»Restart« ist ein Wort unserer Zeit. Es beschreibt den Moment, in dem ein Bruch uns zwingt, neu zu denken – politisch, gesellschaftlich, architektonisch, kulturell oder persönlich. Nach Konflikten, Krisen, Migration oder dem Verlust gemeinschaftlicher Orientierung entsteht ein Zwischenraum, in dem Zukunft neu entworfen werden muss. Restart bedeutet, den Raum zwischen Bruch und Erneuerung zurückzugewinnen, dem Vergessen zu widerstehen, die Machtstrukturen, die sich als unzulänglich erwiesen haben, infrage zu stellen und eine Form des Miteinanders zu reinstallieren, die auf Würde und demokratischem Mut basiert.
Damit ein solcher Neuanfang gelingen kann, brauchen wir Orte, an denen Gemeinschaft erlebbar wird. Kultur, und die Architektur, die sie beherbergt, schafft Resonanzräume, in denen gesellschaftlicher Zusammenhalt neu wachsen kann. In Zeiten der Vereinzelung kommt es nur dann zum Restart, wenn unsere kulturellen Räume, darunter auch Theatergebäude, ihre Bedeutung als bürgerliche Agora zurückgewinnen: als architektonische Orte, die Menschen zusammenbringen, den Dialog fördern und das soziale Gefüge erneuern. Doch ein Restart ist mehr als Wiederaufbau oder Neustrukturierung. Er ist ein innerer Prozess, der mit Bewusstsein, Empathie und Mut beginnt. Technologie kann unterstützen, aber sie definiert nicht, wer wir sind. Jeder echte Restart beginnt dort, wo der Algorithmus an seine Grenze stößt: im wachen Sein des Menschen. Ein Restart erhält Bedeutung erst dann, wenn er nicht nur auf Veränderung zielt, sondern auf ein erneuertes Verhältnis zur Welt und zueinander.
Serge Dorny
4 Der Wert von nichts
Micah Nacht
10 Everything is alive
Ian Chillag
18 La Casse
Julia Werner
24 Die Natur als politische Gewalt
Adrian Lobe
32 Free Willy
Christian Gottwalt
42 Der Förderantrag
Lola Randl
48 The Germans
Lukas Kubina
60 Das »neue« München
Mathieu Wellner
68 Zurück auf Start
Niclas Seydack
74 Rotting from Within
Abdulhamid Kircher
90 Heilung
Timon Karl Kaleyta
98 Ich freu mich aufs Büro
Stefan Gärtner
108 I can change
Lili Ruge
Der Wert von nichts
Von Micah Nacht
Gloria hasste Sonntage. Sie hörte von oben eine Familie beim Abendessen, irgendwo übte jemand Klavier, ein Volvo fuhr vorbei. Ansonsten war es ruhig, niemand wollte etwas von Gloria, keiner wollte sie bestrafen, obwohl Gloria seit Jahren das vage Gefühl hatte, sie hätte eine Strafe verdient. Vielleicht war das Sitzen in der Küche schon die Strafe.
Ihr einziges Zugeständnis an ihren Job war, dass sie sich die Fingernägel dunkel lackiert hatte, und diese Nägel ließ sie jetzt auf der Tischplatte herumwandern; wenn man die Augen zu Schlitzen verengte, sahen die Nägel aus wie kleine Wildpferde, die ausbrechen wollten, aber nicht recht wussten, wohin, und sich so entmutigt auf der Stelle bewegten, bis ihnen auch hierzu die Kraft ausging. Gloria hörte auf zu klopfen. Die Heizung war nicht noch aufgedreht und Gloria fror fast so wie damals, aber nicht an den Füßen, denn an den Füßen trug sie die ledernen Timberland-Stiefel, die Franz Maria Xaver (den natürlich niemand so nannte) für sie ihn Jerusalem gekauft hatte. Es war im Dezember vor sechs Jahren gewesen, und Gloria hatte nicht gewusst, dass es im Orient so kalt und regnerisch sein könne. Sie taute nie wieder auf, daran konnte kein heißer Tee und keine Linsensuppe etwas ändern, sie schleppte sich gekrümmt durch Pfützen und an Bauwerken vorbei, die gar nicht so alt waren, wie man hätte meinen können, und irgendwann begann sie, leise zu wimmern. Da zerrte Xavi sie in ein Einkaufszentrum und kaufte ihr die Timberlands. Seitdem war sie mit den Timberlands an den blödesten Orten der Welt gewesen: an der Küste Portugals, in Berlin und in Hamburg und in London und in Paris, in verschiedenen Büros und bis letzte Woche sogar ein paar Monate im Verkaufsraum einer Bäckerei in der Innenstadt, in der ein halbes Weizenmischbrot mit kräftiger Kruste acht Euro kostete. Durch die Verkaufsstube haben die Timberlands Gloria aber nicht sehr lange getragen, denn die Wege dort waren kurz (das Brot wurde nur aufgebacken und in ein Regal hinter der Kasse gelegt), und Gloria hatte die gesunden, fröhlichen Kunden schnell nicht mehr ertragen.
Sie waren immer noch gut, aber nicht mehr schön, die Schuhe. Gloria stand auf und setzte sich wieder an den Tisch in ihrer kleinen Küche. Sie sah exakt aus wie alle zu kleinen Küchen der Welt: Alles war von Ikea, sogar das Besteck, mehr muss man dazu nicht sagen. Gloria hatte lange darüber nachgedacht, ob sie die Timberlands anlassen sollte oder nicht, es war ihre Wohnung (es war die Wohnung von Xavis Eltern), und im eigenen Zuhause liefen nur Psychopathen oder schlechte Väter mit Straßenschuhen herum, aber wollte man seinen ersten Kunden wirklich in Strümpfen empfangen? Gloria stellte sich vor, wie der Typ auf dem Holzstuhl sitzen und die Hände zwischen seinen Oberschenkel verschränken würde, nur um dann entgeistert auf ihre Socken zu starren. Würden ihre Zehen ein kleines Ballett aufführen, wenn man lange genug auf sie starrte? Würden die Füße versuchen, sich untereinander zu verstecken? Würde Gloria sich einfach nur schämen? Beide würden Schuhe anhaben, der erste Termin würde optisch und emotional näher an eine Kontoeröffnung in einer Sparkassenfiliale rücken und sich weniger wie ein sehr unangenehmes WG-Casting anfühlen. Gloria hasste WGs. Gloria musste lachen, und dann machte sie ein Selfie von sich mit den Schuhen und schickte es an Anna. Münchens größte Loserin, schrieb sie darunter, und Anna antwortete nicht sofort. Wo blieb der Typ? Es war schon Viertel vor sieben, und Gloria fand, dass man bei einem solchen Hausbesuch wie bei einer Physiotherapie oder beim Zahnarzt aus Höflichkeit eine Viertelstunde früher zu erscheinen hatte. Gloria selbst war noch nie eine Viertelstunde zu früh irgendwohin gekommen, außer natürlich damals, als sie schon am Nachmittag nach Hause kam und Xavi mit Annabelle erwischt hatte. Man konnte Gloria mittlerweile ansehen, dass sie es gewohnt war zu warten, in jeder ihrer Gesten lag, obwohl sie noch jung war, eine Art Sparsamkeit oder Resignation, keine Spur von Übermut. Sie würde die Tür öffnen, dem Mann lächelnd in die Augen sehen, ihn bitten, seine Schuhe anzulassen, und ihn dann in die Küche führen. Sie würde hoffen, dass er nicht allzu genau
darauf achten würde, wo er sich befand (Schwindstraße, dritter Stock, kein Aufzug, zweiundvierzig Quadratmeter, Bauzeit 1954–1955). Vielleicht war er sogar großzügig (oder dumm) genug, um nicht zu erkennen, dass Gloria all das zum ersten Mal machte. Sie fühlte sich schlecht vorbereitet, und das war Annas Schuld. Anna hatte gesagt, dass Gloria genau das Gegenteil von dem tun solle, was man von ihr erwarte: keine Dekoration, kein gedämmtes Licht, kein Kajal, kein kurzer Pony, kein irrer Blick.
Nicht mal ein irrer Blick?, hatte Gloria gefragt. Den hast du ja sowieso schon, hatte Anna geantwortet, und dann hatte Gloria plötzlich den Punkt verstanden, denn wenn die Menschen schwiegen, sprachen ihre Gesichter und ihre Klamotten, ihre plastisch oder künstlerisch veränderten Lippen, ihre bunten Ponys, ihre haarigen Beine, ihre teuren oder billigen Taschen, man konnte keine zwei Stationen U-Bahn fahren, ohne dass irgendwelche Piercings oder Fingernägel einen in ein Gespräch über die Expansionspolitik des Westens oder die Lage der Frauen in Bangladesch verwickelten, und natürlich war es auch nie die Sorte Gespräch, in der man einen fairen Sprechanteil hatte, nein, die Gegenstände und Körperteile schrien Gloria einfach nieder, sie hatten ja sonst nichts zu tun. Gloria sah jetzt so neutral aus, wie man nur aussehen konnte: Stiefel, Jeans, braune Haare. Um ihr Tattoo zu verdecken (und weil es kalt war), trug sie einen Hoodie. Brauche ich nicht wenigstens ein schwarzes Kleid oder so?, hatte Gloria gefragt, und Anna sagte: Ganz im Gegenteil, du machst einfach immer exakt das, was man nicht von dir erwartet. Du nennst dich also Michaela, trägst Timberlands und setzt dich in deine Ikea-Küche und du sprichst ganz sachlich. Hoffentlich, dachte Gloria, hat der Typ keinen Pferdeschwanz. Sie betrachtete nervös die schmutzige Sockelleiste. Sie hoffte jetzt, dass er einfach nicht kommen würde, vielleicht hatte er sie erkannt, vielleicht war er ein Schulkamerad von früher, der nur aus Spaß einen Termin ausgemacht hatte.
Ein paar Wochen nach der Sache mit Annabelle hatte Xavi
Gloria angerufen. Er sagte, dass Liebeskummer gar nicht so schlimm sei, eher schön, eher eine Ausrede, um sich gehen zu lassen, und Gloria antwortete, dass sie sich aber gar nicht gehen lassen wollte, sondern Geld zu verdienen habe, und dann antwortete er, ohne auf das Gesagte zu achten, dass ein neuer Frühling käme, ganz egal, was Gloria gerade noch denken würde, und Gloria wurde endlich wütend, und dann fragte sie, ob es wahr sei, dass Annabelle schon bei ihm eingezogen sei, und er schwieg das erste Mal, aber sie kannte ihn so gut, dass er sich nicht traute, sie anzulügen, und schließlich sagte er ihr, dass es wahr sei und es ihm leid tue, und dann verhaspelte er sich ein bisschen und sagte noch etwas Unverständliches über den Wert von allem, der sich manchmal erst später zeigen wolle. Gloria musste lachen, dann legte sie auf, und als sie Anna von dem Telefonat erzählte, sagte Anna, dass dieses ganze Eso-Gerede sie auf eine Idee bringe. Die Wohnung gehörte Xavis Eltern, aber weil sie sie nicht mehr als Ferienwohnung nutzten, hatten sie sie Gloria gleich nach der Trennung angeboten, sie hatten offensichtlich anstelle ihres Sohnes ein schlechtes Gewissen und kamen sofort aus dem Chiemgau. Gloria hasste das Mitleid, das sie in ihren gutmütigen Erbengemeinschaftsgesichtern entdeckte, aber sie brauchte eine Wohnung. Xavis Mutter sagte, dass sogar eine ganz neue Küche darin sei. Irgendwie hatte diese Freundlichkeit Gloria schrecklich genervt, Reiche hatten nie irgendwelche Probleme, sie fanden immer, dass alle Ärgernisse gar nicht sie persönlich meinten und sie höchstens versehentlich trafen. Wenn doch ausnahmsweise Schwierigkeiten auftraten, dann weigerten die Reichen sich einfach, sie anzuerkennen, und so deuteten sie die größten Unglücke in schöne, fröhliche Abenteuer um, zu denen man sich eine alte Trachtenjacke anzog und einen Filzhut aufsetzte, um sich pfeifend ans Werk zu machen. Xavi hatte, wie also alle seine Ahnen, die unbegreifliche Fähigkeit, aus jedem schlechten Wetter eine gute Nachricht zu machen und aus jeder Knospe an seinem Chiemgauer Apfelbaum eine frohe Botschaft, einen Sieg.
Gloria aber hasste diesen Pragmatismus, sie wollte lieber alles persönlich nehmen. Sie hatte trotzdem gelächelt und gleich unterschrieben. Jetzt dachte sie, dass Xavis Eltern sie sicher nicht verklagen würden, falls sie die neue gewerbliche Tätigkeit öfter ausführen sollte. Gloria rechnete noch einmal: Sie hatte auf Annas Anraten einen Stundenlohn von dreihundert
Euro zuzüglich Mehrwertsteuer verlangt. Natürlich zahlte sie gar keine Mehrwertsteuer oder überhaupt irgendwelche Steuern, aber Anna hatte sie überzeugt, dass so alles viel seriöser klingen würde.
Gloria war ein oder zwei Sekunden fest entschlossen, dass sie den Mann einfach nicht hineinlassen würde, dann fiel ihr aber sofort wieder ein, dass sie nächste Woche Miete zu zahlen hatte und es vernünftig wäre, im Gegenteil möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen und so gleich zwei Stunden in Rechnung zu stellen. Gloria musste wieder lachen, als sie sich vorstellte, wie sie in Zeitlupe die Tür öffnen, unendlich langgedehnt Hallooooooo sagen und für den Weg vom Flur in die Küche vier Minuten brauchen würde. Es klingelte endlich: leise, kurz und höflich. Gloria wartete an der Tür und öffnete genau im rechten Moment. Vor ihr stand ein ganz junger Mann mit hellen, kindlichen Augen, er war sehr aufgebracht. Gloria konnte gar nicht anders, als ihn im Bruchteil einer Sekunde von oben bis unten zu mustern und zu kategorisieren – genauso, wie man bei Abbildungen von Engeln automatisch schaut, ob sie Geschlechtsteile haben. Er war sehr hübsch. Gloria begrüßte ihn und streckte ihm die Hand hin, die er aber gar nicht sah, er zog seine Strickmütze vom Kopf und rieb sich nervös das Kinn, und dann sagte er, dass er kein bisschen an Astrologie glaubte, dass seine Mutter ihn hergeschickt hatte, dass es ihm leid tue, und bevor Gloria überhaupt antworten konnte, drückte er ihr ein Bündel Geldscheine in die Hand, drehte sich um und lief mit der Mütze in der Hand die Treppen herunter. Gloria hatte ganz vergessen, auf seine Schuhe zu achten.
Sie könnte es ganz nach oben schaffen, aber will sie das überhaupt?
Ein Aufzug über Höhen und Tiefen des Lebens.
A Für mich fühlen sich jetzt alle gleich an, aber als ich das erste Mal in die fünfzehnte, sechzehnte oder siebzehnte Etage fuhr, dachte ich schon: »Wow, jetzt geht es ganz nach oben, bis zum allerhöchsten Punkt. So hoch wie noch nie.« Mein Name ist Ana und ich bin ein Aufzug.
I Hattest du ein bisschen Höhenangst?
A Ja, schon. Wenn man zum ersten Mal ganz oben ankommt, in die höchste Etage fährt, in der man je war, denkt man, höher darf es nicht werden. Aber man gewöhnt sich daran.
I Wie fühlt sich wohl der Aufzug, der im höchsten Gebäude arbeitet?
A Wahrscheinlich müde. Ich meine, ich bin nach einem Arbeitstag müde und fahre gerade mal in die siebzehnte. Man baut aber auch immer höher. Frank Lloyd Wright wollte ein Gebäude bauen, das über anderthalb Kilometer hoch ist.
I Eine Meile.
A Ja, und es sollte sechsundsiebzig Aufzüge haben. Und sie sollten nuklear angetrieben werden ..., aber man hat es dann doch nie gebaut.
I Das ist wirklich in jeglicher Hinsicht furchterregend.
A Ja. Zu hoch und von zerstörerischer Kraft angetrieben – ein Aufzugsunfall, und das Gebäude wäre weg.
I Viele Leute machen sich Sorgen, dass im Aufzug etwas schiefgehen könnte, sie wollen nicht stecken bleiben, aber in dem Fall wäre die Fallhöhe eine ganz andere.
A Besser, dass es nicht gebaut wurde. Ich meine, viele Leute haben jetzt schon Angst, mich zu benutzen. Alles geschieht aus einem bestimmten Grund, und manche Dinge geschehen eben nicht aus einem bestimmten Grund.
I Viele Leute halten die Gespräche in Aufzügen für die banalsten, na ja, smalltalkartigen Gespräche. Ich schätze, als Aufzug hört man davon viele?
A Ich höre eigentlich kaum etwas anderes.
I Angeblich gab es in New York einmal folgendes Gesetz: »Während der Fahrt im Aufzug darf man mit niemandem sprechen und muss die Hände falten, während man zur Tür schaut.« Wenn das also stimmt, war es in New York einmal illegal, im Aufzug mit jemandem zu sprechen.
A Wow! Also, wenn das Gesetz gilt, dann wird es wirklich ständig gebrochen. Ich würde ja meinen Mund halten. Aber wenn jemand die Behörden alarmiert?
I Das wäre ein seltsamer Notruf.
A In meiner Nähe führt man schon seit dreißig Sekunden ein völlig banales Gespräch!
I Bitte schicken sie sofortige Hilfe!
A Was wäre die Bestrafung? Geldstrafe? Gefängnis? Nein, das wäre zu heftig. Vielleicht darf man eine Zeitlang nicht mit dem Aufzug fahren. Oder nur Smalltalk war verboten, aber man durfte tiefgründige Gespräche führen, also im Aufzug damals?
I Vielleicht.
A Aber mal ganz ehrlich, das ist es doch, was Leuten wirklich Angst macht: ein ernstes Wörtchen. Man möchte gar nicht so tief einsteigen … lieber nur Hintergrundrauschen wie: »Mein Kind hatte gestern ein tolles Fußballspiel.«
I Vielleicht machen wir uns auch zu viele Gedanken – jetzt stelle ich dir eine sehr intime Frage. Und dann können wir ein bisschen smalltalken, damit du dich nicht unwohl fühlst.
A Perfekt.
