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Beethoven 250 - Unter der Oberfläche/ Beneath the Surface
Utopische Musik?
Die Ausnahme als das Eigentliche
Jörg Widmann
Das erste Stück von Beethoven, mit dem ich mich als Klarinettist beschäftigt habe, war das „Gassenhauer-Trio“ op. 11. Als junger Mensch hat mich das Verhältnis von Strenge und jugendlichem Ungestüm in der Musik des frühen Beethoven besonders fasziniert. Entscheidend für meine Wahrnehmung des Komponisten war aber schon damals die Siebte Symphonie, die ich in der berühmten Aufnahme von Carlos Kleiber mit den Wiener Philharmonikern kennengelernt habe. Dies war für mich der Inbegriff von beseelter Musik – aber auch von Musik, die kompromisslos ist in ihrer Entgrenzung, ihrem bacchantischen Rausch, ihrer Unbarmherzigkeit.
Richard Wagner hat das Allegretto der Siebten Symphonie als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet und damit vielleicht einen wichtigen Aspekt dieses Werks auf den Punkt gebracht. Andererseits begegnen uns in dieser Partitur auch Momente, die eben nicht schön, Akkorde, die nicht mehr ästhetisch sind. Ich glaube, wir machen uns oft zu Unrecht über die Zeitgenossen lustig, die mit der Musik Beethovens ästhetisch überfordert waren. Carl Maria von Weber, selbst ein großer Neuerer des Orchesterklangs, hat über den letzten Satz der Siebten gesagt: „Jetzt ist er endgültig reif fürs Irrenhaus.“ Ich bin überzeugt, dass wir uns keine Vorstellung davon machen können, wie diese Musik für damalige Ohren geklungen haben muss. Der Beginn des vierten Satzes ergeht sich in manischem Umkreisen ein und desselben Gedankens. Zuvor im Kopfsatz beißt sich Beethoven seitenlang an einem punktierten Rhythmus fest – mit solch einer insistierenden Ausdauer, dass die Partitur optisch an ein Tapetenmuster erinnert. Im Finale wiederum gelingt es ihm, den Taktschwerpunkt so zu verschleiern, dass man als Hörer fast über Minuten in die Irre geführt wird. Der Puls, die Energie, die dabei entsteht, ist ungeheuer. Akzente zur Unzeit werden zur neuen Regel, die dann wieder aus den Angeln gehoben wird. Bei Beethoven lernt man die Ausnahme als das Eigentliche lieben. Nicht nur als Komponist, der Streichquartette schreibt, sind Beethovens Quartette, insbesondere die späten Werke, für mich von zentraler Bedeutung. Seit Jahren liegen die Partituren von op. 127 und op. 130 auf meinem Nachtkästchen. Ich habe sie wieder und wieder gelesen und analysiert – und trotz allem lassen mich schon die ersten acht Takte des „Alla danza tedesca“ ratlos zurück. Es ist eine Musik, die ich bis auf den heutigen Tag nicht verstehe, Musik, in der jede zweite Note im Widerspruch zur vorhergehenden zu stehen scheint. Sich ihr als Interpret zu nähern, nur diese wenigen Takte zu proben, sich ihnen auszuliefern, ihre Ambivalenzen zu erforschen, Entscheidungen darüber zu treffen, bedeutet eine enorme künstlerische Herausforderung. In der Musik des späten Beethoven wird Interpretation zur Spekulation, zur utopischen Angelegenheit. Denn sobald ich mich für eine Interpretation entscheide, beraube ich die Musik ihrer Ambivalenzen und damit ihres Reichtums. Deshalb kann Interpretation an diesem Punkt nicht mehr das sein, was sie vor Beethoven war. Ich muss mich zu dieser Musik anders verhalten. Doch wie sollen wir alle Ambivalenzen eines Werks wie Opus 130 je hörbar machen? Es bleibt ein Ding der Unmöglichkeit. Ignaz Schuppanzigh, der mit seinem Quartett die meisten der späten Quartette Beethovens uraufgeführt hat, beklagte sich einmal, die Musik sei unspielbar. Beethovens Reaktion ist legendär: „Was kümmert mich Seine elende Geige, wenn der Geist zu mir spricht.“ Wir neigen dazu, diese Antwort auf ein Moment der Arroganz zu reduzieren, doch ich glaube, Beethoven hat tatsächlich so gedacht. Seine Musik, zumal die am Ende seines Lebens entstandene, ist direkter Ausdruck dieses Gedankens. Es kann keine vollständig schlüssige Interpretation eines Stücks wie der Großen Fuge geben. Ist es utopische Musik?
