Beethoven 250 - Unter der Oberfläche/ Beneath the Surface

Beethoven 250 Unter der Oberfläche Beneath the Surface Mit Beiträgen von / With Essays by Daniel Barenboim Isabel Mundry Matthias Pintscher Jörg Widmann Pierre Boulez

Inhaltsverzeichnis Table of Contents

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Unter der Oberfläche Beneath the Surface

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Daniel Barenboim Struktur und Emotion Structure and Emotion

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Isabel Mundry Gedanken zum Beethoven-Jahr Thoughts on the Beethoven Year

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Matthias Pintscher Beethoven der Verwerfer Beethoven the Discarder

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JĂśrg Widmann Utopische Musik?

Utopian Music?

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Pierre Boulez Tell Me Tell Me

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Beethoven 250 Die Konzertzyklen im Pierre Boulez Saal The Concert Cycles at the Pierre Boulez Saal

Ludwig van Beethoven Portrait von Ferdinand Schimon (1819)

Allein Freyheit, weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen groร en schรถpfung, zweck.

Ludwig van Beethoven

Unter der Oberfläche

Im Beethoven-Jahr zum 250. Geburtstag des Komponisten Beethoven aufs Programm zu setzen – dazu braucht es nicht viel Mut, möchte man meinen. Seine Musik ist und bleibt elementarer Bestandteil nicht nur des europäischen Repertoires. Doch der oft beschworene, revolutionäre Wagemut, mit dem sich Beethoven über Konvention und Tradition hinwegsetzte, ist für moderne ­Ohren nicht mehr ohne Weiteres zu fassen. In den vier Konzertzyklen, die seinem Schaffen zum Jubiläumsjahr im Pierre Boulez Saal ­gewidmet sind, erklingen sämtliche Werke des Komponisten in den zentralen kammermusikalischen Gattungen der Klaviersonate, des Streichquartetts, der Violinsonate und des Klaviertrios – in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung. So werden Beethovens kompositorische Entwicklung und die musikästhetische Revolution, die von ihm ausging, zumindest in Ansätzen wieder erfahrbar.

Setzt man sich derart konzentriert mit Beethoven auseinander, wird aber auch deutlich, dass er heute durchaus noch unseren Mut einfordert. In der Konfrontation mit Beethovens musikalischem Vermächtnis in seiner historischen Entwicklung spürt man unweigerlich den unbedingten Willen, unter die glatte Oberfläche vorzudringen. In seiner Musik gibt es keine eindeutigen Antworten und schon gar keine einfachen, nie ist sie Schwarz oder Weiß, sondern immer beides, die Balance und Vermittlung von Entgegengesetztem.

Dieser Mut zur Radikalität lädt uns, die seine Musik hören, interpretieren und durch sie uns selbst zu verstehen suchen, dazu ein, diese Courage zu einem Teil auch unseres eigenen Selbstverständnisses zu machen.

Für nicht wenige, die nach ihm kamen, wurde Beethoven zum verehrten, aber auch übermächtigen Vorbild. Diese Form der Überhöhung ist heute, gut 200 Jahre nach seinem Tod, freilich fragwürdig geworden – im wahrsten Sinne: Zum Jubiläumsjahr haben wir vier Musikschaffende der Gegenwart, die dem Pierre Boulez Saal auf die eine oder andere Weise verbunden sind – Daniel Barenboim, Isabel Mundry, Matthias Pintscher und Jörg Widmann –, nach ihren Gedanken zu Beethoven gefragt. Ergänzt werden ihre Reflexionen durch einen Beitrag, den Pierre Boulez anlässlich des Beethoven-­ Jahres 1970 verfasst hat.

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Beneath the Surface

To program Beethoven in the year commemorating the c­ omposer’s 250th birthday should not require much courage. His music remains an essential part not only of the European concert repertoire. Yet Beethoven’s often-evoked revolutionary fervor, which broke with convention and tradition, is not always easy to grasp for modern ears. The four concert cycles dedicated to Beethoven’s oeuvre in his anniversary year at the Pierre Boulez Saal present his complete works in the central chamber music genres of the piano sonata, string quartet, violin sonata, and piano trio—in chronological order of their composition. In this way, at least part of the musico-­ aesthetic revolution these works constituted at the time becomes audible.

But exploring Beethoven in such an intensive, dedicated fashion also reveals that he still demands our courage. Confronting Beethoven’s musical legacy in its historical development, one cannot help but feel the absolute and ever-increasing will to delve beneath the polished surface. There are no clear answers in his music, and certainly no simple ones. It is never black or white, but always both, balancing and moderating extremes. This courage to be radical invites us— who listen to his music, perform it, and try to understand ourselves through it—to make daring part of our own self-image.

For many who followed him, Beethoven came to represent a ­revered but also an overpowering role model. Today, more than 200 years after his death, this kind of idealization has become ­questionable—in the true sense of the word: looking ahead to the anniversary, we asked four leading musicians of our time who are associated with the Pierre Boulez Saal in one way or another— Daniel Barenboim, Isabel Mundry, Matthias Pintscher, and Jörg Widmann—to share their thoughts on Beethoven. Their reflections are complemented by a contribution from Pierre Boulez, written for the Beethoven anniversary in 1970.

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Struktur und Emotion Daniel Barenboim

Als ich 1988 zum ersten Mal in Bayreuth den Ring dirigierte, bekam ich ein wunderbares Geschenk – Besuch von Pierre Boulez.

Er wohnte bei mir zu Hause, und jeden Abend nach der Vorstellung die Möglichkeit zu haben, mit ihm, der diese Werke in- und auswendig kannte, darüber zu diskutieren, war eine einmalige Erfahrung.

Er erinnerte sich damals an seine ersten Bayreuther Ring-Auf­ führungen 12 Jahre zuvor und erklärte mir, dass er musikalisch einen völlig anderen Weg gegangen war als ich. „Als Komponist war ich interessiert am Skelett des Ring“, sagte er, „und ich habe den Eindruck, Sie sind eher interessiert am Blut und an den Muskeln. Mir ging es vor allem um das Strukturelle, Sie wollen das ausdrücken, was beweglich ist. Deshalb waren meine Tempi schneller. Aber ich bin sicher, mit der Erfahrung werden auch Sie das Skelett besser kennenlernen.“ Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, vor allem aber fand ich Boulez’ Gedanken hochinteressant. Und ich glaube, dass ich mit Beethovens Klaviersonaten einen ähnlichen Prozess ­erlebt habe.

Ich habe sehr früh angefangen, die Sonaten im Konzert zu spielen, einige schon mit acht Jahren, die „Hammerklaviersonate“ und die Sonate op. 111 mit 13 oder 14. Mein Vater, der mein einziger ­Klavierlehrer war, ist oft dafür kritisiert worden, doch er war überzeugt, man solle sich so früh wie möglich mit den großen Werken auseinandersetzen, auch wenn man noch nicht unbedingt die notwendige Reife besitzt, denn – so sagte er – die Reife kommt nicht, wenn die Noten im Schrank liegen. Deshalb habe ich früh gelernt, dass Beethoven nicht nur technisches Können verlangt, um die Töne zu spielen, die manchmal sehr schwer sind, sondern wirkliche Reife im Denken. In dieser Hinsicht ist er ganz anders als Mozart.

Artur Schnabel hat einen wunderbaren Satz gesagt: „Mozart ist zu

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leicht für Kinder und zu schwer für Erwachsene“. Er meinte damit, dass es für einen erfahrenen Künstler eine große Herausforderung sein kann, die Selbstverständlichkeit des Ausdrucks zu finden, die für Mozart unabdingbar ist. Bei Beethoven existiert dieses Problem nicht – er ist von ungeheurer Komplexität, und der Kampf ist ein organischer Teil jeder Aufführung.

Mit dem vollständigen Sonaten-Zyklus beschäftige ich mich seit 60 Jahren. Die erste Aufführung 1960 kam fast durch einen Zufall zustande. Ich hatte als junger Mensch schon sehr viele Konzerte ­gespielt, doch mit 16 – ich war kein Kind mehr, aber noch kein ­Erwachsener – war mein Kalender plötzlich leer. Ich war darüber sehr deprimiert, was merkwürdig klingt in diesem Alter. Doch dann traf ich eines Tages auf der Straße in Tel Aviv einen Bekannten, der mich fragte, womit ich gerade beschäftigt sei. Ich erklärte, dass ich zur Schule ginge, aber keine Konzerte zu spielen hätte und darüber sehr unglücklich sei. Darauf berichtete er mir, er habe gerade die Leitung des Beit Sokolov, des Hauses der Journalisten, in Tel Aviv übernommen – ein berühmtes Gebäude, in dem viele historische Pressekonferenzen stattgefunden haben. Darin gab es einen schönen Saal, und er lud mich ein, dort zu spielen. Ich antwortete: „Gut, ich möchte alle Beethoven-Sonaten spielen.“ Ich glaube, er verstand nicht viel von Musik und wusste nicht recht, worauf er sich einließ.

