24/7 – Ausgabe 15 – Dezember 2021 | Januar | Februar | März 2022

Page 1

24/7 Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt

SCHEITERN

15 24/7

Dezember 15.2021 I Januar Februar I März Jahrgang 39 2021


24/7 15.2021

SO LIEG ICH HIER UND DENKE MIR MEIN TEIL ZU MANCHEN DINGEN: NICHT ALLES MUSS GELINGEN. DU MUSST'S NICHT IMMER BRINGEN. DU MUSST NICHT IMMER SIEGEN. NUR LASS DIR EINS BEIBIEGEN: BEIM AUFDERNASELIEGEN GIB BITTE NICHT DEN HEITERN VERSAG NICHT AUCH BEIM SCHEITERN. Robert Gernhardt


24/7 15.2021

WILLKOMMEN Ich bin nicht gescheitert – ich habe 10.000 Wege entdeckt, die nicht funktioniert haben! Thomas Edison

Thomas Edison, der als einer der bedeutendsten Erfinder und Entwickler in den Bereichen elektrisches Licht und Telekommunikation 1093 Patente eingereicht hat, spricht aus, was wir in der Redaktion diskutierten. Wir waren uns einig, dass Scheitern zum Leben gehört. Dies können Sie in den Beiträgen der Redaktion und der anderen Autorinnen und Autoren lesen. Im Japan des 16. Jahrhunderts hat sich eine Kunstform daraus entwickelt: Kintsugi – die Goldverbindung, die den Makel hervorhebt. Die Bruchlinien in einem zersprungenen Gefäß sind wertvoll, denn sie lassen ein neues Ganzes entstehen, das gleichzeitig das Alte enthält. Die TelefonSeelsorge hat einen Wertstoffhof für „missglückte“ Gespräche, Chats und Mails eingerichtet. Hier haben Ratsuchende die Möglichkeit, ihre Enttäuschung und ihren Unmut abzuladen. Wie das funktioniert, beschreibt Norbert Ellinger in seinem Artikel über das Feedbackmanagement. Der Blick auf das, was nicht rund läuft, gibt den Weg frei für Veränderungen. Am Ende dieses Jahres bedanke ich mich bei Ihnen, den Abonnentinnen und Abonnenten, bei den Autorinnen und Autoren und ganz besonders bei dem Redaktionsteam, ohne das es unsere 24/7 nicht geben würde: Gisela Achminow, Fritz Dechant, Bernadette Ott, Inge Pape, Anne Michel-Pill und Rosemarie Schettler. Seit einigen Jahren hat mich die ViertelSternstunde gepackt. Sie ist eine Veranstaltung der Dortmunder St. Reinoldikirche und bietet jeden Tag im Advent einen Ort zum Innehalten. Wie ein Adventskalender hat sie eine immer gleiche Form und ist „verstehbar“. Ihre Liturgie ist niedrigschwellig und sparsam und auf Licht, Stimme und Musik reduziert. Sie nimmt den Gedanken auf: Wo du etwas leer machst, kann es sich neu füllen. In diesem Sinne verabschiede ich mich mit dem Friedensgruß der ViertelSternstunde: „Jeder Tag hat seine Botschaft, jeder Abend seinen Klang, jede Nacht ihren Stern. Viel ist zu erwarten: Wir sind im Advent!“

Ihre Birgit Knatz


24/7 15.2021

INHALT

30

6

BLICKPUNKT

WEIHNACHTEN 12 VERSAGEN, FEHLER, NIEDERLAGE

22

20

WENN DAS EIGENE KIND SICH TÖTET Den Tod des eigenen Kindes zu erleben, ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann.

