnadenlosen Kapitalismus folgen wird, ist too early to say. Wir rekapitulieren in der Kunst immer wieder, wir reflektieren, aber wir resümieren nicht.

Das Öffnen, Zeigen, Bekennen der Schwäche, wie wir es an ein Werk von Joseph Beuys angelehnt haben, führt in die Psychoanalyse, zu Vorstellungen des Schocks und der Konfrontation. Wir finden dort die Lust an der Wunde, die Kreativität der Wunde, aus der etwas Neues entsteht. Es gibt Theorien, die sagen, nur der Schmerz ist schöpferisch. Ohne Neurose gibt es keine Kreativität. Eine Therapeutin hat mir einmal gesagt: „Denken Sie mal darüber nach, wie sehr Sie sich in Ihrer Wunde wohlfühlen, wie gut Sie sich da auskennen, wie es Ihnen da warm ist und wie gefährlich es ist, diese Wunde zu verlassen. Damit geben Sie etwas ab in völlig unbekanntes Terrain.“ Zeig mir deine Wunde heißt: Sei wahrhaftig! Steh zu dir! Sei offen! Verschleiere nichts, verdränge nichts! Man könnte das Thema mit der Doppelgleisigkeit zusammenfassen: Ich öffne mich mit dem, was mich schmerzt. Aber ich will an meinem Schmerz auch festhalten.

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2018/19: ALLES WAS RECHT IST

2019/20: KILL YOUR DARLINGS

Premieren: Otello, Die verkaufte Braut, Karl V., La fanciulla del West, Alceste, Salome, Agrippina

Premieren: Die tote Stadt, The Snow Queen, Konzert für Orchester / Herzog Blaubarts Burg, I masnadieri

Heißt Recht zugleich Gerechtigkeit? Das ist das Kernthema. Recht entsteht durch Macht. In allen Stücken geht es auch um Machtfragen, auf die Spitze getrieben in Salome. Der zweite Aspekt ist die Überschreitung von Tabus: Alles was recht ist! Als Ausruf, jetzt reicht es aber! Dem Recht der Macht kann man eigentlich nur widersprechen oder widerstreben, indem man die Gesetze nicht anerkennt. Auch sich das Recht zu nehmen. In Friedrich Schillers Wilhelm Tell heißt es: „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last – greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel, und holt herunter seine ew’gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“ Ein Aufruf zur Revolution. Recht als Macht, Recht als Überschreitung, und sich das Recht nehmen.

Enden, wenn es am Schönsten ist. Sich von dem Gewohnten, alten Lasten freimachen, um weiterzukommen. Die tote Stadt gibt uns dieses Thema, das zugleich das Motto unseres Berufes sein sollte, wo es so viel Repetition gibt: Geh raus aus dem, was dir vertraut ist, such Neues. Vielleicht auch, um irgendwann wieder zu Altem zurückzukommen. Dass in dieser Spielzeit ein Virus manche geliebten Projekte verunmöglichen sollte, konnten wir nicht ahnen, es gibt dem Thema eine bittere Schlagseite. „Kill your darlings“ führt auch zur Erkenntnis dessen, was wirklich wichtig ist.

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2020/21: DER WENDENDE PUNKT Premieren: 7 Deaths of Maria Callas, Die Vögel, Falstaff, Der Freischütz, Der Rosenkavalier, Lear, Tristan und Isolde, Idomeneo Die Flüchtigkeit, das Transitorische, die Gegenwart. Rilke hat das genial formuliert: „Jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.“ Darin ist alles enthalten, was das Leben ausmacht, was das Theater ausmacht, was eine Aufführung ausmacht, was eine Arbeitszeit ausmacht wie die, die wir hier hatten und jetzt beenden. Es ist immer die Wendung. Oder umgekehrt, wieder mit Rilke: „Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte.“

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Die Spielzeit 2020–2021 DER WENDENDE PUNKT

Fotos Serghei Gherciu, Wilfried Hösl, Katja Lotter 154


7 DEATHS OF MARIA CALLAS Adela Zaharia (Lucia Ashton)


7 DEATHS OF MARIA CALLAS Marina Abramović


MONTAGSSTÜCK XV: DER GESTIRNTE HIMMEL Lise Davidsen


PARADIGMA – BEDROOM FOLK Ensemble


PARADIGMA – BROKEN FALL Jinhao Zhang, Jeanette Kakareka


SCHWANENSEE Emilio Pavan


DIE VÖGEL Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper


FALSTAFF Callum Thorpe (Pistola), Wolfgang Koch (Falstaff), Timothy Oliver (Bardolfo)


FALSTAFF Wolfgang Koch (Falstaff), Elena Tsallagova (Nannetta)


MONTAGSSTÜCK V: LA BOHÈME Jonas Kaufmann (Rodolfo)


MONTAGSSTÜCK XVI: CECIL HOTEL Jinhao Zhang, Carollina Bastos


MONTAGSSTÜCK II: BALLO BAROCCO Martin Snell, Caspar Singh


MONTAGSSTÜCK XVIII: IL SIGNOR BRUSCHINO Emily Pogorelc (Sofia), Misha Kiria (Gaudenzio), Josh Lovell (Florville)


MONTAGSSTÜCK IV: COME TI PIACE Theodore Platt, Juliana Zara


MONTAGSSTÜCK XI: SEHNLICHES VERLANGEN Camilla Nylund, Zubin Mehta, Bayerisches Staatsorchester


DER FREISCHÜTZ Golda Schultz (Agathe), Anna Prohaska (Ännchen)


DER FREISCHÜTZ Boris Prýgl (Ottokar), Pavel Černoch (Max), Golda Schultz (Agathe), Kyle Ketelsen (Kaspar / Samiel), Chor der Bayerischen Staatsoper


MONTAGSSTÜCK IX: EIGHT SONGS FOR A MAD KING Claudia Küster, Holger Falk


MONTAGSSTÜCK XVII: DAS LIED VON DER ERDE Gerold Huber, Klaus Florian Vogt


MONTAGSSTÜCK XIII: TAGEBUCH EINES VERSCHOLLENEN Pavol Breslik


MONTAGSSTÜCK XII: JUNIOR BALLETT MÜNCHEN Jacopo Iadimarco, Phoebe Schembri, Camillo Lussana


DER ROSENKAVALIER Samantha Hankey (Octavian), Marlis Petersen (Die Feldmarschallin)


DER ROSENKAVALIER Samantha Hankey (Octavian), Katharina Konradi (Sophie), Ingmar Thilo (Amor)


MONTAGSSTÜCK III: ZUEIGNUNG Diana Damrau, Asher Fisch, Bayerisches Staatsorchester


MONTAGSSTÜCK I: JEDERMANN Michael Nagy


DER SCHNEESTURM Ensemble


DER SCHNEESTURM Ensemble


MONTAGSSTÜCK X: SCHÖN IST DIE WELT Eliza Boom (Herzogin Maria Branckenhorst), Julia Kleiter (Elisabeth Prinzessin von und zu Lichtenberg)


MONTAGSSTÜCK XIX: IL SEGRETO DI SUSANNA Heiko Pinkowski (Sante), Selene Zanetti (Susanna)


MONTAGSSTÜCK XIV: DIE GESCHICHTE VOM SOLDATEN Dagmar Manzel, Carollina Bastos, Nicholas Losada, Vladimir Jurowski, Bayerisches Staatsorchester


LEAR Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia), Edwin Crossley-Mercer (König von Frankreich), Christian Gerhaher (König Lear), Ausrine Stundyte (Regan), Jamez McCorkle (Herzog von Cornwall), Ivan Ludlow (Herzog von Albany), Angela Denoke (Goneril)


