24/7 – Ausgabe 18 – Dezember 2022 | Januar | Februar | März 2023

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BERÜHRUNG

24/7 18.2022
Dezember I Januar Februar I März 18 Jahrgang 40 2022/23 24/7
Blickpunkt
Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Der Mensch will berührt werden - innen und außen, sonst verkümmert er!

WILLKOMMEN

zu unserer „Berührungsausgabe“.

Eine Umarmung, so heißt es, ist das beste Mittel gegen Stress.

Der Trost und die Kraft, die von einer innigen Umar mung ausgehen, kennen wir besonders in Momen ten von Verzweiflung, Kummer und Trauer. Kurze Berührungen können unser Denken und Handeln beeinflussen. Wir wissen, dass gewollter Körperkon takt gut für die Gruppendynamik ist und die Zu sammenarbeit und das Vertrauen im Team stärkt. Auch unserem Herzen tut der Körperkontakt gut: 20 Sekunden Umarmung, gefolgt von 10 Minuten Hand-halten, lassen Blutdruck und Herzschlag sin ken. Massagetherapien helfen bei Krebspatientin nen und -patienten Ängste abzubauen, Depressio nen entgegenzuwirken und Schmerzen zu mindern.

Kuscheln entspannt und ist gesund – nicht nur für die Psyche, es stärkt auch unser Immunsystem, da Oxytocin freigesetzt wird!

Auch Berührungen, die wir nicht über die Haut er fahren, tun uns gut. Kunst. Gemeinsame Erfahrun gen. Begegnungen mit Anrufenden. Worte in Mails und Chats. Aber wieso eigentlich?

Viele der Autorinnen und Autoren haben sich mit dieser Frage beschäftigt und versuchen, Antworten in ihren Artikeln zu geben.

Mir ist besonders der Artikel von Inge Pape nahe gegangen, die sich mit dem 1934 erschienenen Rat geber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" be fasst. Die Autorin Johanna Haarer war glühende Na tionalsozialistin und forderte grausige Härte in der Erziehung. Manchmal erlebe ich diese Härte, häufig in Form von Beschämungen, auch aktuell noch. Was passiert, wenn wir nicht berührt werden? In der Te lefonSeelsorge begegnen uns jeden Tag Menschen, die ungewollt einsam sind und sich nichts sehnli cher wünschen, als umarmt zu werden. Manchmal gelingt uns eine virtuelle Umarmung.

Zum Ende des Jahres danke ich Ihnen, den Abon nentinnen und Abonnenten, den Leserinnen und Lesern, den Autorinnen und Autoren für die kons truktive Kritik, die positiven Rückmeldungen und Ihre Artikel. Besonders bedanken möchte ich mich bei dem wunderbaren Redaktionsteam, ohne das es 24/7 nicht geben würde: Bernadette Ott, Inge Pape, Anne Michel-Pill, Rosemarie Schettler, Fritz Dechant, Andreas Hardelt-Serafin und Tobias Lehner.

Ihnen Allen wünsche ich ein friedvolles Weihnachts fest. Wir lesen uns im neuen Jahr wieder. Ihre

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HEILENDER DIALOG

Meistens bleibt die Dimension Gott während des Telefongespräches eine verborgene Dimension, sie wird nicht ins Wort gebracht. Aber nicht immer.

MEIN GOTT, IST DAS RÜHREND

Viele Krippendarstellungen haben diesen Flair von Romantik und Harmonie. Damit sind sie von der Erzählung des Evangelisten Lukas weit entfernt.

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INHALT BLICKPUNKT
INTERNES 6
10 UNSER BEIDER HAUT

38 WISSEN

BLICKPUNKT

Tango - Magie der Berührung Birgit Knatz

Ein kleines bisschen Zärtlichkeit Margit Ast

Heilender Dialog Monika Herrchen

Kunst kann berühren Lars Schröder

Ins Wasser fällt ein Stein … Irene Böttcher

Jedes Kind ist eine Schlacht Inge Pape

Das hat mich sehr berührt Margret Martin

Die Sehnsucht nach einer Umarmung Jula Heckel-Korsten

#berührung

Olav Jost

Selbstfürsorge - Selbstverletzung Friedrich Dechant

Unser beider Haut Gerlinde Coch

Emotionslos - Mitfühlen hat Grenzen Rosemarie Schettler

Im Wasser Stephanie Ahrens Hautsache Anne Michel-Pill

Den Telefonhörer fest umklammern... Beate Bimmer

Von der Klippe geholt Rüdiger Kreß

Ein Gentleman bricht aus Bernadette Ott

Mein Gott, ist das rührend Friedrich Dechant

Ein fester Händedruck Stephanie Terbrüggen

WISSEN

Kommunikationsschürklis Birgit Knatz & Stefan Schumacher

INTERNES

Schwer auszuhalten Bernd Wagener

In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche Tobias Lehner

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AUSSNAHMSWEISE LOB EMPFEHLUNGEN IMPRESSUM

Ein kleines bisschen Zärtlichkeit

Eine Freundin berichtet begeistert von ihrem Frankreichurlaub.

