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Beethoven 250 - Unter der Oberfläche/ Beneath the Surface

Beethoven der Verwerfer

Matthias Pintscher

Vor einigen Jahren hatte ich anlässlich einer Fernsehreportage in den USA die überraschende Ehre, einige der bedeutendsten Musikmanuskripte aus der Sammlung der Library of Congress in Washington in den Händen zu halten. Ich konnte mir ohne Handschuhe aus der Nähe die Handschriften von Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau, Coplands Appalachian Spring und Mendelssohns Oktett anschauen – für mich, der ich immer noch mit Bleistift auf Papier schreibe und zum Glück nie gelernt habe, am Computer zu komponieren, ist es wirklich faszinierend, anderen Komponisten auf diese Weise zu begegnen und ihrer Seele nachzuspüren.

Unter den Manuskripten war auch das Autograph von Beethovens Streichquartett cis-moll op. 131. Ich kann eigentlich ganz gut Noten lesen, aber auf diesen Seiten konnte ich im Grunde gar nichts erkennen – im Gegensatz etwa zu Mendelssohns Oktett, das von vorne bis hinten fehlerfrei mit Tinte geschrieben ist, jede Note je nach Tempo genau abgemessen. Beethovens Handschrift wirkt dagegen wie eine Kalligraphie mit unglaublich viel Schwung und Spontaneität und Emotion. An ihr zeigt sich wie bei kaum einem anderen Komponisten die einmalige Befähigung, Dinge verwerfen zu können, auszustreichen, zu löschen, und zwar in einer unglaublich vehementen Art und Weise. Für mich ist Beethoven wahrscheinlich der begabteste „Verwerfer“ in der europäischen Musikgeschichte. Fast wie ein Goldgräber: Wenn nichts im Netz bleibt, wird es einfach brutal weggeworfen. Ich glaube, es gibt keinen anderen Komponisten, der so radikal gegen sich selbst sein musste, alles ablegen, abwerfen musste, um von einer Klaviersonate zur nächsten zu gelangen, von einer Symphonie zur nächsten, von einem Quartett zum nächsten – von Stück zu Stück alles zertrümmern, alles verbrennen, Festplatte löschen, und wieder von Null.

Ich operiere als Komponist ganz anders: Bei mir werden die Fragen, die am Ende eines Stückes offen bleiben, gleich zur Aufgabe für das nächste. Auch wenn ich von einem symphonischen Werk komme und dann ein Solostück schreibe, bleiben eigentlich die Problematiken und Fragestellungen – auf welcher Ebene auch immer – so präsent, dass ich sie als eine Brücke nehme, als einen Übergang in die nächste Aufgabe, die ich mir stelle. Beethoven hat den Mut, alles zurückzulassen, die Tür abzuschließen, weiterzugehen. Bei den letzten Streichquartetten und der Großen Fuge, die mittendrin seht, denke ich manchmal an die großen Canyons in den USA: Man fährt, alles ist schön grün und flach, dann parkt man, steigt aus, und zehn Schritte weiter geht es runter – und zwar so richtig und völlig unerwartet. Diese Abgründe hat sich Beethoven bestimmt nicht ausgesucht, aber sie waren eben da, und er hatte immer wieder den Mut zu springen. In seinen späten Werken zeigen sich all diese Widerstände, diese Panik, die Depression, die ungestillten Sehnsüchte, der Drang, die klassische Form wirklich aggressiv verlassen zu müssen. Man geht ins Offene. Die siebenteilige Struktur von Opus 131, die attacca gespielt wird und die sich schon andeutet in der „Sonata quasi una fantasia“, der „Appassionata“, der „Waldstein-Sonate“ – absurdisches Komponieren.

Das ist für mich Beethoven: der absolute Anspruch, das, was rauskommen muss, einfach ohne nach links oder rechts zu schauen mit einem geradezu infarktartigen Impuls aufs Papier zu bringen. Man spürt, dass diese Musik einfach raus muss. Es muss nicht das Ziel beim Komponieren sein, dass sich die eigene Persönlichkeit hundertprozentig mit dem deckt, was man schreibt. Aber ich glaube, wir sind alle nach wie vor so angesprochen von dieser Musik, fühlen uns hingezogen zu ihr mit einem fassungslosen Begreifen, weil Beethovens kompositorische Persönlichkeit so authentisch und genuin gelebt ist in dem, was aufs Papier kommt, weil alle Barrieren weggeräumt werden. Bei Beethoven sind der Mensch und der Seelenzustand des Augenblicks absolut adäquat eins zu eins in den Noten eingeschrieben. Das ist sehr berührend und sehr eindrücklich. Aber auch beängstigend. Ich habe dafür große Bewunderung.

Matthias Pintscher ist musikalischer Leiter des von Pierre Boulez gegründeten und in Paris beheimateten Ensemble intercontemporain. Seine Komposition NUR für Klavier und Ensemble wurde im Januar 2019 im Pierre Boulez Saal uraufgeführt.

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