LEAR Christian Gerhaher (Lear)


DIE WALKÜRE Asher Fisch, Georg Zeppenfeld (Hunding), Lise Davidsen (Sieglinde), Jonas Kaufmann (Siegmund)


SPIELPLAN 24.06.2021 - 31.07.2021 Münchner Opernfestspiele 2021

Karten Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München T 089 – 21 85 19 20 tickets@staatsoper.de www.staatsoper.de Sofern nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt. 188

Aufgrund der aktuellen Situation kann es immer wieder zu Abweichungen im Spielplan kommen. Unter www.staatsoper.de halten wir Sie über mögliche Änderungen auf dem Laufenden. Stand Spielplan: 1. Juni 2021 Hinweise zu Ihrem Besuch finden Sie unter www.staatsoper.de/besuch


OPER

Richard Wagner DER FLIEGENDE HOLLÄNDER Musikalische Leitung Asher Fisch Inszenierung Peter Konwitschny

Richard Wagner TRISTAN UND ISOLDE Musikalische Leitung Kirill Petrenko Regie Krzysztof Warlikowski Jonas Kaufmann, Mika Kares, Anja Harteros, Wolfgang Koch, Sean Michael Plumb, Okka von der Damerau, Dean Power, Christian Rieger, Manuel Günther Di So Do Di Sa

29.06.21 04.07.21 08.07.21 13.07.21 31.07.21

17.00 17.00 17.00 17.00 17.00

Uhr Premiere Uhr Uhr Uhr Uhr*

* Oper für alle - audiovisuelle Live-Übertragung auf den Max-Joseph-Platz

Ain Anger, Anja Kampe, Tomislav Mužek, Tanja Ariane Baumgartner, Manuel Günther, Bryn Terfel Mi 07.07.21 19.30 Uhr

Richard Wagner TANNHÄUSER Musikalische Leitung Hartmut Haenchen Inszenierung Romeo Castellucci Georg Zeppenfeld, Klaus Florian Vogt, Christian Gerhaher, Dean Power, Andreas Bauer Kanabas, Ulrich Reß, Martin Snell, Lise Davidsen, Daniela Sindram, Sarah Gilford, Solisten des Tölzer Knabenchors So 11.07.21 17.00 Uhr

Richard Wagner DAS RHEINGOLD Musikalische Leitung Valery Gergiev Inszenierung Andreas Kriegenburg John Lundgren, Milan Siljanov, Matthew Newlin, Benjamin Bruns, Johannes Martin Kränzle, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Christof Fischesser, Ain Anger, Daniela Sindram, Mirjam Mesak, Judit Kutasi, Eliza Boom, Samantha Hankey, Nadine Weissmann Mi 30.06.21 19.00 Uhr Sa 03.07.21 19.00 Uhr sponsored by

Mit freundlicher Unterstützung der Mit freundlicher Unterstützung

Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele e.V.

Wolfgang Amadeus Mozart LE NOZZE DI FIGARO Musikalische Leitung Ivor Bolton Inszenierung Christof Loy Ludovic Tézier, Golda Schultz, Aida Garifullina, Alex Esposito, Emily Pogorelc, Anne Sofie von Otter, Peter Rose, Manuel Günther, Dean Power, Sarah Gilford, Milan Siljanov, Juliana Zara, Daria Proszek, Axel Bahro, Thomas Schwendemann Mi 14.07.21 19.00 Uhr Fr 16.07.21 19.00 Uhr

Carl Maria von Weber DER FREISCHÜTZ

sponsored by

Musikalische Leitung Antonello Manacorda Inszenierung Dmitri Tcherniakov Boris Prýgl, Bálint Szabó, Golda Schultz, Anna Prohaska, Kyle Ketelsen, Pavel Černoch, Tareq Nazmi, Milan Siljanov, Sarah Gilford, Eliza Boom, Daria Proszek, Yajie Zhang Fr 02.07.21 19.00 Uhr Mo 05.07.21 19.00 Uhr

Antonín Dvořák RUSALKA Musikalische Leitung Robert Jindra Inszenierung Martin Kušej Dmytro Popov, Evgenia Muraveva, Kristine Opolais, Günther Groissböck, Helena Zubanovich, Ulrich Reß, Yajie Zhang, Mirjam Mesak, Daria Proszek, Alyona Abramowa, Boris Prýgl So 18.07.21 18.00 Uhr Di 20.07.21 19.00 Uhr

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Wolfgang Amadeus Mozart IDOMENEO

Richard Strauss SALOME

Musikalische Leitung Constantinos Carydis Inszenierung Antú Romero Nunes

Musikalische Leitung Kirill Petrenko Inszenierung Krzysztof Warlikowski

Matthew Polenzani, Emily D'Angelo, Olga Kulchynska, Hanna-Elisabeth Müller, Martin Mitterrutzner, Caspar Singh, Callum Thorpe

Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Michaela Schuster, Marlis Petersen, Iain Paterson, Pavol Breslik, Rachael Wilson, Kevin Conners, Michael Porter, Dean Power, Galeano Salas, Peter Lobert, Milan Siljanov, Ulrich Reß, Martin Snell, Bálint Szabó, Theodore Platt, Eliza Boom, Peter Jolesch

Mo 19.07.21 18.00 Uhr Prinzregententheater Premiere Do 22.07.21 18.00 Uhr Prinzregententheater Sa 24.07.21 18.00 Uhr Prinzregententheater Auch als Live-Stream auf www.staatsoper.tv Mo 26.07.21 18.00 Uhr Prinzregententheater

So 25.07.21 19.00 Uhr Mi 28.07.21 20.00 Uhr gefördert durch

Mit freundlicher Unterstützung der

Walter Braunfels DIE VÖGEL Musikalische Leitung Ingo Metzmacher Inszenierung Frank Castorf Wolfgang Koch, Günter Papendell, Caroline Wettergreen, Emily Pogorelc, Yajie Zhang, Eliza Boom, Bálint Szabó, Theodore Platt, George Vîrban, Charles Workman, Michael Nagy

Giuseppe Verdi MACBETH Musikalische Leitung Pinchas Steinberg Inszenierung Martin Kušej Simon Keenlyside, Eliza Boom, Pavol Christian Rieger, Solist des Tölzer

Roberto Tagliavini, Ekaterina Semenchuk, Breslik, Dean Power, Martin Snell, Andrew Hamilton, Sarah Gilford, Knabenchors

Mo 19.07.21 19.00 Uhr

Mo 26.07.21 19.00 Uhr Do 29.07.21 19.00 Uhr

Giuseppe Verdi OTELLO

Marina Abramović 7 DEATHS OF MARIA CALLAS

Musikalische Leitung Asher Fisch Inszenierung Amélie Niermeyer

Musikalische Leitung Yoel Gamzou Inszenierung Marina Abramović

Arsen Soghomonyan, Gerald Finley, Oleksiy Palchykov, Thomas Atkins, Bálint Szabó, Milan Siljanov, Andrew Hamilton, Anja Harteros, Katarina Bradić

Marina Abramović, Willem Dafoe, Emily Pogorelc, Selene Zanetti, Leah Hawkins, Kiandra Howarth, Samantha Hankey, Adela Zaharia, Lauren Fagan

Mi 21.07.21 19.00 Uhr Sa 24.07.21 19.00 Uhr

Di 27.07.21 19.00 Uhr

sponsored by

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gefördert von Bernhard und Julia Frohwitter


