Martin Cleis The Galesburg Series [ Going through the Archives ] paintings & photographs

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Martin Cleis unreleased II

[ Going through the Archives: ]

The Galesburg Series


[ Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung: ]

Martin Cleis unreleased II

[ Going through the Archives: ]

The Galesburg Series 07. März bis 11. April 2021 Galerie Mollwo Gartengasse 10 | 4125 Riehen/Basel | Schweiz

[ Parallelausstellung: ]

[ :die Baustelle] 03-2021

EINS IN DREI Martin Cleis | Ulrich Wössner raumbezogene Installationen auf drei Stockwerken Weil am Rhein | Deutschland 13. März bis 24. Mai 2021 Zur Beachtung: Corona-bedingt könnte die Eröffnung verschoben werden! oder www.weiler-kultur.de (Zu dieser Ausstellung erscheint ein Katalog)

EDITION HOWEG Umschlagfoto: Freight Train, E Main St, Galesburg Ill.


Happy Birthday

[ Martin Cleis zum 75. : ]

Lieber Martin! Es ist mir mit meiner kleinen Galerie eine grosse Ehre und Freude, Dich seit nunmehr 15 Jahren kennen und mit Dir immer wieder intensiv zusammenarbeiten zu dürfen! Unsere erste gemeinsame Ausstellung 2006, zu Deinem 60., war die erste einer Serie anlässlich Deiner runden Geburtstage: An der acht Meter langen Galeriewand zeigten wir 85 Blätter des 120-teiligen Zyklus «Neue Horizonte» und in Zusammenarbeit mit dem Filmer Bela Böke hast du diese zu einem faszinierenden Video-Arrangement auf DVD gebracht, welche vom grossen Basler Komponisten Hans-Martin Linde wuderbar vertont wurde. 2010 folgte «previously unreleased» mit mehreren erstmals gezeigten Werkgruppen, 2013 die «Kollektion 2014/15 – Herbst Winter Frühling», eine Serie bestehend aus 30 Bildern eines einzigen neuen Zyklus. 2016 dann – zum 70. also – die Serie «Salon de Printemps» – eine wiederum in sich geschlossene Werkgruppe von stimmigerweise 70 neuen Arbeiten. Und nun das – «unreleased II», abermals pünktlich zum runden Geburtstag am 5.4., auf Deinen eigenen Wunsch hin die so viel Energie versprühende Serie Deines Amerika-Aufenthaltes 1988: «The Galesburg Series». Serien über Serien – Bildzyklen, Ausstellungsund Entwicklungszyklen, eine Reihe runder Geburtstage – am Leitfaden Deines Lebens als dem zwar massgeblichen, jedoch glücklicherweise noch nicht zu Ende entworfenen Entwicklungsweg …

2016 in der Einzelausstellung «Salon de Printemps» in der Galerie Mollwo / Foto: Christof Mollwo

Dabei war das alles – wie das Leben eben – nie wirklich geplant. Es hat sich schönerweise immer wieder so ergeben – ganz in jenem Sinne, wie Du es pointiert 2013 als generell für Deine Arbeit geltend formuliert hast: «Man mag denken, dass ich mir ein Thema jeweils vorgebe und dann zwanghaft die Vorgabe zu erfüllen versuche. Dem ist nicht so: Ich male, was gemalt sein so das Thema, d.h. es fällt mir zu.» Und so wie Deine Bilder innerhalb der Werkgruppen reiht sich auch Zyklus an Zyklus und wächst eine Ausstellung aus der anderen hier mit Dir heran. Möge dieser Entwicklungsbogen noch lange dauern und uns alle immer wieder in meiner Riehener Galerie neu begeistern und beschenken können – und Deine Schaffenskraft so leuchtend pink und marsrot bleiben wie erstmals offensichtlich geworden in Deiner nun vorgestellten Galesburg Series! Herzlichst Christof Mollwo

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«Kommt man in Cleis’ neues Wohnatelier, ………»