I Gab es jemals jemanden, der in dich reinging und von dem du insgeheim gehofft hast, er würde dich nie wieder verlassen?
A Ja. Aber es war nicht gleich bei unserer ersten Begegnung, es war eher schleichend, dass mir diese Person ans Herz wuchs. Ich begann mich darauf zu freuen, sie zu sehen, und ich wollte so gerne den Knopf für sie drücken. Aber ich sagte mir irgendwann: Schluss jetzt. Du bist hier, um zu arbeiten, nicht um dich zu verlieben.
I Bist du jemals stecken geblieben?
A Ja, natürlich.
I Mit Menschen in dir?
A Ja.
I Können wir das nachspielen? Was sagt man als Aufzug, um die Menschen zu beruhigen?
A »Entspannt euch, wir stecken fest. An dieser Stelle geht es erst mal nicht weiter. Es hat keinen Sinn, sich deswegen aufzuregen, denn man kann nichts dagegen tun. Und leider kann ich auch nichts dagegen tun. Ich habe schon oft festgesteckt und bin nie für immer hängen geblieben, also werdet ihr es auch nicht.«
I Ich neige dazu, immer wieder auf die Knöpfe zu drücken.
A Das wird nichts ändern. Du kannst die Knöpfe drücken, wenn es dir damit besser geht, aber ändern wird es nichts. Ich verstehe schon, weshalb wir Aufzüge euch unangenehm sind. Wir sind nicht euer Lebensraum. Ihr wollt draußen sein. Und vielen macht es Angst, irgendwo einzusteigen, wo sie gegebenenfalls lange nicht wieder rauskommen. Ich würde auch gern mal eure Außenwelt sehen. Leider unmöglich, aber ich kann es nachvollziehen.
I Schau mal, ich könnte dir hier auf diesem Video zeigen, wie es draußen aussieht.
A Wirklich?
I Willst du?
A O ja, o mein Gott!
I Und erzähle mir bitte dabei, was du fühlst.
A Ja, klar.
I Das ist der Times Square.
A Da sind so viele Leute. Gibt es draußen keine Gewichtsbeschränkung?
I Es gibt keine Gewichtsbeschränkung.
A Und woran erkennt man, ob zu viele Leute draußen sind?
I Es sind bestimmt zu viele.
A Und nichts geht kaputt?
I Fast alles geht immer kaputt.
A Das stimmt auch wieder. Und wohin gehen sie, diese Menschen? Haben sie ein Ziel oder hängen sie einfach ab?
I Das kann man nie wissen. Schon komisch zu realisieren, dass so viele Menschen, na ja, jeder hat ein individuelles Bewusstsein. Es ist einfach so viele … Entscheidungen, Gedanken.
A Und das da? Das ist wie ein Aufzug, nur seitwärts.
I Das ist ein Bus.
A Und drückt man dann auch einen Knopf, um dorthin zu gelangen, wo man hinwill?
I Fast. Man drückt einen Knopf oder zieht an einer Schnur, wenn man aussteigen will.
A Also das Gegenteil von meiner Arbeitsweise?
I Ja, in der Hinsicht und auch von der Fahrtrichtung.
A Was ist das?
I Das ist ein Baum.
A Das ist also ein Baum. Er steht in so einer Art Topf, also war ich mir nicht sicher.
I Ja, dieser hier wird gepflegt, zur Deko. Aber es gibt auch Orte, wo sie freier wachsen können, da haben sie dann keinen Topf.
A Die können dort einfach frei wachsen, immer größer, so groß wie sie nur können?
I Ja, willst du das sehen?
A Ja.
I Das ist ein Wald.
A Wow! Das ist riesig. Und da ist niemand?
I Ja, da sind keine Menschen.
A An so einen Ort würde ich gern gehen. Der andere Ort sah etwas zu weitläufig aus, aber das hier sieht aus wie mein Tempo.
I Stell dir vor: ein schöner Wald, in den etwas Licht fällt. Keine Menschen. Sattes Grün. Und ein Aufzug mittendrin.
A Mittendrin, ja. Und dann hätte ich wirklich nichts zu tun. Tiere brauchen mich nicht. Die kommen schon alleine hoch. Aber ich glaube, mich in diese Umgebung zu stellen, würde den Ort irgendwie ruinieren. Es würde ihm das nehmen, was ihn ausmacht. Ich bin mir sicher, dass es dort, wo ich jetzt hänge, vorher auch so aussah. Also viel vorher. Man fing an, Häuser zu bauen, größer zu bauen, Aufzüge zu bauen, und plötzlich ist das, was vorher ruhig war, nur noch hektisch.
I Sobald ein Aufzug im Wald steht, ist es kein Wald mehr.
I Kann ich dir noch etwas zeigen?
A Ich würde gerne Treppen sehen.
I Treppen.
A Ja, die Leute sprechen oft über Treppen: »Geh du schon, ich nehme die Treppe.« Ich frage mich immer, wie die wohl sind.
I Na klar. Hier …
A Sie sind wunderschön.
Jedem Anfang wohnt be- kanntlich ein Zauber inne. Aber der Neustart ist in der Mode ein Survival-Move. Das Neue be- stimmt nicht nur die Saisons. Ab und zu muss, wie bei jeder gut gepflegten Maschine, das Öl komplett gewechselt werden, damit der Motor wieder flüssig läuft. Das Öl ist: die Kreativkraft. Im Jahr 2025 haben gleich fünfzehn Modehäuser die Resettaste gedrückt. Der am meisten erwartete Neustart kam ganz am Schluss der Pariser Modewoche: Matthieu Blazy, bei Bottega Veneta als Genie gefeiert, zeigte seine erste Kollektion für das wohl legendärste aller Modehäuser, Chanel. Gelungen? Es ist kompliziert.
Der Einundvierzigjährige ist der neue »künstlerische Direktor der Mode-Aktivitäten«. Der geschwurbelte Titel erinnert an diesen alten Werbespot von Haribo, wo der Gummibär-Boss zu Thomas Gottschalk sagt: Du darfst alles essen, Thommy, aber nicht alles wissen. Blazy also soll nach vier Jahrzehnten Lagerfeld und drei Jahren Lagerfeld-Assistentin an der Spitze das Modehaus Chanel modernisieren. Aber an die großen Themen des Luxuskolosses darf er nicht ran. Heißt: Für das große Ganze, also das Marketing, sind andere verantwortlich. Das heißt nicht, dass man ihm nicht vertraut. Es füttert einfach nur die Vermutung, dass es in der Mode, dieser milliardenschweren Megaindustrie, gar keine echten Neustarts mehr geben kann. Wie gesagt, es ist kompliziert. Meinungen zu Matthieu Blazys Debütkollektion gab es schon vor der Show so viele, wie es überflüssige Social-Media-Influencer gibt. Würde es jetzt ein steriles, minimalistisches Chanel geben? Würde der leicht altmodische Schmuck für immer verschwinden? Oder würde er die Silhouetten so avantgardistisch aufblasen, dass die Ladies who lunch gar nicht mehr wissen, was sie demnächst anziehen sollen?
Die Wahrheit lag am Ende irgendwo dazwischen. Und das Geschrei erinnerte an einen anderen Neustart bei Chanel, nämlich den von Karl Lagerfeld höchstselbst. Als er 1983 die im Wachkoma liegende Legende Chanel übernahm, war auch erst mal die Hölle los. Er brachte alle seine Freunde mit und besetzte bis in die Presseabteilung einen Großteil der Positionen neu. Er wischte Cocos Nachkriegscodes – das
Tweedkostüm, die Per- lenketten, Bouclé –mit einer größenwahn- sinnigen Handbewegung vom Tisch und zeigte stattdessen, was Gabrielle Chanel in den zwanziger und dreißiger Jahren berühmt gemacht hatte. Die Women’s Wear Daily (WWD) schrieb damals, Lagerfeld habe zu viele ChanelDon’ts und zu wenige Dos begangen, es gab damals ja noch kein digitales Gedächtnis, wie sollte sich der arme Mann an die Zwanziger erinnern? Der WWD versprach Lagerfeld auch, die Frühjahrskollektion werde »modern und chic-sexy« werden – »nicht Las-Vegas-sexy, mit längeren und schmaleren Proportionen«. Dann fügte er hinzu: »Sie hat es nie so gemacht – aber es ist very Chanel, no?« Was very Chanel ist und was nicht, da will heutzutage so wie damals jeder mitreden. Aber Lagerfeld hatte einen einzigartigen Vorteil: Er konnte zerstören, um hinterher auf den Ruinen neu aufzubauen. Blazy – und seine Mitstreiter bei den anderen Labels wie Dior, Balenciaga oder Gucci – haben diese totale Freiheit nicht. Zu groß sind die Modehäuser, zu groß die Risiken, das, was noch funktioniert (und auf penibler Kundendatenanalyse beruht) zu verlieren. Von Blazy wird nichts Geringeres erwartet, als Chanel neu zu denken, ohne Chanel in seinem innersten Kern zu berühren. Damit sind Modeimperien keine Ideenfabriken mehr, sondern mehr oder weniger gewitzte Verwalter von Ikonen. Aber die Sehnsucht nach dem Reset, nach diesem einen Kleid, dem Laufstegmoment oder dem Satz in der Pressemappe, der alles verändert – die stirbt in der Mode nun mal nie. Ein unüberwindbares Paradox, aber einfach so weitermachen ist auch keine Option. Lagerfelds rechte Hand Virginie Viard führte als seine Nachfolgerin fort, was er gebaut hatte – respektvoll, aber ohne den subversiven Witz, den Lagerfeld Chanel eingeimpft hatte. So bewies sie nur eins: dass Loyalität in der Mode keine Tugend, sondern ein echter Klotz am Bein ist.
Wie also bringt man als Modehaus wieder Schwung in die Bude? Die Möglichkeiten sind vielfältig, die Resultate auch, da reicht ein Blick in die vergangenen zehn Jahre. Als Alessandro Michele 2015 bei Gucci antrat, war das Haus müde vom eigenen Glamour. Micheles Methode war die totale Überschreibung des Dagewesenen. Ja, er
holte ein altes Logo wieder aus der Mottenkiste (das Doppel- G), aber ansonsten setzte er konsequent auf Gegenwart, und zwar seine eigene. Er setzte Gender Fluidity neben katholische Symbolik, Patina neben Pop und Rüschen neben Labelgläubigkeit. Die strenge Frida Giannini und der sexy Tom Ford waren sofort vergessen. Alle wollten in die Wunderkammer des Signor Michele. Gucci wurde zum Giganten, scheinbar unbezwingbar in seiner Exzentrik, ein Kult. Wie bei jeder Religion kam irgendwann der Moment, in dem der Ritus nur noch wie eine leere Geste wirkte. Als er 2022 ging, hinterließ Michele zwar eine Erfolgsgeschichte, aber auch ein großes Problem: Die Marke war größer als ihre Produkte geworden.
Und dann wäre da noch der Fall Balenciaga. Nach dem hochintellektuellen Nicolas Ghesquière wollte der Konzern Kering das Haus in fröhlichere Gefilde lenken. Der junge Alexander Wang aus New York mit seiner Liebe zu scharf geschnittener Streetwear-Lässigkeit schien der Richtige, war es aber nicht. Nachdem er Balenciaga von seinen architektonischen Ecken und den sakralen Kanten befreit hatte, war nichts mehr von der Legende übrig. Kann sich heute noch irgendjemand an seine Entwürfe erinnern? Und dann kam Demna Gvasalia. Als der Vetements-Erfinder Wang 2015 ablöste, war das Entsetzen mindestens so groß wie seinerzeit bei Lagerfeld, der spätere Erfolg aber auch. Balenciaga wurde zur moralischen wie ästhetischen Zumutung – und deswegen wieder relevant.
In der Mode ist Mittelmaß tödlicher als Provokation, eine Regel, die unumstößlich ist, wie wir beim missglückten minimalistischen Neuanfang von Gucci mit Sabato de Sarno gesehen haben. Ob aber das Kalkül des Luxuskonglomerats Kering aufgeht, den Extrem-Resetter Demna Gvasalia seinen Balenciaga-Erfolg bei Gucci wiederholen zu lassen, ist genauso offen. Umgekehrt hat ein auch eher nicht provozierender Italiener, Pierpaolo Piccioli, die kreative Leitung von Balenciaga übernommen. Seine erste Kollektion war vor allem eine sehr schöne Verneigung vor allen seinen Vorgängern. Genug, damit den Leuten das Herz höher schlägt, ob aus Verachtung oder aus Liebe? Es darf bezweifelt werden.
Die Abwägung zwischen Beständigkeit und Modernisierung scheint
eine Kunst, die man auf den Chefetagen von Luxuskonzernen beherrschen muss. Oder ist es in Wahr- heit nur Glücksspiel?
Weil der radikale Wechsel auf die Wundertüte Alessandro Michele bei Gucci so gut funktionierte, inspirierte das natürlich auch andere Schlipsträger zu extremen Entscheidungen. In einem Fall konnte man dann in rasantem Tempo einer Falschbesetzung beim Untergang zusehen: Justin O’Shea bei Brioni. Der ehemalige Truck Driver und Fashion Buyer von Mytheresa sollte 2016 den italienischen Gentleman-Ausstatter Brioni modernisieren. Aber er war im Gegensatz zu Alessandro Michele eben kein Designer, sondern nicht mehr als ein Instagram-Phänomen mit Tattoos, Bart, Sonnenbrille und zu engen Anzügen. Nachdem O’Shea in einem Anfall von Größenwahn das Logo durch eine Runenschrift ersetzt, Metallica als Kampagnengesichter verpflichtet, seine Buddys um die halbe Welt geflogen und den Chefschneider gegen sich aufgebracht hatte, weil er den Armausschnitt enger haben wollte als im italienischen Schneiderhandwerk vorgesehen, zogen die Verantwortlichen die Notbremse. Brioni, einst Inbegriff leiser Luxusdisziplin, wirkte plötzlich wie ein Witz. Nach gerade mal sechs Monaten war O’Shea wieder weg, er hält damit bis heute den Rekord des kürzesten Design-Stints bei einem Modelabel. Was also blieb, waren die Lacher und die Erkenntnis, dass Rebranding dann doch eine Operation am offenen Herzen ist, für die es gut ausgebildete Chirurgen braucht und keine Dilettanten. Das Risiko, dass das Herz stehenbleibt, ist immer da. Von Ungaro hört man seit 2009, als jemand die glorreiche Idee hatte, das Hollywood-Starlet Lindsay Lohan zur Kreativberaterin zu machen, nichts mehr. Aber Ungaro ist auch nicht Chanel. Das ist unsterblich. Zu guter Letzt geht es aber in der Mode von heute selbstredend nicht mehr nur um Silhouetten, Stoffe und Farben, sondern vor allem ums Logo. Bei Matthieu Blazy blieb das legendäre Doppel-C von Chanel natürlich unangetastet, aber er wagte es, den Schriftzug in Schreibschrift auf ein weißes Hemd zu sticken – eine Typographie, die neu wirkte, in Wahrheit aber schon mal in den achtziger Jahren bei Chanel verwendet wurde. Der andere große Big Shot, Jonathan
Anderson bei Dior, schockierte auch nicht mit wahnsinnig neuen Formen, sondern den ein oder ande- ren Dior-Kunden mit der Rückkehr zu einem alten Logodesign: weg von den brachialen Versalien zurück zur typographischen Tradition in Kursivschrift. Es ist das Ursprungslogo, dass Christian Dior höchstselbst 1946 wählte. Der Trend beim Reset geht also quasi hin zur Werkseinstellung von Modehäusern – was wohl die Gegenbewegung zum sogenannten Blanding ist, dem Wegpolieren von allem Überflüssigen. Das ging in den letzten Jahren so weit, dass man sich sehr konzentrieren musste, Saint Laurent, Bottega Veneta, Loewe und Co. auseinanderzuhalten. Auch Burberry hat sich von Riccardo
Tiscis Säuberungsaktion 2018 immer noch nicht richtig erholt. Er ließ das altmodische Logo tilgen und mit einem neuen, geometrischen Monogramm ersetzen. Das Resultat war das, was passiert, wenn man beim Staubwischen das falsche Tuch auf einer empfindlichen Oberfläche benutzt: Der Lack war weg. Und müssen Trenchcoats nicht ein bisschen staubig sein, damit sie cool sind?
Und so bleibt zusammenfassend nur zu sagen, dass die Mode den Ruf nach Neuanfang wahrscheinlich mehr liebt als den echten Neuanfang selbst. Und dass vielleicht gerade darin ihr Zauber liegt – in dieser endlosen Wiederkehr, die nie ganz neu und nie ganz alt ist.
Weiße Sandstrände, türkisblaues Meer, bunte Korallenriffe – auf den ersten Blick ist Tuvalu ein Inselparadies, wo sich jeder gestresste Großstädter hinträumt. Auf den kleinen, handtuchbreiten Atollen im Südpazifik leben gerade mal elftausend Menschen, es gibt eine Polizeistation, einen Handyshop, und – mangels Parkplätzen – kaum Autos. Die letzte Zählung wies achtzig Fahrzeuge aus. Aber wer braucht schon ein Auto im Paradies?
Der Funafuti International Airport, der für die Inselbewohner das Tor zur Welt ist, wird weitgehend analog betrieben, und wenn mal kein Flugzeug startet oder landet, was sehr oft vorkommt, weil es nur drei Flüge pro Woche gibt, verwandelt sich die Start- und Landebahn in ein Fußballfeld oder einen Freizeitpark. Doch das Paradies ist bedroht. Vom Klimawandel. Genauer gesagt: vom steigenden Meeresspiegel. Sollten die Prognosen der Klimaforscher eintreten, könnte die Hauptstadt Funafuti 2050 zur Hälfte unter Wasser stehen; bis Ende des Jahrhunderts könnten neunzig Prozent der Landmassen im Meer versunken sein.