BALLETT

KONZERT gefördert durch

HEUTE IST MORGEN GENERATION GOLDFISH Choreographie Charlotte Edmonds TAG ZWEI Choreographie Özkan Ayik OTHELLO Choreographie Emil Faski Do Fr Sa So

24.06.21 25.06.21 26.06.21 27.06.21

19.30 19.30 19.30 19.30

Uhr Uhr Uhr Uhr

Prinzregententheater Uraufführungen Prinzregententheater Prinzregententheater Prinzregententheater

Julia Frohwitter Botschafterin des Bayerischen Staatsorchesters

1. FESTSPIEL-KAMMERKONZERT: APPALACHIAN SPRING César Franck / Aaron Copland / Scott Joplin Klavier Myron Romanul So 27.06.21 20.00 Uhr Cuvilliés-Theater

2. FESTSPIEL-KAMMERKONZERT: HOMMAGE À DARIUS MILHAUD Darius Milhaud PARADIGMA BROKEN FALL Choreographie Russell Maliphant Musik Barry Adamson

Klarinette Jürgen Key Violine Susanne Gargerle, Rita Kunert Viola Tilo Widenmeyer Violoncello Darima Tcyrempilova Klavier Jean-Pierre Collot

BEDROOM FOLK Choreographie Sharon Eyal Musik Ori Lichtik

Fr 02.07.21 20.00 Uhr Cuvilliés-Theater

WITH A CHANCE OF RAIN Choreographie Liam Scarlett Musik Sergej W. Rachmaninow

FESTSPIEL-BAROCKKONZERT: VIOLIN DUOS

Do 01.07.21 19.30 Uhr Di 06.07.21 19.30 Uhr Fr 09.07.21 19.30 Uhr

Mo 05.07.21 20.00 Uhr Alte Pinakothek

supported by

3. FESTSPIEL-KAMMERKONZERT: ZWEIMAL ACHT

Violine Barbara Burgdorf, Corinna Desch

Felix Mendelssohn Bartholdy / George Enescu Violine Markus Wolf, So-Young Kim, Michael Arlt, Matjaž Bogataj Viola Adrian Mustea, Clemens Gordon Violoncello Emanuel Graf, Benedikt Don Strohmeier Mi 07.07.21 20.00 Uhr Cuvilliés-Theater

4. FESTSPIEL-KAMMERKONZERT: RECITAL JAKOB SPAHN Ludwig van Beethoven / Johannes Brahms Violoncello Jakob Spahn Klavier Jonathan Aner Do 15.07.21 20.00 Uhr Cuvilliés-Theater

FESTSPIEL-NACHTKONZERT: OPERCUSSION So 18.07.21 20.00 Uhr Prinzregententheater

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5. FESTSPIEL-KAMMERKONZERT: KLARINETTE TRIFFT STREICHER

LIED

Wolfgang Amadeus Mozart / Paul Hindemith / Johannes Brahms MATTHEW POLENZANI & JULIUS DRAKE Klarinette Andreas Schablas Amanda-Quartett Violine Johanna Beisinghoff, Julia Pfister Viola Monika Hettinger Violoncello Anja Fabricius

Sa 03.07.21 20.00 Uhr Prinzregententheater

FESTSPIEL-ARIENABEND DES OPERNSTUDIOS Mi 21.07.21 20.00 Uhr Cuvilliés-Theater Fr 09.07.21 20.00 Uhr Cuvilliés-Theater

GEDENKKONZERT HERMANN LEVI LUDOVIC TÉZIER & HELMUT DEUTSCH Richard Wagner / Johannes Brahms / Wolfgang Amadeus Mozart / Felix Mendelssohn Bartholdy

Di 20.07.21 20.00 Uhr Prinzregententheater

Musikalische Leitung Kirill Petrenko Bayerisches Staatsorchester Orchesterakademie des Bayerischen Staatsorchesters

SONYA YONCHEVA & MALCOLM MARTINEAU

Fr 23.07.21 19.00 Uhr Prinzregententheater

Mi 21.07.21 20.00 Uhr Prinzregententheater

Hauptsponsor der Orchesterakademie ERWIN SCHROTT IN CONCERT So 25.07.21 20.00 Uhr Prinzregententheater

FESTSPIEL-KAMMERKONZERT ATTACCA CHRISTIAN GERHAHER & GEROLD HUBER Wolfgang Amadeus Mozart / Nils Rohwer / Gustav Mahler / Josef Rheinberger

Di 27.07.21 20.00 Uhr Prinzregententheater

ATTACCA - Jugendorchester des Bayerischen Staatsorchesters Musikalische Leitung Allan Bergius Mo 26.07.21 20.00 Uhr Cuvilliés-Theater

EXTRA FESTSPIEL-GOTTESDIENST Zelebrant Kardinal Reinhard Marx Mitglieder des Bayerischen Staatsorchesters und des Chores der Bayerischen Staatsoper So 27.06.21 10.00 Uhr St. Michael Eintritt frei, keine Eintrittskarte erforderlich In Zusammenarbeit mit der Erzdiözese München und Freising

PREMIERENMATINEE ZU IDOMENEO So 11.07.21 11.00 Uhr Prinzregententheater

OPERNDIALOG TRISTAN UND ISOLDE So 04.07.21 10.00 Uhr Capriccio-Saal Mo 05.07.21 15.00 Uhr Capriccio-Saal

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IDOMENEO Sa 24.07.21 10.00 Uhr Capriccio-Saal So 25.07.21 10.00 Uhr Capriccio-Saal


WENDENDE PUNKTE SPHINX OPERA Bayerische Staatsoper 2008–2021

OPER FÜR ALLE Oper für alle Die Bayerische Staatsoper und BMW laden ein.

Eine Ausstellung von Alexander Kluge ab 24. Juni 2021 Nationaltheater Infos unter www.staatsoper.de/wendendepunkte FESTSPIEL-KONZERT FESTSPIEL-SONDERKONZERT: FEUER - NEXT GENERATION Musikalische Leitung Jordan de Souza Elsa Benoit, Angela Brower, Tara Erraught, Hanna-Elisabeth Müller, Golda Schultz, Selene Zanetti, Freddie De Tommaso, Tareq Nazmi, Long Long, Boris Prýgl, Galeano Salas, Milan Siljanov

Giuseppe Verdi AIDA Konzertante Aufführung Musikalische Leitung Zubin Mehta Anita Rachvelishvili, Krassimira Stoyanova, Fabio Sartori, Dmitry Belosselskiy, Amartuvshin Enkhbat, Callum Thorpe, James Ley, Eliza Boom

Fr 23.07.21 20.00 Uhr Bayerisches Staatsorchester Chor der Bayerischen Staatsoper FESTSPIEL-SONDERKONZERT: DER WENDENDE PUNKT Ein letzter Abend über Ende und Anfang

Sa 17.07.21 19.30 Uhr Eintritt frei

Nikolaus Bachler, Ivor Bolton, Pavol Breslik, Constantinos Carydis, Asher Fisch, Christian Gerhaher, Anja Harteros, Ermonela Jaho, Anja Kampe, Jonas Kaufmann, Wolfgang Koch, Kent Nagano, Anna Netrebko, Anne Sofie von Otter, Marlis Petersen, Kirill Petrenko, Anne Schwanewilms, Nina Stemme, Bryn Terfel, Georg Zeppenfeld

Richard Wagner TRISTAN UND ISOLDE Musikalische Leitung Kirill Petrenko Inszenierung Krzysztof Warlikowski

Fr 30.07.21 19.00 Uhr Details zur Vorstellung siehe S. 189 Audiovisuelle Live-Übertragung aus dem Nationaltheater Sa 31.07.21 17.00 Uhr Eintritt frei

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FESTSPIELPREISE 2019 / FÖRDERUNGEN 2020 Die Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele ehrte Elsa Benoit, Golda Schultz, Caspar Singh und das CampusTeam. Außerdem gingen im Pandemiejahr 60.000 Euro an freischaffende Künstlerinnen und Künstler.

