Auf Draht - Ausgabe 89

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AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

Scham

ISSN 2364-9933

89 / August 2015


Stell’ dich in die Ecke und schäm’ dich ... ... wer kennt den Satz nicht aus Kindertagen? Lange hat das Gefühl Scham kaum Beachtung gefunden, war das „Aschenputtel unter den Gefühlen“. Das mag seinem Charakter entsprechen: Scham möchte sich am liebsten „den Blicken der anderen entziehen“, möchte „im Erdboden versinken“. Seit einigen Jahren ist das Thema jedoch in Forschung und Literatur präsent. Sich zu schämen ist etwas zutiefst Menschliches. In der Begleitung am Telefon, per Mail oder Chat und in den Supervisionen gibt es kaum einen Kontakt ohne die bewusste oder unbewusste Gegenwart der Scham oder ihr verwandter Gefühle wie Verlegenheit und Verachtung, Kränkung und Demütigung, Schüchternheit, Scheu oder Bescheidenheit. Im „Blickpunkt“ beleuchten wir diesmal die unterschiedlichen Facetten der Scham. Auf den Seiten 14 bis 16 berichten wir von einem Projekt von Claudia Lohse-Jarchow und Raymond Jarchow. Die beiden haben eine internationale Gruppe von Vitiligo-Patienten nach Jordanien ans Tote Meer begleitet und dokumentieren in Interviews und Fotografien das Leben mit dieser Erkrankung. Im April 2015 stand die Neuwahl der katholischen und evangelischen Vorstandsmitglieder an. Als Vorsitzende der evangelischen Konferenz ist Ruth Belzner (TelefonSeelsorge Würzburg) wiedergewählt, neuer Sprecher der katholischen Konferenz ist Michael Hillenkamp (TelefonSeelsorge Dortmund). Beiden verdanken wir einen Artikel in diesem Heft (S. 26 und S. 8). In eigener Sache: Die Redaktion von AUF DRAHT begrüßt drei neue Mitglieder: Michael Hock, Kommunikationstrainer und Leiter der TelefonSeelsorge Jena e.V, Friedrich Dechant, katholischer Theologe und seit 1991 in der Leitung der TelefonSeelsorge Weiden, und Ulrich Josef Heinen, katholischer Hauptamtlicher in der TelefonSeelsorge Mittelrhein. (S. 5) Abschied nehmen müssen wir leider von Dr. Stefan Plöger. Er war über zehn Jahre Mitglied der Redaktion und hat viel zu dem literarischen Niveau von AUF DRAHT beigetragen. Wir werden ihn als Kollegen vermissen und hoffen, dass er uns als Autor und als Freund erhalten bleibt. Last but not least: Am 3. August feiert Gisela Achminow ihren neunzigsten Geburtstag. Mehr als ein Drittel ihrer Lebenszeit ist sie ehrenamtliche Telefonseelsorgerin und dreißig Jahre Redakteurin von AUF DRAHT, davon fast zwanzig Jahre als „Verantwortliche“. Als ich im Sommer 2011 die Nachfolge antrat, fand ich eine fachlich gut aufgestellte Zeitschrift vor. Ich bin glücklich darüber, dass ich auch heute noch von Gisela lernen kann. Lesen Sie auf Seite 12 das „Dinner für One“. Für mich sind es schöne Momente, wenn die Sonne meine Haut berührt und ich spüre: Es ist wieder Sommer. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gute Zeit, Ihre

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INTERNES

Jede Zeit hat ihre Kommunikation ... Angebot einzurichten. Unter „TelefonSeelsorge im Internet“ war das neue Portal zu finden. Manchmal wurde es nun schwieriger, genügend Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für die Arbeit in nun drei Welten zu finden: Telefon, Mail und Chat.