Der Außenminister des Inselstaates hatte bei der Weltklimakonferenz 2021 eine flammende Rede gehalten, bei der er knietief im Meerwasser stand, um der Weltöffentlichkeit den Ernst der Lage klarzumachen. Die Menschen verlieren ja nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Heimat. Ein Weckruf war das aber nicht. Das Label »Sinking Nation« hat vor allem Katastrophentouristen angezogen, die noch mal ein paar Selfie-Trophäen sammeln wollen, bevor die Atolle im Meer verschwunden sind. Für die Einheimischen stellt sich die Frage: bleiben oder gehen? Die Rettung: Australien. Dort hat die Regierung ein »Klimavisum«-Programm gestartet, in dessen Rahmen jährlich bis zu zweihundertachtzig Bewohner von Tuvalu einreisen dürfen. Doch ob die Menschen »down under« eine neue Heimat finden werden? Die Tuvaluer sind mit ihrem Schicksal nicht allein. Der Klimawandel bedroht die Existenz von Menschen auf der ganzen Welt. In Panama müssen die indigenen Guna der Insel Gardí Sugdub wegen Überflutungen ihre Heimat verlassen und aufs Festland ziehen, wo sie, welch böse Ironie der Geschichte, einst von den spanischen Eroberern vertrieben worden waren. In Wales soll das Tausendzweihundert-Seelen-Dorf Fairbourne »stillgelegt« werden, weil die Gefahr
von Springfluten zu groß und der Küstenschutz zu teuer ist – die Bewohner, die als erste »Klimaflüchtlinge« gelten, sollen bis 2045 ihre Häuser und Grundstücke aufgeben. Und in Indonesien lässt die Regierung derweil eine neue Hauptstadt aus dem Boden stampfen, weil die aktuelle Hauptstadt Jakarta wegen des steigenden Meeresspiegels unterzugehen droht.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR wurden allein im Jahr 2024 fünfundvierzig Komma acht Millionen Menschen durch klimabedingte Ereignisse wie Dauerregen, Dürren, Hitzewellen und Stürme aus ihrer Heimat vertrieben – das sind dreimal so viele wie durch Konflikte und Gewalt. Der Klimawandel ist eine unsichtbare Gefahr, die sich nur in abstrakten Graphen und Statistiken nachweisen lässt. Da sind keine bewaffneten Söldner oder Milizen, die marodierend durch Dörfer ziehen und Menschen verjagen. Das macht die Klimakatastrophe so schwer greifbar und politisierungsfähig. Doch die Naturgewalt ist eben auch eine Gewalt, eine politische sogar, die bedrohlicher ist als jede Militärjunta. Bis 2050 könnte es Schätzungen zufolge eins Komma zwei Milliarden Klimaflüchtlinge auf der Welt geben – das heißt von der Größenordnung: Fast einmal ganz China wird sich auf den Weg machen, eine neue Heimat zu finden. Die Klimaflucht stellt alle Völkerwanderungen der Geschichte in den Schatten. Der moderne Mensch hat der Natur den Krieg erklärt – und befindet sich im Anthropozän in ständigen Rückzuggefechten (Deichbau, Wellenbrecher, »Kohlefront«). Der Soziologe Bruno Latour argumentiert in seinen Gaia-Vorlesungen, die er im Februar 2013 an der University of Edinburgh hielt (»Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime«), dass der Naturzustand nicht überwunden ist, sondern durch die Klimakrise wiederhergestellt wird – im Gegensatz zu Hobbes’ »Leviathan« könne die »Natur« das »political animal« nicht bändigen: Im Krieg aller gegen alle kämpfen auch Thunfisch und CO₂ gegeneinander. »Die Angst«, schreibt Latour in seinem Buch »Das terrestrische Manifest« (2018), »sitzt deshalb so tief, weil jeder von uns zu spüren beginnt, wie der Boden unter den Füßen wegsackt. Mehr oder minder verschwommen entdecken wir, dass wir alle auf der Wanderung sind hin zu Territorien, die es neu zu entdecken und zu besetzen gilt«.
Ein klimainduzierter Restart birgt ja durchaus die Chance auf einen politischen Neuanfang – die Utopie, tradierte, durch fossile Energien angetriebene Wirtschaftsformen zu überwinden und Gesellschaft neu zu denken. Man kann die Frage stellen, ob es sinnstiftend ist, vierzig Jahre zu schuften, um sich ein Haus und zwei Autos leisten zu können, um dann in der Rente, die es vielleicht dereinst nicht mehr geben wird, feststellen zu müssen, dass das Eigenheim gar nicht mehr zu einem passt und an einem unwirtlichen Ort steht. Oder ob ein Leben in einer Kreislaufwirtschaft, in der Ressourcen so genutzt werden, dass man dafür kaum noch arbeiten muss und so mehr Zeit für sich und seine Kinder hat, doch erfüllender ist.
In der Architektur wird seit geraumer Zeit der Einsatz nachwachsender Baustoffe diskutiert – Pflanzenstrukturen, die sich selbst heilen und regenerieren. So haben Architekten des Massachusetts Institute of Technology 2005 ein Konzept für ein nachhaltiges, organisches Haus präsentiert, das nicht gebaut, sondern gepflanzt wird: Bäume wachsen entlang eines wiederverwertbaren Gerüsts und bilden eine tragende, modulare Wand. Dieses Bio-Haus kann man einfach stehen lassen, wenn man weiterziehen will, ohne der Umwelt zu schaden. Doch anstatt neue Wohnformen und regenerative Designs zu erproben, werden alte Muster reproduziert: So haben die Bewohner des Ahrtals ihre Häuser größtenteils so wiederaufgebaut, wie sie vor dem Hochwasser 2021 waren. Die Strukturen, die ins Unglück führten, werden erneut betoniert.
Die Flutkatastrophe im Ahrtal macht deutlich: Die Klimakrise (be-) trifft alle Menschen – nicht nur die Bewohner der Slums in Bangkok und Jakarta, sondern auch die Hausbesitzer in einem reichen Land wie Deutschland. Vor Fluten kann sich niemand vollumfänglich schützen. Der Soziologe Ulrich Beck hat schon in seinem 1986 erschienenen Werk »Risikogesellschaft« erkannt, dass sich mit der Ausdehnung von »Modernisierungsrisiken« soziale Unterschiede relativieren: Risiken, so Beck, entfalten eine »egalisierende Wirkung«; statt einem Ständeschicksal wie im Mittelalter hätte man es in der Risikogesellschaft mit einem »Gefährdungsschicksal« zu tun. Natürlich können sich Superreiche wie Mark Zuckerberg, der auf Hawaii für zweihundertsiebzig Millionen Dollar eine geheime Festung samt
unterirdischem Apokalypse-Bunker errichten ließ, bis zu einem gewissen Punkt von Risiken freikaufen – doch was nützt das teuerste Reduit, wenn die Insel absäuft? Die »egalisierende Wirkung« der Klimakrise – und darin besteht ihre politische Sprengkraft – stellt die Eigentumsordnung radikal infrage, weil Besitztum immer zukunftsgerichtet ist. Man besitzt etwas heute, weil man es auch morgen noch besitzen will. Niemand kauft sich ein Haus, nur um es in fünf Jahren einer Wetterkatastrophe zu überlassen. Wenn aber der Grund und Boden gar nicht mehr aneignungsfähig ist, weil er durch Dürren oder Fluten nicht mehr urbar ist, fällt der Appropriationsgedanke moderner Eigentumstheorien in sich zusammen. Wer will schon in einem Dorf bauen, das in ein paar Jahren stillgelegt wird? Ein verseuchtes Waldgrundstück ist genauso nutzlos wie ein überflutetes Strandhaus. Laut einer Studie der First Street Foundation werden die Folgen des Klimawandels allein in den USA Immobilienwerte im Wert von rund anderthalb Billionen Dollar vernichten. Keine Versicherung wird diese Schäden langfristig abdecken. Der Soziologe Beck spricht von einer »ökologischen Entwertung und Enteignung«: Unter Beibehaltung der Eigentumstitel werde die »verbrannte Erde« nutz- und wertlos. Soll man sich jetzt freuen, wenn die Villen der Reichen unter Wasser stehen? Das wäre zynisch. Denn die Verteilungskonflikte um knapper werdende Ressourcen – Wasser, Grund, Wohnungen – werden schärfer und politisch schwerer zu moderieren. Dass ausgerechnet die Klimaanpassungsmaßnahmen und nicht der Klimawandel selbst – Robert Habecks Gebäudeenergiegesetz (»Heiz-Hammer«) wurde als »kalte Enteignung« diffamiert – als Einschränkung rezipiert werden, verweist auch auf die Risikoblindheit vieler Bürger und auf »Legitimationsprobleme im grünen Kapitalismus« (Philipp Staab), der kaum noch Fortschrittsversprechen oder Erneuerungsprogramme verkaufen kann. Und auf Tuvalu? Dort haben Forscher einen digitalen Zwilling der Atolle erstellt, eine virtuelle Kopie, die vielleicht irgendwann ins Metaverse »importiert« werden könnte. Das Metaverse ist eine Form des »restaurativen Kapitalismus«, den der Soziologe Staab diagnostiziert. Statt in Klimaschutz zu investieren, restauriert man eine Inselwelt als
3D-Modell und hostet sie in Rechenzentren, die den Planeten aufheizen und den Meeresspiegel noch schneller steigen lassen. Wenn die Welt untergeht, setzt man eben eine Datenbrille auf.
Wo Algorithmus seine Grenze stößt: wachen des Menschen
der Algorithmus an Grenze stößt: im wachen Sein Menschen
Ein fabelhaftes Tagebuch von Christian Gottwalt
8. November 1991, Reino Aventura, Mexiko-Stadt
Keine Ahnung, wie oft ich mir schon vorgenommen habe, ein Tagebuch zu schreiben. Ich habe sogar ein paarmal eines angefangen, aber weiter als zwei oder drei Seiten bin ich nie gekommen. Aber diesmal muss es klappen. Weil, ich kann es selbst kaum fassen: Hollywood hat angerufen. Sie wollen einen Spielfilm drehen, mit mir in der Hauptrolle. Der Film spielt in einem heruntergekommenen Aquarium. Wenn ich mich hier so umschaue: Das passt schon mal. Die Story geht so: Ein Junge und ein Schwertwal werden Freunde. Und dann befreit der Junge den Wal, sodass er zurück in den Ozean kann, wo er herkommt. Schöne Geschichte, oder? Ich bin gespannt und aufgeregt!
K Jul Quanouai
Free Willy
18. Mai 1992, Reino Aventura, Mexiko-Stadt
Heute sind die ersten Leute vom Film angekommen. Sie bauen hier alles um. Mich stört das nicht weiter. Auch meine Menschen stört es nicht. Es war schon länger geplant, das Aquarium in dem Vergnügungspark zu renovieren. Meine Menschen dachten, dann bin ich wenigstens mit dem Film beschäftigt, wenn schon kein Publikum da ist und mir zuschaut. Sie wollten nicht, dass ich mich langweile. Ist das nicht lieb, wie viele Gedanken sie sich machen? Ganz anders als die Leute in Kanada, in meinem ersten Aquarium. Ich sage jedem Meerestier, dem ich begegne: Gehe bloß nicht ins Marineland Ontario! Das ist ein übler Laden. In Kanada gab es zwar noch andere Orcas, aber die waren fies zu mir. Sie haben zusammengehalten und mich nicht mitschwimmen lassen. Wenn ich mich ihnen näherte, wurden sie gewalttätig. Ich war noch jung, gerade drei Jahre alt, und konnte mich nicht wehren. Außerdem hatte ich andere Probleme, frisch getrennt von meiner Mama. Hier in Mexiko bin ich der einzige Orca. Aber ich bin nicht allein, denn in meinem Becken schwimmt noch Richie. Den habe ich richtig gern. Wir verstehen uns gut, obwohl ein Delfin wie er sogar ein Beutetier für mich sein könnte, draußen im Ozean, wenn ich richtig Hunger hätte. Zum Glück kriege ich hier immer genug zu fressen.
Juni 1992, Reino Aventura, Mexiko-Stadt
Wegen der ganzen Aufregung mit dem Filmdreh kam ich wieder nicht dazu, mein Tagebuch zu schreiben. Also, das Spannendste ist Jason. Oder Jesse, wie er im Film heißt. In einer Szene sollte er meine Zunge kraulen. Zum Glück musste die Szene oft wiederholt werden. So was hat noch kein Mensch mit mir gemacht. Was für ein süßer Junge. Jason hat erzählt, dass sich die Filmleute viertausend Kinder angeschaut haben, bevor sie ihn ausgewählt haben. Ich wurde nicht ausgewählt, denn es gab keinen anderen Orca, der die Rolle hätte spielen können. Der Chef meines Aquariums war nämlich der Einzige, der zu der Filmfirma ja gesagt hat. Angeblich hat er vorher nicht mal das Drehbuch gelesen. Ihn interessierte bloß der
Vertrag und die Zahl hinter dem Dollarzeichen. Hollywood zahlt Dollars, keine Pesos!
17. Juli 1993, Reino Aventura, Mexiko-Stadt
Gestern hatte »Free Willy« Premiere. Ich hätte ihn ja gern gesehen. Aber ein Wal im Kino? Meine Menschen erzählen, dass er den Zuschauern gefallen hat.
30. November 1993, Reino Aventura, Mexiko-Stadt
Eine Reporterin vom berühmten Life Magazin hat geschrieben, wie schlecht es mir in Mexiko-Stadt geht. Stimmt, wir sind hier schon sehr weit vom Ozean entfernt. Die Luft ist dünn und staubig, das Wasser viel zu warm. Meinen Pool hat sie als Klärgrube bezeichnet. Die Überschrift lautete: »Kann bitte jemand diesen Wal retten?« Jedenfalls hat die Filmfirma in Hollywood seither keine ruhige Minute mehr. Weil die ganzen Kinder, die im Kino gesehen haben, wie ich in die Freiheit springe, nun wissen, dass ich in Wirklichkeit gar nicht frei bin, sondern weiter in diesem schrabbligen Aquarium schwimme. Und entsprechend traurig sind. Und weinende Kinder sind sehr schlecht fürs Geschäft. Hätte man sich ja vorher denken können. Jedenfalls gibt es jetzt eine Hilfsorganisation, ganz allein für mich. Mit Spenden von Kindern aus der ganzen Welt. Sogar die Filmfirma hat zwei Millionen Dollar gespendet. Na ja, sie hat auch hundertfünfzig Millionen mit dem Film eingenommen. Und so wurde aus »Free Willy« nun die »Free Willy Keiko Foundation«. Keiko ist der Name, den die Menschen mir gegeben haben, das muss ich mir immer wieder sagen. Wie ich wohl in Wirklichkeit heiße? Mit welchen Klängen mich Mama gerufen hat? Ich weiß nicht, wie ich in Wahrheit heiße. Ich kann mich nicht erinnern.
September 1994, Reino Aventura, Mexiko-Stadt
Ich bin jetzt der berühmteste Wal der Welt. Sagen meine Menschen. Aber mein Leben hat sich gar nicht verändert. Woran sollte ich diese Berühmtheit bemerken? Die Zuschauerplätze rund um meinen
Pool sind alle belegt, aber das war schon immer so. Die Menschen lachen, jubeln, schreien, wenn ich meine Kunststücke mache. Auch das war schon immer so.
Dezember 1995, Reino Aventura, Mexiko-Stadt
Der Boss von meinem Aquarium zeigt sich gerade von seiner besten Seite. Erst hat er mich an die Free Willy Keiko Foundation gespendet. Und jetzt schmeißt er noch eine große Abschiedsparty für mich. All meine Freunde sind da, alle Betreuer, alle Trainer, auch die von früher. Meine ganze große Menschenfamilie, mein Pod, meine Gruppe, meine Walschule, wie auch immer man das unter Menschen nennt. Dreißig Walmenschen sind da und alle schwimmen mit mir im Wasser. Ich hatte einen Riesenspaß, weil ich keine Sekunde daran dachte, dass dies meine Abschiedsparty war. Jetzt, wo ich es aufschreibe und es mir bewusst wird, muss ich dann doch weinen.
6. Januar 1996, Mexiko-Stadt, Reisetag
Sie packen mich in eine Spezialtrage und bestreuen mich mit Eis. Als ich diesen Trick mit meinen Trainern geübt hatte, klappte alles gut. Aber heute, wo es ernst wurde, weil irgendwo ein Flugzeug wartete, mussten sie mich in die Trage schieben, weil ich mich alleine nicht getraut hätte. Dann schmierten sie mich mit Bodylotion ein, um meine Haut feucht zu halten. Danach ging es in einem Lastwagen quer durch die Stadt. Ich hab die Menschen nicht gesehen, aber ich habe sie gehört: wie sie meinen Namen gerufen haben, wie sie geweint haben und gesungen und geklagt! Es müssen zehntausende gewesen sein, die am Straßenrand standen und auf mich gewartet haben. Du bist ein verdammter Nationalheld, hat einer gesagt. Am Flughafen war ein Flugzeug, in dem normalerweise Päckchen transportiert werden. Ich hörte das Ziel des Fluges: Oregon. Vierzehn Stunden dauerte der Transport insgesamt. Vierzehn Stunden, in denen ich ruhig bleiben musste, nicht in Panik geraten durfte. Keinesfalls! Keine Fluchtreaktion, stattdessen Vertrauen. Vertrauen zu meinen Menschen. Wir hatten das geübt.
8. Januar 1996, Oregon Coast Aquarium, Newport
Was für ein Becken! Es fühlt sich riesig an. Ich kann jetzt tauchen! Und mich aufrecht hineinstellen! Und vielleicht sogar aus dem Wasser springen. Und das Wasser erst, wie es schmeckt! Das ist echtes Meerwasser, nicht Schwimmbadwasser, wo sie säckeweise Salz reingeschüttet haben wie in Mexiko. Und das Wasser ist kalt, richtig kalt. Von dem warmen Wasser in Mexiko habe ich meinen Ausschlag an den Flossen bekommen, sagt einer meiner Tierärzte.
Wegen der Warzen an den Flossen wollte mich auch kein anderes Aquarium nehmen. Alle fürchteten, dass das Virus ansteckend ist. Deswegen mussten sie ein neues Becken bauen, ganz für mich alleine. Aber Geld ist genügend da, seit die Frau eines CellphoneMilliardärs sich in mich verliebt hat. Jedenfalls kümmern sich jetzt fünfundzwanzig Menschen um mich. Sie wollen mich aufpäppeln, sagen sie. Ich hörte einen meiner Pfleger sagen, dass ich aussähe wie ein großer Wurm. Ich bin in Mexiko so dünn geworden, dass sich hinter meinem Kopf eine Kuhle gebildet hat. Es sieht aus, als hätte ich einen Hals. Und ein Hals ist etwas, das ein Orca nun wirklich nicht haben sollte.