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Oben: Elsa Benoit als Poppea in der Festspielpremiere von Agrippina; unten: Caspar Singh in der Alten Pinakothek.

Oben: Golda Schultz bei Oper für alle 2019 unter der Leitung von Kirill Petrenko; unten: das Campus-Team mit NOAH.

Die Festspielpreise 2019 wurden von der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele im Herbst desselben Jahres im Königssaal des Nationaltheaters verliehen. Vor über 60 Jahren wurde die Gesellschaft gegründet. Mit dem Ziel, die Attraktivität der Münchner Opernfestspiele durch finanzielle Unterstützung zu fördern und zu erhalten, macht sie sich seitdem in vielfacher Weise verdient. Einmal jährlich vergibt sie in feierlicher Atmosphäre die Festspielpreise und zeichnet Menschen aus, welche die Münchner Opernfestspiele zu dem machen, was sie sind: das international traditionsreichste Festival seiner Art. Seit über 140 Jahren kommen Opernfreunde aus aller Welt zur Festspielzeit nach München und genießen die Vielzahl der Opernvorstellungen, Ballette, Liederabende und Konzerte an der Bayerischen Staatsoper. Doch der Blick reicht nicht nur zurück, er richtet sich auch nach vorn. So legt die Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele seit jeher

großen Wert auf die Pflege des Nachwuchses, sie will bewusst in die Zukunft investieren. Ebenso bedeutsam ist für sie die Anerkennung von Leistungen hinter der Bühne. Diese werden erbracht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Oper, ohne die der reibungslose Ablauf der Festspiele nicht gewährleistet wäre. 2020 war auch vor diesem Hintergrund ein besonderes Jahr: Durch die Absage der Opernfestspiele wurden auch keine Preise vergeben. Trotzdem war es den Mitgliedern der Gesellschaft ein Anliegen, freischaffende Künstlerinnen und Künstler, die mit der Staatsoper eng verbunden sind, finanziell zu unterstützen. So gingen insgesamt mehr als 60.000 Euro an: Matthew Grills, Namwon Huh, Paula Iancic, Tim Kuypers, Kristofer Lundin, Anaïs Mejías, Joshua Owen Mills, Petr Nekoranec, Laura Nicorescu, Anna Rajah, Sergiu Saplacan, Evgeniya Sotnikova, Joshua Stewart, Laura Tatulescu und Anna Virovlansky.

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Oben: Elsa Benoit in Barrie Koskys Inszenierung von Agrippina; unten: Oper für alle 2019 mit Kirill Petrenko, Golda Schultz und Thomas Hampson.

Oben: Verleihung der Festspielpreise 2019 mit Dieter Rampl, Ursula Gessat, Nikola Ziegler, Julia Kessler-Knopp, Elsa Benoit, Friedgard Halter; unten: Selbstermächtigung in der Alten Pinakothek mit Caspar Singh und Natalia Kutateladze.

Aufnahmeantrag Ich / wir möchte(n) der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele e.V. beitreten als:

Name

Straße und Hausnummer   Einzelmitglied (300 €)   Fördermitglied (1.500 €)

Firmenmitglied (1.200 €)   Förderndes Firmenmitglied (3.000 €) Postleitzahl und Stadt

Den ersten Beitrag werde(n) ich/wir nach der Mitteilung über die Aufnahme auf eines Ihrer Konten zahlen.

Telefon-Nummer

Fax-Nummer

Bitte füllen Sie diesen Aufnahmeantrag aus und schicken diesen in einem Briefumschlag an folgende Adresse:

E-Mail

Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele e.V. Maffeistraße 14, 80333 München

Datum

Unterschrift


2019 WURDEN GEEHRT: ELSA BENOIT Elsa Benoit schloss 2011 ihre Gesangsausbildung am Konservatorium von Amsterdam ab. Von 2013 bis 2015 war sie Mitglied des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper. In der Spielzeit 2015/16 war sie Ensemblemitglied am Stadttheater Klagenfurt, wo sie u. a. als Tytania (A Midsummer Night’s Dream), Giulietta (I Capuleti e i Montecchi) und Micaëla (Carmen) auftrat. Seit der Spielzeit 2016/17 ist sie Ensem­ blemitglied an der Bayerischen Staatsoper, wo sie zahlreiche Partien sang, zum Beispiel Oscar in Un ballo in maschera, Adina in L’elisir d’amore oder Frasquita in Carmen. In der Festspielpremiere Agrippina war Elsa Benoit als Poppea zu erleben und begeisterte das Publikum und die Kritik „mit äußerster Brillanz. Sie zwitschert, schmachtet und lockt, sie tanzt, schlägt Kapriolen“ (Süddeutsche Zeitung). In der Vorfreude auf weitere schöne Aufführungen freut sich die Gesellschaft zur Förderung der Opernfestspiele München, Elsa Benoit einen Festspielpreis 2019 zu überreichen. GOLDA SCHULTZ Golda Schultz studierte Gesang an der Universität Kapstadt und an der renommierten Juilliard School in New York. Ihr Repertoire umfasst Partien wie Donna Elvira in Don Giovanni, Pamina in Die Zauberflöte, Sophie in Der Rosenkavalier, Gräfin Almaviva in Le nozze di Figaro, Musetta in La bohème, Freia in Das Rheingold oder Fiordiligi in Così fan tutte. Von 2011 bis 2013 war sie Mitglied im Opernstudio der Bayerischen Staatsoper, von 2014 bis 2018 Ensemblemitglied und startete aus München ihre internationale Karriere, die sie nach Mailand, Wien, New York sowie zu den Festspielen in Salzburg und Glyndebourne führte. Im Juli 2019 verzauberte Golda Schultz mehr als 100.000 Menschen beim Oper-für-alle-Konzert und -Live-Stream unter der Leitung von Kirill Petrenko mit Jazz- und Musicalklassikern von Leonard Bernstein oder George Gershwin. Die Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele freut sich, Golda Schultz einen Festspielpreis 2019 zu überreichen.

studios der Bayerischen Staatsoper, mit Beginn der Spielzeit 2020/21 wechselte er ins Ensemble, wo er unter anderem in Fidelio, The Snow Queen und Mavra / Iolanta sang. Einen ungewöhnlichen Auftritt absolvierte Caspar Singh bei den Opernfestspielen 2019: Bei Selbstermächtigung gestaltete er eine musikalische Begehung der Ausstellung Utrecht, Caravaggio und Europa in der Alten Pinakothek. TEAM DES KINDER- UND JUGENDPROGRAMMS CAMPUS Seit mehr als einem Jahrzehnt ist es die Mission des Campus-Teams der Bayerischen Staatsoper, Ursula Gessat, Julia Kessler-Knopp und Nikola Ziegler, Angebote für Kinder und Jugendliche zu erfinden und durchzuführen – vom Sitzkissenkonzert für die ganz Kleinen über Kindereinführungen für Opernneulinge und das Patenschaftsprojekt für junge Menschen bis hin zu eigens konzipierten Opernprojekten, die mit und für Kinder entwickelt werden. Eine ganz besondere Trilogie wurde in der Spielzeit 2015/16 initiiert: Mit NOAH erarbeitete die Campus-Abteilung gemeinsam mit jungen Geflüchteten sowie Münchner Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ein Musiktheaterstück ausgehend vom Mythos der Arche, das im Mai 2016 Premiere feierte. Anderthalb Jahre später folgt mit MOSES das Nachfolgeprojekt. 2019 wurde die Trilogie mit EVA UND ADAM beendet. Die New York Times zeigte sich begeistert von dem Projekt und nannte NOAH „eine wohltuende und doch erschütternde neue Produktion“. Für die Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele ist es eine Ehre und Freude, die Mitarbeiterinnen des Campus-Teams für ihre außerordentliche Leistung mit einem Festspielpreis 2019 auszuzeichnen.