Einzug in die schon gar nicht mehr Objekt geiler oder unterhaltungsgeheile Welt der TelefonSeelsorge triebener Vieltelefonierer geworden? hielt. Jetzt war man angekommen Und wie konnte man die einen von in der „schönen neuen Telefonwelt“. den anderen unterscheiden? Gab Überregionale Verteilung, Ausla- es bullying, stalking, blaming auch stung der Stellen bis an die Grenze gegenüber den TSlern? Unbequeme der Belastbarkeit für die Ehrenamt- Fragen, die viele Sicherheiten und lichen, große und beeindruckende Selbstverständlichkeiten ins WanUm die Ehrenamtlichen nicht Zahlen. Nach einer kurzen Zeit der ken brachten. über Gebühr zu belasten und überbordenden „Hörbereitschaft“ den Anrufern kamen die Erstes Ende: Die Verantwortlichen Nur einige Wenige beschlich in der eigenen Verantwort- entschieden, all diese Fragen nicht Stadt entgegen ein ungutes Gefühl. War man lichen dann zu stellen und weiterzumachen zu kommen, bei dieser Auslastung wirklich zu dem Ent- wie bisher. Irgendwie würde sich entschieden für Menschen in Krisen und schluss, die schon alles regulieren. Es war doch sich die Ver- Notsituationen zu erreichen? Zuwege zur immer fester Glaube gewesen, antwortlichen, TelefonSeel- dass jedem Gespräch ein neuer den Handy-Nutzern die Tür zum sorge wieder zu kanalisieren. Nur Zauber innewohne. Und weil Gespräch nur einen Spalt zu öffnen; noch ein Teil der Mobilfunkteil- die Dinge meistens gut gegangen zu groß war die Angst, von Anrufen nehmer wurde zu einem Anschluss waren, solle man noch einige Zeit überschwemmt zu werden. Denn durchgelassen. Vielleicht gelang es alles beim Alten belassen und wie alle wussten: Wenn der technische so, kritischen Fragen von vornhe- bisher weitermachen. Mindestens Spalt auch nur ein bisschen weiter rein den „Wind aus den Segeln“ so lange, wie keine eindeutigen wisgeöffnet würde, gäbe es kein zu nehmen. Etwa den Anfragen senschaftlichen Erkenntnisse über Halten mehr. Die Flut der Anrufe von Polizei, Krisendiensten und Wirkung und Nebenwirkungen der per Handy würde sich über die Angehörigen, ob denn das Angebot TelefonSeelsorge vorlägen. TelefonSeelsorge ergießen. der TelefonSeelsorge noch bestünde, denn Versuche durchzukommen, Zweites Ende: Man erklärte die Die Jahre zogen ins Land, jedes zögen sich oftmals über viele Daueranrufer kurzerhand zur Jahr gab es neue Rekordzahlen. Nur Stunden hin. Oder die Klagen Kernklientel, getreu dem Bibelwort: einige Wenige beschlich ein ungutes von den Anrufenden, denen eine „Was Gott verbunden hat, das soll Gefühl. War man bei dieser Aus- sichere und zugewandte Begleitung der Mensch nicht trennen.“ So lastung wirklich für Menschen in über die Jahre gut getan hatte. könnte man auf längere Sicht auch Krisen und Notsituationen zu errei- Niemand verstand, was vor sich auf die aufwendige Ausbildung der chen; konnte man guten Gewissens gegangen war. Gab es ein anderes Ehrenamtlichen verzichten. Diese Anrufern ein sicheres Angebot zu immer gleichen Anrufer Begleitung und Kontakt anbieten? So könnte man auf längere Sicht wüssten ohnehin, wie Früher hatte es in jeder Telefonzelle auch auf die aufwendige Ausbildung sie und die Mitarbeiund bei jedem Anschluss geheißen: der Ehrenamtlichen verzichten. tenden am besten mit„Fasse dich kurz! Dieses Telefon einander klarkommen. kann Leben retten“; heute war die Gesprächsverhalten und andere Sie bildeten „ihre Mitarbeiter“ für „flat rate“ ganz normal und Phäno- Anrufertypen als noch vor zwanzig „ihre Anliegen“ in der Alltagspraxis mene wie bullying, Telefonstalking oder vierzig Jahren? War es möglich, der TS weitgehend selbst aus. und Mobbing selbstverständliche dass vagabundierende Anrufer mit Bestandteile der Telefonwelt. All hundert oder gar tausendfachen An- Drittes Ende: Die ganze „TSdiese Effekte wurden noch verstärkt, rufversuchen die TS belagert hatten; Landschaft“ (Haupt- und Ehrenals eine Technik namens ACD war man möglichweise auch das amtliche, Träger und Unterstützer)