10. März 1996, Oregon Coast Aquarium, Newport
Ich habe noch nie in meinem Leben etwas anderes als Hering zu mir genommen. Okay, Mamas Milch natürlich. Ach, Mama, ich vermisse dich. Jedenfalls gab es heute etwas Neues: Lachs. Was! für! ein! Fisch! Eine Delikatesse. Da könnte ich mich dran gewöhnen.
11. März 1996, Oregon Coast Aquarium, Newport
Und schon wieder was Neues! Tintenfisch. Bäh. Ungenießbar! Ich habe ihn gleich wieder ausgespuckt. Ich vermute, das neue Futter hängt mit der Auswilderung zusammen. Sie wollen mich tatsächlich nach Hause bringen, zu einer Insel, die Iceland heißt. Das ist meine echte Heimat, da wurde ich 1979 gefangen. Meine Trainerin hat gesagt, dass Orcas in der Wildnis achtzig Jahre alt werden können.
Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt. Das bedeutet: Höchstwahrscheinlich lebt Mama noch. Vielleicht habe ich sogar Brüder und Schwestern. Whoa! Ich kann mich kaum beruhigen.
Februar 1997, Oregon Coast Aquarium, Newport
Neuer Rekord beim Tauchen! Meine Menschen haben gepfiffen und in die Hände geklatscht, als sie mich wieder an der Oberfläche gesehen haben. Einer meiner Menschen saß mit mir unten und blubberte künstliche Luftblasen. Mit seiner Hand machte er das Zeichen für Warten. Dreizehn Minuten lang! So lang habe ich die Luft angehalten. Viel länger schaffen das auch die wilden Orcas im Ozean nicht.
Juli 1998, Oregon Coast Aquarium, Newport
Ich habe mitbekommen, wie sich die Menschen um mich streiten. Die einen sagen, dass ich nie mehr ein wilder Orca werden kann. Weil ich nicht jagen kann. Weil ich nicht tauchen kann. Weil ich nicht verstehen werde, was die wilden Orcas zu mir sagen. Weil, weil, weil. Die anderen Menschen meinen, dass ich nach Iceland gehöre. Und dass die Kinder Geld gespendet haben, damit genau das passiert. Damit ich frei bin. Ich selbst habe gemischte Gefühle. Hier in Oregon ist doch alles okay.
August 1998, Oregon Coast Aquarium, Newport
Es ist entschieden! Ich fliege nach Iceland. Wie das schon klingt: Iceland. Dort wird es richtig eisig kalt sein, hurra!
10. September 1998, Flughafen, Newport
Und wieder haben sie mich in ein Flugzeug geladen. Diesmal hat die US Air Force den Flug organisiert. Wir flogen von Newport auf die kleine Insel Heimaey südlich von Iceland. Unser Flugzeug trug den Namen Lockheed und wurde zweimal in der Luft aufgetankt, weil
sie mir die Zwischenlandungen ersparen wollten. Bei der Landung in Iceland ist eines der Fahrwerke gebrochen. Sehr dramatisch. Vor Schreck habe ich Atemstillstände bekommen. Zum Glück waren gleich zwei Tierärzte dabei. Sie sagten, dass sich meine Atemübungen ausgezahlt haben. Finde ich auch!
11. September 1998, Heimaey, Island
Das also ist das Meer. Es schmeckt gut, es riecht gut und vor allem: Es hört sich gut an! Da waren Stimmen, eindeutig, von anderen Walen! Erst habe ich sie nur gehört, dann konnte ich sie durch die Maschen des Metallnetzes sogar sehen. Sie waren ganz schwarz und ein bisschen kleiner als ich. Ich weiß nicht, ob sie mich angesprochen oder ob sie miteinander geredet haben. Ich habe nichts verstanden. Ihr Klang war hoch und hastig. Ich habe ihnen auch etwas zugerufen, damit sie meine Stimme hören. Es kam keine Antwort.
28. Februar 2000, Klettsvík-Bucht, Island
Ich habe es gewagt! Und bin zum ersten Mal alleine im Meer geschwommen. Also ohne Begleitboot, wie ich es gelernt habe. War es eine Laune? Wie kann ich wissen, was mich treibt, was mich fortzieht, was mich lenkt? War es eine Unzufriedenheit mit meinem Drahtkäfig oder eine Sehnsucht nach dem neuen Ort? Nicht mal das weiß ich gewiss. Ich weiß nur, dass ich schwimme. Ich schwimme weiter und weiter. Und immer geradeaus. Keine Wand, die mich hindert und in eine Kreisbahn zwängt. Wie weit ist dieses Meer eigentlich? Mir scheint, es will nicht enden, nirgends.
5. Juni 2000
Das Geld ist alle. Eine Firma von dem Mann, der bisher alles bezahlt hat, ist pleite gegangen. Sie sagen, in seiner Börse ist eine große Luftblase geplatzt. Das Projekt soll weitergehen, aber kleiner, mit Spendengeld von Walfreunden.
20. Juni 2000
Ob ich meine Mutter erkennen würde? Meinen Bruder, meine Schwester? Würde ich Laute hören, die mich an früher erinnerten? Ich weiß es nicht, bisher hörte, roch und spürte ich nichts Vertrautes. Da war nur Furcht. Panik. Da war eine Mutter mit ihre Kälbern. Da waren andere Männchen, alles dicht an dicht. Ich bekam Panik und etwas Seltsames: Atemnot unter Wasser. Zurück zum Boot, zu meinen Menschen. Die erzählten mir, dass im Hafen dasselbe Schiff lag, das die Menschen fuhren, die mich 1979 entführt haben. An das Ereignis kann ich mich nicht erinnern, aber es gibt ein Video von einem ähnlichen Ereignis: wie ein Kalb gefesselt wird und wie seine Familie Flosse an Flosse im flachen Hafenbecken liegt und der Entführung zusehen muss. So wird’s auch bei mir gewesen sein.
30. Juli 2002
Heute habe ich wilde Orcas aus nächster Nähe erlebt. Mehrere Walschulen feierten eine Walparty. Ich schwamm am Rande, mit dem festen Entschluss, nicht in Panik zu geraten. Wenn sie tauchen, schwimme ich oben. Wenn ich tauche, holen sie Luft. Aber ich folge ihnen, schwimme hinterher, schwimme durch sie hindurch. Plötzlich ein Stich in meinem Herzen: Ist das etwa Mama? Sie erkennt mich nicht. Sie kümmert sich um ihre beiden Söhne. Die sind etwas jünger als ich, genau im richtigen Alter, um meine Brüder sein zu können. Mama, bist du das? Ich rufe, ich singe, ich schicke Klicks, wie sie es tun. Aber es kommt keine Antwort. Sie verstehen mich nicht.
2. August 2002, Vestmannaeyjar, Island
Heute Nacht war ein heftiger Sturm und die Walschule hat sich in Bewegung gesetzt. Ich hoffe, ich glaube, nein, ich bin überzeugt davon, dass da vorne Mama schwimmt. Ich folge der Gruppe, in sicherem Abstand. Meine Menschen können mir nicht mehr folgen, sie haben nur ein Segelboot.
30. August 2002, Atlantischer Ozean
Ich sehe, wie sie jagen. Wie meine Familie einen Schwarm Heringe zusammentreibt und sie dann futtern, bis alle satt sind. Auch ich habe mich längst an lebenden Fisch gewöhnt und vertilge das, was ihnen durch die Lappen geht. Es gibt hier so viel Fisch!
1. September 2002, Halsa, Norwegen
Endlich Land! Endlich eine Wand! Endlich wieder Menschen! Ein Mädchen und ihr Vater begrüßen mich von einem Boot. Dann kommt auch noch ein Junge dazu. Er heißt Havard und erinnert mich an Jason, den Jungen, der mich im Film befreit hat. Ich spiele mit den Kindern und bemerke nicht, wie die anderen Orcas weiterziehen.
4. September 2002, Halsa, Norwegen
Tausend Meilen bin ich geschwommen, tausend verdammte Seemeilen! Das waren vierundvierzig Meilen am Tag. So rechnen es die Zeitungen vor. Nicht schlecht, oder, alter Fettsack? Aber die ersten Zeitungsberichte über die Begegnung mit dem Jungen haben halt auch einen Menschenansturm ausgelöst. Mir wird das alles zu viel. Fünfzig, sechzig Boote, Touristen, Fotografen. Was wollen die nur alle von mir? Lasst mich doch einfach mal in Ruhe! Ich werde noch zum Killerwal. Ich habe gehört, dass manche wilden Orcas kleine Boote angreifen und zum Kentern bringen. Verstehe gerade sehr gut, wieso sie das tun.
7. August 2003, Taknes-Bucht, Norwegen
Habe lange nicht in mein Tagebuch schreiben können. Aber es ist auch nicht viel passiert. Alltag halt. Ein ruhiger Sommer in Norwegen. Gleich um die Ecke gibt es eine Lachsfarm. Da schwimme ich gerne hin, auch wenn die Lachsfarmer mich dort nicht gern sehen.
12. September 2003, Taknes-Bucht, Norwegen
Hier passiert so wenig. Seit meiner langen Reise mit den wilden Orcas ist kein anderer Schwertwal mehr aufgetaucht. Auch die Walin, die vielleicht meine Mama war, ist nicht wieder aufgetaucht. Ich schwimme jeden Tag ins offene Meer, hole Fisch und suche nach ihnen. In der Einsamkeit wird mir klar, dass ich weder Fisch noch Fleisch bin, weder Wal noch Mensch. Ich bin irgendwas dazwischen, eine Mischgeburt. Und ein Einzelgänger. Selbst meine menschlichen Freunde halten jetzt Abstand zu mir. Auf einem Schiff habe ich Colin gesehen, wie er telefoniert hat und wie er sich versteckt hat, als er mich sah. Wieso tut er das? Hat das auch mit der Auswilderung zu tun? Ach Colin, du und Tobba, ihr seid doch meine Famile. Ihr seid mein Pod, meine Schule, meine Familie. Ihr seid wie Wale für mich.
9. Dezember 2003, Taknes-Bucht, Norwegen
Mir geht es nicht besonders. Seit Tagen schon fällt mir das Schwimmen schwer und auch das Atmen. Jeder Luftzug ist so mühsam wie in den Flugzeugen. Ich schnaufe so flach, wie ich im Meer liege, lasse mich treiben. An Tieftauchen ist nicht zu denken. Manchen Atemzug begleitet ein Röcheln, das sogar für Menschen unüberhörbar ist. Ich sehe die Sorge in den Augen der lieben Tobba. Der Hering, den sie mir gebracht hat, treibt an mir vorbei. Ich öffne das Maul und schließe es wieder. Nur um sie nicht zu enttäuschen. Ich weiß ja, sie meint es gut.
Epilog
Am 12. Dezember 2003 um 17 Uhr wurde Keikos Kadaver an die Küste der Bucht von Taknes gespült. Er war an einer Lungenentzündung erkrankt. Behandlungsversuche mit Antibiotika schlugen fehl, auch weil Colin Baird, Keikos fachkundiger Tierpfleger, gerade im Urlaub war. Thorbjörg »Tobba« Kristjánsdóttir, seine letzte Pflegerin, fand den Wal zusammen mit einem Techniker des Projekts. Um Keiko vor der Weltpresse und Souvenirjägern zu schützen, organisierten sie umgehend einen Traktor, der am Ufer ein sieben Meter langes Grab für ihn aushob. In der auf die Beisetzung folgenden Nacht fiel Schnee, sodass am nächsten Morgen nichts mehr zu sehen war. Ein Hügel aus Steinen, von Besuchern gesammelt und mit Abschiedsgrüßen beschriftet, erinnert noch heute an ihn.
Der Förderantrag
Lola Randl
K Domenico Carnimeo
Niemals, nie wieder würde er einen Fördermittelantrag stellen. Sonst hätten sie sich den ganzen Aufwand genauso gut sparen können. Sie waren nicht aufs Land gezogen, um immer noch mit genau denselben Leuten zu tun zu haben, die genau wie sie an denselben kreativen Ideen herumdokterten und sich auf dieselben Fördermittel bewarben (darauf konnte man sich verlassen) – mit denselben Formulierungen, denselben Floskeln und Worthülsen, die ihnen allen schon längst zuwider waren –, von denen sie aber gezwungen waren, ihren Unterhalt zu bestreiten. In den Cafés und in den Kneipen, bei Einladungen zum Essen, bei Kindergeburtstagen drehten sich die Gespräche meistens um diese oder jene Fördermittel, die man beantragen könnte, die abgelehnt wurden oder kommen würden. Obwohl – hatten sich darum gedreht, müsste man besser sagen, seit der konservative Senat die Mittel stark eingedampft hatte, hielten sich die meisten zurück, ihre besten Fördermittelquellen auszuposaunen.
Man könnte annehmen, er hätte Bedenken gehabt, dass es so nicht mehr weitergehen würde, aber das stimmt nicht, höchstens ein etwas mulmiges Gefühl. Eigentlich hatte er ein ganz gutes Gespür für die Gedanken und Ansätze, die vielversprechend waren. Also immer noch. Im Gegensatz zu vielen anderen machte es ihm sogar Spaß, die Antragstexte hin- und herzuwälzen.
Wenn es aber überhaupt jemals wieder in Betracht käme, dass sie noch mal einen Förderantrag schreiben würden, dann höchstens für was ganz Frisches, für etwas Echtes. Um was ganz Neues, Frisches, Echtes zu beantragen, mussten sie aber jegliche Gedanken loswerden, die auch nur annähernd um einen Förderantrag kreisten, und Gespräche mit anderen, die an denselben Förderanträgen saßen, waren sowieso tabu.
Kleinbauer war der falsche Ausdruck für das, wie ihr Leben jetzt zu beschreiben wäre. Das war auch schon so belegt. Selbstversorger war zu ideologisch. Einen Bauerngarten hatten sie, der die Versorgung mit
Obst, Gemüse und Beeren weitgehend sicherte. Genau wegen dieser etwas größeren Vision vom Leben waren sie rausgezogen. Und dann hatte sich auch schnell gezeigt, dass die Sache mit den Förderanträgen immer etwas eher Nebensächliches gewesen war, es hatte in ihren Vorstellungen vom Leben nie eine wirklich tragende Rolle gespielt und sollte jetzt erst recht nie wieder eine Rolle spielen. Sie waren sozusagen kulturschaffende Kleinstbauern, nahmen teil am echten Leben, mit echten Nachbarn, die echte Berufe hatten, Maurer, Fahrer, Krankenpfleger:innen, wie sie sich das von der Stadt aus vorgestellt hatten, während sie noch von Projekt zu Projekt getaumelt waren. Hier, auf dem Land, kamen sie mit diesen Nachbarn ins Gespräch, hörten ihnen zu, lernten verstehen, die Stille, die Weite, das wahre Leben. Mit beiden Händen in der Erde.
Für neue Projekte auf dem Land, soziale, politische und gemeinschaftsbildende, würden sie um einen Förderantrag trotzdem nicht herumkommen. Hier draußen war das aber auch etwas anderes. Wenn man gerade dabei war, das alte Scheunendach abzudecken (die alten Biberschwanzziegel, die noch keinen Sprung hatten, wurden selbstverständlich eingelagert), war es sogar irgendwie witzig, die ersten Sätze eines unvermeidbaren
Förderantrags im Kopf hin- und herzudrehen. Man konnte nur hoffen, dass nicht auch noch andere Kulturschaffende, die ihr Zentrum aufs Land verlagert hatten, gerade dasselbe taten. Die, die es ebenso wenig noch ausgehalten hatten und sich ebenfalls auf den Weg gemacht hatten, aufs Land, in dieselben verlassenen Gehöfte, die plötzlich nicht mehr verlassen waren. Am Anfang war man froh und man konnte auch froh sein, dass es andere gab, mit denen man das Schicksal teilen konnte. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sein Dasein teilen möchte, mit anderen, die ähnliche Probleme haben, und merken, dass das mit dem echten Leben auch nicht so ganz automatisch geht und man besser erst mal noch einen letzten Förderantrag stellt.
Es war ja auch irgendwie schön, wie sie hier so saßen, die aufs Land Geflüchteten, im selben Kreis wie zuvor in der Stadt, nur dass die
Heizung hier nicht funktionierte und die Fenster klemmten, es machte allein deswegen schon viel mehr Spaß, unablässig über den Förderantrag zu reden und Leute mit einzubinden, die ihre Nachbarn waren. Manchmal hatte man das Gefühl, dass der Förderantrag das Einzige war, das alles noch zusammenhielt, dass der Förderantrag das einzige wirklich Echte war, das es noch gab. Um etwas zu bewegen, etwas zu verändern, muss man wandern, durch ein tiefes Tal, oder, um bei dem Bild zu bleiben, durch einen Dschungel – den Förderantrags-Dschungel. Vielleicht könnte ja genau davon auch der Förderantrag handeln?
Das Gute war, dass es recht viele Programme gab. Programme, die Gelder auslobten, um die Missstände, die es auf dem Land zweifelsohne gab, zu beheben. Und das zweite Gute: Es waren gar nicht sooo viele Leute, die so einen Förderantrag überhaupt ordnungsgemäß stellen konnten. Wer nicht schon mit solchen Anträgen zu tun gehabt hatte, vielleicht in einer Agentur eine Hospitanz oder ein Praktikum gemacht hatte, der hatte quasi keine Chance, einen Förderantrag ordnungsgemäß zu stellen. Im Grunde, wenn man es so betrachtet, konnten die Landleute, also die, die schon vorher da waren, eigentlich froh sein, über die Neuen aus der Stadt. Wer sonst sollte denn die Anträge stellen und sich die Projekte ausdenken, über die das Geld, das ja gerade für den ländlichen Raum zur Verfügung steht, wirklich dort ankommt? Manchmal schaute er vom Bildschirm auf, hinaus über die Felder hinter dem Haus. Seit Stunden kreisten dort die Monstertraktoren der Agrargesellschaft, schwerfällig, unablässig, über die endlosen Flächen. Jedes Jahr wurden die Maschinen größer, jedes Jahr muss- ten die Hecken an den Feldwegen etwas weiter zurückgeschnitten werden, bis sie am Ende kaum noch vorhanden waren. Er hatte anfangs gedacht, sie kämen nur zur Aussaat oder zur Ernte, das ließe sich ertragen. Aber es war immer etwas auf den Feldern zu tun: Granulat, Pestizid, Düngemittel, irgendeine flüssige Substanz, die der Leiter der Agrargesellschaft aufbringen ließ. Tagelang rollten die Traktoren über das verdichtete Erdreich, begleitet von Lastwagen, die Nachschub lieferten, Agro-Diesel, Spritzmittel, fungizidbehan- deltes Saatgut oder was auch immer.