6

GEDANKEN DER REDAKTION INTERNES

33


24/7 15.2021

WISSEN

32

10 WAS BECKETT DAZU SAGT

Mit Gescheiterten reden Margret Martin

Der Rückfall ist das Normale Jula Heckel-Korsten

Perfekt unperfekt Antke Wollersen

TelefonSeelsorge als „Zerbruchzeugin“ Friedrich Dechant

24 25 26 28

WEIHNACHTEN Herr Wohllieb wartet auf ein Zeichen Susanne Niemeyer

30

WISSEN BLICKPUNKT Gedanken der Redaktion 24/7-Redaktionsteam

Was Beckett dazu sagt Riccardo Bonfranchi

Versagen, Fehler, Niederlage Astrid Brenner

Scheitern oder betrügen, das ist hier die Frage Friedrich Dechant

Spot on – Blackout Anne Michel-Pill

Mit Gold kitten Martin Junge

Wenn Jugendliche scheitern Daniela Frattollino

Wenn das eigene Kind sich tötet Rosemarie Schettler

Was verbindet stärker: Video oder Chat? Birgit Knatz

6 10 12 14

32

INTERNES Ein Ort der Trauer Wertstoffhof für enttäuschende Gespräche Norbert Ellinger

Telefonieren von Zuhause

33 34

Hedwig Schütze / Peter Hahnefeld

36

Vier Fragen an Ulrike Mai

39

Gisela

40

19

Ökumenischer Fachverband gegründet

44

20

EMPFEHLUNGEN

45

22

IMPRESSUM

47

16


12

Blickpunkt 24/7 15.2021

VERSAGEN, FEHLER, NIEDERLAGE Ich gebe es zu – ich habe ein Problem mit dem Wort „Scheitern“. Es ist mir in vielen Fällen zu groß und wird zu inflationär benutzt, ähnlich wie das Wort „Tragödie“. Wenn die Fußballmannschaft eine Niederlage einsteckt und gesagt wird, sie sei am Gegner „gescheitert“, denke ich: sie haben verloren, weil entweder Kondition, Können oder Glück gefehlt haben, die Taktik nicht passte.

etwas komplett. Laut Wikipedia ist eine der Bedeutungskomponenten des Begriffes „Scheitern“ der Schiffsunfall, bei dem das Schiff so zerstört wird, dass viele Scheite entstehen. Da ist von dem Schiff dann nur noch wenig zu retten.

Wenn jemand an der Führerscheinprüfung „scheitert“, denke ich: da gab es in der Prüfungssituation einen Fahrfehler, eine gezeigte Unsicherheit, die dazu geführt haben, dass der Prüfer die Fahrerlaubnis nicht erteilt hat.

Auf das menschliche Leben und/ oder Beziehungen bezogen würde man das vielleicht Havarie in der Biografie nennen können, ein Scheitern an der Welt sozusagen. Das z.B. erlebt eine Person durch von außen kommende Schicksalsschläge: wenn der Arbeitsplatz ins Ausland verlagert wird, wenn der Betrieb infolge von Corona-Maßnahmen Insolvenz anmelden muss, wenn eine Person trotz guter Ausbildung, Eignung, Begabung, Weitsicht, die Möglichkeit verliert, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre beruflichen Träume und Ziele zu verwirklichen.

Versagen, Fehler, Niederlage, Misslingen – sie gehören zum menschlichen Leben. Sie sind das Risiko, das wir eingehen, wenn wir etwas tun. Manchmal triff die Ideal- und Wunschwelt eben auf die harte Faktenwelt, manchmal müssen wir uns eingestehen, dass wir nicht so geplant, gedacht, gehandelt haben, wie die Situation das erfordert hätte. Natürlich spielen Bewertungen eine große Rolle: die Bewertung durch die Betroffenen selbst und die Bewertung durch die Außenwelt. Bei all meiner abgeklärten Darstellung möchte ich nicht missverstanden werden: die Betroffenen reagieren zu Recht mit Enttäuschung, Trauer und Scham und, wenn es mehrmals geschieht, womöglich auch mit Verzweiflung. Sie verdienen unsere Empathie und unseren Trost. Scheitern in meinem Verständnis ist viel existentieller – da zerbricht

Das erleben Menschen, die selbst oder ihre Lebenspartner, Kinder, verunfallen, erkranken oder aus dem Leben gerissen werden. Das erleben Menschen, deren Partnerinnen oder Partner sich aus der Beziehung einseitig lösen. Da wird der Boden unter den Füßen weggezogen, werden alle Gewissheiten zerbrochen, gehen alle Sicherheit und Geborgenheit verloren… Das ist für mich Scheitern.