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BLICKPUNKT

„nicht normal bedeutet hässlich“ Von Claudia Lohse-Jarchow

Bis es eben an die Tür unseres Hotelzimmers geklopft hat, war ich mir beinahe sicher, dass Nathalie* nicht zu diesem Interviewtermin erscheinen wird. Aber sie ist gekommen und jetzt ist sie da. Vor mir sitzt eine junge Frau in kurzen Jeans mit ausgefranstem Saum, an ihren Füßen stecken Flipflops und ihre schwarzen Haare führen ein Eigenleben um ihren Kopf. Nathalies Haut ist wolkig gemustert. Dunkle, sonnengebräunte Partien sind durchzogen von scharf abgegrenzten, weißen Arealen. Es ist schwer zu sagen, welcher Farbton das Vorrecht hat. Wie eine Landkarte. Nathalies Augen sind groß, schön und dunkel. Wir befinden uns in Jordanien, in einer Hotelanlage am Toten Meer. Mein Mann Raymond Jarchow und ich sind hierher gereist, um an einem seelsorgerlich orientierten Foto-Interview-Projekt über das Leben mit der Weißfleckenkrankheit Vitiligo zu arbeiten. Hier treffen wir Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind, so wie Nathalie. Wir sind mit ihrer behandelnden Hautärztin, der Vitiligospezialistin Prof. Karin Uta Schallreuter, befreundet. Die Idee für unser Projekt haben wir zusammen mit ihr entwickelt. Wie jedes Jahr ist sie mit einer internationalen Gruppe von Patienten ans Tote Meer gefahren. Sie hat uns eingeladen, sie zu begleiten.

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ligo betrifft bis zu vier Prozent der Weltbevölkerung. Die Krankheit ist nicht ansteckend, ihre Ursachen sind unklar.

Viele Betroffene verdecken ihre Flecken durch Kleidung oder Schminke. Bis jetzt ist Vitiligo nicht heilbar. Therapieansätze für eine zeitweise Repigmentierung gibt es einige. Prof. Schallreuter erreicht den Wiedergewinn der Hautfarbe mit einer von ihr entwickelten Vitiligo ist eine Hauterkrankung, Creme und spezieller UV-Bestrahdie sich durch den plötzlichen lung. Für diese Behandlung bietet Verlust der natürlichen Hautfarbe die klimatische Situation am Toten Meer besonders Das ist Vitiligo. Dagegen gibt es nichts. günstige Bedingungen. Auch im Seien Sie nicht eitel. Ich behandle Erfolgsfall bedarf Leute mit viel schlimmeren Diagnosen. es jedoch der Kommen Sie darüber weg! kontinuierlichen auszeichnet. Das Ergebnis sind Weiterbehandlung am Heimatort. kreide- oder milchweiße Flecken unterschiedlicher Größe und Viele Patienten sind zum wiederForm. Vitiligo verursacht keine holten Mal dabei, obgleich die körperlichen Schmerzen, wird aber Krankenkassen die Therapiekosten von den Betroffenen oft als meist nicht tragen. Sich auf die enorm belastend und Behandlung am Toten Meer einentstellend empfun- zulassen, bedeutet zweierlei: den. Hinzu kommt die Angst vor Es heißt, sich auf einen Weg aus gesellschaftlicher Hoffen und Bangen zu begeben um Ächtung. In In- jedes der stecknadelkopfkleinen dien zum Beispiel Pigmentpünktchen, die sich nach erfahren die Betrof- und nach zeigen: Wie viel wird fenen eine ähnliche „zugehen“? Welche Stellen bleiben Ausgrenzung wie weiß? – Manche Hautpartien an Lepra Er- repigmentieren schwierig, zum krankte. Viti- Beispiel die an Händen und Füßen.

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BLICKPUNKT

Schamlose Gesellschaft? Von Friedrich Dechant

Alle Menschen und alle Kulturen kennen Scham. Tiere schämen sich nicht; auch wenn wir manches tierische Unterwerfungsverhalten als Scham interpretieren. Anja Lietzmann[1] begründet in Anlehnung an den philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner die Fähigkeit des Menschen, sich zu schämen, mit seiner Konstitution: Er hat Körper und Geist. Er erlebt

