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Beethoven 250 - Unter der Oberfläche/ Beneath the Surface

Struktur und Emotion

Daniel Barenboim

Als ich 1988 zum ersten Mal in Bayreuth den Ring dirigierte, bekam ich ein wunderbares Geschenk – Besuch von Pierre Boulez. Er wohnte bei mir zu Hause, und jeden Abend nach der Vorstellung die Möglichkeit zu haben, mit ihm, der diese Werke in- und auswendig kannte, darüber zu diskutieren, war eine einmalige Erfahrung. Er erinnerte sich damals an seine ersten Bayreuther Ring-Aufführungen 12 Jahre zuvor und erklärte mir, dass er musikalisch einen völlig anderen Weg gegangen war als ich. „Als Komponist war ich interessiert am Skelett des Ring“, sagte er, „und ich habe den Eindruck, Sie sind eher interessiert am Blut und an den Muskeln. Mir ging es vor allem um das Strukturelle, Sie wollen das ausdrücken, was beweglich ist. Deshalb waren meine Tempi schneller. Aber ich bin sicher, mit der Erfahrung werden auch Sie das Skelett besser kennenlernen.“ Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, vor allem aber fand ich Boulez’ Gedanken hochinteressant. Und ich glaube, dass ich mit Beethovens Klaviersonaten einen ähnlichen Prozess erlebt habe.

Ich habe sehr früh angefangen, die Sonaten im Konzert zu spielen, einige schon mit acht Jahren, die „Hammerklaviersonate“ und die Sonate op. 111 mit 13 oder 14. Mein Vater, der mein einziger Klavierlehrer war, ist oft dafür kritisiert worden, doch er war überzeugt, man solle sich so früh wie möglich mit den großen Werken auseinandersetzen, auch wenn man noch nicht unbedingt die notwendige Reife besitzt, denn – so sagte er – die Reife kommt nicht, wenn die Noten im Schrank liegen. Deshalb habe ich früh gelernt, dass Beethoven nicht nur technisches Können verlangt, um die Töne zu spielen, die manchmal sehr schwer sind, sondern wirkliche Reife im Denken. In dieser Hinsicht ist er ganz anders als Mozart. Artur Schnabel hat einen wunderbaren Satz gesagt: „Mozart ist zu leicht für Kinder und zu schwer für Erwachsene“. Er meinte damit, dass es für einen erfahrenen Künstler eine große Herausforderung sein kann, die Selbstverständlichkeit des Ausdrucks zu finden, die für Mozart unabdingbar ist. Bei Beethoven existiert dieses Problem nicht – er ist von ungeheurer Komplexität, und der Kampf ist ein organischer Teil jeder Aufführung.

Mit dem vollständigen Sonaten-Zyklus beschäftige ich mich seit 60 Jahren. Die erste Aufführung 1960 kam fast durch einen Zufall zustande. Ich hatte als junger Mensch schon sehr viele Konzerte gespielt, doch mit 16 – ich war kein Kind mehr, aber noch kein Erwachsener – war mein Kalender plötzlich leer. Ich war darüber sehr deprimiert, was merkwürdig klingt in diesem Alter. Doch dann traf ich eines Tages auf der Straße in Tel Aviv einen Bekannten, der mich fragte, womit ich gerade beschäftigt sei. Ich erklärte, dass ich zur Schule ginge, aber keine Konzerte zu spielen hätte und darüber sehr unglücklich sei. Darauf berichtete er mir, er habe gerade die Leitung des Beit Sokolov, des Hauses der Journalisten, in Tel Aviv übernommen – ein berühmtes Gebäude, in dem viele historische Pressekonferenzen stattgefunden haben. Darin gab es einen schönen Saal, und er lud mich ein, dort zu spielen. Ich antwortete: „Gut, ich möchte alle Beethoven-Sonaten spielen.“ Ich glaube, er verstand nicht viel von Musik und wusste nicht recht, worauf er sich einließ. Doch so kam es, dass ich gleichzeitig Abitur gemacht und zum ersten Mal den Sonatenzyklus gespielt habe, zwei Monate lang an jedem Samstag. Selbstverständlich kannte ich damals noch nicht alle Sonaten, und so musste ich in der Woche zwischen zwei Konzerten jeweils ein oder zwei neue Stücke lernen. Es war eine unglaubliche Erfahrung für mich und ich muss sagen, dass ich es sehr genossen habe. Interessanterweise habe ich die 32 Sonaten seitdem immer in der gleichen Programmanordnung gespielt. Diese Aufführungen im Pierre Boulez Saal sind für mich die ersten in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung. Ebenso wie im Leben interessieren mich in der Musik vor allem die Beziehungen zwischen den unterschiedlichsten Elementen. Deshalb freue ich mich sehr, auf diese Weise ganz direkt die künstlerische Entwicklung Beethovens spüren zu können, und ich hoffe, dass ein Teil des Publikums für den ganzen Zyklus dabei sein wird, um dies mitzuerleben. Es ist eine große Reise.