Manchmal fragte er sich schon, ob es überhaupt der richtige Weg war, die Photovoltaikgegner zu unterstützen, die nicht wollten, dass die weitläufige Natur mit Panels zugepflastert würde. Gerade hier, in einer der schönsten Ecken. Aber immer nur Gift und künstliche Düngemittel? Dann kam der Leiter der Agrargesellschaft in seinem amerikanischen Pick-up angefahren, um zu sehen, was er noch auf den Feldern verteilen lassen könnte. Der Mann, der immer einen Grund zum Lächeln hatte. Inzwischen war er auch Leiter der neu gegründeten Erneuerbaren-Energiegesellschaft, die an neue Subventionen rankommen wollte. Was war wirklich wichtig? Partizipativ, rural, Gemeinschaft stärken – nein, besser Community. Commoning. Was mit Tanz ist gut, oder Musik, die versteht jeder. Vielleicht ein DJ aus der Stadt? Ich kenn da einen, der ist ganz geil. Und ziemlich bekannt. Der würde bestimmt mal rauskommen, für ein paar hundert Euro. Sonst, wenn der bei Events auflegt, kriegt der tausend.
Vielleicht musste man einfach sein Wesen mit dem Förderantrag in Einklang bringen, den Förderantrag als den Lebensentwurf sehen, den eigentlichen Grund, aus dem man hier ist, oder zumindest das, was einem das Überleben sichert. Oder man lebt das Leben so, dass es als solches schon als Förderantrag durchgeht.
Dann würde man Mittel bekommen, ganz einfach dafür, dass man da ist. Am richtigen Ort, zur richtigen Zeit. Die Luft atmet, den Traktoren zusieht und sich seine Gedanken macht. Die Kreatur, in seinem Fall der ehemalige Kulturschaffende auf dem Land, die allein durch ihre Existenz förderwürdig ist.
Wahrscheinlich müsste man einen Verein gründen. Einen Verein, dessen einziger Vereinszweck es ist, Fördermittel zu beantragen. Geht das überhaupt? Ein Förderantragsverein? Gemeinnützig wäre der auf jeden Fall.
T Lukas Kubina
F Martin Fengel
The Germans
Historisch ist Deutschland ein Auswanderungsland. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ob sie im Glauben und der Religion verankert waren, es sich um politische Gegner:innen, Verfolgte oder »Wirtschaftsflüchtlinge« handelte, es das Ergebnis von Wanderbewegungen der Incels ist, die in der Hoffnung auf ein Ende des unfreiwilligen Zölibats aufbrachen, oder es klimaflüchtige Rentner:innen,
deutsche Siedler:innen aus der Kolonialzeit oder missionarische Aussteiger:innen sind, die sich unter Palmen legen, um sich von Kokosnüssen zu ernähren, sie alle teilen sich dabei eines: Dort, wo sie sich niederlassen, richtet sich mit ihnen auch ein Stück weit das vermeintlich Deutsche ein, das sie unweigerlich im Schlepptau führen. Das Bratwurstfest in New Braunfels (Texas), die Biergärten
in Swakopmund an der namibischen Atlantikküste, dem »südlichsten Nordseebad«, und ein Oktoberfest im brasilianischen Blumenau gehören dabei zu den spektakulärsten Blüten mit deutschem Migrationshintergrund. Das fortlaufende Projekt »The Germans« sucht die Spuren aber auch abseits davon, im Alltäglichen und scheinbar Trivialen.
Exportgut Heimat
In Koffern, in Liedern, Rezepten, Erinnerungen werden Heimatbilder in Konserven exportiert und leben über Ozeane, Grenzen und Jahrzehnte hinweg fort. Der Fotograf und Künstler Martin Fengel folgt diesen Schatten mit seiner Kamera, dorthin, wo sich das Vertraute
neu zusammensetzt: Fachwerk aus Klebeband auf Spanplatten, Weißbier unter Palmen, Gemütlichkeit als tropisches Konzept. Derlei Kuriositäten mögen salopp klingen, sie bergen aber tiefe Einblicke. Zwischen Ironie und Zärtlichkeit zeigen seine Bilder, wie sich das »Deutsche« im Exil verwandelt – als Echo, als Ornament, als Missverständnis.
Dieses Deutsche, wo immer es auftritt, bleibt nie ganz dasselbe – es wandelt sich, mischt sich, verliert sich, findet sich wieder. Und vielleicht liegt genau darin eine Erkenntnis: dass Zugehörigkeit nichts Starres ist, sondern ein Zustand in Bewegung. Wer geht, nimmt etwas mit. Wer ankommt, bringt etwas Neues. Und in diesem ständigen Austausch entsteht, fern der Heimat, ein anderes Bild von ihr –
flüchtig, vielstimmig, oft auffallend bayerisch geprägt, ungeachtet ob die Herrschaften aus Mainz oder Görlitz stammen. Die deutsche Geschichte – und die Flucht vor ihr – führte zwangsläufig dazu, dass sich dabei nicht nur die Hochkultur, das Brauereiwesen und die deutsche Ingenieurskunst im Exil entfalteten. Die Zeiten, in denen man im Stadtbild von Buenos Aires die Hakenkreuze nicht
übersehen, oder, wie nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, Josef Mengele dort verschwinden konnte, sind nicht vergessen. Obgleich das nicht das Hauptaugenmerk des Projekts ist, versucht »The Germans« auf einer Metaebene zu verdeutlichen, dass in der Vergangenheit auch hierzulande Leute wegen Armut und Krieg die Flucht antreten mussten. In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft mit zuweilen fremdenfeindlichen Klimazonen will es
damit zu mehr Verständnis und Menschlichkeit anregen. Im Stadtbild. Am Stammtisch. In der Politik. Gerade jetzt, in den Nachbeben der größten Einwanderungswellen seit dem Zweiten Weltkrieg schadet es nämlich überhaupt nicht, daran zu erinnern: Es könnte jeden treffen. Somit durchbricht das Projekt auch Vorurteile und Ressentiments – es dreht das Thema Flucht um und spiegelt es auf Deutsche.
Dialog fördern das soziale Gefüge erneuern
Dialog fördern und soziale Gefüge erneuern
T Mathieu Wellner
F Martina Borsche
Das »neue« München
Als der Zweite Weltkrieg endete, lag München in Trümmern. Zwischen 1940 und 1945 erlebte die Stadt insgesamt sechsundsechzig Luftangriffe. Besonders verheerend waren jene im Juli 1944, als über tausendfünfhundert Bomber große Teile der Altstadt und der nördlichen Vorstadt zerstörten. Rund sechstausend Menschen kamen ums Leben, dreizehntausend wurden schwer verletzt. Am Ende des Krieges waren etwa siebzig Prozent der historischen Bausubstanz vernichtet. Die geschätzte Trümmermenge betrug siebeneinhalb Millionen Kubikmeter – das entspricht dem dreifachen Volumen der Cheops-Pyramide. Die Beseitigung der Schuttmassen wurde zum ersten großen städtebaulichen Projekt der Nachkriegszeit. Viele der Arbeiten erfolgten zunächst in Eigeninitiative, später auch unter städtischer Organisation. Bürgermeister Thomas Wimmer unterstützte persönlich die große »Rama-dama-Aktion« am 29. Oktober 1949, bei der tausende Münchnerinnen und Münchner gemeinsam die verbliebenen Schuttreste im Stadtgebiet räumten. Die Wohnungsnot war dramatisch. Etwa dreizehntausend Gebäude mit über zweiundsechzigtausend Wohnungen waren vollständig zerstört und mussten neu errichtet werden. Weitere achttausend Bauten mit mehr als zweiunddreißigtausend Wohnungen konnten instand gesetzt, sechsunddreißigtausend Stadthäuser mit über hundertsiebenundzwanzigtausend Wohnungen zumindest repariert werden. Die Stadt stand vor einer Mammutaufgabe. 1947 übernahm das neu geschaffene Wiederaufbaureferat die Koordination aller Projekte. Es diente als Schnittstelle zwischen Stadt, Land Bayern und der amerikanischen Militärregierung. Stadtbaurat Karl Meitinger hatte schon in der Kriegszeit über Konzepte nachgedacht, die jetzt zur Grundlage einer erstaunlich schnellen Aufbauphase wurden. Am 9. August 1945 legte er dem Stadtrat ein umfassendes
Stadtentwicklungskonzept vor. Kernstück war ein großzügiger Verkehrs- und Grüngürtel um die Altstadt, der spätere Altstadtring. Das Konzept sah einen siebzig Meter breiten Ring um die Altstadt vor, der als Verkehrs- und Parkzone dienen und die Innenstadt von modernen Büro- und Hochhäusern umgeben sollte. Viel konservativer waren seine Ideen für die Innenstadt. In »Das neue München« formulierte Meitinger 1946 seine Leitlinien: »Wir müssen unter allen Umständen trachten, die Erscheinungsform und das Bild der Altstadt zu retten und müssen alles erhalten, was vom Guten und Wertvollen noch vorhanden ist. Wo im einzelnen von den baukünstlerisch wichtigen Bauten noch so große Reste stehen, daß das Ganze rekonstruiert werden kann, soll das alte Bild wieder erstehen; wo nichts mehr vorhanden ist, soll nach modernen Gesichtspunkten, aber im Sinn der Altstadt, neu und frei gestaltet werden.« Meitingers Pläne kombinierten Bewahrung und Fortschritt. Das »Bild der Altstadt« sollte gerettet, zugleich aber Platz für moderne Verkehrsführungen geschaffen werden. Besonders um den Tourismus – eine zentrale Einnahmequelle – wiederzubeleben, wollte man das vertraute Erscheinungsbild Münchens erhalten. Sein Ziel war, wie er schrieb, »damit wir in einigen Jahrzehnten unser liebes München wieder haben, wie es war«. Prägende Beispiele für die Rekonstruktion wurden die Ludwigstraße und der Marienplatz. Auch Oberbürgermeister Scharnagl unterstützte diesen konservativen Kurs. Für ihn hatte die moderne Architektur keinen »dauernden Wert«. Damit waren die Grundlinien der Münchner Nachkriegsarchitektur festgelegt: der sogenannte »Münchner Weg«. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten blieb München von großflächigen Tabula-rasa-Konzepten verschont. Eine moderne Bebauung für den Kernbereich Münchens war unerwünscht. Doch diese politische Entscheidung war nicht unumstritten.
Während Meitingers Ansatz den Erhalt des Altbekannten betonte, forderten Kritiker eine radikalere architektonische Erneuerung. Architekturprofessor Robert Vorhoelzer lehnte die Vorstellung, sämtliche zerstörten Gebäude der Altstadt detailgetreu zu reproduzieren, entschieden ab: »Altes und Neues muß sich ergänzen. Wir wollen nicht Museen gestalten, sondern wollen Mut haben, Lebendiges – wenn möglich Gleichwertiges – schöpferisch zu entwickeln.« In einem gemeinsamen Aufruf mit Architektinnen und Architekten wie Egon Eiermann und Lilly Reich formulierte Vorhoelzer einen moderneren Wiederaufbau: »Das zerstörte Erbe darf nicht historisch rekonstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form erstehen.«
Auch der Architekt Hugo Häring plädierte entschieden für »Neubau statt Restauration« und verstand sein Engagement für moderne Architektur als bewusstes und »auch politisches Bekenntnis«.
In den 1950er Jahren erlebte das Bauen in Deutschland einen Wandel. Nach einer kurzen Phase der Stagnation setzte mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ein starker Bauboom ein. Die Architektinnen und Architekten dieser Zeit distanzierten sich bewusst von der nationalsozialistischen Monumentalarchitektur, die auf Masse, Schwere und streng symmetrische Herrschaftsgesten gezielt hatte. Stattdessen suchte man eine neue Sprache aus Transparenz, Leichtigkeit und modernen Materialien wie Stahl, Glas und Beton. Architektur sollte Ausdruck eines Neuanfangs sein.
Die Bauwerke der 1950er Jahre werden rückblickend oft als »Dynamische Moderne« beschrieben. In Wahrheit war die Architektur der Zeit meist sehr nüchtern, wirtschaftlich und bescheiden geplant. Die Maxime des Wiederaufbaus war »schnell und günstig« und die effiziente Rasterbauweise setzte sich durch. Von einer wirklichen »Stunde null« konnte keine Rede sein. Vieles war eine Weiterentwicklung
bestehender Ideen, nun jedoch mit dem Anspruch auf eine klare Zäsur zur NS-Zeit.
Ein besonders anschauliches Beispiel für den architektonischen Bruch mit der Vergangenheit wurde 1957 direkt gegenüber dem Haus der Kunst in München gebaut. Während das Museum durch seine Masse, seine strengen Achsen und die deutliche Monumentalität noch das Selbstverständnis der NS-Zeit verkörpert, sollte der Neubau des US-Generalkonsulats bewusst das Gegenteil zeigen. Der Bau des Architekturbüros SOM sowie von Sep Ruf setzte auf Leichtigkeit und Offenheit. Das viergeschossige Gebäude wird zum Stadtraum hin aufgelockert, das Erdgeschoss steht auf schlanken Stützen und ließ freien Blick und Bewegung entlang der Königinstraße zu. Die Architektur reagierte damit unmittelbar auf die Wucht des Nachbarn. Wo das Haus der Kunst Härte, Kontrolle und Monumentalität ausdrückt, will das Generalkonsulat Transparenz, Dynamik und Zugänglichkeit vermitteln. Es wird zum baulichen Statement einer neuen Haltung, die Distanz zur unterdrückenden Symbolik der Vergangenheit sucht und stattdessen ein Bild von Demokratie und Weltoffenheit zeigt.
Die Alte Pinakothek ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie die Architektur Münchens nach dem Krieg zwischen Erneuerung und Bewahrung balancierte. Nach den schweren Zerstörungen durch Luftangriffe in den Jahren 1943 und 1944 blieb von Leo von Klenzes klassizistischem Museumsbau nur die äußere Mauerschale stehen. Die Ruine überdauerte acht Jahre, Wind und Wetter ausgesetzt, während man über Abriss oder Wiederaufbau diskutierte.
Für die Architekten gab es im Prinzip zwei Wege: eine vollständige Rekonstruktion oder einen Neubau nach dem Abriss des Gebäudes. Der Architekt Hans Döllgast formulierte einen dritten Weg: die
»schöpferische Interpretation«. Döllgast, Professor an der Technischen Hochschule München, begann schon kurz nach den ersten Bombentreffern mit Studien für den Wiederaufbau. Der Wiederaufbau wurde zu einem bewussten Akt der Erinnerung: kein Bruch mit der Geschichte, sondern ihre Weiterführung. Technisch und räumlich griff Döllgast tief in die Struktur des Hauses ein. Er verlegte den Eingang von der Ostseite an die Nordseite, entwickelte ein neues Treppenhaus mit zwei gegenläufigen Läufen hinter der Südfassade und veränderte die Dachformen. Der Wiederaufbau der zerstörten Südfront verlangte eine Konstruktion über einem vierzig Meter breiten sichtbaren Bombentrichter. Sieben schlanke Stahlrohre trugen zunächst, im Rhythmus der ehemaligen Loggia angeordnet, die neue Dachkonstruktion. Später ersetzte er die verlorenen Fassadenteile bewusst durch unverputzte Trümmerziegel.
Am 6. Juni 1957 wurde die Alte Pinakothek wiedereröffnet und gilt heute als Muster für den sensiblen und intelligenten Umgang mit historischer Substanz.
Am Nationaltheater lässt sich besonders deutlich ablesen, wie vielfältig der Umgang mit Wiederaufbau sein kann: teils etwas interpretiert, teils streng rekonstruiert. Entworfen wurde das Haus von Karl von Fischer und 1818 eröffnet, beeinflusst von zeitgenössischen französischen Opernbauten wie dem Pariser Odéon. Obwohl finanzielle Einschränkungen zunächst einzelne Bauteile verhinderten, setzte der Neubau mit über zweitausend Plätzen Maßstäbe und wurde zum größten Theater im deutschsprachigen Raum. Nur wenige Jahre später, im Januar 1823, zerstörte ein Brand das Gebäude weitgehend. Mit der Wiederherstellung wurde Leo von Klenze beauftragt. Obwohl er andere Vorstellungen vom Theaterbau vertrat, hielt er sich auf Wunsch von König Max Joseph im Wesentlichen an
Fischers Entwurf. Er nutzte die Gelegenheit jedoch für technische Verbesserungen und eine neue städtebauliche Einbindung. In dieser Phase entstand auch der monumentale Portikus mit den acht Säulen, den Karl von Fischer bereits vorgesehen hatte. Anstelle des Walmdachs über dem Logenhaus setzte Klenze einen Dreiecksgiebel, der die klassizistische Silhouette stärker betonte. 1855 übernahm er erneut Umbauarbeiten am Haus und da er diesmal nicht mehr an frühere Vorgaben gebunden war, vereinfachte er Dekorelemente und gestaltete die Kuppel neu. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Nationaltheater im Bombenangriff vom Oktober 1943 erneut zerstört; nur die Außenmauern blieben erhalten. Ein großer Wettbewerb nach 1945 brachte kein eindeutiges Ergebnis, sodass man sich schließlich für eine weitgehend originalgetreue Wiederherstellung entschied. Zwischen 1955 und 1963 wurde der Bau unter Gerhard Graubner und Karl Fischer rekonstruiert, mit Orientierung an historischen Vorbildern und gleichzeitig integrierter moderner Technik. Der kreisförmige Zuschauerraum mit seinen fünf Rängen blieb erhalten, wurde aus Brandschutzgründen jedoch leicht in Richtung Bühne verschoben und neu erschlossen. Auch die Fassaden erhielten ihre klassische Form zurück, nur einzelne plastische Details wurden ersetzt.
Heute steht das Nationaltheater in seiner vierten Ausführung: dem originalen Bau von Fischer, der Rekonstruktion Klenzes, den Umbauten von 1855 und dem Wiederaufbau der Nachkriegszeit. Eine Teilsanierung liegt aktuell gerade hinter uns und eine Generalsanierung steht in zehn Jahren bevor.