Doch so kam es, dass ich gleichzeitig Abitur gemacht und zum ersten Mal den Sonatenzyklus gespielt habe, zwei Monate lang an jedem Samstag. Selbstverständlich kannte ich damals noch nicht alle Sonaten, und so musste ich in der Woche zwischen zwei Konzerten jeweils ein oder zwei neue Stücke lernen. Es war eine unglaubliche ­Er­fahrung für mich und ich muss sagen, dass ich es sehr genossen habe. Interessanterweise habe ich die 32 Sonaten seitdem immer in der gleichen Programmanordnung gespielt. Diese Aufführungen im Pierre Boulez Saal sind für mich die ersten in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung. Ebenso wie im Leben interessieren mich in der Musik vor allem die Beziehungen zwischen den unterschiedlichsten Elementen. Deshalb freue ich mich sehr, auf diese Weise ganz direkt die künstlerische Entwicklung Beethovens spüren zu können, und ich hoffe, dass ein Teil des Publikums für den ganzen Zyklus dabei sein wird, um dies mitzuerleben. Es ist eine große Reise.

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Wenn ich zurückdenke an Künstler der Vergangenheit, die in Bezug auf Beethoven einen starken Einfluss auf mich hatten, so denke ich vor allem an Wilhelm Furtwängler und an Edwin Fischer, denen ich beiden als Kind noch begegnet bin. Vor allem Furtwängler war hochexpressiv in seinem Musizieren. Ich glaube, auch er suchte das Skelett, von dem Boulez sprach, aber der äußere Eindruck war der einer Explosion, von großer Freiheit. Mit etwa 30 Jahren las ich Richard Wagners Buch Über das Dirigieren. Darin spricht er davon, dass es einem Dirigenten nicht nur erlaubt ist, sich gewisse Freiheiten im Tempo zu nehmen, sondern dass es vielmehr eine unbedingte Notwendigkeit ist, um eine musikalische Phrase zu gestalten. Selbstverständlich darf man es mit dieser Freiheit nicht übertreiben – es muss unmerklich geschehen, wie ein permanentes Geben und Nehmen. Die Entscheidung über das Tempo ist vielleicht die wichtigste Entscheidung, die ein Musiker treffen muss, vor allem als Dirigent, denn wenn man selbst spielt, hat man einen permanenten direkten Kontakt zum Klang. Ich halte es für völlig falsch zu glauben, dass man einer Metronomzahl strikt folgen muss.

Die Herausforderung besteht im Gegenteil darin, die Struktur eines Werks mit dem Gefühl zu erfassen und das Gefühl dann zu strukturieren. Das ist im Grunde das Geheimnis dessen, was Musizieren ausmacht. Ich mag das Wort Interpretation nicht. Beethoven braucht keinen Interpreten, keinen Dolmetscher.

Als junger Mensch waren mir diese Dinge noch nicht bewusst, aber ich glaube, dass ich seitdem gelernt habe, immer öfter eine ­Balance zwischen den Extremen zu finden und das Skelett mit der Freiheit zu verbinden. Der erste Kontakt mit einem Werk wie der „Hammerklaviersonate“ muss ein Schock sein – das Stück ist so riesig, so titanisch, es hat so viele Details, Farben und Verbindungen.

Man beginnt dann langsam, es zu lernen. Das betrifft als erstes ­natürlich die Töne, aber auch und vor allem eine fast wissenschaftliche Analyse der Form, der Dynamik, des Rhythmus. Je tiefer man mit dieser Analyse dringt, desto weiter entfernt man sich vom ersten emotionalen Schock. Es ist eine ähnliche Erfahrung, wie man sie bei Begegnung mit einem Menschen macht, der eine starke Persönlichkeit besitzt: man fühlt die Stärke dieser Persönlichkeit, dann lernt man sich kennen und kommt sich in gewissem Sinne näher, entfernt sich in gewissem Sinne aber auch weiter voneinander. Ähnlich funktioniert es in der Musik, wenn man wirklich in und mit der Musik denkt. Das ist ein komplizierter Prozess, der das ganze Leben dauert – in meinem Fall 60 Jahre, was Beethovens Klavier­

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sonaten angeht. Es hat viel mit rationaler Arbeit zu tun, und es gibt Künstler, die Angst vor dieser Analyse haben, weil sie befürchten, dadurch die Frische und die improvisatorische Natur des Instinkts zu verlieren. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass mehr zu wissen immer besser ist als weniger zu wissen. Der natürliche, ­emotionelle Aspekt leidet darunter nicht. Im Konzert muss ich jedes Stück trotzdem so spielen, als würde ich es in dem Moment erfinden.

Die logische Arbeit muss dann verschwinden, und das Publikum muss das Gefühl haben, dass das Stück hier und jetzt entdeckt wird.

Manchmal ist es nötig, bestimmte Dinge zu wissen, um sich dann erlauben zu können, sie zu vergessen. Insofern ist Musik philosophisch. Musik ist architektonisch, sie ist emotionell, und sie ist ­philosophisch.

Vieles kommt mit der Erfahrung, doch Erfahrung heißt niemals Routine. Routine ist der größte Feind des Musizierens. Sie ist die Versuchung, das Gute, das einem heute gelungen ist, morgen wiederholen zu wollen. Erfahrung heißt, Dinge jeden Tag neu zu lernen – in jeder Probe, in jedem Konzert.

Zum Beethoven-Jahr interpretiert Daniel Barenboim im Pierre Boulez Saal ­sämtliche Klaviersonaten, Klaviertrios und Sonaten für Violine und Klavier des Komponisten.

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Structure and Emotion Daniel Barenboim

When I first conducted the Ring in Bayreuth in 1988, I ­received a wonderful gift—a visit from Pierre Boulez. He stayed at my home, and to have the chance, every night after the performance, to discuss these works with him, who knew them like the back of his hand, was a unique experience. At the time, he recalled his first Ring performances in Bayreuth, 12 years prior, and explained that musically he had chosen a completely different path than I had. “As a composer, I was interested in the Ring’s skeleton,” he said, “and it seems to me that you are more interested in its blood and muscles.

I was mainly after structure; you want to express the flexible parts.

That is why my tempi were faster. But I’m sure that with experience, you will also get to know the skeleton better.” Of course I felt ­flattered, but most of all, I found what Boulez was saying highly ­interesting. And I believe that I have undergone a similar process with Beethoven’s piano sonatas.

I began playing these sonatas in concert very early in life, some of them at the age of eight, then the “Hammerklavier” Sonata and the Sonata Op. 111 at 13 or 14. My father, who was my only piano teacher, was often criticized for this, but he was adamant that you should study the great works as early as possible, even if you still lacked the necessary maturity, for—as he would say—maturity will not come if the music remains on the shelf. So I learned early on that Beethoven demands not only the technical ability to play the notes, which are sometimes very hard indeed, but also true maturity of thought. In this regard, he is completely different from Mozart.

Artur Schnabel said a wonderful thing once: “Mozart is too easy for children and too hard for adults.” What he meant is that it can be a challenge for an experienced artist to find the ease of expression

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that Mozart demands. In Beethoven this problem does not exist— he is overwhelmingly complex, and struggle is an organic part of every performance.

I have been exploring the sonata cycle for 60 years now. My first complete performance in 1960 happened almost by accident. I had been playing many concerts as a young person, but at the age of 16—no longer a child, not yet an adult—I suddenly found myself with an empty calendar. This depressed me a great deal, which may sound odd at that age. Then one day I met an acquaintance on the street in Tel Aviv who asked me what I was doing. I explained that I was going to school but had no concerts to play, and that this made me very unhappy. He told me that he had just become director of Beit Sokolov, the House of Journalists in Tel Aviv—a famous building that hosted many historical press conferences. It had a beautiful hall, and he invited me to play there. I said: “Very well, I would like to play all the Beethoven sonatas.” I don’t think he knew much about music and understood what he was in for. But that is why I simultaneously sat for my final exams and played the sonata cycle for the first time, every Saturday over a period of two months.

Needless to say, I did not know all the sonatas yet at the time, so I had to learn one or two new pieces during the week between concerts. It was an incredible experience for me, and I have to say that I greatly enjoyed it. Interestingly enough, I have played the 32 sonatas in the exact same order ever since. These performances at the Pierre Boulez Saal are the first for me presenting the sonatas in the chronological order of their creation. Just as in life, in music I am particularly interested in the relations between various elements.

That is why I am very keen to have the opportunity to feel Beethoven’s artistic development in a very direct way, and I hope that some of the audience will attend the complete cycle to experience it with me. It is a great journey.