Foto: Friedrich Dechant

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in bestimmten Situationen, dass er sich selbst anders sehen möchte, anders von sich denkt, als er sich in seinem realen Handeln erlebt. Diese Differenz zwischen idealisiertem Selbstbild und erlebtem Verhalten führt zu einer Identitätskrise (wenn ich so bin, aber anders sein will – wer bin ich dann wirklich?), die dazu zwingt, sich selbst gegenüber Position zu beziehen: „Was gehört

zu mir, was nicht? Was kann ich in mein Selbstbild integrieren, was nicht?“. Für Lietzmann ist diese anthropologische Determinante die Erklärung von Scham. Alle weiteren soziokulturellen, existentialistischen, situativen Erklärungen sind dieser nachgelagert. Scham ist ein ebenso einfaches wie kompliziertes Phänomen. Jeder hat sich schon einmal geschämt. Das Schamgefühl entwickelt sich in der frühen Kindheit und wird durch Erziehung ausgeformt und differenziert. Alle können sich schämen, sie schämen sich aber wegen ganz verschiedener Anlässe und bei recht verschiedenen Situationen. Schaminhalte sind kulturabhängig. Insofern ergibt es wenig Sinn, unsere Gesellschaft schamlos zu nennen. Wer die Schamlosigkeit der westlichen Zivilisation beklagt, denkt in der Regel an ein verändertes Schamgefühl bezüglich von Nacktheit und der Darstellung von körperlichen Aktivitäten. Wer etwa einen DorisDay-Film mit einem aktuellen Tatort bezüglich der Bettszenen vergleicht, wird feststellen, dass sich die Darstellung von Körperlichkeit und Sexualverhalten gewandelt hat. Die Körperscham ist freilich nicht verschwunden. Menschen schämen sich jedoch weniger ihrer Nacktheit, als vielmehr ihres Aussehens. Das Internet ist gnadenlos. Die öffentliche Häme trifft Prominente bevorzugt, aber dank Youtube,

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BLICKPUNKT

Vom Fremdschämen Von Inge Pape

Freitagabend im ICE: Der Zug ist so voll, dass manche Fahrgäste auf dem Boden sitzen. Der angetrunkene Kegel-Club aus Wanne-Eickel kommentiert alle Vorbeikommenden mit besoffenem „Humor“. Die Jungs auf Klassenfahrt im vorderen Zugteil pöbeln pubertätsbedingt. Die Dame im teuren Outfit dagegen keift schriller als ihre Garderobe vermuten lässt. Das Ziel ihrer Wut ist die junge Zugschaffnerin, die mit professioneller Höflichkeit und rotem Kopf versucht, der eifernden Dame einen Platz zu verschaffen. Keiner der hier Agierenden schämt sich für sein schlechtes Benehmen. Unbeteiligte Reisende sind jedoch peinlich berührt, verstecken sich hinter ihrer Lektüre oder ignorieren die Szene, indem sie ihr Smartphone studieren. Andere wiederum schämen sich sichtlich für die Frau, deren Auftreten jeglichen Anstand vermissen lässt.

Die Farbe der Scham ist rot. Scham hat eine positive Rolle, solange sie ist ein universelles Gefühl, ohne maßvoll erfahren wird. sie ist das soziale Leben kaum vorstellbar. Für was wir uns schä- Doch warum schämen sich Menmen, ist jedoch kulturell definiert. schen, die selbst gar nicht beteiligt Die Fähigkeit zu erröten hat jeder sind am unverschämten Verhalten Mensch, selbst Dunkelhäutige anderer? Warum ist es uns peinwechseln lich, wenn manchmal Peinlichkeit bleibt nur denen wir zusehen die Farbe. erspart, die unfähig sind, müssen, wie Auch Tiere von außen auf sich zu blicken: jemand sich v e r h a l t e n Gott, was habe ich getan? daneben sich so, als benimmt? könnten sie sich schämen. Bei Warum würden wir am liebsten Schimpansen dient die Scham in den Boden versinken, wenn dazu, soziale Hierarchien zu fe- jemand sich bis auf die Knochen stigen. Hunde schämen sich aus blamiert und es noch nicht mal dem gleichem Grund, winselnd merkt? rutschen sie dem Ranghöheren auf dem Bauch entgegen. Bei so Das Wort Fremdschämen gibt es viel Beschwichtigung verzeihen noch nicht allzu lange. Erst 2009 Herrchen oder Frauchen sicher hat der Duden es aufgenommen, das hinterlassene Unglück auf dem bereits 2010 haben es die ÖsTeppich. terreicher zum Wort des Jahres gewählt. Wenn der Wortgebrauch Scham gehört zur menschlichen auch noch jung ist, das damit Grundausstattung, sie ist ein verbundene Gefühl ist sicher schon erlernter moralischer Reflex. Die lange in der Welt. Wir schämen uns Schamreaktion reguliert Distanz stellvertretend für jemanden, dem und Nähe und sorgt dafür, dass gerade etwas Peinliches passiert Menschen in der Regel vorherseh- oder der unwissend ins Fettnäpfbar handeln. Eine gesunde Scham chen tritt.