Das Gebäude trägt bereits mehrere Schichten von Entscheidungen, Überlagerungen und Rückgriffen in sich, und mit jeder weiteren Sanierung kommt eine neue Referenz hinzu. Ein Bauwerk, in dem
sich Zeit nicht ablagert, sondern fortgeschrieben wird. Trotz mehrfacher Zerstörung, Veränderung und Modernisierung blieb dabei eines unverändert: seine Verankerung in der Münchner Altstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auch Stimmen, die den Wiederaufbau dieser Altstadt an alter Stelle grundsätzlich infrage stellten. Einer der radikalsten unter ihnen war der Architekt und Stadtplaner Bodo Ohly, der Anfang 1947 vorschlug, das zerstörte Münchnen aufzugeben und stattdessen ein »Neu-München« am Starnberger See zu errichten. Seine Schrift »Utopie oder Ausweg. Planung einer neuen Stadt« wurde zwar kurzzeitig diskutiert, blieb jedoch ohne größere Resonanz. Praktische Gründe sprachen gegen eine völlige Neugründung: Trotz der schweren Zerstörungen war die grundlegende Stadtstruktur – Straßenräume, Leitungsnetze und Fundamente – weitgehend erhalten. Diese verbliebene Infrastruktur machte es möglich, München wiederaufzubauen, statt es völlig neu zu planen. Auch Überlegungen, privaten Grund und Boden in Gemeineigentum zu überführen, wurden angestellt, scheiterten jedoch an rechtlichen Hürden.
Im Rückblick zeigt sich: Stadtbaurat Karl Meitinger und Oberbürgermeister Karl Scharnagl setzten beim Wiederaufbau der Innenstadt auf Tradition. Ihr Leitbild sah den Erhalt der gewachsenen Stadtstruktur und der prägenden Bauwerke vor – die Münchner Altstadt sollte im vertrauten Erscheinungsbild wiedererstehen. Gerade hier hätte eine »schöpferische Interpretation« im Sinne von Hans Döllgast dem Wiederaufbau gutgetan. Döllgasts Haltung – das Alte respektvoll zu ergänzen, ohne es zu imitieren – hätte auch den städtebaulichen Konzepten der Nachkriegszeit mehr gestalterische und geistige Tiefe verleihen können. So wäre München nicht nur bewahrt, sondern zugleich weitergedacht worden.
Zurück auf Start –die zweite Luft
Vom größten Triumph seiner Karriere trennen Amanal Petros am Ende sechzehn Zentimeter. Dabei hatte der Deutsche das Rennen beherrscht. Er führte, als die Spitzengruppe ins Nationalstadion von Tokio einlief, und noch, als sie in die letzte Kurve einbog. Er führte, obwohl er nicht nur gegen die starke Konkurrenz anlief, sondern auch gegen die Spätsommerhitze und einen Krampf kämpfte. Er sieht gequält aus, er beißt die Zähne zusammen. Und doch: Im Ziel fehlen ihm drei Hundertstelsekunden zum Sieg.
Dieser Lauf bei der LeichtathletikWM 2025 geht als eines der spannendsten Finals aller Zeiten in die Sportgeschichte ein. Denn er endet so knapp, wie es eigentlich im Marathon nicht vorgese-
T Niclas Seydack
hen ist. Marathonzeiten werden nicht in Hundertstelsekunden ausgezählt, nicht einmal in Zehnteln. Erst die Zeitlupe zeigt: Amanal Petros wird auf den letzten acht Schritten eines
Zweiundvierzig-Kilometer-Ren nens überholt.
Später, im Gespräch mit Apollon, beschreibt Petros seine wider streitenden Gefühle bei der Siegerehrung. Eine Silberme
kennzeichnet den zweiten Sieger. Und den ers ten Verlierer. In den Stolz auf die eigene Leistung mischte sich große Enttäuschung. Doch Petros
zerbricht nicht daran. Sein bisheriges Leben habe ihn gelehrt, auch mit dieser Niederlage umzugehen: »Man muss als Marathonläufer akzeptieren, wie es ist. Oder auch generell: als
Vielleicht liegt in diesem Satz das Geheimnis seines Laufs, ja seines Lebens. Kaum ein deutscher Athlet hat so viele Rückschläge erlebt – und daraus immer wieder einen Neuanfang gemacht. Amanal Petros, der Flüchtende, der Suchende, der Kämpfende. Einer, der nie stehen blieb, wenn das Leben ihn stol-
flieht er. Allein. Nicht einmal seiner eigenen Mutter sagt er, dass er geht. »Damit sie sich keine Sorgen macht«, sagt Petros heute. Und, weil er sich sicher ist: »Sie hätte mich nicht freilassen können.« Als unbegleiteter Flüchtling landet er im deutschen Winter des Jahres 2012. Er hat nicht einmal eine Winterjacke, als er in eine Sammelunterkunft in Bielefeld gebracht wird. Er tut sich schwer mit Deutschland, sagt Petros heute noch. Die Kultur, die Mentalität, die Sprache.
Geboren ist Petros in Eritrea, aufgewachsen in Äthiopien. Zwei Länder im Krieg miteinander. Petros, das Kind, dazwischen. Mit gerade einmal sechzehn
Zuflucht findet er in der Bewegung. Im Sport, der keine Worte braucht. Zuerst auf dem Bolzplatz, ehrgeizig, aber unbeholfen. Zu groß, zu schmal, zu freundlich für die Härte des Amateurfußballs. Bald erinnert er sich an das, was ihm früher in Äthiopien Freude gemacht hat – das Laufen. Also tauscht er Stollen gegen Spikes. Ein Läufer, den er zufällig kennenlernt, nimmt ihn mit zum TSVE Bielefeld. Dort, zwischen
Aschebahn und Hallenstaub, beginnt etwas Neues. In der Trainingsgruppe findet er, was ihm in Deutschland so lange fehlte: Gemeinschaft, Sprache, Orientierung. Ein Ziel. Sein erstes Rennen läuft Petros beim Citylauf in Espelkamp. Zehn Kilometer Stadtlauf, die er in sechsunddreißig Minuten beendet. Streckenrekord. Für einen Amateurläufer eine schier unglaubliche Zeit. Ein schrammeliger Pokal, aber vielleicht der wichtigste seiner Karriere. Hier, auf den Nebenstraßen Ostwestfalens, erzählt Petros heute, erwacht in ihm ein Traum: Olympia. Es ist der Moment, in dem aus dem Flüchtling ein Athlet wird, geboren aus nichts als Ehrgeiz und dem ersten Paar Laufschuhe.
Die olympische Idee ist es, die besten Sportler aller Länder gegeneinander antreten zu lassen. Petros aber fehlt eine Flagge, unter der er antreten kann. Ohne deutschen Pass kein Startrecht.
Also müht er sich. Lernt Sprache, Kultur, Geschichte. 2015 folgt die Einbürgerung. Das erste Rennen unter Schwarz-Rot-Gold sei anfangs seltsam gewesen, sagt er: »Aber ich war auch sehr, sehr stolz.« Doch zwischen ihm und dem Traum von Olympia steht etwas Banales: Geld. Man kann schwer von Goldmedaillen träu men, wenn man nebenher arbei ten muss. Doch der Neustart als Staats bürger bringt einen Vorteil: Petros kann Sport soldat werden. Nach der Grund ausbildung kann er endlich ernsthaft trainieren – und wird bezahlt. Das habe für »Ruhe im Kopf« gesorgt, sagt er heute. Ohne diese Unterstützung stünde er nicht dort, wo er jetzt ist. Es folgen die ersten Achtungs erfolge auf großer Bühne. Silber bei der U23-EM 2017 in Polen, Doppel-Silber bei den Military World Games
2019, einer Art Olympische Spiele für Soldaten. Austragungsort: das chinesische Wuhan, ausgerechnet. Dort, wo Petros Karriere Fahrt aufnimmt, entsteht zeitgleich etwas, das seine Ambitionen gefährden wird: Covid-19. Gerade trainiert er in Kenia, als der Leichtathletik-Verband ruft: Er soll sofort nach Hause kommen. Das war keine Bitte, sagt Marathon ist ein grausamer Sport, für Körper und Psyche. Selbst Profis wie Petros laufen zwei, vielleicht drei große Rennen pro Jahr. Wer ein Rennen verpasst, hat tausende Kilo-
Für Petros ist es eine schwere Zeit: »Mein Ryhtmus ging verloren. Auch mental war ich nicht so stabil.« Immerhin: Mit jedem Neustart seines Lebens hat er eine starke Säule hinzugewonnen, die sein Leben stützt, wenn er stolpert. Die Sportförderung der Bundeswehr bleibt auch während der Pandemie bestehen. Sie hilft ihm. Er gibt nicht auf. »Ich glaube immer an die zweite Chance«, sagt Petros.
Und wer alle verpasst, weil eine Pandemie die Welt stoppt, muss im schlimmsten Fall sein restliches Leben neu entwerfen.
Tatsächlich, er schafft es: die Qualifikation für das zuschauerarme Olympia von Tokio im Jahr 2021. Die Gelegenheit, die Widrigkeiten hinter sich zu lassen – auf der größten Bühne der Welt. Doch ein Motorradunfall nur wenige Wochen vor den Spielen macht das entscheidende Training vor dem Wettbewerb fast unmöglich. Petros beendet das Rennen auf Rang dreißig. Kein Drama. Aber eben kein Triumph. Aber er macht weiter. Vierter Platz bei der WM 2022. Deutscher Rekord beim
Berlin-Marathon in zwei Stunden, vier Minuten, achtundfünfzig Sekunden. Der Traum lebt. Kurz vor den Spielen 2024 in Paris liegt er krank im Bett. Das Rennen muss er nach zweiunddreißig Kilometern aufgeben.
Nach dieser Enttäuschung reist
Petros nach Addis Abeba. Zum ersten Mal seit seiner Flucht sieht er seine Mutter wieder. Sie ist nicht böse. Sie nimmt ihn in den Arm. Für einen Moment ist er kein Athlet, kein Geflüchteter, kein Ver lierer – nur Sohn. Dieses Heim kehren, das Neuknüpfes eines familiären Bandes treibt ihn zu neuen Höhen. Im April 2025 läuft Amanal Petros in Berlin einen Halbmarathon unter einer Stun de, er ist der erste deutsche Ath let, dem dies jemals gelungen ist. Mit diesem Hochgefühl reist er erneut nach Tokio, diesmal zur Leichtathletik-WM 2025. Dieses Mal, verdammt, soll es endlich klappen mit der Goldmedaille.
Tokio fühlt sich an »wie ein Traum«, sagt Petros. »Die ersten zwei Tage habe ich fast gar nicht geschlafen, weil alles so aufregend war.« Dann dieses Rennen. Diese sechzehn Zentimeter. Das böse Erwachen. Petros sagt, er würde sich wünschen, sie hätten zwei Goldmedaillen vergeben. »Ich hätte sie uns beiden gegönnt.« Vielleicht ist das die Pointe seiner Karriere – und seines ganzes Leben. Petros mag ver-
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»Rotting from Within« bezieht sich auf ein Gefühl, das Abdulhamid Kircher bei der Aufklärung der Geschichte seines Vaters beschreibt: die Entdeckung des generationsübergreifenden Traumas innerhalb der Patriarchen seiner Familie und die daraus resultierende Aufgabe, das eigene Selbst des Künstlers zwischen den vererbten Dingen zu finden. Beginnend im Alter von siebzehn Jahren mit der Wiederbegegnung mit seinem Vater, der kurz zuvor aus einer Haft wegen Drogenhandels und versuchten Mordes entlassen worden war, ging Kirchers selbstgeführte Auseinandersetzung über die Fotografie mit einer Reflexion über seine Vergangenheit einher. In Berlin geboren und in jungen Jahren in die USA geflohen, bot ihm die Kamera einen Zugang zu Intimität und Vertrautheit mit seinem Vater sowie mit seiner türkischen Kultur und Herkunft, während sie zugleich eine tiefe Beziehung zum fotografischen Medium und dessen Möglichkeiten förderte.
Rotting from Within Abdulhamid Kircher
»Rotting from Within« verwebt einen zutiefst persönlichen, autobiographischen Faden mit fotografischer Kraft und Offenheit, der zu psychologischen Fragen von Identität und der Verherrlichung von Gewalt leitet. Die Fotografie bietet ein Mittel, durch den Schleier von Männlichkeitsmythen hindurchzublicken, die Welt zu bewältigen und sie zu verstehen. Kirchers vielschichtige visuelle Stimme spricht im Spannungsfeld zwischen innerem Monolog und einer nuancierten dokumentarischen Herangehensweise. Durch komplexe Gefüge aus Porträt, Beobachtung, Archivdokumenten, Tagebüchern und anderem spannt »Rotting from Within« visuelle Netze von Assoziationen auf zwischen Spekulation und Realität. Darin zu ahnen ist die inhärente Unbegreiflichkeit selbst der uns nächsten Mitmenschen und die Tatsache, dass wir uns das Leben, in das wir hineingeboren werden, nicht aussuchen können.
Restart tet, den zwischen und Erneuerung zurückzuge winnen.
bedeuden Raum zwischen Bruch Erneuerung zurückzugewinnen.
Heilung
T Timon Karl Kaleyta
F Ryan Molnar
Rund um das Außenbecken lag meterhoch Schnee. Die Gipfel der Berge ragten nach allen Seiten hin in den sich bereits verdunkelnden Nachmittagshimmel. Es war kaum ein Laut zu hören, die Bäume schluckten jedes Geräusch, nur in meinen Ohren pochte nach den Behandlungen des Tages das Blut im Takt meines Pulses. Ich glitt in das warme, salzige Wasser und tauchte unter.
Schon seit Tagen fiel der Schnee ohne Unterlass aus den Wolken, es war einer der kältesten Winter der vergangenen Jahrzehnte. Große Teile Europas lagen unter einer dichten weißen Decke. Auch jetzt schneite es, und als ich nach ein paar Sekunden wieder auftauchte, den Kopf in den Nacken legte und mir die Haare zurückstrich, fielen dicke Flocken auf mein Gesicht, wo sie augenblicklich schmolzen. Ich ließ mich einige Minuten lang treiben, starrte hinauf in den rauschenden Himmel und atmete ein und aus. Wenn meine Ohren dabei für ein paar Sekunden lang untertauchten, hörte ich ein tiefes Dröhnen. Über der Wasseroberfläche war wieder alles still. Als ich mich nach einer Weile in Bauchlage drehte und in Richtung Aufgang schwamm, legte eine Frau von vielleicht Mitte dreißig ihren Bademantel ab und stieg mit federnden Schritten unmittelbar vor mir ins Wasser. Ich sah, dass ihre Wangen und ihre Stirnpartie von einer vermutlich gerade beendeten kosmetischen Anwendung glühten. Ihr Körper war durchtrainiert, drahtig, doch anmutig, und als sie mir scharf in die Augen sah, wandte ich meinen Blick abrupt ab, um ihr zu erkennen zu geben, dass ich ihre Nacktheit keinen Moment zu lang betrachten würde. Ich trocknete mich in der klirrenden Kälte ab, streifte mir den Bademantel über, und erst als ich die Tür zum Innenbereich öffnete, drehte ich mich noch einmal kurz nach ihr um – die Frau schwamm langsam, ich sah nur ihren über das Wasser dahingleitenden Hinterkopf.
Tags zuvor war ich auf Anraten meiner Frau Imogen hierhergereist. Hoch in die Berge Südtirols, ins San Vita, ein luxuriöses Gesundheitsresort, das erst vor rund zwei Jahren eröffnet hatte und mit seinem ganzheitlichen Ansatz aus Naturheilkunde und Spitzenmedizin seither international für Aufsehen sorgte. Auf der minimalistischen Webseite stand nur ein einziger Satz, dunkelgrau auf weiß:
Länger besser leben.
Imogen hatte entschieden, dass ich meinem Problem, das längst zu unserem Problem geworden war, dass ich meinem »Zustand«, wie sie es nannte, noch einmal anders begegnen müsste. Dass nur hier, in den Dolomiten, auf tausendfünfhundert Metern Höhe, abgeschottet von den Ablenkungen des Alltags, eine Lösung gefunden werden konnte. »Du musst es versuchen«, hatte sie noch am Tag der Abreise gesagt und meine Hände mit ihren umfasst. »Gib Professor Trinkl und seinem Team zumindest die Chance, dir zu helfen!« Seit Wochen wehrte ich mich dagegen, machte ihr Vorwürfe, verlor immer wieder die Nerven. Ich glaubte nicht daran, dass Prof. Trinkl mir würde helfen können, aber dass ich meiner Frau so ablehnend und gereizt begegnete, war selbstverständlich bereits Teil meines Problems, das weiß ich jetzt.
(...)
Mindestens eine Woche, besser zwei oder drei, würde ich nun bei Prof. Trinkl in den Bergen verbringen. Imogen hatte bei einem Abendessen ihres Galeristen erstmals vom San Vita erfahren, sie hatte aus erster Hand von Menschen gehört, die, wie es hieß, von Grund auf verändert von dort zurückgekehrt waren. Und obwohl ich ihr zu verstehen gab, dass ich die Kosten für Aufenthalt und Behandlung entschieden zu hoch fand, obwohl ich sie davor warnte, mich im San Vita heimlich einer Seelenschau unterziehen lassen zu wollen, ließ sie keine Widerrede gelten und arrangierte alles. »Sei unbesorgt, es ist etwas anderes«, sagte Imogen bei meiner Abreise. »Im San Vita ist alles anders.« Ich musste zumindest so tun, als würde ich daran glauben. Es war meine letzte Chance. Und so war ich gegen meinen erklärten Willen hierhergekommen.
Bedingt durch die extreme Witterung erreichte ich den winzigen Bahnhof in Terlan erst mit drei Stunden Verspätung. Es war bereits stockfinster. Als einziger Passagier stieg ich aus und sah in dem
dichten Schneegestöber die Hand kaum vor Augen. Ich versuchte, das Resort telefonisch zu erreichen, doch eine Verbindung ließ sich nicht herstellen.
Plötzlich sah ich, zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher, eine gedrungene, winzige Gestalt auf mich zukommen.