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Der Besuch bei Cleis und das eingehende Betrachten seiner Werke zeigen, wie er arbeitet und was ihn zu einem einzigartigen und hervorragenden Künstler macht


unreleased II

[ Going through the Archives: ] see page 26 for an english abstract

Die aktuelle Ausstellung unreleased II von Martin Cleis in der Galerie Mollwo in Riehen/Basel nimmt in einem Aspekt Bezug zu der bereits 2010 hier gezeigten Ausstellung, die damals unter dem Titel previously unreleased durchgeführt worden ist. Und wie damals stehen auch heute Kunstwerke von Martin Cleis im Zentrum, die nur vereinzelt oder noch gar nie gezeigt wurden. Diese erneut zur Anwendung gelangende Ausstellungsidee hat sich während des Aufarbeitens und Bereinigens des eigenen Archivs – going through the archives – geradezu aufgedrängt: Cleis ist dabei auf Werkgruppen und Schaffenszyklen gestossen, die er noch nie der Öffentlichkeit in einem grösseren Rahmen präsentieren konnte. Kommt man in Cleis’ neues Wohnatelier, hat man auf den ersten Blick den Eindruck, von etwas länger und schaut sich die einzelnen Werke genauer an, merkt man, dass der Künstler in einer sehr strukturierten und durchorganisierten Ordnung lebt. Er weiss genau, wo sich welches ständen es gemalt wurde. Der Besuch bei Cleis und das eingehende Betrachten seiner Werke zeigen, wie er arbeitet und was ihn zu einem einzigartigen und hervorragenden Künstler macht: Er bringt in einzelnen

Bildern regelmässig gleichzeitig mehrere und oft nicht in einem Duktus erbrachte Arbeits- und Malstile zusammen. So kommen etwa kräftige gestische Pinselstriche kontraststark neben eher feineren, fast baurissartigen Linien zu stehen, die vielleicht an die japanische Malerei und Kompositionsform angelehnt sein könnten oder zumindest entsprechende Assoziationen auszulösen vermögen. Diese mitunter spontane Arbeitsweise führt zu reichen Malstrukturen, zu Schichtungen und Überlagerungen und schliesslich zu den abstrakten, d.h. ungegenständlichen ger Bestandteil von Cleis’ Werk. Sie ergänzt und erweitert die gemalten Bilder, in einer gewissen Weise, wobei ihre Entstehung wiederum nicht als geplant oder auf die Malerei abgestimmt erscheint. hält Cleis abstrakte und fein aufeinander bezogene und miteinander offensichtlich in einem Dialog stehende Strukturen fest, was bei der Betrachterin oder beim Betrachter zum Eindruck führen kann, dass diese gemalten und fotogralich ergänzen und mit dem gleichen Blick und Duktus in einem Zug kreiert worden sind.

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The Galesburg Series

[ Master of Series: ]

Wenn man sich in Cleis’ Atelier mit all den unzähligen Arbeiten umschaut und seinen Berichten zuhört, wird einem relativ schnell klar, dass dieser Künstler in Serien denkt und arbeitet, die letztlich als einzelne abgeschlossene Zyklen anzusehen sind. Cleis selbst sagt dazu, dass er 1978 in einer Ausstellungsbesprechung mit dem Begriff «Fertigmacher» charakterisiert wurde. Dies in dem Sinne, dass alle in seinen Bildern Orientierungen nicht kontinuierlich andauern und sich über mehrere Jahre hinwegziehen, sondern dass die einzelnen Themen und ihre Fokusse auf Farbe, Material und Ort immer einen Anfang und ein Ende enthalten und markieren. So hat Cleis während der Ausstellung previously unreleased im Jahr 2010 Folgendes zu seiner seriellen Arbeitsweise gesagt: «Wenn mich eine gewisse Problematik malerisch beschäftigt, dann bleibe ich dran, bis sie sich von selbst als gelöst darstellt.» Diese Lösung und Vollendung ergebe sich dann meistens durch eine Zäsur in seinem Leben als Maler oder als Mensch, beispielsweise durch eine Abreise oder Ankunft, eine neue Begegnung oder Bekanntschaft, ein neues Projekt an einem anderen Ort oder durch ein neues Interesse.