When I think of artists of the past who influenced me profoundly regarding Beethoven, I think mainly of Wilhelm Furtwängler and Edwin Fischer, both of whom I met as a child. Furtwängler ­especially was highly expressive in his music-making. I think he too was looking for the skeleton Boulez spoke of, but the outward impression was explosive, an appearance of great freedom. When I

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was about 30 years old, I read Richard Wagner’s book On Conducting.

In it, he says that it is not only permissible for a conductor to take certain liberties with tempo, but that it is an absolute necessity in order to shape a musical phrase. Of course this liberty must not be exaggerated—it has to happen imperceptibly, like a permanent give and take. The decision about the tempo may be the most important decision a musician has to make, especially as a conductor. When you are playing yourself, you have a permanent direct connection with the sound. I think it is a complete mistake to believe that a metronome marking has to be followed strictly. On the contrary, the challenge is to comprehend a work’s structure emotionally, and then to structure that emotion. Essentially, that is the secret of making music. I dislike the word interpretation. Beethoven does not need any interpreters or “translators.”

As a young person, I was not aware of these things, but I believe that since then I have learned more and more often to strike a ­balance between the extremes and to combine knowledge of the skeleton with freedom. The first contact with a work such as the “Hammerklavier” Sonata must be a shock—the piece is so huge, so titanic, it has so many details, colors, and connections. Then you slowly begin to learn it. That means the notes, of course, but it also and specifically means an almost scientific analysis of form, dynamics, and rhythm. The deeper you delve in this analysis, the more you remove yourself from the initial emotional shock. It is like meeting a person with a strong personality: you feel the strength of that ­personality, then you get to know each other and get closer in one way, while at the same time increasing the distance in another way.

It works in a similar way in music, if you truly think in and with music. That is a complex process that takes a lifetime—60 years for me, as far as the Beethoven sonatas are concerned. It has a lot to do with rational work, and there are artists who are afraid of this analysis, because they fear losing the freshness and the improvisational nature of instinct. I am convinced that, on the contrary, knowing more is always better than knowing less. The natural, emotional aspect does not suffer from knowledge. After all, in concert I have to play every piece as if I were inventing it at that very moment. The logical work must recede, and the audience must have the impression that the piece is being discovered, here and now. Occasionally, you have to know certain things to then allow yourself to forget them. In that sense, music is philosophical. Music is architectural, it is emotional, and it is philosophical.

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Many things come with experience, but experience never means routine. Routine is the greatest enemy of music-making. It is the temptation to try to repeat tomorrow the good performance you gave today. Experience means learning something new every day— at every rehearsal, in every concert.

For the Beethoven anniversary, Daniel Barenboim performs the composer’s complete piano sonatas, piano trios, and sonatas for violin and piano at the Pierre Boulez Saal.

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Gedanken zum Beethoven-Jahr

Isabel Mundry

Das Werk Beethovens steht paradigmatisch für eine Musik im Geist der Aufklärung und des Fortschritts. Aus guten Gründen haben wir begonnen, diese Werte kritisch zu befragen, und je konsequenter wir das tun, desto ehrlicher müssen wir auch die Bedeutung von Beethovens Musik neu reflektieren. Ich höre diese Musik zunehmend auch aus der Perspektive von Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen und die Paradigmen des mitteleuropäischen Kanons kritisch betrachten. Das beeinflusst auch mein eigenes Hören. Ich höre zum Beispiel deutlicher die Grenzen des Subjektbegriffs, wie er sich in Beethovens Musik emphatisch zeigt. Die Bedeutung, die ich dieser Musik früher zugeschrieben habe, als Kind deutscher ­Bildungsbürger, ist längst zerfallen. Doch sie hat das überlebt. Ich höre sie immer noch, aber inzwischen anders. Das ist das Gute an konsistenter Musik, dass sie langfristig immun gegenüber Vereinnahmungen zu sein scheint. Es gibt Werke, die ich schon dutzende Male recht und schlecht als Straßenmusik gespielt gehört habe – und ich liebe sie immer noch. Insofern beeinflusst die Omnipräsenz von Beethovens Musik auch in einem Jubiläumsjahr mein Verhältnis zu ihr nicht wesentlich.

Als schöpferische Künstlerin ist Beethoven für mich ein Kom­ ponist, dessen Werk ich bewundern kann, aber nur selten direkt zu mir sprechen lasse, während ich selbst eine Komposition entwickle.

Etwas Entscheidendes habe ich dennoch von seiner Musik gelernt: dass jedes Detail mit der Zeit wesentlich werden und jeder Moment Aussage und Frage zugleich sein kann. Manche seiner Zeitgenossen wie Schubert oder Brahms haben Beethovens Vorbild vermutlich als Last empfunden – doch aus dieser Last scheint letztlich Anregung geworden zu sein. Ich glaube, man sollte Einflussängste möglichst gelassen nehmen: sollte das Werk einer anderen Person mich derart

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beeindrucken, dass ich ihm nichts mehr entgegenzusetzen weiß, dann bin ich eben keine Komponistin mehr. Ich betrachte das Komponieren als eine kreative Form des Vergessens. Einflüsse können wiederkehren, doch etwas in ihnen erweist sich beim eigenen Schreiben als wesentlich neu.

An Beethovens Musik brauchen wir nicht zu erinnern. Wir könnten ein Jubiläumsjahr wie das kommende aber zum Anlass nehmen, zu fragen, welche Formen des Hörens wir vernachlässigen.

Bislang gilt im klassischen Konzert das Ideal einer strukturbezogenen Aufmerksamkeit, hinter der die Wahrnehmung des Raums und ­ des eigenen Körpers verschwinden soll. Mich würden Ausführungsformen interessieren, in denen diese normalerweise verdrängten ­Kategorien wieder hervorkommen. In ihnen könnte das Licht, die Stille zwischen den Stücken oder das Blättern in Programmheften in Beziehung zum Hören der Musik gesetzt werden. Vermutlich würde man dann auch die Musik von Beethoven anders hören. ­Solche Hörsituationen müsste man inszenieren. Es wären Aufführungen, in denen Präsenz und Absenz der Musik zusammenspielen könnten – nicht im Sinne einer Relativierung, sondern einer verschobenen Zuwendung. Beethovens Musik hält das aus.

Isabel Mundrys Der Körper der Saite für Violoncello und Ensemble erlebt im Abschlusskonzert der Saison 2019/20 seine Uraufführung im Pierre Boulez Saal.

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Thoughts on the Beethoven Year

Isabel Mundry

The works of Beethoven stand as a paradigm of music in the spirit of Enlightenment and progress. It is with good reason that we have begun to critically examine these values, and the more consequent we are in doing so, the more honest we have to be in reflecting anew on the significance of Beethoven’s music. I increasingly tend to hear this music from the perspective of people from different cultural backgrounds who are critical toward the paradigms of the central European canon. This influences my own listening as well.

I am more aware, for instance, of the limits of the notion of self as it is emphatically present in Beethoven’s music. The meaning I used to ascribe to this music as the child of an educated bourgeois German family has long disintegrated. But the music has survived it. I still listen to it, albeit in a different way. That is the good thing about consistent music: in the long term, it seems to be immune to attempts at monopolization. There are works I have heard performed, after a fashion, on the street dozens of times—yet I still love them.

In the same way, the omnipresence of Beethoven’s music, even in an anniversary year, has no significant influence on my relationship to it.

As a creative artist, Beethoven to me is a composer whose works I can admire, although I will only rarely allow them to speak to me while I am developing a composition. There is, however, one crucial thing I have learned from his music: that over time every detail can become vital and that every moment can be simultaneously perceived as a statement and a question. Some of his contemporaries, including Schubert and Brahms, likely experienced Beethoven’s ­example as a burden—but this burden eventually seems to have been transformed into stimulation. I think one should take a relaxed

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approach to the fear of being influenced: if the work of another person were to impress me to the point where I was unable to respond, then I am no longer a composer. Composing to me is a creative form of forgetting. Influences may return, but in the act of one’s own writing something about them reveals itself to be fundamentally new.

There is no need to remind ourselves of Beethoven’s music. But we might take the opportunity of an anniversary like this to ask ourselves which ways of listening we are neglecting. Until now, in classical concerts we have been guided by the ideal of attention­ ­focused on structure, which is supposed to make the sensation of the space and of our own bodies disappear. I would be interested in examining ways of performance in which these categories, usually suppressed, reemerge. In that way, light, the silence between pieces of music, or the turning of the pages of a program book could be allowed to relate to our listening to the music. This would probably result in listening to Beethoven’s music in a different way as well.

We would have to stage such listening situations. These might be performances in which there is an interplay between the music’s presence and its absence—not in the sense of qualification, but in the sense of realigning our attention. Beethoven’s music will stand its ground.

Isabel Mundry’s Der Körper der Saite for Cello and Ensemble will have its world premiere in the closing concert of the Pierre Boulez Saal’s 2019–20 season.

