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AUS SEINER IDYLLISCHEN VERTRÄUMTHEIT ENTBUNDEN
300 JAHRE IN LEIPZIG, 75 JAHRE IN ANSBACH: BACH IM SPIEGEL DER ZUKUNFT
»AM VERGANGENEN SONNABEND ZU MITTAGE KAMEN 4. WAGEN MIT HAUS-RATH BELADEN VON CÖTHEN ALLHIER AN, SO DEM GEWESENEN DASIGEN FÜRSTL. CAPELL-MEISTER, ALS NACH LEIPZIG VOCIRTEN CANTORI FIGURALI, ZUGEHÖRETEN; UM 2. UHR KAM ER SELBST NEBST SEINER FAMILIE AUF 2 KUTSCHEN AN, UND BEZOG DIE IN DER THOMAS-SCHULE NEUE RENOVIRTE WOHNUNG.«
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Am 22. Mai 1723 kam Bach an in Leipzig. Zwei Kutschen benötigte seine sechsköpfige Familie, weitere vier, um den „Haus-Rath“ aus Köthen in die Messestadt zu schaffen; so detailliert berichtet es jedenfalls die in Hamburg erscheinende Zeitung Hollsteinischer Unpartheyischer Correspondent. Fast ein Jahr war seit dem Tod des Thomaskantors Johann Kuhnau verstrichen; sechs Monate davon hatte der Rat der Stadt benötigt, um Kandidaten für die Nachfolge auszuwählen, zu kontaktieren und zu testen und schließlich zu verpflichten. Johann Sebastian Bach war nicht die erste Wahl, Hauptsache, er richte die Musik dergestalt ein, „daß sie nicht zulang währen [und] nicht opernhafftig herauskommen“ möge. Jedenfalls versah Bach das Amt 27 Jahre lang so gut, dass Leipzig sich bis heute mit seinem Namen als Bachstadt schmückt und jährlich Tausende von Touristen an Bachs Grabplatte in die Thomaskirche pilgern.

Staats- u. Gelehrte Zeitung Des Hollsteinischen unpartheyischen Correspondenten, Anno 1723, Num. 89, LXCCIX. Stück am Freytage dem 4. Junii rer pilgerten (und pilgern bis heute!) in die mittelfränkische Residenz, um seine Musik, und nur seine Musik! zu hören. Ein Jahr war seit dem Ende einer ersten Bachwoche verstrichen; sechs Monate davon hatten deren Organisator und der Rat der Stadt benötigt, diese Bachwoche von Pommersfelden nach Ansbach zu verpflanzen, wo sie schließlich heimisch wurde.
Am 27. Juli 1948, 225 Jahre später also und nun vor 75 Jahren, begann in Ansbach eine Bach-Woche. Sie nannte sich ebenfalls nach Johann Sebastian Bach. Hunderte seiner Verehrerinnen und Vereh-
Soweit die Parallelen. Wir erkennen die Startpunkte und wissen, wie sich von hier aus die Dinge entwickelt haben. Beide hatten die Zukunft in Blick. Carl Weymar, der 1947 das Programm der Bachwoche in Schloss Weissenstein hatte drucken lassen, vermerkt auf der letzten Seite: „Für die Bachwoche 1948 sind u.a. Aufführungen verschiedener Chorkantaten geplant“. Allen Besuchern war klar, dass dieser Teil des Bachschen Schaffens, wie auch die Orgelmusik, in den beim Grafen Schönborn gebotenen Verhältnissen nicht zu realisieren war; den Umzug in den protestantischen Teil Frankens hatte Weymar freilich noch nicht im Sinn. Dennoch war die Bachwoche auf Fortsetzung, auf Zukunft angelegt. Zwar behielt sich der Kunstgewerbehändler Weymar bereits ab 1948 vor, jährlich eine Bachwoche zu veranstalten oder auch eine Pause einzulegen, wie erstmals 1953 – auf die entsprechende, jeweils zur Weihnachtszeit versandte Mitteilung aus der Münchner Residenzstraße warteten die Besucher des Vorjahres bereits mit Spannung.
NICHT ZU LANG, NICHT OPERNHAFFTIG
Wie aber dachte Johann Sebastian Bach über seine Zukunft, über die Zukunft überhaupt? Der Vertrag (Endgültiger Revers), den er am 3. Mai 1723 unterschrieb und der dem Leipziger Wunschkandidaten Georg Philipp Telemann in fast identischer Form vorgelegt worden wäre, legte den Thomaskantor fest: nur fünf von 14 Punkten haben mit Musik zu tun, nur vier mit der Kirche, fast alle jedoch mit Schule und jungen Menschen, die er zu informiren, also zu unterrichten hatte. „Freundlich und mit Behutsamkeit tractiren“ solle er die Knaben, und die Musik dürfe „nicht zu lang“ und „nicht opernhafftig“ herauskommen. Wer über den Lateinunterricht hinaus seine Kunst jungen Musikern (zu gerne wüssten wir, ob Bach auch seine Töchter unterrichtete!) weitergibt und dies auf den Titelblättern vieler Werksammlungen sogar als Sinn und Zweck vermerkt, wird gewiss auch an die Zukunft des Musiklebens denken, in dem Sinne, dass das Leben halt weitergeht, bis der Tod den Menschen, wie es in vielen Kantaten zum Ausdruck gebracht wird, vom irdischen Jammertal ins Paradies befördert.