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Burlington-Northern

1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in) 6


Und auch The Galesburg Series von 1988 weist einen klaren Anfang und ein bestimmtes Ende auf. Sie entstand während eines Monats intensivster künstlerischer Arbeit im Rahmen eines zeitlich begrenzten Artist in Residence Program in Galesburg, Illinois/USA, wohin er zusammen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern zu einem Arbeitsaufenthalt eingeladen wurde. An dieser Serie ist besonders, dass sie nicht nur aus gemalten Bildern, sondern auch aus Foto-

verteilt – mit, sodass er die an einem Ort begonnenen Werke und Gedanken nicht in gleicher Weise an einem nächsten Ort bearbeiten und beantworten konnte und wollte. Denn an jedem Ort gibt es andere und neue Anreize, Impressionen und Ideen, die ihn zu einer anderen Art des Arbeitens, Sehens und Denkens inspirieren, die er dann jeweils auch ausprobieren, ausleben und vertiefen möchte.

Cleis ist zwar nicht «Fotograf», doch könnte

intuitiv und spontan, was er in einem Moment der Ruhe und Konzentration auf die eine oder andere Art festhalten möchte. Die Sujets, Formen und Objekte fallen ihm dabei zu, seine Bildwerke reifen und wachsen in einem sich ständig entwickelnden Denk- und Schaffensprozess allmählich heran und bilden schliesslich einen Gesamteindruck, bei dem auch der Gestaltungsprozess nachvollziehbar erscheint, und zwar sowohl insgesamt als auch mit Bezug auf jedes einzelne

bezeichnen. Diese zwei Schaffensprozesse hat er aber nicht aufeinander abgestimmt, sondern diese haben unabhängig voneinander gewisse parallele Züge auf- und angenommen, die miteinander verglichen und in Bezug gesetzt werden können. So sind die malerischen Arbeiten grundsätzlich und mehrheitlich zwar abstrakt, jedoch nicht ganz ungegenständlich und losgelöst von der Umgebung und den dortigen Baustrukturen, entstehen unabhängig voneinander und sind sich dennoch verwandt.

ein kohärentes und serielles Gesamt- und Einzelwerk im Rahmen des jeweiligen Zyklus. Thea Breitenmoser

So erging es Cleis oft: Er reiste viel und machte an vielerlei Projekten – auf der ganzen Welt

Assistenz in der Galerie Mollwo und Kunstgeschichtsstudentin an der Universität Basel

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silo I heavy trucks back yard

front porch

1988, pigmented print je 30 x 45 cm

1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in) 7


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motor mug I wrapped monument 1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier je 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in) 8


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1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in) 9


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silo II parking lot T 1988, pigmented print je 30 x 45 cm 10

ice cube

1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier je 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in)


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Dairy Queen and Burger King

1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in) 11


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500

1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in) 12


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nächste Doppelseite:

60 ¢ 303

heridas

1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier je 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in)

1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in) 13




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21 22 stop

ramp I

millwork

ramp II

1988, pigmented print je 30 x 45 cm

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1988, pigmented print je 30 x 45 cm


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altar 1988, mixed media (Acryl, Kohle, Graphitstift, Masking Tape) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in)

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two pillars 1988, pigmented print 30 x 45 cm

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ancient wall 1988, mixed media (Acryl, Graphitstift, Sand) auf Papier 30.5 x 45.5 cm (12 x 18 in)

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Galesburg Illinois [ Artist in Residence: ]