Wenn ich zurückdenke an Künstler der Vergangenheit, die in Bezug auf Beethoven einen starken Einfluss auf mich hatten, so denke ich vor allem an Wilhelm Furtwängler und an Edwin Fischer, denen ich beiden als Kind noch begegnet bin. Vor allem Furtwängler war hochexpressiv in seinem Musizieren. Ich glaube, auch er suchte das Skelett, von dem Boulez sprach, aber der äußere Eindruck war der einer Explosion, von großer Freiheit. Mit etwa 30 Jahren las ich Richard Wagners Buch Über das Dirigieren. Darin spricht er davon, dass es einem Dirigenten nicht nur erlaubt ist, sich gewisse Freiheiten im Tempo zu nehmen, sondern dass es vielmehr eine unbedingte Notwendigkeit ist, um eine musikalische Phrase zu gestalten. Selbstverständlich darf man es mit dieser Freiheit nicht übertreiben – es muss unmerklich geschehen, wie ein permanentes Geben und Nehmen. Die Entscheidung über das Tempo ist vielleicht die wichtigste Entscheidung, die ein Musiker treffen muss, vor allem als Dirigent, denn wenn man selbst spielt, hat man einen permanenten direkten Kontakt zum Klang. Ich halte es für völlig falsch zu glauben, dass man einer Metronomzahl strikt folgen muss. Die Herausforderung besteht im Gegenteil darin, die Struktur eines Werks mit dem Gefühl zu erfassen und das Gefühl dann zu strukturieren. Das ist im Grunde das Geheimnis dessen, was Musizieren ausmacht. Ich mag das Wort Interpretation nicht. Beethoven braucht keinen Interpreten, keinen Dolmetscher.

Als junger Mensch waren mir diese Dinge noch nicht bewusst, aber ich glaube, dass ich seitdem gelernt habe, immer öfter eine Balance zwischen den Extremen zu finden und das Skelett mit der Freiheit zu verbinden. Der erste Kontakt mit einem Werk wie der „Hammerklaviersonate“ muss ein Schock sein – das Stück ist so riesig, so titanisch, es hat so viele Details, Farben und Verbindungen. Man beginnt dann langsam, es zu lernen. Das betrifft als erstes natürlich die Töne, aber auch und vor allem eine fast wissenschaftliche Analyse der Form, der Dynamik, des Rhythmus. Je tiefer man mit dieser Analyse dringt, desto weiter entfernt man sich vom ersten emotionalen Schock. Es ist eine ähnliche Erfahrung, wie man sie bei Begegnung mit einem Menschen macht, der eine starke Persönlichkeit besitzt: man fühlt die Stärke dieser Persönlichkeit, dann lernt man sich kennen und kommt sich in gewissem Sinne näher, entfernt sich in gewissem Sinne aber auch weiter voneinander. Ähnlich funktioniert es in der Musik, wenn man wirklich in und mit der Musik denkt. Das ist ein komplizierter Prozess, der das ganze Leben dauert – in meinem Fall 60 Jahre, was Beethovens Klaviersonaten angeht. Es hat viel mit rationaler Arbeit zu tun, und es gibt Künstler, die Angst vor dieser Analyse haben, weil sie befürchten, dadurch die Frische und die improvisatorische Natur des Instinkts zu verlieren. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass mehr zu wissen immer besser ist als weniger zu wissen. Der natürliche, emotionelle Aspekt leidet darunter nicht. Im Konzert muss ich jedes Stück trotzdem so spielen, als würde ich es in dem Moment erfinden. Die logische Arbeit muss dann verschwinden, und das Publikum muss das Gefühl haben, dass das Stück hier und jetzt entdeckt wird. Manchmal ist es nötig, bestimmte Dinge zu wissen, um sich dann erlauben zu können, sie zu vergessen. Insofern ist Musik philosophisch. Musik ist architektonisch, sie ist emotionell, und sie ist philosophisch.

Vieles kommt mit der Erfahrung, doch Erfahrung heißt niemals Routine. Routine ist der größte Feind des Musizierens. Sie ist die Versuchung, das Gute, das einem heute gelungen ist, morgen wiederholen zu wollen. Erfahrung heißt, Dinge jeden Tag neu zu lernen – in jeder Probe, in jedem Konzert.

Zum Beethoven-Jahr interpretiert Daniel Barenboim im Pierre Boulez Saal sämtliche Klaviersonaten, Klaviertrios und Sonaten für Violine und Klavier des Komponisten.

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