CASPAR SINGH Caspar Singh, geboren in Großbritannien, erhielt seine Gesangsausbildung an der Guildhall School of Music and Drama. 2017 war er Finalist beim Lieder-Preis des FranzSchubert-Instituts und wurde ein Jahr später Teil des Alvarez Young Artists‘ Programme der Garsington Opera. Gastauftritte führten ihn u. a. in die Milton Court Concert Hall sowie die Barbican Hall in London. Zu seinem Repertoire gehören Partien wie Ferrando in Così fan tutte oder Tamino in Die Zauberflöte. Ab der Spielzeit 2018/19 war er Mitglied des Opern-

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ENGLISH EXCERPTS

Übersetzung Staci von Boeckmann 198


Page 28–33

ORPHEUS VARIATIONS When we look back, it is not the past we see – but its disappearance. Such was the fate of Orpheus and his beloved Eurydice in Ovid’s celebrated Metamorphoses. Looking back, turning around, is the gesture of stasis par excellence. At crucial turning points, then, there is only one thing that helps: a courageous gaze towards the future. Text by Cécile Wajsbrot

Orpheus knows he is permitted to ascend from the underworld with Eurydice only on the condition that he does not turn to look at her, but ... “The two of them then climbed the ascending path through the still silence, a steep, dark way, enveloped in thick fog. As they drew near the surface of the earth, Orpheus feared his wife Eurydice could not keep up and longed to look at her. Because he loved her, he glanced behind him. She instantly fell back. Poor Orpheus stretched out both his arms, trying to hold her and be held. He caught nothing but thin air.” The ascent in the Metamorphoses has two phases: The way up through silence and darkness, followed by the turn. It is as if the landscape of the underworld demands stasis in defiance of the steep ascending path, as if proximity to the earth, to its surface, somehow stimulated movement. For although Ovid declares that Orpheus, “longed to look at [Eurydice],” glancing behind himself “because he loved her,” there is more at work here than love, than sheer impatience alone. It is as if the landscape of the underworld absorbs Eurydice into its stasis, as if the suspended – earthly – time of movement could do nothing to help. Do not turn around, do not look back. In Jean Cocteau’s 1950 film adaptation of the myth, Orpheus sees Eurydice in a rearview mirror. By mistake. Back in space, back in time. Turn back and everything is as it was. Yet, it is also, or above all, so that life cannot abide stasis. The approach to the earth’s surface where human life unfolds requires a gesture, a gaze that pulls us out of stasis, out of the order of things, only to return to it in the end. Like Orpheus, Aeneas, too, emerges alone from the underworld and is permitted to continue living only because he does not attempt to bring Anchises or Dido back with him. Orpheus, however, remains attached to an extent to the stagnation of the underworld, a consequence of having turned back. Yet Orpheus is “horrified,” says Ovid, “transformed by grief,” “his body turned to stone,” and so he remains sitting on the shore for seven full days, longing to cross the threshold again. Alas, in vain. Though his life appears to go on, his is but a living death, frozen in that precipitous moment when everything turns – into silence and darkness. (…) But what if Orpheus, in turning around, created possibility, introduced an element of surprise into a story that had already been finished? What if the long ascent to the surface

represents the conventional idea of a continuous, linear timeline that would be broken by the gesture of the turn? As a prisoner of his time – of his epoch, as well as of his conception of time – Orpheus does not understand this, which is why the gesture he set in motion is doomed to fail. Orpheus did not embrace the surprise, the possibility that his gesture – paradoxically – opened up. He could not transpose it into the future, instead preferring to remain in a pain from which only death could deliver him. He wanted everything to return to the way it had been, but nothing will ever be the way it was, and so Eurydice must disappear. Orpheus’ crime – the guilt of Eurydice’s second death – was to refuse change, to hold on to the past in order to sustain a particular timeline. Why should we not conceive of time as a sequence, a succession of moments – Virginia Woolf, in her novel The Waves, describes the moment as a perfect sphere, existing in itself – a sphere that always and at all times opens to possibility? That, at least, is the lesson Franz Rosenzweig and Gershom Scholem draw from the catastrophes in the history of the 20th century: every­ thing can always and at all times be interrupted, things can take an unknown course. Instead of retreating into uncertainty and despair at the thought, however, both turn to possibility, to openness. Embracing what comes, believing in the unexpected – Is that not perhaps the essence of life?

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Page 34–40

IN THE LABYRINTH OF WE – THE WARLIKOWSKI PRINCIPLE The artistic accomplishments of Krzysztof Warlikowski unite work and life, rehearsing, performing, guest appearances and touring to form a single, nomadic œuvre at home in many places. A journey through the work of an inimitable director. Text by Miron Hakenbeck

It could all have turned out differently. In the music-filled piano lounge of a venerable hotel in the heart of a European capital, a director meets the general manager of the opera house of another city, which in its own way is also a capital. After a while, their candid conversation turns into a monologue, with the general manager in the role of listener. The director is severely critical of the German theater system, in his eyes a machine trimmed for efficiency that would stifle any spark of artistic energy. Altogether, he has always felt uncomfortable in the country of super students and solitary existence. Not to mention that it would be virtually impossible for him not to think of the war at every step there. The general manager, possessing both a professional and innate interest in artists and their view of the world, contemplates: Should he offer counter arguments to this diatribe? What was it that wished to be heard behind the polemical exaggerations? Was the director trying to tell him that he really preferred not to be engaged by the opera house under whose commission he was sitting across from him right now? Skilled though he was in courting artists, this time he has no desire to do so. Acting more on gut feeling than calculation, the general manager stands up and declares curtly, “Then we might as well drop it!” picks up his coat and leaves the bar. While the details of this episode may have unfolded differently, its general veracity has been confirmed. In view of this misbegotten encounter, which can be dated to Nikolaus Bachler’s early years as general manager of Munich’s opera house, one might call it a miracle that his tenure is ending after 13 years with a Warlikowski production of Tristan und Isolde and that Krzysztof Warlikowski and his team have been engaged by the Bayerische Staatsoper regularly since 2013. Over the years, Munich, along with Paris and Brussels, has even become one of the central cites for Warlikowski’s exploration of the cosmos of opera. (…) Perhaps the most radical text on love Warlikowski has brought to the stage so far is Sarah Kane’s Purged (Wrocław 2003). For the characters in this piece, absolute love consists not in dying together but in the readiness to die for each other. What, on the other hand, could be said of a love that from the start seeks its fulfillment in death and not in life? Just as they believe themselves to be closest to death, Tristan and Isolde experience life with unimaginable intensity. This paradoxical

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moment of exigency becomes the motivating force of their secretive relationship. In their quest to transcend the boundaries imposed on them by their everyday lives, their social obligations, their bodies, indeed by time and space, they toy repeatedly with the idea of dying together. Time and again, Richard Wagner’s music tantalizingly pushes this crossing of boundaries. Beyond the metaphysics of love and mythical potions, Warlikowski searches for concrete biographical factors that might make two people believe their death together is preordained. What wounds, what disappointments, what inadequacies have they experienced, from which this radical transgression promises to deliver them. Happily, Wagner has left plenty of clues to guide his search. The general manager steps into the autumn evening air and turns into the street filled with traffic noise. After a few steps, he hears someone calling his name. He turns around. The director offers no explanation, just quickly puts a cigarette in his mouth. Standing there in front of him shivering without a jacket, he reminds the general manager of a high school student in the corner of the playground. There was no more discussion between the two that evening, but it was clear to both, the last word between them had not yet been spoken.