Ich erinnere mich noch gut an meine Freude und Aufregung, als ich die schriftliche Bestätigung für den Aufenthalt als Artist in Residence für Juni bis anfangs August 1988 von Studios Midwest aus Galesburg Illinois in den Händen hielt. Ich war seit 1974 schon fünf Mal in den Staaten, habe aber bei meinen Arbeitsaufenhalten oder in Zusammenhang mit Ausstellungen hauptsächlich grosse Städte kennen gelernt (u.a. New York City, Chicago, Washington, Tucson/Arizona und Houston/Texas). Nun kam die Gelegenheit in einer amerikanischen Kleinstadt zu leben und zu arbeiten. Die Vorstellung, dass ich die urbane ten könnte, was ich leidenschaftlich gerne tat, ter als realistisch bestätigen. Bereits Ende April kaufte ich im Reisebüro – online Buchungen kannte man noch nicht – mein Flugticket und staunte, dass ich mit Umsteigen in diesen zweiten Teil meiner Flugreise stand in meinem Reiseprogramm: 1988, Juni 10, 20.40h CONTINENTAL AIRLINES Kurs Nr. CO 4859. Freitag 10. Juni 1988

darf ich in diesem Flieger mit zwei weiteren PasSitze Platz nehmen. Flugbegleiter gibt es nicht.

Ein Pilot und eine Co-Pilotin bringen uns sicher mit der immer mal wieder ruckelnden Maschine nach Galesburg auf den kleinen Flugplatz ausserhalb der Stadt. Mein Host erwartet mich bereits. Ich staune nicht schlecht, als die Dame mich in einem Basler Dialekt mit heavy amerikanischem Akzent begrüsst: «Hello Martin, jä, i bi d Sharon Buser, willkomme in Galesburg!» Sharon bringt mich dann zu den anderen eingeladenen Künstler*innen, die hinter unserem zukünftigen gemeinsamen Wohnhaus bereits mitten in der Welcome Party mit Cola- oder Bierdosen in der Hand plaudernd beisammen stehen. Einer der Künstler mit Schnauzbart und leicht grau meliertem gewelltem Haar, dem Country Sänger Kenny Rogers nicht unähnlich, spricht mich gleich an: «Hi Cleis, I´m Max Hochstetler from Clarksville Tennessee.» «Also wenn du Hochstetler heisst», entgegne ich, «bist du nicht aus Tennessee, sondern irgendwo aus der Schweiz!» Und tatsächlich bestätigt er mir, dass ein Jacob Hochstetler aus dem Emmental, im 18. Jahrhundert wegen seines Glaubens ausgewandert, der Urahne aller Hochstetler in den USA sei. (Aus dieser kurzen Begegnung wurde bereits im Laufe dieses Aufenthalts in Galesburg eine schöne Freundschaft, die wir über alle die Jahre mit gegenseitigen Besuchen oder mit gemeinling 2019 andauerte, als Max nach unheilbarer Krankheit diese Erde verliess. – Fare well my Friend!)

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Cleis says: painting ‘lot of fun’

glocke begleitet wird. Diese «Musik» als täglicher Klangteppich wie das sehr lange Warten am Niveauübergang, wenn gerade einer dieser endlos langen freight trains vorüber tuckert, sind für mich unauslöschlich mit diesem Ort verbundene Eindrücke.

1988 in Galesburg Illinois / USA

Sonntag 12. Juni 1988 An diesem Wochenende feiert Galesburg die sogenannten Rail Road Days. Bis heute ist der Ort ein Verkehrsknotenpunkt, wo sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zwei grosse Bahnlinien, eine z.B. von Denver nach Chicago, kreuzen. Das ist ein Grund für Bahnfans hierher zu kommen, sich am grossen Flohmarkt und an den zahlreichen Buden umzusehen, sich an den vielen Food Stands die vielleicht hier mal vor vielen Jahrzehnten durchgefahren war. Die Bahn ist in der Stadt akustisch dauernd präsent. Die beiden unterschiedlich geführten Bahnlinien überqueren im Zentrum an mehreren Orten grosse Autostrassen, was neben dem Dröhnen der Dieselmotoren von lautem Hornen und dem penetranten Anschlagen einer Warn-