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Beethoven der Verwerfer Matthias Pintscher

Vor einigen Jahren hatte ich anlässlich einer Fernsehreportage in den USA die überraschende Ehre, einige der bedeutendsten ­Musikmanuskripte aus der Sammlung der Library of Congress in Washington in den Händen zu halten. Ich konnte mir ohne Handschuhe aus der Nähe die Handschriften von Schönbergs Ein Über­ lebender aus Warschau, Coplands Appalachian Spring und Mendelssohns Oktett anschauen – für mich, der ich immer noch mit Bleistift auf Papier schreibe und zum Glück nie gelernt habe, am Computer zu komponieren, ist es wirklich faszinierend, anderen Komponisten auf diese Weise zu begegnen und ihrer Seele nachzuspüren.

Unter den Manuskripten war auch das Autograph von Beethovens Streichquartett cis-moll op. 131. Ich kann eigentlich ganz gut ­Noten lesen, aber auf diesen Seiten konnte ich im Grunde gar nichts erkennen – im Gegensatz etwa zu Mendelssohns Oktett, das von vorne bis hinten fehlerfrei mit Tinte geschrieben ist, jede Note je nach Tempo genau abgemessen. Beethovens Handschrift wirkt dagegen wie eine Kalligraphie mit unglaublich viel Schwung und Spontaneität und Emotion. An ihr zeigt sich wie bei kaum einem anderen Komponisten die einmalige Befähigung, Dinge verwerfen zu können, auszustreichen, zu löschen, und zwar in einer unglaublich vehementen Art und Weise. Für mich ist Beethoven wahrscheinlich der begabteste „Verwerfer“ in der europäischen Musikgeschichte. Fast wie ein Goldgräber: Wenn nichts im Netz bleibt, wird es einfach brutal weggeworfen. Ich glaube, es gibt keinen ­anderen Komponisten, der so radikal gegen sich selbst sein musste, alles ablegen, abwerfen musste, um von einer Klaviersonate zur nächsten zu gelangen, von einer Symphonie zur nächsten, von einem Quartett zum nächsten – von Stück zu Stück alles zertrümmern, ­alles verbrennen, Festplatte löschen, und wieder von Null.

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Ich operiere als Komponist ganz anders: Bei mir werden die ­Fragen, die am Ende eines Stückes offen bleiben, gleich zur Aufgabe für das nächste. Auch wenn ich von einem symphonischen Werk komme und dann ein Solostück schreibe, bleiben eigentlich die Problematiken und Fragestellungen – auf welcher Ebene auch immer – so präsent, dass ich sie als eine Brücke nehme, als einen Übergang in die nächste Aufgabe, die ich mir stelle. Beethoven hat den Mut, alles zurückzulassen, die Tür abzuschließen, weiterzugehen. Bei den letzten Streichquartetten und der Großen Fuge, die mittendrin seht, denke ich manchmal an die großen Canyons in den USA: Man fährt, alles ist schön grün und flach, dann parkt man, steigt aus, und zehn Schritte weiter geht es runter – und zwar so richtig und völlig unerwartet. Diese Abgründe hat sich Beethoven bestimmt nicht ausgesucht, aber sie waren eben da, und er hatte immer wieder den Mut zu springen. In seinen späten Werken zeigen sich all diese Widerstände, diese Panik, die Depression, die ungestillten Sehnsüchte, der Drang, die klassische Form wirklich aggressiv ­verlassen zu müssen. Man geht ins Offene. Die siebenteilige Struktur von Opus 131, die attacca gespielt wird und die sich schon andeutet in der „Sonata quasi una fantasia“, der „Appassionata“, der „Waldstein-Sonate“ – absurdisches Komponieren.

Das ist für mich Beethoven: der absolute Anspruch, das, was rauskommen muss, einfach ohne nach links oder rechts zu schauen mit einem geradezu infarktartigen Impuls aufs Papier zu bringen.

Man spürt, dass diese Musik einfach raus muss. Es muss nicht das Ziel beim Komponieren sein, dass sich die eigene Persönlichkeit hundertprozentig mit dem deckt, was man schreibt. Aber ich glaube, wir sind alle nach wie vor so angesprochen von dieser Musik, fühlen uns hingezogen zu ihr mit einem fassungslosen Begreifen, weil Beethovens kompositorische Persönlichkeit so authentisch und ­genuin gelebt ist in dem, was aufs Papier kommt, weil alle Barrieren weggeräumt werden. Bei Beethoven sind der Mensch und der ­Seelenzustand des Augenblicks absolut adäquat eins zu eins in den Noten eingeschrieben. Das ist sehr berührend und sehr eindrücklich.

Aber auch beängstigend. Ich habe dafür große Bewunderung.

Matthias Pintscher ist musikalischer Leiter des von Pierre Boulez gegründeten und in Paris beheimateten Ensemble intercontemporain. Seine Komposition NUR für Klavier und Ensemble wurde im Januar 2019 im Pierre Boulez Saal uraufgeführt.

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Beethoven the Discarder Matthias Pintscher

A few years ago, a television feature in the United States brought me the unexpected honor of being allowed to handle some of the most important music manuscripts held by the Library of Congress in Washington, D.C. Without wearing gloves, I was ­permitted to take a close-up look at manuscripts of Schoenberg’s A Survivor from Warsaw, Copland’s Appalachian Spring, and ­Mendelssohn’s Octet— I still write with pencil on paper and, fortunately, never learned to compose at the computer, so it is truly ­fascinating for me to ­encounter other composers in this fashion and to be able to feel a small part of their soul.

Among the manuscripts was also the autograph of Beethoven’s String Quartet in C-sharp minor Op. 131. I think I read music fairly well, but on those pages, I could decipher almost nothing—contrary to Mendelssohn’s Octet, which is written in ink, without a single mistake from beginning to end, every note perfectly spaced according to the tempo. Compared to this, Beethoven’s handwriting resembles calligraphy penned with an incredible amount of verve, spontaneity, and emotion. Unlike almost any other composer’s hand, it reflects the unique ability to discard things, to cross them out, to delete them, in an incredibly vehement manner. To me, Beethoven is probably the most gifted “discarder” in European music history. Almost like a gold miner: if no nuggets remain in the pan, everything is brutally tossed out. I don’t think there is any other composer who had to act so radically against himself: casting aside, throwing away everything to get from one piano sonata to the next, from one symphony to the next, from one quartet to the next—destroying, burning ­everything from piece to piece, erasing the hard drive, starting again from scratch.

As a composer, my working method is quite different: the ­questions that remain at the end of one piece to me become the

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task for the next. Even when I finish a symphonic piece and then turn to a solo work, the problems and the questions—regardless on which level—remain so present that I use them as a bridge, as a transition to the next task I set myself. Beethoven has the courage to leave everything behind, to lock the door, to move on. When I look at his final string quartets, with the Grosse Fuge in the midst of them, I am sometimes reminded of the canyons in the United States: you drive through the countryside, everything is green and flat, you park your car, get out, and ten steps further, down you go—totally and utterly unexpectedly. I am sure that Beethoven did not choose these abysses, but there they were, and time and again, he found the courage to leap. His late works reflect all these antagonisms, the panic, the depression, the unfulfilled yearnings, the urge to truly, aggressively leave behind Classical form. He takes us out into the open. The seven-part structure of Opus 131, which is played attacca and which is already foreshadowed in the “Sonata quasi una fantasia,” the “Appassionata,” the “Waldstein” Sonata—­ absurdist composing.

That is Beethoven to me: the absolute will to put down on paper whatever it is that must come out, without looking left or right, with an impulse that resembles an infarction more than anything else. You feel that this music simply had to burst out. It is not ­necessarily a composer’s goal that your own personality is reflected one hundred percent by what you are writing. But I do believe that we all continue to be so touched by this music, feel drawn to it with a kind of stunned understanding, because Beethoven’s personality as a composer is so authentically and genuinely represented by what is there on the page—because all the barriers are removed. With Beethoven, the person and the state of mind at any given moment are inscribed in the music absolutely equivalently, as they are. That is very touching and very impressive. But also frightening. I have the greatest admiration for this.

Matthias Pintscher is music director of the Paris-based Ensemble intercontemporain, which was founded by Pierre Boulez. His composition NUR for Piano and Ensemble premiered at the Pierre Boulez Saal in January 2019.

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Utopische Musik?

Die Ausnahme als das Eigentliche

Jörg Widmann

Das erste Stück von Beethoven, mit dem ich mich als ­ larinettist beschäftigt habe, war das „Gassenhauer-Trio“ op. 11.

K Als junger Mensch hat mich das Verhältnis von Strenge und jugendlichem Ungestüm in der Musik des frühen Beethoven besonders fasziniert. Entscheidend für meine Wahrnehmung des Komponisten war aber schon damals die Siebte Symphonie, die ich in der ­berühmten Aufnahme von Carlos Kleiber mit den Wiener Phil­ harmonikern kennengelernt habe. Dies war für mich der Inbegriff von beseelter Musik – aber auch von Musik, die kompromisslos ist in ihrer Entgrenzung, ihrem bacchantischen Rausch, ihrer Unbarmherzigkeit.