Page 48–54

MASTER AND MUTT Richard Wagner in Munich, seen through the eyes of his ageing canine companion. Text by Albrecht Selge

Sunday, 10 December 1865, 5 a.m. 27 minutes and 28 seconds, in front of Munich Central Station Grr-r, hu-u ... What nasty weather and ungodly time of day! What person in their right mind would be underway now and with their dog no less – especially a once proud, now regrettably terminally ill hunting and guard dog of the noble sort (I used to belong to a baron!), well-educated et similiter, yet with a persistent cough. Certainly not my faithful human companion, who prefers to be called master. And a master he is! He is a real celebrity! And then this, here we stand like two wet poodles in the freezing cold rain, can you believe it? Master is also quite put out, he looks like a ghost, his gray hair hanging limp around his face as he murmurs shitheads and sodomites and (not sure if I understood it correctly, one gets a little hard of hearing with advancing dog years) asswipes, yes, that seems to be what master is muttering, a bunch of asswipes in Munich. Bene dictum, wrruff! And yet, they had once received us here as an adoring bride receives her bridegroom, one big hosanna, not twelve dog years ago, and now this, and now this ... (...) That strange woman has also come to the station, the one with the distinctive nose. A veritable Cleopatra, worthy of a real personality, like master! (…) The boy King had such a vacant and forlorn gaze. I never quite understood the relationship between the two. I only knew this: the King had sent for master to come to Munich, and master had, of course, sent for his faithful dog from Vienna, where I had reliably barked at the burglars in Penzing. His neighbor, the old Baron Rachovin von Rosenstern, had given me to him; how I flourished then after those years with the lame-footed baron thanks to master’s constant rambling. Oh, those were the days ... but I lose my train of thought – so, the King’s call to Munich: Master was sought out by the King’s messenger Pfi (a common figure with wire-rimmed glasses) but somewhere else entirely, in Stuttgart, where master had quickly absconded, having accumulated debts like a dog has fleas. (…) The lady with the nose appeared soon after in the idyllic setting at lake Starnberg provided to master by the boy King. She came with her small children, but without her husband. The children slept soundly while their mother and master frolicked in the adjacent room; small children do not comprehend such things, in any case, as does a full-grown male dog ex instinctu. The armchairs trembled and the satin draperies fluttered. And five dog years later, in no time (that’s how long it takes), the next little daughter was born. By then, master and

I and our entire entourage had moved into the city center, Brienner Straße with a view of the Propylaea, and the whole place was perfumed again, with silk trimmings everywhere, curtains, draperies, garlands full of roses and carpets to sink your paws into – and at the heart of the apartment, a cabinet with a bed and a mirror fitted all around, which some visitor dubbed the Grail. The lady with the nose was there all the time now, her Bulow had apparently resigned himself, although, at first, he still cried foul and pounded the floor with his fists, before becoming terribly sickly and bedridden. The lady’s father also visited us soon thereafter, the spit and image of his daughter and terribly angry, he reminded me of a ... well, I can’t think of it right now ... exactly, of a Caribbean Liszt monkey! But master calmed him down by reading to him for hours. (…) And yet, and yet, great mystery, profound vision, out of all this muck some magic. There was that great event last summer, three and a half dog years ago. Dogs, how time flies! At that time, everyone was quite taken by, what is the human word for ruffled, Tristan! (Like that dirty dog who lives in Türkenstraße, grrr.) I was – of course – there when a very fat man barked and howled and howled and barked, I thought he would never stop, but master was deeply moved and many others as well (some even snored), the boy King, of course, was moved and ruffled most of all. Honestly, thirty dog hours or more, I was already dozing off, hanging my tongue over my shoulder a bit to cool down, especially since the air was so thick – the people in the audience were probably not much different, but afterwards they said things like: well, I’m at a loss for words – one doesn’t know what to say to that, there’s nothing more to say – (…)

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MJ Now, at the upcoming Festspiele, you are playing Elettra

in Idomeneo, a traditional opera, a tragic female character. HEM And what a female role it is. Elettra’s family history ... They all killed each other. How can you develop basic trust? After all, who should you be able to trust more than your own family? is the Electra of the Oresteia … mother kills the father, because the father sacrificed his daughter, Iphigenia. Electra and her brother Orest plan the revenge murder of their mother and her new husband. Orest carries out the murder, Electra flees. That’s where Idomeneo begins.

MJ Elettra HEM ... The

MJ Elettra

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“ELETTRA WOULD NEED THE BEST THERAPISTS AVAILABLE” Soprano Hanna-Elisabeth Müller makes her debut in the role of Elettra in the premiere of Idomeneo. In an interview, she talks about broken souls and the right shoes to wear on stage. Interview by Gabriela Herpell

(…) For a soloist, whose voice is what really matters, how important are dancing and acting? HANNA-ELISABETH MÜLLER That’s half the battle. Maybe some times even more. In the end, of course, the beauty of the singing and the effort I put into it are what matters most. Yet even before I open my mouth, people see me walking onto the stage. That’s their first impression, and it is worth a lot, if you invest time in it. I have already experienced situations where things didn’t go so well, and that can happen to you at the beginning of your career. But after that I understood: that’s not the way to get to the hundred percent that you want. MJ Even if your voice could make the heavens weep? HEM You can compensate for poor dancing and acting with your voice and maybe save an evening. Still, what you communicate with your posture remains very important. You know how you can signal openness, or you can signal aversion, so no one is willing to approach you. It’s the same on stage. You can physically turn away from the audience, put up a protective wall. (…) MAX JOSEPH

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loves Idamante, though he hardly notices her. She suffers and hates her rival, Ilia. What does she have to offer you? HEM Anyone who hears the name Elettra thinks immediately of the vengeful figure, the fury. Though the longer I study her, the worse I find it that I used to think of her that way myself. It’s so superficial! The challenge for me is not to portray her that one-dimensionally. Elettra is utterly lost, living in a foreign country, with this past, and falling in love unhappily. She has no stability in her life at all. It’s too easy to say, oh, she’s a terrible person. MJ Do

you have to find a character likeable to play them? Or at least discover a good side to them? HEM You always find a way into a character. You have to feel sympathy for Elettra, by the way, the audience feels the same way. She’s often made to look inhuman, as if she couldn’t fight off her demons at all, but she’s not a monster, she’s a deeply wounded character. In real life, she would need the best therapists available to lead anything close to a normal life. MJ Is

there also a greatness about her?