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Beim Fremdschämen werden unsere Spiegelneuronen aktiv, sie spielen innerlich nach, wie wir die peinliche Situation selbst empfinden würden, in die der Beobachtete hinein geraten ist. Die Hirnforschung stellt Fremdschämen in den Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Empathie. Die Forscher haben Probanden unter der funktionellen Magnetresonanztomografie (MRT) beobachtet. Sie brachten sie in Situationen, in denen sie peinliches Verhalten von anderen miterleben mussten. Die Untersuchungen haben ergeben, dass beim Fremdschämen die gleichen Hirnareale aufleuchten, die aktiv sind, wenn jemand Mitleid mit Menschen hat, die körperlich verletzt sind und Schmerzen empfinden. Empathische Menschen empfinden den Schmerz des anderen mit. Dieser Zusammenhang zwischen Empathie und Fremdschämen gilt in der Forschung als abgesichert. Dass in beiden Fällen die gleichen neuronalen Verbindungen die Information verarbeiten, macht verständlich, warum wir uns in andere (mehr oder weniger

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BLICKPUNKT

Foto: Pepe Fabelje

schäme ich mich? Diese Frage kann jeder nur persönlich beantworten. Auch am Telefon ist unser kultureller und sozialer Hintergrund nicht ausgeblendet. Unsere Erfahrungen, die eigenen Verletzungen, das persönliche Schamgefühl auf der Folie des professionellen Könnens sprechen am Telefon mit. Der eine oder die andere nimmt das Gehörte locker und kann ohne Scham oder Fremdscham mit den Anrufenden die intimsten Dinge besprechen. Andere wiederum schämen sich für das Gehörte, während der Anrufer scheinbar ohne Gefühl von Kränkungen erzählt, die er Menschen in seiner Umgebung zufügt, ohne dass er selbst auch nur eine Idee davon hat, was sie bei denen auslösen.

Empathische Menschen empfinden den Schmerz des anderen mit.

gut) einfühlen können. Anders ausgedrückt: Unsere Gehirnzellen spielen innerlich nach, was wir beobachten, so als würden wir das Beobachtete selbst erleben.

Instanz, die unterscheiden kann: das passiert nicht mir, sondern dem andern. Um „Fremdscham“ zu spüren, muss man generell für Scham empfänglich sein.

Wenn unsere Aufmerksamkeit auf jemanden gerichtet ist, dem gerade Peinliches widerfährt, vermittelt uns das Gehirn sofort eine Vorstellung davon, wie sich das für uns anfühlen würde. Unser Gehirn identifiziert sich mit dem Geschehen, es gibt keine

Dass wir den Menschen am Telefon empathisch begegnen, gehört zur professionellen, aber auch zur persönlichen „Grundausstattung“ der Beratenden in der TS.

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Menschen ohne Scham fehlt das, was den Menschen von allen andern Lebewesen unterscheidet: die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung. Peinlichkeit bleibt nur denen erspart, die unfähig sind, von außen auf sich zu blicken: Gott, was habe ich getan? Dass sie nicht in diesem Erschrecken stecken bleiben, dass sie sich und andern verzeihen, dass sie über manche Peinlichkeit auch mal lachen können und vielleicht eine liebevolle Haltung zu ihren Fehlern entwickeln, dabei können Gespräche mit der TS helfen. Scham gehört zum Leben, Fremdschämen wohl auch. Inge Pape ist Fachjournalistin und Fortbildnerin, Mitglied der Redaktion AUF DRAHT und Ehrenamtliche der TelefonSeelsorge Darmstadt

Gibt es Fremdschämen auch am Telefon? Für wen oder wessen

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BLICKPUNKT

Wie die Scham in die Welt kam Von Ruth Belzner

Scham ist ein schmerzhaftes und unverzichtbares Gefühl. Sie ist die erste Emotion, die in der Bibel genannt wird, am Ende von Genesis 2, „und sie waren beide nackt, der Mensch und das Weib, und schämten sich nicht.“ Und dann folgt die Geschichte, die wir als „Sündenfall“ kennen.