Wann erlebt sich jemand als gescheitert? Hängt das nicht von der Persönlichkeit genauso wie von der Situation

ab? Spielt da nicht die Beurteilung, die eigene wie die des sozialen Umfelds eine entscheidende Rolle? Die geschiedene Ehefrau, die es nach langen Jahren des Leidens geschafft hat, sich aus der Beziehung zu ihrem alkoholkranken und gewalttätigen Mann zu lösen – die meisten von uns würden das vermutlich als Erfolg ansehen, aber sie selbst mag ihr Leben dennoch als gescheitert bewerten. Der Läufer, der als letzter das Ziel erreicht – ist er gescheitert? Oder ist es eine große Leistung, dass er das Ziel unter Aufbietung aller seiner Kräfte und in fast übermenschlicher Anstrengung überhaupt erreicht hat? Der Erfinder der Post-it-Haftnotizzettel war gescheitert mit dem Auftrag, einen Kleber herzustellen, aber die alternative Nutzung als fixierbares und spurenlos ablösbares Lesezeichen erwies sich später als erfolgreich.

Es gibt aber auch Fälle, die tiefer gehen, wo Außenstehende wahrnehmen, dass da jemand an sich selbst scheitert, durch Selbstüberschätzung, mangelhafte Planung, zu langes Festhalten an einem einmal eingeschlagenen Weg zu illusorischen Zielen, dass der Entwurf der Sache und/ oder der eigenen Person nicht der Situation angemessen ist, nicht zur Faktenwelt passt. Wenn dann die Niederlage bewusst wird und es gar nicht mehr weitergeht, sich die/ der Scheiternde das eigene Scheitern eingestehen muss, sind Angst vor den Konsequenzen, Verzweiflung, Resignation und Hoffnungslosigkeit, Scham und die Identitätsfrage die Folge. An dieser Stelle können die Betroffenen nicht „erfolgreich scheitern“, können das Scheitern zunächst gar nicht als Chance ansehen.


Blickpunkt 24/7 15.2021

Ich bin präsent, authentisch und leistungsbereit. Um dies zu erreichen, hilft es sich bewusst zu machen, was dem entgegensteht.

„Das menschliche Gehirn ist eine großartige Sache. Es funktioniert bis zu dem Zeitpunkt, wo Du aufstehst, um eine Rede zu halten.“ Mark Twains Ausspruch beschreibt, was wir fast alle kennen: Gedankenleere, wenn alle Augen auf mich gerichtet sind. Mich beschäftigt das Thema Lampenfieber, weil ich es aus eigener Erfahrung kenne. Es ist unberechenbar: kurz vor dem Auftritt war ich noch ganz ruhig, und dann zittern beim Gitarrenvorspiel meine Hände so stark, dass ich kaum die Saiten treffe. Schon ärgerlich, so unter seinen Möglichkeiten zu bleiben! Ein anderes Mal ist es weniger ausgeprägt, besonders beim Vorspiel mit dem Gitarrenensemble. Offenbar wird es leichter, wenn ich nicht allein im Mittelpunkt stehe.