HEM Musically, yes. Mozart wrote her the greatest music and

poured a lot of love into these arias. An aria with a choir, that’s very special. She has such a range of emotions, that naturally expresses itself in the music. MJ Giving

a character greatness through music that she doesn’t have in the script or in the plot is something only opera can do, isn’t it? HEM If this were a play, Elettra might be a very beautiful woman who knows how to use her charms, but not a beautiful, complex character. In the music, in the revenge arias, she transports her tremendous pain outward, and that has a force only opera can conjure. There are also tender moments when she reflects on her love. Broken souls fascinate me. (…)


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THE SENSITIVE TRUMPET Richard Wagner, Tristan and Isolde (1865)

THE VIOLA THAT NODDED For every world premiere performed at the Bayerische Staatsoper there is a story. We have collected some of the best anecdotes from behind the scenes. Text by Florian Heurich

THE VIOLA THAT NODDED Wolfgang Amadeus Mozart, Idomeneo (1781) “Warm yet clear,” that is how Andreas Grote describes the sound of a viola said to be around 300 years old and presumably belonging to the Bayerische Staatsoper for just as long. “Two stamps on the back of the instrument indicate this.” That’s why, according to Grote, it is very likely that this very viola was used at the premiere of Wolfgang Amadeus Mozart’s Idomeneo on 29 January 1781 at the Cuvilliés Theater. Grote joined the Bavarian State Orchestra as a violist 28 years ago and found the instrument in dismal condition in the instrument storeroom. The theater had the viola restored at great expense, and Grote has since been delighted with its round, sonorous tone and ease of playability. “Nevertheless, it is a very robust instrument. It’s suitable for any kind of music and can even endure a Wagner opera, where, after all, a great deal more force is exerted on the instrument than with Mozart.” Grote is now retired and has passed the viola on to his successor Anne Wenschkewitz. In 2008, as he sat in the orchestra pit of the Cuvilliés Theater for the last new Munich production of Idomeneo, he asked “his” viola if it stirred any memories. He thought he could feel the instrument nod in affirmation.

One does struggle a bit to hit a clean note, explains trumpeter Christian Böld, who for years played what is known as the Tristan trumpet, a wooden instrument said to have been used in the Munich premiere of Richard Wagner’s opera on 10 June 1865. “It sounds harder and more aggressive than a normal trumpet and is relatively unsteady in its tone.” You might even think it sounds out of tune at times, he says, but that is exactly the strange sound Wagner intended. The instrument appears only very briefly, barely a minute in all. It is the signal from backstage announcing Isolde’s arrival by ship in the third act: a shepherd trumpets a cheerful melody. Since the English horn, otherwise so prominent in this scene, was too quiet for this purpose, a new instrument had to be designed and specially made, somewhere between the trumpet and the English horn, which does not appear in any other work. A sensitive, complicated and unwieldy instrument, the Tristan trumpet had to be well cared for and properly prepared before use. “If it has been unused for a long time, the wood has to be re-wetted first. You may even have to immerse it in the sink for a long time,” explains Böld, who knows exactly how this unusual and delicate wooden trumpet must be handled. Other theaters have made repeated requests to borrow the unique instrument with its special sound. However, putting it in the hands of strangers is out of the question for Christian Böld.

THE DELETED KING Aribert Reimann, Lear (1978) In the contract dated 23 June 1977, entered into between the Schott Verlag and the Bayerische Staatsoper stipulating the performance rights for Aribert Reimann’s new opera, one word at the beginning of the work’s title crossed out in thick pencil, leaps from the page. On closer inspection, it becomes clear that the word “KING” had once stood there and was subsequently struck through. In the correspondence between the opera house, the publisher and the composer, and in the contract with Reimann dated 31 July 1975 concerning the commission of the work, the title “King Lear” frequently appears. Eventually, however, Reimann decided to call his opera simply “Lear,” signaling his focus on the figures general humanity rather than his royal aspect or political function. Reimann was concerned, as he later explained, with “the isolation of a man in utter loneliness, exposed to the brutality and precarity of all life.” Whoever drew up the performance contract could clearly not then have understood Reimann’s artistic intentions at the time, although the work was already relatively far advanced at this point. Who it was that ultimately deleted the “KING,” humanizing Lear in effect, remains a matter of speculation.

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“GIVING UP BALLET WAS LIKE GIVING UP MYSELF” Evelyn Hart was the first prima ballerina at the Bayerische Staatsballet, when it was founded 30 years ago. On the occasion of its anniversary, she looks back on her career and speaks in an interview about blinders, pigeonholes, the right stage partner and the price of devotion. Interview by Astrid Kaminski

true. The first reviews said, “She clearly has her own vision of Giselle.” Yet, I felt I was doing exactly what Wright had taught me to do. After that, I was invited to Toronto as a guest, and the New York Times described me as, “Canada’s new ballet heroine.” Then the news circulated through the press. My reputation as a natural-born Giselle took on a life of its own, and I danced her everywhere. It became my signature role. There is something about the way this girlish spirit moves that is very close to me. It’s a flowing, a drifting, as if without bones. (…)

(…)

MJ In 2003 in Canada, you danced Giselle for the last time.

Ms. Hart, have you ever felt like a horse? EVELYN HART Like a horse? Oh, interesting! If we imagine a horse with blinders on, looking in only one direction, then I’d have to say yes. I saw my first ballet performance when I was ten years old and began dancing myself when I was 14. Very late, in other words. I was rejected by the National Ballet School of Canada three times. “Do ballet as a hobby,” I was advised. But I was determined it would be my profession. Out of sheer blindness.

Afterwards, it was written that you were now more than ever like the character: a spirit of your former self. What was it like to step outside a system of arduous work and immense recognition? EH I have been trying to prepare for that since I was about 35. I avoided receptions where I would have been the center of attention. I wanted to take myself out of the public spotlight, but it wasn’t easy. The first loss is the lack of something to say. There were no more roles for me, no more coaches, no more training. It was no longer worth it to persevere. When it came to an end, on the one hand, it was a relief but, on the other, I suffered three years of severe depression. We have a transition center for dancers here in Toronto. One of the reasons it was set up is because many dancers look for a way out through suicide when their career ends. Being a dancer is not a profession, it’s an identity. Who am I with­out a stage? All dancers have to deal with this question. Some stay close to the stage after retirement, as a ballet maestro or choreographer. They are few. Some are lucky enough to have other passionate interests and start something completely new. I was so closely connected to it. Giving up ballet was like giving up myself.

MAX JOSEPH

MJ You were the star attraction in the early years of the Bay-

erisches Staatsballet, founded by Konstanze Vernon in 1990. This season it celebrates its 30th anniversary. EH I had just lost my mentor when I started dancing with Konstanze. He died in a car accident. What I was looking for at that time was someone to fill that void. Konstanze was that person, and she afforded me tremendous opportunities. Just to be able to perform in Munich’s magnificent opera house! Then again, I now see more clearly the role she had given me in the process. I was a kind of model for the younger dancers, a very assiduous romantic ballerina. I fulfilled that role, and in doing so, perhaps freed her up somewhat for the political negotiations she needed to conduct in the course of founding the company. She was adept at surrounding herself with a well-functioning team. Still, she was under a lot of pressure in those years. I remember how nervous she was when we first went on tour to New York. (…) MJ Your

most famous role is that of Giselle. It is the fate of a girl who is transformed into an elemental, beyond the human realm. What does this role mean to you? EH Its significance to me is immeasurable. I first learned the pas de deux in my time as a student under the tutelage of Ludmila Bogomolova of the Bolshoi Ballet. My teacher once said during rehearsal, “She doesn’t just dance the role, she is Giselle.” Then a week before I made my debut, Peter Wright took me by the hand to rehearse all the scenes with me again. My dream came

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MJ The

Price of Devotion.

EH Yes, and perhaps of blinders, to come back to the horse.