Psychologisch zutreffend sind hier die Voraussetzungen für und die Wirkung von Scham geschildert. Adam und Eva werden „die Augen aufgetan“: Sie sind nun fähig, sich selbst zu sehen. Und sie werden „klug“: Sie haben jetzt eine Vorstellung von gut und böse. Dieser Klugheit und der Freiheit, sich böse zu verhalten, muss die Scham notwendig als Wächterin hinzugesellt werden.

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Adam und Eva schämen sich. Nicht dafür, was sie getan haben, sondern dafür, wie sie sind – nackt. Wer sich schämt, fühlt sich insgesamt falsch und will deshalb unsichtbar sein. Wären Adam und Eva schamlos (nicht schamfrei – das ist mit dem Biss in die Frucht der Erkenntnis endgültig vorbei), dann würden sie sich vor Gott stellen und sagen: „Was hast du denn gedacht, was wir mit den leckeren Früchten tun? Wieso sollten deine Regeln für uns gelten?“ Als Gott sie konfrontiert, wehren sie die Scham ab: Sie reichen die Verantwortung weiter, Adam an Eva und Eva an die Schlange. Sie machen sich so von Verantwortlichen zu Opfern. Gott erspart seinen Menschen nicht ihre Scham, aber er beschämt sie nicht. Er hätte ihnen vorwerfen können, sie seien unfähig, seine Grenzen zu respektieren, und dann auch noch feige. Er hätte sie auch als grundsätzlich falsch ablehnen können. Das tut er nicht. Aber er

mutet ihnen die Konsequenzen ihres Handelns zu. Und er sorgt dafür, dass sie vor Kälte und vor den Blicken anderer geschützt sind. Nun ist die Scham in der Welt und damit auch die Notwendigkeit, Intimes zu schützen. Denn mit der Scham kam auch ihr Missbrauch durch Beschämung in die Welt. Die Erzählung könnte uns lehren, uns so zu schämen, dass wir zu unserem Tun stehen und auch schmerzhafte Konsequenzen tragen. Wir könnten sehen, dass Gott uns nicht beschämt: nicht für unsere Grenzverletzungen und Fehler; und schon gar nicht dafür, wie wir eben sind – nämlich verletzlich und wissbegierig, zu Grenzüberschreitungen verführbar und fehleranfällig. Und wir könnten verstehen, dass auch wir einander nicht beschämen und in unserer Würde beschädigen dürfen. Der Text hat leider sehr anders gewirkt: Als „Sündenfall“ hat er fortan vor allem dazu gedient, Frauen für ihr Frau-Sein zu beschämen – eine Scham, die über Jahrtausende von der Mutter zur Tochter weitergereicht wurde. Auch Adam wurde kritisiert, allerdings nicht grundsätzlich für sein Mann-Sein, sondern dafür,

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BLICKPUNKT

dass er seine männliche Entscheidungshoheit an Eva – eine Frau! – abgegeben hat. Wodurch entsteht nun Scham in uns? Das hängt laut Stephan Marks zusammen mit den vier Säulen, auf denen unsere seelische Gesundheit steht: Zugehörigkeit, Schutz, Anerkennung und Integrität. Der Verlust von Zugehörigkeit (durch Ausstoßung oder Flucht), die Erfahrung körperlicher oder seelischer Verletzung (durch familiäre Gewalt) und das Vorenthalten von Anerkennung (nicht nur für eine bestimmte Leistung, sondern von Anerkennung unserer Person) werden als tief verletzende Beschämung erlebt, denn hier werden grundlegende Bedürfnisse nicht erfüllt. Häufig erfahren Menschen von Beginn ihres Lebens an fortgesetzt solche Beschämungen. So manche Seele ist übervoll mit chronifizierter Scham und hat damit keinen Raum mehr für die Gewissensscham.