WAS PASSIERT BEI LAMPENFIEBER? Es ist oft mit Stress verbunden, sich vor anderen Menschen zu exponieren und etwas zu präsentieren. Für Künstlerinnen und Künstler ist dies besonders bedeutsam, aber auch beim Sprechen vor einer Gruppe, bei Referaten oder Prüfungen spielt Lampenfieber eine Rolle. Eine besondere Leistung ist gefordert, und der gesamte Organismus reagiert. Der Sympathikus ist aktiviert, Adrenalin wird ausgeschüttet, und die Reaktionen können den Körper, das Denken, das Verhalten und das Gefühl betreffen. Sie sind unterschiedlich stark ausgeprägt und individuell verschieden: Herzklopfen, Erröten, Zittern, kaltschweißige Hände, Konzentrationsstörungen bis zu Selbstzweifeln und Angst.

DAS LAMPENFIEBER OPTIMIEREN Kann Lampenfieber cool sein? Ja, wenn es mir gelingt, es anzunehmen und mich nicht davon beherrschen zu lassen. Wenn ich akzeptiere, dass es veränderbar ist und ich damit experimentieren kann. Eine optimale Form von Lampenfieber versetzt mich in einen Zustand von Spannung und Konzentration.

Passt Lampenfieber in eine Welt, in der wir danach streben, möglichst perfekt zu sein? Wir wissen: ein zu hoher Anspruch an Perfektion steht einer kreativen Herangehensweise im Weg. Wenn meine Leistung nie gut genug sein kann, kommt es zu einer Negativspirale der Selbsteinschätzung. Ein kleiner Ausrutscher wird zum Drama und das Lampenfieber vor dem nächsten Auftritt noch größer. Der eigene Anspruch kann so hoch sein, dass das Scheitern quasi vorprogrammiert ist. Hinzu kommt der gesellschaftliche Aspekt der Beschleunigung in allen Lebensläufen, der uns unter Druck stellt. Die Selbstwahrnehmung ist in einer Auftrittssituation intensiviert und den Satz „Du hast doch ganz ruhig gewirkt“ können wir nicht glauben. War man nicht rot wie eine Tomate? Wir denken, dass das Publikum alles genauso intensiv wahrnimmt wie wir als Auftretende. Häufig gibt es eine große Diskrepanz zwischen Selbstund Fremdwahrnehmung, und eine Realitätsprüfung kann sinnvoll sein. Wie kann ich meine Beziehung zum Publikum gestalten? Sich alle in Unterhosen vorzustellen und damit die Zuschauenden der Lächerlichkeit unterziehen – keine gute Idee! Drehen wir den Spieß um: wir kennen alle die andere Rolle als Zuhörerin oder Zuschauer. Wenn wir uns in dieser Rolle selbst beobachten, stellen wir fest, dass wir den Auftretenden in der Regel wohlgesonnen sind. Ebenso können wir darauf vertrauen, dass unser Publikum Fehler verzeiht. Es macht sympathisch, wenn wir mit einer gewissen Spannung bei der Sache sind und Emotionen zeigen. Das Gefühl der Authentizität reguliert das Lampenfieber und lenkt es in die richtigen Bahnen. Das Ziel ist nicht, es um jeden Preis wegzubekommen. „Beim Umgang mit Lampenfieber können wir zu einer gewissen Stabilität gelangen, nicht jedoch einen perfekten Dauerzustand erreichen. Die Auftrittssituation behält in ihren vielen Komponenten eine gewisse Unberechenbarkeit, die sich nicht grundsätzlich beherrschen lässt. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess, der offen bleibt für neue Erfahrungen.“ (Spahn, S. 75) Entscheidend ist, es nicht als persönliches Versagen anzusehen, sondern als etwas, das dazugehört.