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Als ich mich beim Bahnhof umschaue, habe ich ein merkwürdiges déja vue-Erlebnis: Diese Hauswand beim Bahnübergang kenn ich doch! Da war ich doch schon mal! Aber nein, das ist unmöglich. Ich war noch nie in Galesburg Illinois. Wie kommt es denn, dass ich diese Ecke kenne? – Es beschäftigt mich den ganzen Tag, bis ner Zugreise von San Francisco/Oakland über Chicago nach New York genau hier aus dem Waggonfenster zwei drei Fotos schoss, ohne zu wissen, dass ich gerade Galesburg durchfuhr und ohne zu ahnen, dass ich jemals an diesen Ort zurückkehren würde. Montag 13. Juni 1988 Die Ateliers für die Künstler*innen wurden von den Organisatoren in den vielen leerstehenden Geschäften entlang der Main Street requiriert. Man erzählt uns, dass die frühere belebte «Innenstadt» am Aussterben sei. Seit an der Ausfallstrasse nordwärts eine Mall mit unzähligen neuen Ladengeschäften entstanden ist, werden die Lokalitäten an der Hauptstrasse aufgegeben, sie verwaisen, das Leben versiegt. – Was des einen Leid, ist des anderen Freud. Wir Kunst-


einen land mark, einen Orientierungspunkt, setzen wollen: Rosarote Fensterrahmen am weissen Gebäude sollen es richten! – Das konnte in Galesburg niemand wissen, als man mir diese rosaroten Räume zuteilte. Mittwoch 15. Juni 1988

Galesburg Main Street #200 mein temporäres Atelier im ehemaligen rosa Beauty Shop

schaffende jedenfalls freuen uns über diese Räume im Zentrum des Orts. Einzelne wollen dort arbeiten, wo wir wohnen, andere beziehen Räume in einem riesigen Bankgebäude und ich teile einen ehemaligen Schönheitssalon im ersten Stock eines leerstehenden Gebäudes mit einer Künstlerin aus Genf CH, die aber mehrheitlich im Freien arbeiten will, so dass ich hier meine Ruhe haben werde. Bei der ersten Besichtigung heute haut es mich fast vom Hocker: Unser Beauty Salon ist durchgehend grell-pink ausgemalt. Dieser speziellen Farbgebung will ich mich stellen, dies als Herausforderung annehmen und genau damit arbeiten. – Erneut eine Art Koinzidenz: Daheim war ich daran die Planungsarbeiten für das Atelierhaus in Arlesheim, das auf meine Initiative gebaut werden soll, vertraglich zu regeln. Kurz vor der Abreise in die USA habe ich vorgeschlagen, dass wir mit einer knalligen Farbe am Haus

Steve, der für uns zuständige Leiter des Civic Art Center, stellt mir sein Auto zur Verfügung, damit ich bei Dick Blick, einem riesigen Versandhandel für Künstlerbedarf mit Hauptsitz und Ladengeschäft in Galesburg, Arbeitsmaterial einkaufen kann. Mein Malerherz schlägt höher, wie ich für die ganze Zeit hier nun mein Bildträger sein wird. Am Nachmittag erste brush strokes in rosa im Beauty Shop. Freitag 17. Juni 1988 Bereits eine Woche hier. Ich stelle am Abend mit Genugtuung fest, dass ich nach Anfangsschwierigkeiten im rosa Atelier nun sieben Malereien als fertig bezeichnen kann. Ein guter Start ist geschafft. Zurück in der Wohnung hängt ein Zettel an meiner Tür: Longdistance call. Something about a piece to do in Switzerland. Will call back tomorrow. - Tatsächlich kommt der Anruf am anderen Morgen: Ich werde mit zwei anderen Künstlern zu einem Wettbewerb für ein Wandbild in der Aeschentor- Passage eingeladen, ob ich mit-