durch andere allerdings behindert die Entwicklung einer guten Gewissensscham. Denn auch sie schmerzt, und das muss man aushalten können. Dass Scham schmerzt, ist wörtlich zu nehmen: Sie wird im Gehirn so verarbeitet wie körperlicher Schmerz. Und wir können nur ein bestimmtes Maß ertragen – wobei es keinen Unterschied macht, ob Beschämung oder Scham die Schmerzquelle ist. Nicht erträgliche Scham müssen wir abwehren: durch Beschämung von Anderen, Schwächeren, durch Zynismus, Negativismus oder Projektionen. Wenn aber die Scham uns fragen lässt: „Was habe ich falsch gemacht, welche Verantwortung habe ich?“, dann können wir dem, an dem wir schuldig geworden sind, gegenübertreten, um Verzeihung bitten und Wiedergutmachung leisten.

Die Gewissensscham ist die „eigentliche“ Scham. Sie betrifft unsere Integrität. Handeln wir im Widerspruch zu unseren Werten, ob aus Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit, aus Egoismus oder aus Feigheit, und reden wir uns diese Diskrepanz nicht schön, dann schämen wir uns. Nicht, weil andere uns beschämen, sondern weil wir unsere Integrität selber beschädigt haben.

Die Scham aber bleibt oft, trotz Buße, Strafe und Wiedergutmachung. Verstärkt wird sie durch fortgesetzte Beschämung, die oft die Maske des Selbstschutzes trägt: „Dir kann man nicht vertrauen, du hast doch …“ Jemandem wieder zu vertrauen, ist ein Risiko, ihn zu beschämen, es nicht zu tun, auch: Das kann einen Menschen im Extremfall in den Suizid treiben und im schlimmsten Fall zum Amoktäter werden lassen.

So schützen wir unsere Würde und erhalten uns unsere Selbstachtung. Beschämung

Wie kann ich – auch am Telefon der TelefonSeelsorge – Beschämungen vermeiden?

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• Bevor ich mir ein Urteil über das Verhalten eines anderen bilde, versuche ich zu verstehen, warum jemand so handelt, und ich frage interessiert nach. • Kritik übe ich nur, um dem anderen eine hilfreiche Rückmeldung zu seinem Verhalten zu geben oder meine Grenzen zu zeigen – also ganz konkret und ohne jede Verallgemeinerung wie „immer“ oder „nie“ oder „du bist …“ • Ich erkenne mich selber an – und die anderen, weil meine Selbstachtung nicht auf deren Verachtung beruht. • Andere dürfen anders sein, anders denken und fühlen als ich – das macht meinen Horizont weiter. Das ist ein hoher Anspruch. Und es ist unsere Realität, dass wir unseren Ansprüchen nicht immer gerecht werden. Dann können wir uns über uns selbst schämen, Leidtragende um Entschuldigung bitten, uns hoffentlich selbst verzeihen und wieder neu versuchen, es besser zu machen. Literatur: Die Bibel Stephan Marks: SCHAM, die tabuisierte Emotion; Patmos 2011 Jens Tiedemann: Scham; Psychosozial-Verlag 2013 V. Chu, B. de las Heras: Scham und Leidenschaft; KreuzVerlag 1994

Ruth Belzner ist Leiterin der TelefonSeelsorge Würzburg und Vorsitzende der evangelischen Konferenz

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WISSEN

Hilflosigkeit zu einem guten Ort machen Über die Begleitung von Menschen, die sich umbringen wollen Von Martin Franken

Gespräche mit Suizidanten sind schwierig und belastend. Angst und Unsicherheit steigen auf. Ich möchte mich hier vor allem mit dem Gefühl der Hilflosigkeit beschäftigen.

1. Innere Achtsamkeit Es ist hilfreich, sich bewusst zu machen, was gerade in meinem Inneren geschieht, etwa: „Ich fühle mich hilflos.“ So habe ich die Hilflosigkeit zum Gegenstand meiner Wahrnehmung gemacht und kann mich dazu verhalten. Ich nehme nur wahr, was ist. Ich würdige meinen Zustand, indem ich mir sage: „So geht es mir gerade.“ Dadurch wird das Gefühl der Hilflosigkeit zu einem Teil von mir. Der andere Teil ist das bewusste Wahrnehmen und das Sich-dazu-Verhalten. Dieser Teil ist nicht hilflos, er ist wahrnehmend, anerkennend, vielleicht gelassen, freundlich und mitfühlend zu mir selbst. Dieses bewusste und wertfreie Wahrnehmen verhindert, dass ich von Gefühlen überschwemmt werde.