g

17


18

Blickpunkt 24/7 15.2021

ÜBUNG MACHT DIE MEISTERIN UND DEN MEISTER Es gibt diverse Ansätze, um den Umgang mit Lampenfieber zu modulieren. Nicht immer, aber häufig verliert sich die negative Wahrnehmung mit der Häufigkeit von Auftritten – analog zu einem verhaltenstherapeutischen Expositionstrainung bei der Behandlung einer Angststörung. Ich kann ausprobieren und üben, was mir am meisten liegt – z.B. das Reden mit oder ohne Konzeptpapier, das Spielen meines Instruments mit Noten oder auswendig. Ein gutes Körpergefühl verleiht Sicherheit, sodass körperbezogene Übungen und Entspannungstechniken einen Auftritt entlasten können. Einige Menschen schätzen Rituale vor einem Auftritt, die ihnen Sicherheit vermitteln. Für einen selbstbestimmten Umgang mit Lampenfieber kann die Vorstellung hilfreich sein, dass wir uns selbst wie ein Instrument vor dem Auftritt stimmen und damit unser Lampenfieber richtig einstellen. Es geht darum, durch eine akzeptierende Haltung uns selbst gegenüber dafür zu sorgen, dass wir das Lampenfieber für uns nutzen und es gelassen nehmen. Ein häufiges Problem bei Auftritten ist die Tatsache, dass wir negativen Gedanken mehr Raum geben als positiven. Wir können uns fragen, was eigentlich schlimmstenfalls passieren könnte. Meistens sind die Befürchtungen unangemessen groß. Negative Kognitionen können identifiziert und umstrukturiert werden. Was wir beim Umgang mit Lampenfieber lernen, kann sich auf andere Lebensbereiche ausweiten und zu einer Stärkung der Selbstsicherheit beitragen.

ANNE MICHEL-PILL

Ehrenamtliche Mitarbeiterin der TelefonSeelsorge Hagen-Mark, Mitglied der Redaktion

LITERATUR

Claudia Spahn: Lampenfieber. Grundlagen. Analyse. Maßnahmen. Henschel Verlag, Leipzig 2012


22

Blickpunkt 24/7 15.2021

WENN DAS EIGENE KIND SICH TÖTET


Blickpunkt 24/7 15.2021

Den Tod des eigenen Kindes zu erleben, ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann. Stirbt das Kind durch Suizid, wird das Schlimmste noch mal verschärft. Das Kind entscheidet sich, sein Leben zu beenden, die Eltern können es nicht verhindern. Werden die Mütter und Väter dieser meist volljährigen Kinder sich lebenslänglich als VersagerInnen fühlen, die in ihrer Elternfunktion gescheitert sind? Die Todesart Suizid lässt Familie und Freunde mit dem Gedanken zurück, eventuell mitverantwortlich für die Entscheidung zur Selbsttötung zu sein. Viele forschen, an welcher Stelle sie etwas getan oder unterlassen haben, was die Entscheidung zum Suizid entscheidend vorangebracht haben könnte. Hinterbliebene nach Suizid werden in Trauerbegleitungen dabei unterstützt, die Entscheidung ihres Verstorbenen akzeptieren zu lernen, die Verantwortung für diese Entscheidung beim Verstorbenen selbst zu lassen oder sie ihm zurückzugeben. Das ist mühsame und quälende emotionale Arbeit. Laut Statistischem Bundesamt sind im Jahr 2019 nachweislich 9041 Menschen durch Suizid verstorben. Einige dieser Suizidtoten haben vermutlich Eltern, die nun um sie trauern. Die Trauer nach Suizid gilt als besonders belastend. AGUS (Angehörige um Suizid) ist ein Verein, der aus der Selbsthilfe erwachsen ist. Seit vielen Jahren bietet AGUS Angehörigen von Suizidenten Selbsthilfe, Fortbildung und Lektüre an. Im letzten Rundbrief des Vereins fand ich den Text eines Vaters, der mit dem Suizidtod seines Sohnes leben lernen muss. Eine sehr berührende und nachvollziehbare Frage von ihm lautet: Gibt es ein größeres Scheitern für Eltern als den Suizid des eigenen Kindes?