»Verzeihung?«, rief ich ihr zu, da war sie schon ganz dicht an mich herangetreten, lächelte und streckte die Hand nach meinem Gepäck aus.
»Darf ich?« Der Mann war beinahe so breit wie hoch, er erinnerte mich an einen Zwerg. Ich nickte.
»Schön, dass Sie es geschafft haben. Wir haben uns bereits Sorgen gemacht«, sagte er mit einer gepressten Stimme, in seinem Bart glitzerten ein paar Eiszapfen. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen? Es ist nicht weit.«
Mit festem Schritt stapfte er voraus, meine Reisetasche über seine rechte Schulter geworfen, das dichte Fell seiner Kapuze wippte vor mir auf und ab.
»Sie haben hier aber nicht seit drei Stunden auf mich gewartet?«, rief ich ihm zu und lachte, und er drehte sich um und lachte nur zurück, da erreichten wir die schmale Straße. »Bitte verzeihen Sie die Umstände.« Er deutete auf einen uralten roten Fiat Panda, der mit laufendem Motor im gelben Licht einer Laterne stand. »Mit schwereren Autos kommen wir nicht gut durch die Serpentinen.« »Natürlich«, antwortete ich und zwängte mich auf die Rückbank, während der kleine Mann meine Tasche im Kofferraum verstaute.
Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde. Draußen vor dem Fenster war nicht das Geringste zu erkennen. Mein Fahrer sprach kein Wort mehr, und auch ich stellte keine Fragen. Einmal stöhnte er leise und riss hektisch das Lenkrad herum, ohne dass das Auto eine besondere Wende gemacht hätte. Erst jetzt bemerkte ich, dass mit seinem linken Arm etwas nicht stimmte. Er lenkte und schaltete nur mit der rechten Hand.
Wir glitten dahin. Ich hatte mich in losen Gedanken verloren, als wir wie aus dem Nichts zum Stehen kamen und im Scheinwerferlicht des Fiat ein schweres Eisentor aufschwang. Vor uns lag die hell
erleuchtete Einfahrt einer Tiefgarage, die unmittelbar in den Berg hineinführte.
Noch in dem Moment, da ich aus dem Wagen stieg, nahm mich eine Ärztin im weißen Kittel in Empfang. Sie führte mich aus der kargen Garage hinaus in ein Treppenhaus und weiter ins Atrium. Überall knarzte das Holz, das Licht war warm und wohlig, es duftete nach Zirbe und aromatischen Ölen.
»Im Namen von Professor Trinkl heiße ich Sie herzlich willkommen. Hatten Sie eine gute Reise?«
Ich lächelte verkniffen.
»Sie haben gleich Gelegenheit, sich auszuruhen«, sagte sie. »Wir müssen nur noch rasch einen Blick auf Sie werfen. Es geht auch ganz schnell.«
In einer Art Aufnahmezimmer legte ich hinter einem Paravent meine Kleidung ab und gab sie mitsamt meinen Wertgegenständen in eine weiße Kunststoffbox. Auch mein Telefon durfte ich nicht bei mir behalten. Stattdessen fand ich später auf dem Sekretär meiner Hütte einen Füllfederhalter, mit dem ich rund um die Uhr Nachricht und Empfänger auf einen Bogen Papier notieren konnte, um, sobald eine Antwort vorlag, diese, ebenfalls handschriftlich, zugestellt zu bekommen.
Lediglich meine goldene Armbanduhr behielt ich an – Imogen hatte sie mir vor ein paar Jahren gekauft, eine kleine Überraschung, und ich hatte sie seither kein einziges Mal abgelegt. Ich streifte die bereitliegende Unterwäsche aus angenehm weicher Baumwollgaze über und trat halb nackt hinter dem Paravent hervor. Ich durchlief ein Belastungs-EKG sowie eine Koloskopie, eine Assistentin maß meinen Puls und Blutdruck und schloss mich zur Überprüfung der Lungenfunktion an eine mit zahlreichen Schläuchen und Pumpen versehene Maschine an. Schließlich schoben mich zwei Pfleger der Länge nach in einen Kernspintomographen. Nachdem ich all diese Tests hatte über mich ergehen lassen, gab ich eine Harn- und Stuhlprobe ab, wurde für die erste Nacht mit zwei Sensoren an den Schläfen versehen, und zuallerletzt nahm man mir drei Ampullen Blut ab, sodass mir beim Aufstehen kurz schwarz vor Augen wurde.
»Damit haben Sie das Unangenehmste auch schon hinter sich«, sagte die Ärztin mit einem Lächeln, »ab jetzt geht es nur noch bergauf.« Und dann gingen wir gemeinsam meine Termine für die kommenden sieben Tage durch. Ein straffer Zeitplan der Säuberung und Regeneration lag vor mir, der – wie sie es ausdrückte – vollständigen Neuorganisation meiner Selbstheilungskräfte. Es fiel mir schwer, mich auf all ihre Erklärungen zu konzentrieren. Doch ich nickte verständig, tat nach der langen Reise ganz einfach, was sie von mir verlangte, und verschwand im Anschluss an ein leichtes Abendessen, bei dem ich nur etwas gedünstete Forelle und zwei kleine Salzkartoffeln zu mir nahm, in meine Holzhütte, wo mich bereits eine handschriftliche Nachricht von Imogen erwartete.
Wenn du das hier liest, hast du schon viel geschafft. Ich bin unglaublich stolz auf dich. Die Leute sagen, Professor Trinkl könne zaubern. Es heißt, er blicke direkt in die Menschen hinein und nehme sie als sie SELBST wahr! Bitte lass es einfach geschehen. Und dann kommst du geheilt wieder zurück. Abgemacht?
Nichts versetzte mich zu jener Zeit in größere Panik als die Vorstellung, jemand könnte in mich hineinsehen. Trotzdem machte ich mich gleich an eine Antwort und schrieb, einerseits, weil es der Wahrheit entsprach, andererseits, weil ich wusste, dass Imogen es von mir erwartete, zwei kurze Sätze auf das bereitliegende Papier:
Ich liebe dich. Und: Das werde ich.
Die erste Nacht im San Vita verbrachte ich in gewohnter Nervosität. Ich fand in dem riesigen Zirbenholzbett, unter den schweren, gestärkten Oberbetten, keine Ruhe. Mitten in der Nacht wachte ich auf, und nach ein paar Momenten der Orientierung nahm ich die Beißschiene aus dem Mund, ging barfuß über die warmen Holzdielen zum Fenster und schaute hinaus in die eisklare Nacht. Hier und da flackerte noch Licht in den anderen Hütten, die sich rund um einen kleinen, vermutlich künstlich angelegten See reihten. Aus ihren Schornsteinen stieg dünner Rauch auf, sonst regte sich weit
und breit nichts. Der Schneefall hatte ausgesetzt, ein greller Vollmond stand hoch am Himmel, nur ganz langsam zogen einzelne Wolken an ihm vorbei, und erst jetzt erkannte ich, dass das Resort von dichtem Wald umgeben war. Alles im San Vita war zur Ruhe gekommen. Ich warf mir eine Wolldecke über, schlüpfte in die samtenen Hausschuhe und trat hinaus auf die Terrasse. Mein Atem schlug aus. Irgendwo rief ein Kauz. Dann wieder Stille. Ich verlor mich in Gedanken, als ich plötzlich ein Knacken im Unterholz hörte. Etwas kam langsam aus dem Wald und näherte sich über die geschlossene Schneedecke dem Haupthaus. Ich sah eine dunkle Gestalt, die ein totes Tier hinter sich herzog und dabei eine tiefe Spur hinterließ. Vor einem der Seitenflügel blieb sie stehen, öffnete eine in den Boden eingelassene Tür und verschwand die Treppe hinunter – und ich meinte zu hören, wie der Kopf des Tieres Stufe für Stufe dumpf auf Beton schlug. Erst kurz vor Sonnenaufgang schlief ich noch einmal ein.
Ich freu mich aufs Büro
T Stefan Gärtner
F Ingmar Björn Nolting
»Es geht weiter, immer weiter.«
Oliver
Kahn
Obwohl im durchaus passenden Alter, werde ich nicht von dem Gedanken verfolgt, ich müsse einmal »neu anfangen«. Mein Leben ist eingerichtet, und ich bin, als eher zaghafter, skeptischer, ängstlicher Mensch, durchaus dankbar dafür. Denn der Alltag ist mir keine Last, die ich abwerfen müsste, sondern das Skelett, das mich trägt.
Ich hab’s da natürlich gut, weil ich den passenden Beruf und die richtige Frau habe, und es gibt Gründe anzunehmen, dass ich als dreimal geschiedener Straßenbauer nur halb so zufrieden wäre.
Natürlich ist da die Frage, warum sich die einen im Straßenbau plagen und ich, bei Tee und Schnittchen, für Geld die Weltlage erörtern darf, und vielleicht müsste man ja wirklich einmal neu anfangen und die Entscheidung, wer im Straßenbau und wer am Schreibtisch arbeitet, nicht von Zufällen wie dem Elternhaus oder dem Geburtsort abhängig machen. Kurioser- oder gar nicht so kurioserweise hat das auch die realsozialistische DDR nicht geschafft, hier einfach Freiheit walten zu lassen, sondern, in kleinbürgerlicher Bosheit, die Lehrerskinder in den Straßenbau gesteckt und die Arbeiterkinder studieren lassen, und das war dann vielleicht der Unterschied zwischen dem Sozialismus, wie er war, und der klassenlosen Gesellschaft, die der Kommunismus verspricht.
Klassengesellschaft ist, wenn die eine Klasse über die andere herrscht, und also ist die »Diktatur des Proletariats« auch eine Klassengesellschaft gewesen, nur eben eine, die vom Kopf auf die Füße gestellt war.
Denn die Leute, die bei Tee und Schnittchen am Schreibtisch sitzen, können das nur, weil andere Leute die eigentliche Arbeit machen, also Bus fahren, Häuser mauern oder Supermarktregale füllen. Der Realsozialismus ging nun her und sagte, so, die gesellschaftliche Macht ist jetzt mal bei denen, die bei den großen Leuten kleine Leute heißen, und damit das ging, brauchte man eine Planwirtschaft, und dass die nicht so funktionierte wie erwartet und behauptet, beendete dann das Experiment nach vierzig Jahren. Für die DDR-Bürger war das ein Neustart, und mit Jörg Fauser gilt: Wer mit vierzig bei null anfängt, fängt nicht bei null an, sondern bei vierzig.
Beim Sichten alten Ostfilmmaterials auf Youtube erlebt man in der Kommentarspalte zweierlei: Freude, dass es vorbei ist, und im Gegenteil das, was »Ostalgie« genannt wird. Gut, es gab weniger zu kaufen, und mit seiner politischen Meinung hielt man lieber hinterm Berg. Aber dafür war das Leben ruhiger, berechenbarer, sicherer. Nun ist es zweifellos so, dass zu den Gründen, aus denen die Deutsche Demokratische Republik das Zeitliche segnete, die fehlenden Möglichkeiten zählten, nicht immer nur Alltag zu haben, sondern zu reisen, zu konsumieren, auszuflippen, und kaum sind die Möglichkeiten zur Gewohnheit geworden, werden sie als aufdringlich, ja bedrohlich empfunden. Eine immer wieder gern genommene Umfrage will wissen, was man nach einem Lottogewinn machen würde, und die Antwort lautet regelmäßig: weitermachen, doch ohne Angst und Druck. Wenn in der entwickelten Konsumgesellschaft überhaupt etwas den Neustart ermöglicht, dann die Million im Lotto, und was wollen die Leute damit? Morgens in Ruhe ins Büro gehen. Vielleicht ist es also gar nicht so weit her mit dem gesellschaftlichen – nämlich bloß konsumistischen – Diktat, wir müssten uns Tag für Tag individuell neu erfinden (und dabei eine wer weiß wie spezifische »Identität« haben), und es ist nicht mal Ironie, wenn die allgemeine Tätowierungsbegeisterung stracks dazu geführt hat, dass es nichts Gewöhnlicheres als eine Tätowierung mehr gibt. Mit grimmer Notwendigkeit führt alles, was rebellisch war, in die Konformität, und soweit das Naturwesen Mensch ein Energiesparer ist, wird es gut daran tun, sich nach der Norm zu richten, was dann nicht schadet, wenn die Norm nicht schadet. (»Rechtschreibung ist Höflichkeit«, hat mal jemand gesagt.) Unter diesem Blickwinkel verteidigte Theodor W. Adorno die Konvention als »zweite Humanität«, und also sind, anders als unsere Individualitätsbegeisterung glaubt, Norm und Konvention nichts schlechterdings Falsches; es kommt darauf an, wem sie nützen und wer sie warum verabredet.
Das vielbeschworene »Ausbrechen aus der Norm« ist schon darum längst zur Norm geworden, weil es sich verkaufen lässt. Corona ließ die Verkaufszahlen bei Wohnmobilen durch die Decke gehen, und die mit dem Camper ausbrechen wollten, mussten einen höheren
fünfstelligen Geldbetrag zur Verfügung haben, bestätigten mit ihrem Ausbruch also gerade das, was ein Ausbruch doch hinter sich lassen müsste; und wer sich im Internet Filme übers Aussteigen ansieht, wird die Erfahrung machen, dass das Unkonforme sich mit dem Konformen direkt verwechseln lässt. »Man entwickelt natürlich ’ne unheimliche Widerstandskraft«, sagt etwa einer, der in den Wald gezogen ist. »Ich habe gelernt, dass egal, was mir passiert oder widerfährt, dass ich immer ’ne Lösung finde«, und mit der Einstellung wäre er bei jeder Personalerin erste Wahl, ganz abgesehen davon, dass die quasispirituelle Waldexistenz davon abhängt, dass sie nicht allzu viele nachmachen, und das tägliche Brot auch weiterhin da herkommt, wo es für uns alle herkommt. Und die Jurte im Wald die Frage kaschiert, wem die Bäckerei gehört. Trotzdem – nein: deswegen – sehen wir das gern, weil es die Sehnsucht nach dem einfachen Leben bedient, nach frischer Luft und Waschen mit Schnee, ebender basalen Simplizität, die man am Realsozialismus so lachhaft fand (»Was ist in Rumänien noch kälter als das kalte Wasser? Das warme Wasser«). Und natürlich benutzt der Aussteiger keinen Faustkeil, sondern eine Motorsäge und redet so selbstverständlich von »Selbstwirksamkeit«, dass sein Neustart, bei aller Sympathie fürs Zurückgezogene und Bescheidene, wieder bloß aufs Alte rekurriert, nämlich aufs Psychogeschäft samt angeschlossenem Resilienz- und Outdoorwesen. Unser Waldmann gibt natürlich »Kurse«, er muss ja von was leben. Als plötzlich nichts mehr ging, Geschäfte geschlossen blieben und die Marktwirtschaft Pause machte, hatten viele die Sehnsucht, es sei dies der Beginn von etwas Neuem, Ruhigerem, Einvernehmlicherem; heute gilt eine halbe Generation als verloren, weil sie in den Formationsjahren zu Ruhe und Abstand gezwungen war, und bis weit ins Wohlstandsbürgertum hinein hat sich die Ansicht verhärtet, in den Seuchenjahren vom Verbots- und Gängelstaat um die Freiheit gebracht worden zu sein, anderen den Tod zu bringen. Was übrigens genau die Freiheit ist, die jener harte, nicht nur bei Elon Musk und Konsorten beheimatete Kapitalismus projektiert, dem der Verbots- und Gängelstaat sowieso als Hauptfeind gilt. Was immer als »Neustart« ausgerufen wird, ist ein Start in alten
Bahnen, und wie oft hat man der legendären »Stunde null« vorgerechnet, dass sie keine war, sondern das neue, demokratische (West-)Deutschland eins des alten Besitzes und des alten Personals; und wo man tatsächlich einen Neustart versucht hat, im Osten, geschah es als Import und unter Zwang, denn ganz so neu wollte den Start dann doch niemand haben. Die »Stunde null« ist, historisch wie grundsätzlich, ein Mythos, und der Wunsch nach Tabula rasa verwechselt das ganz Neue mit dem ganz anderen. Auf die Fehler, Brüche, Katastrophen blickend, möchten wir von Neuem auf die Welt kommen; als formte die uns nicht nach ihrem Ebenbild. Wer eine neue Welt will, muss die alte zerstören, und das ist keine sehr alltagstaugliche Sache.
Aus dem Ahlener Programm der CDU, 1947: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.« Und also: »Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschaftsund Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.« Zehn Jahre und ein Wirtschaftswunder später zieht die CDU mit »Keine Experimente!« in den Wahlkampf, und nochmals zwei Jahre drauf verabschiedet die SPD ihr Godesberger Programm, dem »freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative« als »wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik« gelten. Was die Ostdeutschen (und vermutlich nicht nur die) an den Ostfilmchen übrigens besonders schätzen, sind die »sicheren Grenzen«, und dass der kommende Neustart zwischen Rostock und Erzgebirge einer zu werden verspricht, der das furchtbar Alte aus der Kiste holt, ist vielleicht nicht die ganze, aber leider ein Teil der Wahrheit. Auch das Böse beruft sich auf den Neuanfang; das spricht nicht schlechthin gegen ihn, hat aber nicht nur den Skeptiker Kafka gegen ihn eingenommen. Das Neue wäre die solidarische, freie Menschheit; alles andere ist Alltag, so oder so.
Die Wohnung ist zu eng, die Beziehung mittlerweile eher eine Frage der Gewohnheit oder wir haben uns mit einer zu mächtigen Instanz angelegt. Es gibt Momente im Leben, die gehen mit einer extremen Abwechslungssehnsucht einher. Solche Impulse können uns kalt erwischen. Da richtet man sich dieses Leben jahrelang nach bestem Wissen und Gewissen ein: meint, endlich die Lieblingsjeans gefunden zu haben, baut sich vielleicht sogar mit zwielichtigen Methoden ein Milliardenunternehmen auf oder arbeitet sich mit plagiierten Doktorarbeiten in der Politik hoch. Und wenn dann eigentlich alles gerade recht bequem zu werden scheint: das Sofa so richtig schön eingepupst, der Status so richtig schön gesichert ... dann passiert es. Plötzlich ist Weitermachen keine Option mehr. Aber wie kann ein Neustart gelingen?