Beschäftigt man sich als Komponist mit Beethoven, überkommt einen manchmal das Gefühl, mit einem Giganten zu kämpfen, und man begreift plötzlich einen so dramatisch anmutenden Satz wie den Ausspruch von Brahms, der meinte, einen Riesen hinter sich schreiten zu hören. Ich arbeite zur Zeit an meinem Siebten Streichquartett. Es ist das zweite Quartett in einem Zyklus, der als „Studie über Beethoven“ angelegt ist. Nach Abschluss meines ersten Streichquartett-Zyklus mit dem 2005 entstandenen fünften Quartett hatte ich das Bedürfnis, in eine neue Richtung zu gehen, und gleich zu Beginn der Arbeit stellte ich fest, dass Beethoven im Zentrum stehen musste. Ich beziehe mich hier kaum je konkret auf bestimmte Werke, doch bei der Komposition komme ich immer wieder auf Opus 130 zurück – ein Stück, das mich sprachlos macht in seiner Unerschöpflichkeit, in der Art und Weise, mit der Beethoven Kampf und Freiheit miteinander konfrontiert, mit der er die Musik zum Experimentierfeld macht. Das Unvermittelte, das Nicht-Joviale, das Widerständige ist es, das uns hier so eindrücklich entgegentritt, gleichzeitig aber auch die innigen Momente, etwa in der Cavatina, in denen Beethoven „ich“ sagt, in denen er sich aussingt, ohne je sentimental zu werden. Das bewundere ich unendlich an ihm: Er mag manchmal brüsk sein, doch er ist nie kalt. Er schreibt immer eine durchglühte Musik.
Vielleicht hätte ich vor 20 Jahren nicht so enthusiastisch über Beethoven sprechen können. Mit Ausnahme der Siebten Symphonie bildeten seine Werke für mich lange Zeit einen zutiefst bewunderten, gefürchteten, aber keinen geliebten Planeten. Erst durch die intensive Beschäftigung hat sich dies im Laufe der Zeit grundlegend geändert. Beethoven, das erfahren wir auch nach zwei Jahrhunderten immer wieder, ist ein unerschöpfliches Reservoir. Seine Musik hat eine visionäre Kraft. Sie hat weder Patina angesetzt noch etwas von ihrer Unverschämtheit verloren. Wenn die Revolutionsfanfare im Finale der Fünften Symphonie erklingt – im Grunde ein primitiver musikalischer Gestus –, lässt uns das nicht nur nicht kalt, sondern wir erleben einen ebenso unerhörten Moment, wie er es damals gewesen sein muss.
Letztendlich führt mich die Begegnung mit diesem Komponisten immer wieder zu einem Satz zurück, der mich besonders erschüttert und berührt. Beethoven hat ihn über die Partitur eines seiner sprödesten Stücke geschrieben, das gleichzeitig eines seiner schönsten ist, eines seiner wichtigsten, aber bis heute fast hermetisch unzugänglichen, der Missa solemnis: „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen.“ Darum geht es. Deshalb machen wir Musik.
Jörg Widmann ist Inhaber des Edward W. Said-Lehrstuhls für Komposition an der Barenboim-Said Akademie. Im Pierre Boulez Saal wurde im Juni 2019 sein Labyrinth IV für Sopran und Ensemble uraufgeführt.