Richard Wagner hat das Allegretto der Siebten Symphonie als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet und damit vielleicht einen wichtigen Aspekt dieses Werks auf den Punkt gebracht. Andererseits begegnen uns in dieser Partitur auch Momente, die eben nicht schön, Akkorde, die nicht mehr ästhetisch sind. Ich glaube, wir ­machen uns oft zu Unrecht über die Zeitgenossen lustig, die mit der Musik Beethovens ästhetisch überfordert waren. Carl Maria von Weber, selbst ein großer Neuerer des Orchesterklangs, hat über den letzten Satz der Siebten gesagt: „Jetzt ist er endgültig reif fürs Irrenhaus.“ Ich bin überzeugt, dass wir uns keine Vorstellung davon machen können, wie diese Musik für damalige Ohren geklungen haben muss. Der Beginn des vierten Satzes ergeht sich in manischem Umkreisen ein und desselben Gedankens. Zuvor im Kopfsatz beißt sich Beethoven seitenlang an einem punktierten Rhythmus fest – mit solch einer insistierenden Ausdauer, dass die Partitur optisch an ein Tapetenmuster erinnert. Im Finale wiederum gelingt es ihm, den Taktschwerpunkt so zu verschleiern, dass man als Hörer fast über Minuten in die Irre geführt wird. Der Puls, die Energie, die

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dabei entsteht, ist ungeheuer. Akzente zur Unzeit werden zur ­neuen Regel, die dann wieder aus den Angeln gehoben wird. Bei Beethoven lernt man die Ausnahme als das Eigentliche lieben.

Nicht nur als Komponist, der Streichquartette schreibt, sind ­Beethovens Quartette, insbesondere die späten Werke, für mich von zentraler Bedeutung. Seit Jahren liegen die Partituren von op. 127 und op. 130 auf meinem Nachtkästchen. Ich habe sie wieder und wieder gelesen und analysiert – und trotz allem lassen mich schon die ersten acht Takte des „Alla danza tedesca“ ratlos zurück. Es ist eine Musik, die ich bis auf den heutigen Tag nicht verstehe, Musik, in der jede zweite Note im Widerspruch zur vorhergehenden zu stehen scheint. Sich ihr als Interpret zu nähern, nur diese wenigen Takte zu proben, sich ihnen auszuliefern, ihre Ambivalenzen zu erforschen, Entscheidungen darüber zu treffen, bedeutet eine enorme künstlerische Herausforderung. In der Musik des späten Beethoven wird Interpretation zur Spekulation, zur utopischen Angelegenheit.

Denn sobald ich mich für eine Interpretation entscheide, beraube ich die Musik ihrer Ambivalenzen und damit ihres Reichtums.

Deshalb kann Interpretation an diesem Punkt nicht mehr das sein, was sie vor Beethoven war. Ich muss mich zu dieser Musik anders verhalten. Doch wie sollen wir alle Ambivalenzen eines Werks wie Opus 130 je hörbar machen? Es bleibt ein Ding der Unmöglichkeit.

Ignaz Schuppanzigh, der mit seinem Quartett die meisten der späten Quartette Beethovens uraufgeführt hat, beklagte sich einmal, die Musik sei unspielbar. Beethovens Reaktion ist legendär: „Was kümmert mich Seine elende Geige, wenn der Geist zu mir spricht.“ Wir neigen dazu, diese Antwort auf ein Moment der Arroganz zu reduzieren, doch ich glaube, Beethoven hat tatsächlich so gedacht.

Seine Musik, zumal die am Ende seines Lebens entstandene, ist ­direkter Ausdruck dieses Gedankens. Es kann keine vollständig schlüssige Interpretation eines Stücks wie der Großen Fuge geben.

Ist es utopische Musik?

Beschäftigt man sich als Komponist mit Beethoven, überkommt einen manchmal das Gefühl, mit einem Giganten zu kämpfen, und man begreift plötzlich einen so dramatisch anmutenden Satz wie den Ausspruch von Brahms, der meinte, einen Riesen hinter sich schreiten zu hören. Ich arbeite zur Zeit an meinem Siebten

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Streichquartett. Es ist das zweite Quartett in einem Zyklus, der als „Studie über Beethoven“ angelegt ist. Nach Abschluss meines ersten Streichquartett-Zyklus mit dem 2005 entstandenen fünften Quartett hatte ich das Bedürfnis, in eine neue Richtung zu gehen, und gleich zu Beginn der Arbeit stellte ich fest, dass Beethoven im ­Zentrum stehen musste. Ich beziehe mich hier kaum je konkret auf bestimmte Werke, doch bei der Komposition komme ich immer wieder auf Opus 130 zurück – ein Stück, das mich sprachlos macht in seiner Unerschöpflichkeit, in der Art und Weise, mit der Beethoven Kampf und Freiheit miteinander konfrontiert, mit der er die Musik zum Experimentierfeld macht. Das Unvermittelte, das Nicht-Joviale, das Widerständige ist es, das uns hier so eindrücklich entgegentritt, gleichzeitig aber auch die innigen Momente, etwa in der Cavatina, in denen Beethoven „ich“ sagt, in denen er sich aussingt, ohne je sentimental zu werden. Das bewundere ich unendlich an ihm: Er mag manchmal brüsk sein, doch er ist nie kalt. Er schreibt immer eine durchglühte Musik.

Vielleicht hätte ich vor 20 Jahren nicht so enthusiastisch über Beethoven sprechen können. Mit Ausnahme der Siebten Symphonie bildeten seine Werke für mich lange Zeit einen zutiefst bewunderten, gefürchteten, aber keinen geliebten Planeten. Erst durch die intensive Beschäftigung hat sich dies im Laufe der Zeit grundlegend geändert.

Beethoven, das erfahren wir auch nach zwei Jahrhunderten immer wieder, ist ein unerschöpfliches Reservoir. Seine Musik hat eine ­visionäre Kraft. Sie hat weder Patina angesetzt noch etwas von ihrer Unverschämtheit verloren. Wenn die Revolutionsfanfare im Finale der Fünften Symphonie erklingt – im Grunde ein primitiver musikalischer Gestus –, lässt uns das nicht nur nicht kalt, sondern wir ­erleben einen ebenso unerhörten Moment, wie er es damals gewesen sein muss.

Letztendlich führt mich die Begegnung mit diesem Komponisten immer wieder zu einem Satz zurück, der mich besonders erschüttert und berührt. Beethoven hat ihn über die Partitur eines seiner ­sprödesten Stücke geschrieben, das gleichzeitig eines seiner schönsten ist, eines seiner wichtigsten, aber bis heute fast hermetisch unzugänglichen, der Missa solemnis: „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen.“ Darum geht es. Deshalb machen wir Musik.

Jörg Widmann ist Inhaber des Edward W. Said-Lehrstuhls für Komposition an der Barenboim-Said Akademie. Im Pierre Boulez Saal wurde im Juni 2019 sein Labyrinth IV für Sopran und Ensemble uraufgeführt.

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Utopian Music?

The Exception as the Quintessence

Jörg Widmann

The first Beethoven piece I learned as a clarinetist was the “Gassenhauer” Trio Op. 11. As a young person, I was fascinated by the relationship between severity and youthful impetuousness in Beethoven’s early music. But even at the time, my perception of the composer was shaped in a decisive way by the Seventh Symphony, which I first encountered in the famous recording Carlos Kleiber made with the Vienna Philharmonic. This, to me, was the epitome of soulful music—but also of music that is uncompromising in its boundlessness, its bacchantic inebriation, its mercilessness.

Richard Wagner referred to the Allegretto from the Seventh Symphony as the “apotheosis of dance,” and perhaps summed up an important aspect of the work. On the other hand, there are moments in this score that are not beautiful, chords that can no longer be called aesthetic. I think we often unfairly mock Beethoven’s ­contemporaries, whose sense of aesthetics was overwhelmed by his music. Carl Maria von Weber, himself a great innovator of orchestral sound, said about the Seventh’s last movement: “Now he is truly ready for Bedlam.” I am convinced that we cannot possibly have any concept of what this music sounded like to contemporary ears. T he beginning of the fourth movement manically circles a single idea. Earlier, in the first movement, Beethoven doggedly repeats a syncopated rhythm over multiple pages—with such insistent perseverance that visually the score resembles a wallpaper pattern. In the ­finale, he manages to obfuscate the accent of the measure in such a way that the listener is led astray for minutes. The resulting pulse, the energy is tremendous. Accents on off-beats become the new rule, which is then suspended again. In Beethoven’s music, we learn to love the exception as the quintessence.