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2. Es ist angemessen und in Ordnung Ein Anrufer, der sich umbringen will, hält seine Situation für ausweglos, ist verzweifelt, hilflos, weiß nicht mehr weiter. Am Beginn des Gesprächs kann ich nicht wissen, ob ich ihm helfen kann. Ich kann auch nicht wissen, was ihm helfen könnte. Deshalb kann ich bewusst sagen: „Hilflos zu sein ist jetzt passend und in Ordnung.“ 3. Ich bleibe Wenn es für mich in Ordnung ist, hilflos zu sein, kann ich auch beim Anrufer bleiben. Ich habe nicht mehr den Wunsch, aus der Situation auszusteigen. Ich entscheide mich bewusst dazu, ihm beizustehen. Das ist meist genau das, was der Anrufer will: dass jemand ohne Angst und Druck bei ihm bleibt,

offen und mit Verständnis für ihn da ist. Ratschläge will er nicht hören. Er will einfach nicht alleine sein in seiner Verzweiflung, möchte in seinem Leiden angenommen und gesehen werden. 4. Ich bin da, wo der andere ist Ich bin da, wo der Anrufer ist. Ich nehme ihn ernst. Ich versuche, ihn zu verstehen. Ich sehe und spüre sein Leiden, seine Ausweg- und Hilflosigkeit, seine Verzweiflung. Ich versuche zu verstehen, wie es dazu gekommen ist. Vielleicht habe ich Mitgefühl. Das verbindet uns. Aber ich werde nicht mit ihm verschmelzen. Ich bleibe mit einem Teil bei mir, in meiner Kraft, in meiner guten Energie, im Bewusstsein meiner Ressourcen. Erst wenn ich wirklich bei ihm ankomme, bei seiner Wirklichkeit, können

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WISSEN

Wenn TelefonSeelsorge zur Sucht wird Interview mit Willemieke Ottevanger – Direktorin von Sensoor

Wie wurde Sensoor auf das Problem der Vielfach-Anrufer aufmerksam? Allen Ehren- und Hauptamtlichen war klar, dass es regelmäßig Anrufende gibt, aber niemand wusste genau, wie viele es waren und wie oft sie anriefen. Seitdem wir mit VOIP (voice over IP, Verbindung über Internet) arbeiten (seit 2010), stehen uns – ohne die Anonymität der Anrufer in Frage zu stellen – mehr Informationen zur Verfügung. Wir haben herausgefunden, dass die Hälfte aller Anrufe und Anrufversuche von etwa hundert Personen ausgegangen sind. Das fanden wir vollkommen unverhältnismäßig und darüber hinaus höchst problematisch. Die Leitungen sind blockiert, weil uns

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eine kleine Gruppe ohne alle Begrenzung anruft. Unsere Erreichbarkeit war auf einem Tiefstand von 60 Prozent. Das hat mit der Zahl verfügbarer Leitungen, aber eben auch mit den vielen Anrufen durch sogenannte Mega-Callers zu tun. Wie hat man in den Niederlanden auf das Problem reagiert? Was hat sich geändert? Von unserem VOIP-Provider bekamen wir eine Liste mit ID-Codes von Personen, die uns 2012 mehr als zweieinhalbtausendmal angerufen haben. (Ein ID-Code ist eine Mischung aus etwa fünfundzwanzig Zahlen und Buchstaben.) Wir haben diese Liste mit Informationen aus den Ge-

sprächsprotokollen abgeglichen, ohne Namen, Adressen oder Telefonnummern dieser Personen zu kennen. Wenn wir einen Anrufer zugeordnet hatten, baten wir ihn, in der Leitung zu bleiben, und stellten zu einem Hauptamtlichen durch. Der sprach mit ihm darüber, was seine Bedürfnisse sind und was wir anbieten können. Er fragte auch nach, welche Alternativen bestünden, wenn die Zahl der TS-Gespräche pro Tag begrenzt wird. Mit dem Anrufer wurde eine Höchstzahl an täglichen Anrufen festgelegt und in das VOIP-Telefonsystem eingegeben. Die festgelegte Anrufzahl bezieht sich auf die Zeit von mittags 12 Uhr bis zum nächsten Tag um dieselbe Zeit.

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