I suppose you can only dance at the level I did if you feel you can really make a difference in other people’s lives. When I retired from the state, it wasn’t because I felt I was no longer able to reach people. That connection was still there. It was the support that was breaking away. There was no longer a vision within the ballet system for my ageing body, even though my soul wanted to keep dancing. So, leaving the stage was not an easy transition for me. After that, I began to teach, but that is not easy either. It means continuing to work for a system that thinks in pigeonholes. Thinking outside them is more original. But in a way, they make it easier to maintain a hermetically sealed system without leaks. This contradiction remains with me throughout my life. (…)


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CATCHING A BREATH Tenor Charles Castronovo became seriously ill with COVID19 earlier this year. Classical singing exercises are helping him recover – and not only him. How opera singers teach coronavirus patients to breathe again. Text by Jörg Böckem

(…) For Charles Castronovo, 46, our story begins in January. The American tenor, who lives in Berlin, is in Vienna with his family. The Vienna State Opera is planning a TV premiere of Georges Bizet’s Carmen in February with Castronovo as Don José. After negative coronavirus tests from all involved, preparations begin, with the main piano rehearsal scheduled for Friday. “None of us had been on stage in a long time,” Castronovo explains in a video interview in late April. “We were excited to sing together again – without masks. It’s not really possible to sing an opera wearing a mask.” Carmen interpreter Anita Rachvelishvili and Castronovo stand close together, looking each other in the eyes, singing loudly. “We sang our lungs out. As it is with Carmen, a lot of drama,” Castronovo says, laughing. The next day, Rachvelishvili contacts him to say she’s not feeling well. “I felt fine, so I didn’t worry at first,” says Castronovo. That changes. The following day, his colleague is feeling increasingly worse. The tenor eventually isolates himself from his family. Another day later, it’s a Monday, Rachvelishvili’s coronavirus test returns positive, Castronovo’s result follows on Tuesday. Fever, severe exhaustion, aching limbs, simply speaking triggers coughing fits, at some point he stops talking altogether. Castronovo’s condition worsens dramatically, on Sunday he visits a clinic. A high viral load is detected in his lungs, and the oxygen levels in his blood are very poor. He is transferred to the intensive care unit, given oxygen, blood thinners, vitamins and steroids. “I felt terrible, and I was scared,” he says. “It wasn’t clear which direction the infection would take. Whether my breathing would return to normal, whether I would ever be able to stand on a stage and sing again.” (…) For his physiotherapy, Castronovo uses asthma inhalers and a mouthpiece that allows him to regulate the resistance during inhalation and exhalation. This is supplemented by breathing and vocal exercises he knows from his professional training as an opera singer. Singing helps him fight the effects of the infection. “In the past, I never really considered these exercises very important,” he says. “I was always on stage, rehearsing or performing, and everything just worked.” Now, these exercises are playing a big part in improving his breathing and physical stamina. Feeling the steady improvement, staying focused on it, also has a therapeutic effect, Castronovo says, adding that, besides, the amazing music he

sings is good for his soul and general well-being. His doctor agrees: Castronovo’s lung capacity is back to average a good two months after the illness, though he is still below his normal capabilities as a professional singer. The English National Opera (ENO) in London was quick to recognize the healing benefits of singing for COVID patients and launched a pioneering pilot project earlier this year. In collaboration with the National Health Service and a team of professionals, vocal coach Suzi Zumpe, who normally oversees the training of fledgling opera singers, launched ENO Breathe, an online platform where professional opera singers guide people recovering from a coronavirus infection through breathing and singing exercises. (…) Song as cure – perhaps singing is on the verge of an image change in pandemic times. In any case, the idea of being able to support the recovery of patients through song is wonderful, says Charles Castronovo. It is an important gesture that gives people a sense of purpose and identity, he is convinced. But there is also a touch of melancholy in this realization, says the tenor: “My wife, Ekaterina Siurina, is an opera singer, too. During the pandemic, we have often felt truly miserable,” he says. “I am a singer, I am only complete when I sing.” Castronovo firmly believes, however, that at some point he will be able to take his place on stage and pursue his calling again.

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Peaches (Seconds III), 2020, Acrylic Ink on Polyester Tracing Paper Sheet: 23 x 18,5 cm (each), 16 drawings

DER SCHWUNG DER FIGUR

Luc Tuymans, 1958 im belgischen Mortsel geboren, hat eine Pyramide aus Pfirsichen in 16 verschiedenen Ansichten zu Papier gebracht. Die Serie entstand während der Pandemie ausgehend von einem frühen Werbefilm in Technicolor. Die thematische Spannweite von Tuymans Malerei reicht von eher banalem Alltagsgeschehen bis hin zu historischen Weltereignissen. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere der Wiedergabe medial vermittelter Bilder, die niemals mit der Wirklichkeit identisch sind. Die Diskrepanz zwischen Abbildung und Realität entdeckt der Künstler in verschiedenen fotografischen Fundstücken und verstärkt den Effekt durch die abermalige Transformation ihrer Erscheinung in Malerei. Dabei spielt die Dimension des Bildträgers eine entscheidende Rolle: Große Ereignisse schrumpfen, während Alltägliches zu enormer

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Bildende Künstlerinnen und Künstler interpretieren Rainer Maria Rilkes geheimnisvollen „Schwung der Figur“. Diesmal: LUC TUYMANS

Größe anschwillt. Das Technicolor-Verfahren machte Farbe im Film möglich – allerdings um den Preis, die Farbigkeit auf wenige Kontraste zu beschränken. Luc Tuymans überführt die blasse Palette in seine Zeichnungen, bewirkt aber durch einen feinen, flächigen Pinselduktus eine plastische Erscheinungsweise der Früchte, die an Paul Cézanne erinnert. Die weiche, überreife Konsistenz und die samtige Haut der Pfirsiche werden in der mehrfachen Brechung der Realität vor pechschwarzem Grund umso deutlicher spürbar und rühren an die Endlichkeit der Dinge.

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dies ist die letzte, die allerletzte Seite von Max Joseph. Nach 13 Jahren ist das Magazin der Bayerischen Staatsoper unter der Intendanz von Nikolaus Bachler mit dieser Festspielausgabe zum letzten Mal erschienen. In der kommenden Saison erwartet Sie etwas Neues. Die Redaktion von Max Joseph möchte Ihnen an dieser Stelle danken, für jeden Text, den Sie mit Interesse gelesen haben, für jeden Gedanken, dem Sie mit Neugier gefolgt sind. Sie waren uns ein teures Publikum.

Bild Yvonne Gebauer

UND VORHANG!

Liebe Leserinnen und Leser,

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www.pinakothek.de/lookatthis

Gefördert durch PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V.

#PinaLookAtThis

17.06.-19.09.2021

SAMEH AL TAWIL, HEIKE KATI BARATH, BENJAMIN BERGMANN, KRISTINA BUCH. BODO BUHL, RAOUL DE KEYSER, NDIDI DIKE, VICTOR EHIKHAMENOR, ELMGREEN & DRAGSET, JULIAN GÖTHE, JON GROOM, SABRINA HOHMANN, MAGDALENA JETELOVÁ, LEO VON KLENZE, VICTOR LEGUY, NAM JUNE PAIK, STEPHAN REUSSE, GERHARD RICHTER, DAVID SHRIGLEY, THOMAS STRUTH, THU-VAN TRAN, ROSEMARIE TROCKEL, ANDREAS VON WEIZSÄCKER.

David Shrigley, LOOK AT THIS, 2014 (Ausschnitt) © David Shrigley


Lina ballerina clip Weißgold und Diamanten.

Haute Joaillerie, place Vendôme seit 1906

MÜNCHEN - Maximilianstraße 10 www.vancleefarpels.com - +49 89 2030 3251


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