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machen würde. – Was für eine Überraschung, was für ein Aufsteller. (Ich nehme es schon mal vorweg: ich gewinne mit meinem Entwurf «The Art of the T» den Wettbewerb und darf die 20 m hohe und 14.5 m breite Malerei 1990 ausführen.) Montag 20. Juni 1988 Ich gehe täglich in mein Beauty Shop Atelier und geniesse es, dass ich hier ausser malen keinen «Es macht Spass hier zu sein», schreibe ich oft in mein Tagebuch. Allerdings muss ich die Arbeitszeit den Sommertemperaturen anpassen, die teilweise auf 100° F (37.7° C) steigen (am 15. Juli sind es sogar 103° F, also 39.4° C). Weder in der Wohnung noch im Arbeitsraum gibt es Klimaanlagen. Ich gehe oft vor Tagesanbruch genüsslich zu Fuss durch die dunkle Stadt und die noch leeren Strassen ins Studio, bleibe, bis es mir zu heiss wird und gehe dann vielleicht nachts nochmals arbeiten. Manchmal suche ich kurz Abkühlung im gegenüber liegenden Wallgreens Supermarket, der klimatisiert ist, oder gehe zu Dairy Queen ein Pfefferminz-Eis essen und bleibe jeweils, bis ich runtergekühlt wieder an die Arbeit gehen mag. Mittwoch 22. Juni 1988 Die regelmässige Präsenz im Atelier zahlt sich nicht nur in Bezug auf die künstlerische Arbeit aus, sondern auch in Bezug auf die von den Organisatoren angebotenen Events. So werden

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Der klimatisierte Supermarkt gegenüber von meinem Atelier Pfefferminz-Eis bei Dairy Queen

z.B. die Leute, die das Residence Program nanziell unterstützen, zu einem Atelierrundgang eingeladen oder das Lokalradio oder die lokale Zeitung samt Fotograf werden für Interviews mit uns Künstler*innen angefragt. Wer nicht am Arbeiten ist, wenn diese Leute kommen, hat Pech. Samstag 25. Juni 1988 In der vergangenen Nacht habe ich geträumt, ich wäre auf der Titelseite der Zeitung. Schon um 7 Uhr gehe ich zum 7-Eleven-Laden im Quartier und sehe, wie ich tatsächlich bereits aus dem Zeitungskasten gucke. Der Verkäufer ist erstaunt, dass ich gleich drei Zeitungen kaufen will, bis er mein Konterfei entdeckt und verständnisvoll schmunzelt. Im Zeitungsinterview äussere ich meine Begeisterung darüber, hier sein zu dürfen, um einfach nur malen zu können. Daraus wurde die Schlagzeile «Cleis says: painting ‘lot of fun’», mit der mich in den folgenden Tagen die Künstlerkolleg*innen immer mal wieder necken.


Sonntag 17. Juli 1988 Um 5 Uhr bin ich bereits wieder im Atelier, um die letzten Blätter abzuschliessen, zu vollenden. Später schreibe ich ins Tagebuch: «Ich glaube, ich habe meine Sammlung für die Schlussausstellung im Knox College beieinander.» – Es sind vier Werkgruppen entstanden mit insgesamt 74 dankbar und zufrieden sein.

Zeitungskasten am 25. Juni 1988 vor dem 7-Eleven Supermarkt Titelblatt der Tageszeitung The Register Mail vom 25. Juni 1988

Montag 18. Juli 1988 Es ist kühl und es regnet. Tagebuchnotizen | Martin Cleis • Galesburg hat ca. 32‘000 Einwohner liegt zwischen Davenport, Iowa und Peoria, Illinois. Downtown Chicago ist dreieinhalb Stunden mit dem Auto oder drei Stunden mit dem Zug (Amtrak) entfernt. • Studios Midwest wurde 1986 von einer kleinen Gruppe begeisterter Kunstfreunde gegründet, um jeweils für zwei Monate (Juni-August) im Jahr Künstler*innen nach Galesburg einladen zu können, welche dann vom Civic Art Center betreut werden. • Das Galesburg Civic Art Center wurde 1923 gegründet und ist eine gemeinnützige Institution mit eigener Galerie im Stadtzentrum, mit dem Anliegen, die Gemeinde durch Ausstellungen, Kunstvermittlungsprogramme und Veranstaltungen mit bildender Kunst zu verbinden.