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Beethoven’s string quartets, and the late ones in particular, are of central importance to me, not only as a composer who writes quartets himself. For years, the scores of Opus 127 and Opus 130 have been my bedside reading. I have read and analyzed them again and again—and yet, even the first eight measures of the “Alla danza tedesca” leave me perplexed. This is music I have never been able to understand, music in which every second note seems to contradict the preceding one. To approach it as a performer, to rehearse only these few measures, to abandon oneself to them, exploring their ambivalences, making decisions about them—all that is an enormous artistic challenge. In Beethoven’s late music, interpretation becomes speculation, a utopian issue. For as soon as I decide in favor of one interpretation, I rob the music of its ambivalence and thereby of its riches. That is why at this point interpretation must cease to be what it was before Beethoven. I must develop a different attitude towards this music. Yet how are we ever to make all the ambivalences of a work such as Opus 130 audible? It remains impossible. Ignaz Schuppanzigh, whose quartet gave the first performances of most of Beethoven’s late quartets, once complained that the music was ­unplayable. Beethoven’s reaction is legendary: “What do I care about your wretched fiddle when the spirit speaks to me!” We tend to ­reduce this answer to an element of arrogance, but I believe this is truly what Beethoven thought. His music, especially the works written towards the end of his life, are a direct expression of this idea. It is impossible for a completely plausible interpretation of a piece like the Grosse Fuge to exist. Is it utopian music?

When you are a composer, studying Beethoven can sometimes feel as if you were grappling with a giant, and you suddenly comprehend such dramatic-sounding statements as Brahms’s, who thought he could hear a giant marching behind him. I am currently working on my Seventh String Quartet. It is the second quartet in a cycle conceived as a “Study on Beethoven.” After finishing my first string quartet cycle with the Fifth Quartet in 2005, I felt the need to move into a new direction, and as soon as I began working, I realized that Beethoven would have to be the focus. I hardly ever make reference to specific works here, but while I am composing I keep coming back to Opus 130—a piece that leaves me speechless in its inexhaustibility, in the manner in which Beethoven juxtaposes

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struggle and liberty, in which he turns music into grounds for ­experimentation. The abruptness, the non-jovial attitude, the resistance is what we are confronted with here so impressively, but at the same time it is also the intimate moments, as in the Cavatina, when Beethoven speaks in the first person singular, when he sings out without ever being sentimental. This is something I admire ­infinitely in him: he may be brusque at times, but he is never cold.

He always writes music with an ardent inner glow.

Perhaps 20 years ago I could not have spoken so enthusiastically about Beethoven. With the exception of the Seventh Symphony, for a long time his works seemed to me like a planet I could deeply admire, even fear, but not love. But spending a long time studying this music has profoundly changed my attitude. Beethoven, this we realize over and over, even after two centuries, is an inexhaustible reservoir. His music has visionary power. It has not collected patina or lost any of its impertinence. When the revolutionary fanfare rings out in the Fifth Symphony—a primitive musical gesture really —it does not leave us cold, but we experience something that is as outrageous as it must have been at the time.

Ultimately, encounters with this composer always lead me back to a phrase I find particularly shattering and moving. Beethoven ­inscribed it on the score of one of his most unwieldy works, which is also one of his most beautiful, one of his most important, but still almost hermetically inaccessible to this day—the Missa solemnis: “From the heart—may it return to the heart.” That is what it’s all about. That is why we make music.

Jörg Widmann holds the Edward W. Said Chair as Professor of Composition at the Barenboim-Said Akademie. In June 2019, his Labyrinth IV for Soprano and Ensemble had its world premiere at the Pierre Boulez Saal.

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The aim in the art world, as indeed in the whole of creation, is freedom, progress. —Ludwig van Beethoven

Tell Me Pier re Boulez

Beethoven ein Name – der Name das Symbol kaum angefochten anerkannt wie keines sonst in unserer Musik-­ kultur eethoven – vom philosophischen Essay bis zum Comic strip B vom Psychogramm bis zum biographischen Roman Heute – der Kult oder die Parodie des Kultes – zwischen Bach und Wagner weniger streng als jener weniger hysterisch als dieser – auf jeden Fall: verehrt, geliebt Vergessen wir nicht: ernsthafter als Haydn tiefer als Mozart weniger langweilig als Brahms +, –, +, –, ...

Doch hatte das Abenteuer merwürdig begonnen. elacroix: D

„Dies ist das Werk eines Verrückten oder eines Genies – Im Zweifelsfall bin ich für das Genie.“

(Nicht zu reden von Goethe und seiner Abneigung gegen einen so unbändigen Orkan)

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Aber die Bestürzung wich dem Taumel: Titanisches Vollblut – Lawine von Katastrophen und Schicksalsschlägen – Bittere Tränen, blutige Tränen gar – Blitze, Feuer und Donner – Genie, Genie, Genie – Später wurde dies allzu titanische Geniebild in den Bereich des Vulgären verwiesen.

So wie Trauer muß Elektra tragen trägt Raffinement nun der Asket.

Ein Mann, nicht mehr der Menge sondern der Zukunft, die unnennbare ewige Zukunft schlechthin als Asket – fast – so erschreckend wie als Titan.

Beethoven, laterna magica für viele Lafontain’sche Affen.

Konnte dieser ‚Mensch‘ denn überhaupt geboren werden? geboren werden vor zweihundert Jahren? in einer Stadt – und in einem armseligen Haus?

Wie stehen wir dazu, nach zweihundert Jahren? sind es wirklich zweihundert Jahre?

Von einem Ufer zum anderen – vom linken zum rechten offen­ sichtlich – (wie bei der Entstehung der Anna Livia Plurabella) hat das Gespräch den mythischen Strom hervorgebracht.

Diskussion: Ihr/mein Beethoven ist nicht der meine/Ihre.

Mein/Ihr Beethoven ist

– besser

– echter

– wahrer

– tiefer

– moderner

– gerechtfertigter

– usw. ...

– usw. ...

– mehr bla-bla

als Ihrer/meiner.

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Held der Helden – Mensch der Menschen Klassiker par excellence – Neuerer von Wesensart Mensch gewordene Musik – Musik gewordener Mensch Drehen und wenden Sie diesen Diamanten mit den tausendfältigen Facetten – Sie werden tausend Sonnen in ihm sehen!

Gespräch – unter Tauben, ja – (auch eine Art von Ehrung).

Dann die Huldigungen – jede ehrerbietig auf ihre Weise.

– Womit wir wieder beim Anfang des Kapitels wären –

Ich gebe meinem Beethoven die Ehre, der nicht der Ihre ist.

Die Ehrung als

{ Monument Dokument

(nicht so ehrfürchtig wie sie tut)

Angriff Die Ehrung als

Geschoß

{

(ehrfürchtiger als sie scheint) Die dynamische Ehrung Die statische Ehrung Weihrauch, Myrrhe ... und Gold.

Oh Ihr Weisen, die Ihr Eure Gaben darbringt dem Neugeborenen, dem zweihundertjährigen, welchem Stern vertraut Ihr Euren Weg? Und wer möchte Ochse sein in diesem Stall?

Wer könnte der Esel sein? (Dank für die Antworten) (Die anderen Personen auf dem Gebetbuchbild sind deutlich genug zu erkennen.)

(Joseph [Haydn?] der Zimmermann – oder der Sohn des Schmieds) (Maria Musica – und der heilige Geist, der nicht immer auf dem Bild zu sehen ist.)

S oweit gut – die Zeremonie des zweihundertsten Geburtstages hat ihren Prunk entfaltet und ihr Gepränge, ihre Karrikaturen und ihre „lebenden“ Bilder.

(Aber kann man mit gleichem Pomp DIE Geburt, das Jahr Null, feiern?

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Ich denke da an eine Geschichte – eine alberne, wie es scheint –: Der Oberst [oder General?/oder Hauptmann?] Hugo zeigt 1802 [Monat?/Tag?/Stunde?] auf dem Standesamt [zu Besançon?/Dôle?] die Geburt seines Sohnes an.

– Vorname, fragt der Beamte – Victor, antwortet der glückliche Vater – Meine volle Bewunderung, drauf der Beamte.

Stellen Sie sich die gleiche Begebenheit in Bonn vor zweihundert Jahren vor.)

Nun denn, wir haben gefeiert und wir haben geehrt.

Wir ehren weiter und ehren weiter – Es gibt keinen Jahrestag (ob Geburt oder/und Tod), der nicht würdig und gebührend herausgehoben würde – vorausgesetzt, er fällt mit einer runden, symbolischen Zahl zusammen, einem Vielfachen von 5, 10, 100.

Diese Jubiläumsmanie ist beängstigend.

Es kommt der Tag, wo – wie bei Ionesco – der Tod sich der ganzen Wohnung bemächtigt und die Lebenden rüde daraus vertreibt.

Liegt hier ein Grund zur Warnung vor?

Ist dies das Signum einer altersschwachen Kultur, die sich so an ihre Güter klammert, daß das Karussell zu einer Jagd nach Phantomen wird?