Wie sehr müssen sich diese – überflüssigen, unproduktiven Versagensgedanken – für Eltern steigern, wenn das Leben des Kindes durch Suizid beendet wird. Haben sie das Kind nicht genug behütet, gefördert, nicht genug geliebt, ihm nicht genügend Wertschätzung entgegngebracht, waren sie als Vater/Mutter nicht Halt gebend genug? Nach meinen Erfahrungen aus der Krisenbegleitung gehen alle Hinterbliebenen nach Suizid in vielen Wiederholungen mit der Klärung des möglichen eigenen Versagens um. Das scheint unumgänglicher Teil des Verarbeitungsprozesses zu sein, für den es auch keine Abkürzung gibt. Auch der oben erwähnte Vater stellt sich die Frage immer wieder, wie er sagt – und er beantwortet sie mit einem klaren „Nein!“. Nein, er und seine Frau sind als Eltern nicht gescheitert! Seine Begründung überzeugt: Das Nein zum Scheitern erschließt sich für ihn daraus, dass die Beziehung zum Verstorbenen eine liebevolle war. Aus beiden Richtungen. Er hat seine Eltern, seine Familie geliebt und er wurde von ihnen geliebt. Dessen ist er sich absolut sicher. Und weil die Liebe gelang und spürbar war, hat es kein Scheitern gegeben. Die Liebe wird in den Mittelpunkt des Erinnerns gerückt, nicht die Art des Todes, nicht der Aspekt eines möglichen Scheiterns. Ein von wahrnehmbarer Liebe geprägtes Leben ist nicht gescheitert. Auch wenn es durch den erwachsenen Sohn selbst beendet wurde, der möglicherweise an seiner psychischen Erkrankung mehr litt als ertragbar war. So vom Scheitern erlöst, bleibt dennoch die Trauer als ständige Begleiterin und das Gefühl – so drückt es dieser Vater aus – dass es gegen die Natur ist, vom eigenen Kind nicht nur den Tag der Geburt, sondern auch den Tag des Todes zu kennen

Einen solchen Tod ertragen zu lernen, ohne sich dafür mit verantwortlich zu fühlen und auch mit schuldig zu sprechen, scheint schwer möglich. Eltern neigen ohnehin dazu, sich für alles, was das Kind betrifft, verantwortlich zu fühlen. Auch wenn es ein großes und schon lange ein volljähriges Kind ist. Wenn das Kind das Studium schmeißt, die Beziehung beendet, im Beruf nicht verlässlich Fuß fasst, ungesund lebt etc., stellen Eltern sich die Frage, was sie aus der Elternrolle heraus versäumt oder falsch angepackt haben. Sie belasten sich mit dem Gedanken, eventuell gescheitert zu sein an dem Ziel, ein Kind groß zu ziehen, was sein Leben fröhlich und erfolgreich anpackt.

ROSEMARIE SCHET TLER

Hauptamtliche in der TelefonSeelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen mit den Schwerpunkten Ausbildung, Fortbildung, Supervision, Krisenbegleitung, Chat und Mitarbeit im Redaktionsteam 24/7

23


34

Internes 24/7 15.2021

WERTSTOFFHOF FÜR E N T TÄ U S C H E N D E G E S P R Ä C H E DAS FEEDBACKMANAGEMENT DER TELEFONSEELSORGE „Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Sie haben mir sehr geholfen!“ Direkte Rückmeldungen von Ratsuchenden an Telefonseelsorger*innen kommen immer wieder vor. Da ist im Laufe des Gesprächs etwas Nahrhaftes gewachsen und wird am Ende wie ein Korb voll reifer Früchte gemeinsam mit Freude angeschaut und geteilt. Was jedoch, wenn Ratsuchende sich am Ende eines Kontakts fühlen, als hätten sie nur verdorbenes Obst bekommen?