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[ Abstract: Cleis’ work and his Galesburg Series: ] The exhibition unreleased II by Martin Cleis at the Gallery Mollwo in Riehen / Basel has the same focus as his previous exhibition from 2010 with the title Previously Unreleased. The focus of the exhibition is on Martin Cleis’ works that have only been shown sporadically or never at all. The idea came to the artist whilst processing and cleaning up his archives. Amid doing this he came across groups of works and creative cycles that had never been presented to the public on a larger scale. Cleis’ typical pictorial invention is that he regularly brings several working and painting styles together in individual pictures; strong, gestualmost constructional architecture-like lines, which might be based on Japanese painting and composition. They trigger such associations. This sometimes spontaneous way of working leads to rich painting structures, layers and Cleis is an artist that thinks and works in series, which can ultimately be viewed as individual, complete cycles. This in the sense that all work phases and orientations visible in his pictures and photographs do not last continuously or

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stretch over several years, but that the individual topics and their focus on colour, material and location always contain and mark a beginning and an end. This usually results from a turning point in his life as a painter or as a person, for example through a departure or arrival, a new encounter or acquaintance, a new project in a different location or a new interest. Next to painting, photography also plays an important part in Cleis’ work. The photography supplements and expands the painted works. ted structures that are obviously in a dialogue with one another, and can give the viewer the impression that these painted and photographed motifs complement one another as a matter of course and that they were created with the same look and style in one go. But this is not the case. The Galesburg Series from 1988 also has a ted during a month of intense artistic work as part of a temporary Artist in Residence Program in Galesburg, Illinois / USA. What is special about this series is that it consists not only of painted pictures but also of photographs.


[ Biographisches: ] Cleis is not a «photographer», but one could call him a «photographing painter». The artist does not plan his pictures and photographs; he paints and photographs intuitively and spontaneously. The subjects, forms and objects fall to him, his images mature and grow gradually in a constantly developing thought and creative in which the design process also appears comprehensible, both as a whole and with reference to each individual image or photograph. This creates coherent, serial overall and individual work in front of us, within the framework of the respective cycle. In every new place he visits there are different and new incentives, impressions and ideas that inspire him to work, see and think in new and different ways, which he then wants to try out, live and deepen.

Martin Cleis Am 5. April 1946 in Basel geboren, lebt und arbeitet in Weil am Rhein. Künstlerisch-pädagogische Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Basel, Abschluss mit dem Diplom als Kunsterzieher, unterrichtet wenige Jahre, bis er sich 1973 als Freischaffender ganz der Kunst (Malerei, Druckgrawendet. Zahlreiche Auslandaufenhalte als Artist in Residence oder verbunden mit Ausstellungen in Galerien, Kunsthallen und Museen (z.B. Spanien, Portugal, USA, Brasilien, Japan, Taiwan usw.). Werke in öffentlichen und privaten SammSammlung Albertina Wien). Detaillierter Lebenslauf unter: www.martincleis.de

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[ Impressum: ]

Verlegt 2021 bei Edition Howeg Bürglistrasse 21, CH 8002 Zürich edition_howeg@datacomm.ch © Texte: Edition Howeg, Thea Breitenmoser, Christof Mollwo, Martin Cleis © Bildrechte: Martin Cleis / ProLitteris English abstract : Thea Breitenmoser Korrektorat: Rainer Vogler Christof Mollwo Gestaltung und Satz: Martin Cleis ISBN 978-3-85736-353-5


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