Ist diese Kultur so schlaff, daß sie keinen kräftigen

– Aderlaß mehr ertragen

– ihre Reichtümer nicht mehr vergessen

– keinen Schritt mehr tun kann ohne ihren Stammbaum zu bedenken?

Wir haben dem unausweichlichen Symbol unserer Musikkultur die Ehre erwiesen Ist das wirklich so?

Machen uns die Umstände hier nicht etwas vor?

Einiges Geschichtliche – kurzgefaßt.

Zunächst die Ideen: Am Anfang war Rousseau (Jean-Jacques).

Die utopische Revolution – die tatsächliche Revolution folgte kurz danach.

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Der Weg verläuft vom Idealismus zum Blut – und vom Blut wieder zum Idealismus zurück.

Wohl hatte sich das Jahr 1789 in revolutionärer Musik und revolutionären Hymnen versucht – aber es fehlte die Persönlichkeit: viel Nachgeschmack vom Ancien Régime, und nirgends Vorboten, die den Weg hätten zeigen können.

Kurz, die Musik war nicht darauf vorbereitet, mit den Ideen Schritt zu halten – man behauptet ja immer, daß die Musiker ihren Rivalen und Mitbrüdern, den Schriftstellern, hinterherhinken. Endlich kam Schiller – und Beethoven/immer diese Verspätung. Das Jahr 89 geht in die Legende ein: Alle Menschen werden Brüder. Aber schon sind wir bei Napoleon und der Restauration. Doch die L ­ egende lebt, breitet sich aus. Sie beginnt das ganze neunzehnte Jahrhundert zu durchtränken, das ohne Unterlaß verkündet seinen Glauben an hypothetische Revolutionen seinen Glauben an die Humanität seinen Glauben an den immerwährenden Fortschritt (ad astra per aspera ...) (ad augusta per angusta) Beethoven bleibt das emotionale Sprachrohr dafür.

Fidelio – Die Ode an die Freude: Spitzen des revolutionären Idealismus.

Beethoven – der Prometheus, von den Göttern gepeinigt und erhöht, der uns das neue Feuer, den göttlichen Funken gebracht.

Doch nach und nach sieht sich das Ideal von Kreisen der Gesellschaft aufgekauft, die alles andere denn idealistisch sind.

Der Edelmut, er dient/diente als Feigenblatt für Zwecke sehr viel nied’rer Art. Am End des Weges bleibt zu fragen, ob denn die Herkunft von Rousseau nicht strapaziert ward übers Maß.

Denn alles spricht dafür, daß diese revolutionäre Ära, zumindest diese Art von Revolution – war sie ein Traum? – ihr Ende fand und abgeschlossen ist.

Daß Zukunft anders träumen, anders „revolutionieren“ wird.

Soll das heißen, daß der Fahnenträger/Beethoven/ verurteilt sei zum Tod – weil nicht mehr aktuell?

Noch keine Antwort jetzt – wir wollen warten und übergehen 37

Zur Musik: Die Sprache ist vorhanden, gewissermaßen kollektiv.

(Was Größenunterschieden nicht im Wege steht.)

Was Neues hier geschieht, wird nicht so rasch erfaßt, wie man sich’s heute für gewöhnlich denkt.

Doch noch ist es nicht da, das hochgetürmte, bald übers Maß erregte Streben nach Ausdruck der Persönlichkeit.

Beethoven erneuert – nach und nach – soweit, daß die Gesellschaft (schließlich) sich verwahrt mit diesem Einen eins zu sein.

Die Einzigartigkeit wirft Gräben auf ums einzigartige Temperament – Die Sprache trägt die Folgen, bis zum Zusammenstoß zwischen dem, was man beibehält

– sei’s aus Bequemlichkeit, sei’s aus Instinkt –

und dem, was man entdeckt.

Die Sprache macht Erfahrung, leidet, wird verrenkt zum ersten Mal. Sie wird dadurch dramatisch, interessant.

Keim künftiger Zerstörung, hier ist er zu finden.

Für gute Jahre bleibt’s im Gleichgewicht was man befestigt – was man übernimmt

was man zerstört – was man verwirft.

Die Gleichung schwierig – vergänglich der Zustand, zur Endgültigkeit erkalteter Lava erstarrend.

Von neuem sei’s gefragt: ist der Vulkan erloschen?

Es scheint nicht so –

Und dennoch werden, das ist leicht vorauszusehn,

die Träume künftiger Zeiten

in dieser Landschaft nicht mehr blühn.

Diese Ära geht zu Ende: Der Einzelne – der seine Gedanken der Gemeinschaft aufprägt, – der ihr seine Unabhängigkeit zeigt, – der wie ein Befreier auftritt.

Das mutmaßliche Gedankengut der Zukunft

(noch liegt es weit vor uns)

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Im Schoße der Gemeinschaft, aus ihr hervorgegangen – doch unterworfen ihren zwingenden Mechanismen – handelt der Einzelne (noch immer er) im Dienste kollektiven Ausdrucks; Der „Fortschritt“ fordert kollektive Arbeit, das Ineinanderwirken aller Kräfte.

In der Vergangenheit: Die musikalische Sprache bietet der Erfindung allgemeine Prinzipien und Materialien an, die sich nach Bedarf verändern und verzerren kann.

(Glaubt er denn, ich denke an seine elende Geige ...) ... ein tiefverwurzelter Idealismus.

Die Erfindung fügt sich in die Regeln/ stellt sich gegen sie.

In der Zukunft: Die Erfindung schafft die Sprache und das Material; es mag dabei geschehen, daß das Material den Ge­ danken verändert, indem es ihn zum Realismus zwingt.

Selbst das Schöpfertum wird kollektiv.

Die Erfindung schafft ihre eigenen Verbindlichkeiten.

In der Vergangenheit: Der Einzelne weist der Gemeinschaft ihre Richtung.

In der Zukunft: Die Gemeinschaft bedient sich der Mittel und Fähigkeiten des Einzelnen.

Alles, was Beethoven bedeutet, dieses weitgeschwungene Gestade unserer Geschichte, es räumt den Platz, weicht einem andern, das eben erst am Horizont erscheint.

Auf das Europa – oder seine Einflußsphäre – nicht mehr – fast unumschränktes Anrecht haben wird.

Ist nicht der Augenblick gekommen, statt einer einzelnen Geburt, zu feiern einen kollektiven Tod? Und ist dies nicht ein Weg zu neuer Sicherheit, wenn man bedenkt, daß jene Überlegenheit, die uns so selbstverständlich war, dabei ist zu verschwinden?

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Die beiden Arten, Beethovens sich zu bemächtigen, sie treten solchermaßen klar zutage:

– Ein Heimweh nach diesen zwei entscheidenden Jahrhunderten, ein Wunsch, den alten Glanz von neuem zu beleben.

Es hat sich nichts geändert, nichts wird sich ändern weiterhin.

Im Sonnenlicht, das für die Ewigkeit bestimmt, bleibt alles starr.

– Brechen wir mit Leidenschaft ins Unbekannte auf.

Doch tragen wir als sich’res Pfand das Ahnenbild mit uns.

Betrachten wir’s als Schutzpatron der ungewissen Fahrt.

So wird es Zeuge sein, daß wir im Blick der Heimwehkranken „Barbaren“ sind aus freien Stücken.

Was also ist zu denken?

Es kommt ein Punkt in der Geschichte, an dem kein Werk, kein Denkmal mehr geraden Wegs uns lehren kann.

Der Griechen Tempel wird euch nicht belehren, wie ihr aus Glas und Stahl den Wolkenkratzer baut.

Doch konservieren wir den griechischen Tempel – Aus Freude, und weil er das Geheimnis uns des abgeschlossenen Lebens ahnen läßt.

Die Sterne, die noch unsern Augen strahlen, sie sind tot.

Warum der Wille, ein Werk um jeden Preis lebendig zu erhalten?

Es strahlt aus sich – und für sich selbst.

Sein Rang in der Geschichte, erstarrte Vormacht, ist Verlockung.

Doch seine Radioaktivität hat nichts zu tun mit künftigem Gewinn.

Zwischen den Stimmen, die Zwiesprache halten tell me, ell me

die ihn erschaffen elm bleibt der Fluß Beethoven / STUMM gegenüber den beschwörenden Anrufungen.

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Er strömt – Und niemand weiß, zu welchen Meeren, zu welchem Tod sein Lauf sich wenden mag.

Wer fühlt sich nicht erleichtert, wenn er weiß, der Tod – und dieser Tod – ist nicht vorauszusehen?

Und dennoch ist er unausweichlich.

Pierre Boulez (1925–2016) zählte als Komponist, Dirigent, Autor und Kulturmanager zu den prägenden Figuren der europäischen klassischen Musik im 20. und frühen 21. Jahrhundert.