WO WERDEN SIE IHREN ÄRGER UND IHRE BESCHWERDEN LOS? Seit Juli 2018 gibt es dafür eine Art Wertstoffhof für „missglückte“ Gespräche: Ratsuchende haben die Möglichkeit, ihre Enttäuschung und ihren Unmut unter feedback@telefonseelsorge.de quasi abzuladen. Jede Erst-Mail wird innerhalb von fünf Werktagen beantwortet. Falls gewünscht, nötig und möglich, wird das Feedback an die betroffene Stelle oder Region weitergeleitet. Die Anzahl der Feedbackmails stieg von 250 in 2019 auf 381 in 2020. In den ersten sechs Monaten von 2021 trafen bereits über 200 Mails ein, Tendenz steigend. Das Feedback bezieht sich zu ca. 80% auf das Telefon, zu 20% auf Chat und Mail.

D A S F E E D B A C K M A N A G E M E N T H AT F Ü R D I E R AT S U C H E N D E N E I N E WICHTIGE FUNKTION. Ihre Gedanken und Gefühle werden wahr- und ernst genommen, sie werden gehört und bekommen Antwort. Andererseits sind Rückmeldungen auch für die TelefonSeelsorge selbst, für die Telefonseelsorger*innen und Stellenleitungen sehr wichtig. Sie sind eine wertvolle Ressource, die nicht achtlos weggeworfen werden sollte. Selbst muffige Beschwerden sind nicht einfach „Mist“, sondern können als eine Art Dünger für die Seelsorge dienen: sie weisen auf Defizite in der Ausbildung hin, liefern Ideen für Fortbildungen und schärfen den Blick in Supervisionen.


36

Internes 24/7 15.2021

TELEFONIEREN VON ZUHAUSE FRAGEBOGENAKTION DER BAYERISCHEN TELEFONSEELSORGE

INTENTION UND ABLAUF Es gehört zu den Kernaufgaben der TelefonSeelsorge, ein offenes Ohr für die Belange anderer zu haben. Während der Frühjahrstagung des Bayern-Forums, einer Zusammenkunft der Ehrenamtlichen-Vertretungen aller bayerischen TelefonSeelsorge-Stellen, wurde das Thema „Telefonieren von Zuhause“ kontrovers erörtert. Einig waren wir uns, dass die Ehrenamtlichen selbst sich zu diesem Thema äußern sollten, da sie diejenigen sind, die diese verantwortungsvolle Tätigkeit ausüben. Um ein fundiertes Meinungsbild aller Ehrenamtlichen der bayerischen Dienststellen einzuholen, wurde eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag gebildet, einen Fragebogen

zu erstellen, mit dem alle bayerischen Ehrenamtlichen-Vertretungen unter den Ehrenamtlichen ihrer Dienststelle eine Umfrage durchführen sollten.

In einzelnen Stellen wurde der zweiseitige Fragebogen mit seinen 44 Fragen als wichtiger Kommunikations-Aufhänger wahrgenommen und diskutiert.

Die Fragebogenaktion sollte und konnte dabei nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Studie haben.

Die Initiatorinnen und Initiatoren der Fragebogenaktion hofften auf eine hohe Beteiligung, um eine größtmögliche Rückendeckung für die Weiterentwicklung der TelefonSeelsorge und für die Diskussion mit den Hauptamtlichen, Trägern und Gremien auf Bundesebene zu haben. Diese Hoffnung hat sich mit einer Rücklauf-Quote von gut 56 % erfüllt. Von 1045 Ehrenamtlichen in 16 bayerischen Stellen nahmen 586 an der Umfrage teil.

Während der laufenden Aktion im Frühjahr 2021 ergaben sich konstruktive Kontakte zu den einzelnen Stellen, sodass das Netz der bayerischen TelefonSeelsorge-Stellen intensiver geknüpft wurde.

GRAFIK 1

4,8%

Ich bin grundsätzlich dafür, "Telefonieren zuhause" einzuführen, damit EA es freiwillig nutzen können.

12,9%

28,7%

stimme zu stimme nicht zu

53,6%


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.