Der Toupet-Trick
Alles muss sich ändern. Und zwar jetzt! Nachdem die Financial Times aufgedeckt hatte, dass das Asiengeschäft von Wirecard praktisch frei erfunden war, dauerte es nur ein paar Monate, bis der erfolgreiche COO Jan Marsalek spurlos aus seiner Villa in Bogenhausen verschwand.
Ein Neustart – aber als Kaltstart. Inklusive diverser Passfälschungen, einem neuen Namen, einem neuen Bart und einer neuen Freundin. Nur den Job für den russischen Geheimdienst, den hatte er mutmaßlich vorher schon. Was können wir von Marsalek lernen für so einen Neuanfang? Erst mal, dass es sich lohnt, gut vorbereitet zu sein: Wenn ich mir schon im alten Leben Kontakte und damit Wege in ein neues aufbaue, dann kann der Start schnell gelingen. Und dann ist da noch die äußerliche Veränderung. So ein Toupet ist
schnell aufgeklebt und mit den Haaren können wir ein ganzes Narrativ umschreiben. Besonders wirksam war das, weil Marsalek zu Wirecard-Zeiten die reinste Schablone von einem Mensch abgegeben hat mit seiner Glatze und dem Anzug. Ein paar Kilo weniger, ein Bart und neue Kopfbehaarung konnten da schon viel ändern. Dass er sich heute mehr oder weniger im alten Look (Haare auf ein paar Millimeter und Dreitagebart) offen durch Moskau bewegt, zeigt aber vor allem: Mit einflussreichen Freunden an deiner Seite kann auch ein plötzlicher und unfreiwilliger Neustart sehr komfortabel sein.
Manifestiere dich neu
Neustart: Den Laptop nach ein paar Tagen Heißlaufen wieder hochzufahren, ist eines der erhabensten Gefühle, die der Alltag zu bieten hat. Dieser satte, erwartungsfrohe Ton, der sagt: Der Arbeitsspeicher ist leer, ich hab wieder richtig Bock und übrigens – probier die App nochmal, die eben nicht ging, vielleicht werden sich deine Probleme in Luft aufgelöst haben, Zwinkersmiley. Ein fach alles wieder zum Laufen bringen, es muss doch möglich sein, genau das auch mit dem eigenen Leben zu machen. Gut, manchmal braucht es dafür vielleicht erst den größt möglichen Systemcrash. Nehmen wir den Fall Guttenberg: Ein Jurist und Verwalter des eigenen Familienvermögens geht in die Politik, wird da schon nach ganz kurzer Zeit gleich mal als Kanzlerkandidat gehandelt, dann aber beim Plagiieren in seiner Doktor arbeit ertappt. Das ganze Land war mona telang mit dem Ausweiden der persönlichen Fehler beschäftigt. Das ist schon maximal kacke. Aber mit einem PR-Team und einer gesunden Portion Narzissmus kommt man auch aus solchen Krisen gut wieder raus. Und zwar durch geschicktes und beharrliches Manifestieren. Nach dem Rückzug in die USA tauchte Guttenberg wieder auf mit einem Buch, das Gespräche mit Giovanni di Lorenzo enthält: »Vorerst gescheitert«. Ein Sich-Herausmeditieren aus dem
Versagen. Mit dem »Vorerst« sollte er übrigens recht be halten. Guttenberg feierte ein Comeback als Berater, als Talkshow-Gast mit »neuem Blick auf die Welt«, dann auch als Moderator und ist heute als Gspusi von Wirtschafts ministerin Katherina Reiche wieder ganz nah dran an der Macht. Wir lernen: Aus Fehlern werden Wachstumschan cen. Wer genug manifestiert, braucht keine Verantwortung, nur einen Verleger.
Neuer Pass, neues Ich
Einfach einmal im Leben den ResetButton drücken. Allein der Gedanke daran ist so verlockend, dass man Lebenszeit stundenweise auf Immoscout verbringt oder in jedem Urlaub überlegt, ob man nicht doch aus den müden Knochen noch die Energie saugen kann, diese süße Ruine inmitten von Olivenhainen zu renovieren. Einfach auswandern, das wäre es. Der einen unschuldige Träumerei ist der anderen Back-up-Plan für den Fall, dass die lukrativen illegalen Geschäfte auffliegen. Wenn im Heimatland die Verhaftung droht, gibt es eine Lösung: goldene Pässe! Man muss nur genug investieren und Malta, Zypern oder ein anderes flexibles EU-Land hilft einem beim Neuanfang. Wo das Geld herkommt? Komplett egal. Russische Oligarchen und Ex-Politiker nutzen diese Programme seit Jahren. Denn Freiheit made in EU ist käuflich. Wir schreiben uns also hinter die Ohren: Für einen radikalen Neustart braucht man nicht Läuterung, sondern Liquidität.
Mit plastischer Chirurgie gegen den menschlichen Makel
Auch wenn man von dem ganzen Gequatsche vom Neustart genervt ist (Woher bitte kommt überhaupt die Idee, dass eine neue Wohnung, Morgenroutine, ein Ernährungstracker oder ein neuer Look uns auch nur ansatzweise weiterbringen könnten?), so kann es doch Anlässe
geben, die einen Neustart unerlässlich machen. Nehmen wir den wahren Fall eines südkoreanischen Buchhalters aus dem Jahr 2013: Er veruntreut über drei Millionen Euro bei seinem Arbeitgeber und will mit dem Geld fliehen. Seine Strategie: Er gönnt sich erst mal ein neues Gesicht beim Chirurgen. Warum soll man untertauchen, wenn man sich auch dramatisch verändern kann? Stirb-an-einem-anderen-Tag-Style. Der Mann zieht nach Seoul ins noble Gangnam-Viertel, wo er weiterlebt wie vorher, nur reicher und hübscher. Als zwei Komplizen ihn verpfeifen, findet die Polizei einen »völlig anderen Menschen« vor – nur leider keinen glaubwürdigen. Was ler nen wir? Ein neues Gesicht schützt nicht vor alten Fehlern.
Zeiten ändern dich
Es ist tricky: Wir erzählen gern von unserem Leben, indem wir von alles verändernden Events berichten. Warum der Umzug uns damals gerettet hat, dass diese eine Begegnung den entscheidenden Impuls gegeben hat, bla, bla, bla. Das lässt sich natürlich alles sehr schön zu Geschichten zusammenstricken. Aber keiner von uns kann sicher sagen, wie genau sich äußerliche Veränderungen auf das Leben auswirken. Ein zu Guttenberg, ein Jan Marsalek: Sie sind sich, nach allem was wir wissen, trotz des Neustarts ziemlich treu geblieben. Auf ihre Weise die gleichen Performertypen. Minus ein paar äußerliche Umstände.
Was lernen wir daraus? Man kann in eine neue Stadt ziehen, sich die Haare abschneiden und Hauptdarstellerinnensätze sagen wie: »Ich muss erst mal rausfinden, wer ich wirklich bin.« (Spoiler: Niemand weiß, wer das sein soll. Auch nicht nach einem Sabbatical in Lissabon.) Die Probleme bleiben die gleichen. Auch irgendwie ein tröstlicher Gedanke.
MARTINA BORSCHE, S. 60
Martina Borsche ist Fotografin und Kuratorin. Sie absolvierte an der Boston University ihr Bachelor-Studium für Internationale Beziehungen. Am Istituto Europeo di Design Madrid erhielt sie den Master für Europäische Kunst Fotografie. Seit der Spielzeit 2021/22 ist sie als Bilddramaturgin für die Bayerische Staatsoper tätig. Für Apollon kuratiert sie die visuellen Inhalte und fotografiert gelegentlich auch, wie in dieser Ausgabe die Dauerbaustelle München.
DOMENICO CARNIMEO, S. 42/43
Domenico Carnimeo, auf Instagram bekannt als @nmbrv, ist ein italienischer Illustrator, 2D-Animator und Visual Designer aus Bari, der derzeit in Mailand lebt. Seine Kreativität hat die italienische Musikszene maßgeblich geprägt; er gestaltet Cover und Visuals für diverse Künstler. Domenico, der von It’s Nice That ausgezeichnet wurde, zeichnet sich durch einen Stil aus, der fließend zwischen zeitgenössischer Comic-Kunst und Graffitikultur changiert und dabei große Vielseitigkeit in der Anpassung an unterschiedliche Ästhetiken beweist. Seine Fähigkeit, diese unterschiedlichen Einflüsse zu vereinen, erschafft eine Bildsprache, die kühn, detailreich, provokant und unterhaltsam ist.
IAN CHILLAG, S. 10–17
Ian Chillag arbeitet als Podcastproduzent und Autor. »Everything is alive« ist eine Interviewserie ohne Drehbuch, in der alle Gesprächspartner:innen leblose Objekte sind. Abgesehen davon, dass die Dinge sprechen können, ist es wie ein Sachbuch: Alles, was uns die Objekte sagen, ist wahr.
DANIEL GEBHART DE KOEKKOEK, S. 11
Der österreichische Fotograf und Regisseur Daniel Gebhart de Koekkoek, Jahrgang 1981, lebt in Wien. Er ist bekannt für seinen skurrilen und humorvollen Fotostil.
Seine Arbeiten sind eine reizvolle Mischung aus surrealen und verspielten Elementen. Er arbeitete zunächst in der IT-Branche, bevor er sich der Fotografie widmete, und gehört heute zu einer Generation zeitgenössischer Fotografen, die sich dem Streben nach Authentizität und Emotion verschrieben haben.
MARTIN
FENGEL, S. 48–57
Martin Fengel ist ein deutscher Fotograf und Künstler. Unter anderem ist er Lehrbeauftragter für Fotografie an der Freien Universität Bozen und illustriert regelmäßig im Zeit Magazin. Fengels Werke befinden sich unter anderem in den Sammlungen der Münchner Pinakothek der Moderne, der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt am Main.
STEFAN
GÄRTNER, S. 98–107
Stefan Gärtner, Jahrgang 1973, arbeitet als Kolumnist für Titanic, Konkret sowie die Zürcher Wochenzeitung und schreibt neben Romanen (»Putins Weiber«, 2015) und Zeitkritischem (»Terrorsprache. Aus dem Wörterbuch des modernen Unmenschen«, 2021) fürs Neue Deutschland, die Junge Welt und die letzte Seite der Taz.
CHRISTIAN GOTTWALT, S. 32–41
Christian Gottwalt, Jahrgang 1968, hat sich als Journalist auf die kurze Form konzentriert. Für das SZ-Magazin konzipierte er einst »Gemischtes Doppel« und »Sagen Sie jetzt nichts«. Für Apollon begann er, Fabeln zu schreiben.
TIMON KARL KALEYTA, S. 90–97
Timon Karl Kaleyta ist ein deutscher Schriftsteller und Musiker. Sein 2024 erschienener Roman »Heilung« wurde in der ZEIT zum »besten Roman des Frühjahrs« (Adam Soboczynski) erklärt und für den Deutschen Buchpreis nominiert. Mit seiner Band Susanne Blech veröffentlichte er vier Studioalben und zwei EPs.
ABDULHAMID KIRCHER, S. 74–87
Der Künstler Abdulhamid Kircher, 1996 in Berlin als Sohn deutscher und türkischer Eltern geboren, wanderte im Alter von acht Jahren mit seiner Mutter in die USA aus. Seine Arbeit versteht sich als ein lebendiges Archiv von Orten und Menschen und schlägt eine Brücke zwischen Dokumentation und Erzählung durch das fotografische Medium. 2018 schloss Abdulhamid Kircher sein Bachelorstudium in Kultur und Medien an der New School ab, 2022 sein Masterstudium der Bildenden Kunst an der University of California, San Diego. Seine erste Monographie, »Rotting from Within«, erschien 2024 bei Loose Joints. Er lebt und arbeitet derzeit in Berlin und New York.
LUKAS KUBINA, S. 48–57
Lukas Kubina ist Autor, Herausgeber und Verleger. Als Student war er ein Jahr an der Universidad de Buenos Aires, Argentinien, wo er Heimweh im Edelweiss oder Bodensee, herrliche Konserven des nie gewesenen deutschen Wesens, zu behandeln wusste.
ADRIAN LOBE, S. 24–29
Adrian Lobe, Jahrgang 1988, ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Im August 2023 erschien sein Buch »Mach das Internet aus, ich muss telefonieren«.
RYAN MOLNAR, S. 90
Der amerikanische Fotograf Ryan Molnar pendelt zwischen Berlin und Los Angeles. Seine Arbeiten erkunden das Spannungsfeld zwischen Dokumentation und Illusion. Er schloss sein Studium am San Francisco Art Institute 2017 mit einem Bachelor of Fine Arts ab. Seine Fotografie wurde unter anderem in Apartamento, The Wire, Bloomberg Businessweek und der Zeit veröffentlicht.
MICAH NACHT, S. 4–9
Micah Nacht wurde 1986 in Niederbayern
geboren und ist in der sozialen Arbeit tätig. Der Politikwissenschaftler schreibt Prosa und arbeitet gerade an seinem ersten Theaterstück. Privat beschäftigt er sich mit Botanik und verbringt viel Zeit im Wald.
INGMAR BJÖRN NOLTING, S. 98–107
Ingmar Björn Nolting, Jahrgang 1995, lebt und arbeitet als freier Fotograf in Leipzig. Er hat einen Master-Abschluss in Fotografie von der Fachhochschule Dortmund, ist Mitglied der laif Agentur und arbeitet regelmäßig für die New York Times. In seinen jüngeren Arbeiten verdichtet er die Stimmungen und Zustände der deutschen Gesellschaft. Mit zurückhaltenden, bühnenartigen Bildern beschreibt und erforscht er die Verflechtungen von Umwelt, Politik und sozialer Dynamik. Poetisch und zugleich widersprüchlich fotografiert er den Wandel seiner Heimat zwischen Spaltung, Aufrüstung, Pandemie und Klimakrise. Er war Stipendiat der Stiftung Kunstfonds und ist Mitgründer des DOCKS Collective für humanistische Fotografie. Seine Arbeiten wurden international ausgezeichnet und ausgestellt.
JUL QUANOUAI S. 32
Jul Quanouai ist ein französischer Künstler und Illustrator. Ursprünglich kommt er aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Bordeaux und verbrachte seine Kindheit mit französischen und belgischen Comics, bevor er nach Paris ging, um Grafikdesign zu studieren. Seine Werke wurden im Zeit Magazin, Brick Magazine, Baffler, Kapsel Magazin, Revue Lagon, bei Pli Editions und Drag City Records veröffentlicht und in der RFI Gallery, Galerie M, Colorama, Super-structure und Éditions Matière ausgestellt. Er lebt und arbeitet in Toulouse.
LOLA RANDL, S. 42–47
Lola Randl, Jahrgang 1980, kommt aus München und ist Regisseurin, Drehbuch-
autorin und Schriftstellerin. Mit dem Großen Garten in Gerswalde schuf sie einen Ort zwischen Kunstprojekt und Sozialexperiment. Als Rom-Preisträgerin suchte sie 2024/25 in der Villa Massimo nach Wegen zur nichtspeziesistischen Forschung und verwandelt jetzt eine ehemalige Autowerkstatt in ein planetarisches Garteninstitut.
LILI RUGE, S. 108–111
Lili Ruge ist Kulturjournalistin und statt die Welt zu verändern, verändert sie sich selbst. Immer wieder. Meint ihr, das ist eine gute Idee?
NICLAS SEYDACK, S. 68–73
Fasziniert hat Niclas Seydack an der Geschichte, wie der Marathon zur perfekten Metapher fürs Leben wird: Rückschläge, Wiederaufstehen, Weitermachen. Unvorstellbar für ihn, einen Reporter, der schon beim Joggen zum Bäcker scheitert, und deshalb umso berührender.
BRITTANY SHEPHERD, S. 24–29
Brittany Shepherd wurde 1988 in Toronto geboren. Sie ist eine interdisziplinäre Künstlerin, die in den Bereichen Malerei, Fotografie, Video und Skulptur arbeitet. Shepherds Werk erforscht die Wahrnehmung von Privatheit und Öffentlichkeit sowohl räumlich als auch psychologisch, mit einer Vorliebe für die Darstellung von Geheimnis, Sehnsucht, Melancholie und Alltäglichkeit.
MATHIEU WELLNER, S. 60–67
Der Architekt und Mediator Mathieu Wellner hat an zahlreichen Projekten, Planungsverfahren, Ausstellungen und Publikationen gearbeitet und an verschiedenen Universitäten gelehrt sowie geforscht. Er widmet sich den Themen Mediation, Architektur, Stadtentwicklung sowie Nachhaltigkeit praktisch, akademisch und politisch.
JULIA WERNER, S. 18–23
Julia Werner ist Journalistin und Buchautorin. Sie konzentriert sich auf zeitgenössische Kultur im Allgemeinen und schreibt regelmäßig eine Modekolumne für die Süddeutsche Zeitung.
Apollon ist eine Initiative der Bayerischen Staatsoper. Apollon will Räume erschließen und öffnen, die künstlerischen Impulsen in verschiedenen Formen eine Plattform ermöglichen, sich mit dem Menschsein auseinanderzusetzen.
»Apollon Dossier« ist eine Sammlung von Artikeln zu einem Thema. Die exklusiven gedruckten Inhalte erscheinen zeitversetzt digital. »Apollon Dossier« kondensiert aus dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper die Themen, Narrative, Fragen an unsere Zeit und an eine Gesellschaft.
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Ein neuer Ort, der neue Perspektiven bietet, kreative Erlebnisse ermöglicht und durch gemeinsames Mitgestalten eine starke, vielfältige Gemeinschaft fördert. Im Verlauf der Spielzeit 2025–26 wird das Vorderhaus des Nationaltheaters schrittweise zugänglich: Die Prunksäle, der Königssaal und die Ionischen Säle öffnen erstmals tagsüber ihre Türen.
»Staatsoper.tv« bringt die Bayerische Staatsoper in digitale Räume und macht ausgewählte Produktionen weltweit erlebbar. Live-Übertragungen, Streams und exklusive Formate eröffnen neue Zugänge zum Musiktheater und ermöglichen Begegnungen jenseits des Spielorts. Ein Angebot, das Perspektiven erweitert, Menschen verbindet und Oper für ein globales Publikum unmittelbar zugänglich macht.
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LEKTORAT
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ÜBERSETZUNGEN
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BILDDRAMATURGIE
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GESTALTUNG
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S. 11: Daniel Gebhart de Koekkoek/Connected Archives