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Tell Me Pier re Boulez

Beethoven a name

– the name the least discussed the most accepted and acknowledged symbol of our musical culture

eethoven – from the philosophic essay to the comic strip B – from psychoanalytical study to biographie romancée Today – the cult or a parody of the cult – between Bach and Wagner less austere than the former less hysterical than the latter – in any case: respected, loved. (we must not forget: more serious than Haydn

more profound than Mozart

less boring than Brahms

+, –, +, –, …)

And yet the story had a strange beginning.

Delacroix: “This is the work of a madman or a genius.

In doubt, I plump for ‘genius’.”

(Not to speak of Goethe and his strong distaste for so uncivilized a hurricane.)

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But stupefaction was replaced by delirious enthusiasm; plethora of titanism – avalanche of catastrophes and blows of Fate – bitter tears, and ink of blood – lightnings, fires and thunders – genius, genius, genius – Then the too-titanic aspect of genius was left to the common herd.

Refinement befits the ascetic as mourning becomes Electra.

No longer the man of the Crowd, but of the future, the future, beyond reckoning, eternal; the ascetic as terrifying—almost—as the titan.

Beethoven, magic lantern for a host of monkeys.

Can this “man” have ever been born? and two hundred years ago? and in a town­—and in a modest house?

Where do we stand, after two hundred years? is it really two hundred years?

From one bank to the other­—right and left, obviously— (as in the birth of Anna Livia Plurabelle) the dialogue has produced the river/mythical.

Discussion:

Your/my B. is not mine/yours.

My/your B. is – better – more authentic

– truer

– more profound

– more modern

– more justified

– etc.

– etc.

– more bla-bla-bla

than yours/mine.

The hero among heroes The classic par excellence Music made man

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– the man amongst man – essentially, the innovator – man become music

Turn over this many-faceted diamond.

Through it you will see a thousand stars!

Dialogue—for the deaf, yes—(kind of dedication.)

Then the tributes—respectful, each in its own way. ­—We go back to the preceding chapter— I pay tribute to my Beethoven, who is not yours.

{

tribute (less respectful than it appears)

{

tribute (more respectable than it appears)

The monument document The attack missile

The dynamic tribute The state tribute Franckincese, myrrh … and gold Ye Magi bringing your tribute to this newborn child two hundred years old to what star do you entrust your expedition?

And in this stable, who will consent to be the ox? who can be the donkey? (Thanks for the answers.)

(The other figures in the picture are recognizable excessively.)

(Joseph [Haydn?] the carpenter—or the smith’s son) (Mary Music—and the Holy Spirit, who is not always shown in the picture.)

Good. The celebration of the two hundredth nativity is over, with all its pomp and ceremony its caricatures, and its tableaux vivants (But is it possible to celebrate with such splendor THE nativity, year 0?

Comes to my mind the story—absurd, it seems—: Colonel [or General?/or Captain?] Hugo arrived 1802 [month?/day?/hour?] at the registry office [in Besançon?/Dôle?] to register the birth of a son.

– First name, says the official – Victor, answers the happy father – All my admiration, exclaims the official.

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Imagine the same anecdote in Bonn two hundred years ago.)

So then, we have celebrated and paid our tributes.

We are paying more and more tributes.

There is no anniversary (of death or/and birth) that is not duly and worthily emphasized.

Provided that it conincides with a round number, symbolic, a multiple of 5, 10, or 100.

This flux of anniversaries is disturbing.

There comes a moment when, as in Ionesco, death invades the whole house, contemptuously turns out the living.

Should we be alarmed?

Is it the sign of a civilization in decline, clinging to its possessions, but in such a way that the merry-go-round begins to look like a ghost hunt?

Is this a culture so enfeebled that it can no longer

– tolerate extensive blood-letting?

– forget its own wealth?

– go forward without worrying about its pedigree?

We have paid tribute an irremediable symbol of our musical culture.

Is that so certain?

Are we quite sure that we are not being deluded by the circumstances?

A little history—very quickly.

First of all, the ideas: It all started with Rousseau (Jean-Jacques).

The utopian revolution­—soon followed by revolution in practice.

From idealism to blood—and then back to idealism.

1789 had certainly made an attempt with its revolutionary music and ­revolutionary hymns—but there was no personality: many whiffs of the old regime and no forerunners to point out the paths for us.

In a nutshell, music was not ready to coincide with ideas—we are always being told that musicians lag behind their literary rivals and colleagues.

“Enfin Malherbe vient”—in the shape of Schiller—and Beethoven/still lagging behind. ’89 is becoming legendary: all men are brothers.

But meanwhile there is no denying Napoleon and the restorations.

The legend lives on and spreads. It will irrigate the whole of the nineteenth century, with its endless proclamations of

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faith in hypothetical revolutions faith in humanity faith in infinite progress (ad astra per aspera…) (ad augusta per angusta…)

Beethoven still remains the emotional mouthpiece.

Fidelio—the Ode to Joy. Those arrows of revolutionary idealism.

Beethoven—the Prometheus punished by the gods

and exalted, because he gave us the new fire, the divine spark.

As time passed, the ideal was gradually taken over by sections of society that were anything but idealistic.

Generous idealism was used by them as a common screen for much less noble designs.

At the end of the journey it may be doubted whether the original relationship to Rousseau can still be said to exist.

Everything suggests that this revolutionary era, or at least this form of the revolution—this dream?—is now over, finished.

That the future will dream, or “revolutionize,” in quite a different way.

Does this mean that the standard—bearer/Beethoven, here/is doomed to disappear—from lack of relevance?

Do not let us give any answer yet—Listen, and let us go on to The music, now: The language is there, more or less collective.

(This does not mean that there are no structural differences) Discoveries are not accepted as quickly as is commonly supposed today —but the increased, later exaggerated search for/expression of the individual has not yet made its appearance.

Beethoven innovates­—increasingly—to a point at which the general public (towards the end of his life) refuses to identify itself with this individual.

Originality entrenches his temperament, unique.

The language feels the consequences, to the point at which what is retained—for convenience? by instinct?—conflicts with discovery.

The language learns, undergoes, its first distortions.

Which makes it interesting, dramatic.

The germs of future destruction are to be found here.

Balance during the years of privilege between what is established—what is accepted what is destroyed—what is contested

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Difficult equation—a state that might be thought transient

yet hardens into the definitive form of remolten

lava.

Once again: is this volcano extinct?

Apparently not.

And yet once more, the dreams of the future will never again—that is more than predictable—take shape in this landscape.

This era is coming to an end: the individual – imposing his ideas on the collective

– revealing independence to it

– appearing as a liberator.

Probably, the ideas of the future: (guessed at, in the distance) within the community, rising from it—but bound to the mechanisms that contain it—the individual (once again, however) acts as function of a collective expression; “progress” demands a collective effort, a communal participation.

In the past: the musical language provided invention with opportunities to make use of its principles and general materials, which, if need be, it distorts. (What need have I to consider your violin…)…a basic idealism. invention finds a place within/against the rules.

In the future: invention creates both language and material; it can even hap pen that the material distorts the idea by forcing it to be realistic.

Even craftsmenship becomes collective. invention creates its own obligations.

In the past: the individual determines the orientation of the collective In the future: the collective uses the resources of the individual Everything that Beethoven represents, this great era in our history, is making place for another that is only just beginning, in which Europe—and those affiliated with Europe—will no longer enjoy exclusive (almost) privileges.

Is this not the moment to celebrate, not an individual birth, but a collective death?

Is it not a way of reassuring ourselves, now that we suspect that the supremacy to which we have grown

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accustomed is on the point of collapsing?

The two emotional states that have annexed Beethoven are in that case quite clear.

– A nostalgia for these two odd centuries that have been so decisive, a desire to recapture the old splendors.

Nothing has changed, nothing will change.

Everything is congealed in a solar radiance that will last for all eternity.

– Let us embark for the unknown, with passion.

But let us take with us the bust of this ancestor, to reassure us.

Let us keep him as patron of the expedition.

He will be our witness with the faint-hearted that our “barbarism” is deliberate.

What are we to think?

There comes a moment in history, at which every monument, every work ceases to teach us anything, directly.

A Greek temple does not teach you how to build a skyscraper of steel and glass. But we preserve the Greek temples—for our delight, and for the apprehension, the mystery of a past existence.

Dead stars that we still see glittering.

So, why insist at all costs on a work being immediately relevant?

It casts its own light, for its own sake.

Its historical supremacy is an illusion.

Its radioactivity has nothing to do with any future status.

Among the voices saying,/tell me, tell me creating it/elm the river /Beethoven/

remains deaf

to reproaches.

It irrigates.

And there is still no knowing towards what Ocean

towards what death it is moving.

Who does not feel relieved to know that death­—this death—is unforeseeable?

Even if inevitable.

As composer, conductor, writer, and arts administrator, Pierre Boulez (1925–2016) was among the most influential figures of European classical music in the 20th and early 21st centuries.

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