Auf meine Frage, ob sie auch im Meer gebadet habe, lautet ihre Antwort: Nein, eine mögliche Berührung mit Fischen, der Kontakt mit den Meeresbewohnern sei ihr unangenehm.

Die Liste unangenehmer Berüh rungen lässt sich fortsetzen. Um eine aufwändige Parkplatzsuche zu vermeiden, fahre ich ab und zu mit der Straßenbahn, wo Berührungen unvermeidlich sind. Unlängst setz te ich mich mit dem 9-Euro-Ticket zu einer Dame, wir saßen Schen kel an Schenkel. Mit dem Gefühl, mich „kleiner machen zu müssen“, kroch ich in mich zusammen. Beim Aussteigen waren Ellenbogen ge fragt. Hände rutschten an Haltestangen entlang, im Rücken spürte ich drängelnde andere Fahrgäste –ohne Kontakt zu anderen Mitfah renden hat man keine Chance. Wer kennt nicht die Situ ation, sich im Theater knapp vor Vorstellungsbeginn an anderen Kulturinteressierten in der gebuch ten Sitzreihe vorsichtig vorbei zuzwängen. Die Höflichkeit – ich zitiere meine Mutter – gebietet es dabei, den Vorgang „face to face“ vorzunehmen und den bereits Sit zenden keinesfalls den eigenen Rücken zuzumuten. Also bleiben Knieberührungen unvermeidlich, bis man seinen Platz erreicht hat. Covid-Abstand! Abstands regeln sind überall dort in Pikto grammen zu sehen, wo viele Men schen aufeinandertreffen. Kein Körperkontakt mehr an der Super marktkasse, wo ungeduldige Kun dinnen und Kunden die Nähe zum Vordermann gern ignorieren.

Ich muss gestehen, dass mir schon immer das Händeschütteln nicht sonderlich sympathisch war. Viel leicht weil ich dabei gar nicht an ders konnte, als ungewaschene oder gar verschwitzte Handflächen vor mir zu sehen. Seit der Coro na-Zeit schiebt man kurz die Fäus te oder Ellenbogen gegeneinander – ein guter bakterienfreier Kompro miss.

Doch es gibt auch Berüh rungen, die ich schätze und genie ße: die Service-Kopfmassage beim Friseur, das Eincremen der Füße nach der Fußpflege. Als Omi emp finde ich es als Geschenk, mein En kelkind auf dem Arm halten und liebkosen zu dürfen. Das schüttet nicht nur beim Kind, sondern auch bei mir Glückshormone aus.

Wunderbar: die Erinne rung an die erste Tanzstunde, in der mein Tanzpartner keck seine Wange an meine legte ... ganz zu schweigen von der ersten Zärt lichkeit, dem ersten Kuss, Gänse haut-Feeling inbegriffen. Eine lie bevolle Umarmung meiner Tochter oder einer guten Freundin als Zei chen von Sympathie und Nahbar keit.

Wenn ich die Katze meiner Nachbarin während ihrer Abwe senheit betreuen soll, so schreibt sie mir stets einen Zettel mit der Futterdosierung – und der Erinne rung: „Streicheln“. Ich versuche,

mir vorzustellen, wie es für einen Hund, eine Katze oder ein Kanin chen wohl sein mag, von Men schenhand gekrault zu werden. Ein Pferd, das freundschaftlich „beklopft“ wird, ein Delphin, der in Körperkontakt zu Menschen steht – ein Genuss für beide.

Berührungen im Alter – ein Tabu-Thema oder eine Selbstver ständlichkeit? Häufig sind ältere Paare zu beobachten, die Hand in Hand durch Straßen oder Parks gehen. Fünfzig, vielleicht sechzig Jahre vertrautes Beisammensein findet Ausdruck im Kontakt der Handflächen oder Ineinander schlingen der Finger. Sofort schickt unser Gehirn die Redewendung „miteinander durch dick und dünn gehen“ ins Bewusstsein. Betagte, oft einsame Anruferinnen bekla gen, dass ihnen eine Umarmung, eine Berührung fehle. Sich freund schaftlich unterhaken, eine Hand nehmen, die Hand auf den Arm le gen, eine kurze Massage im Schul terbereich, ein Streicheln – all das ist bei einem Besuch ein größeres Geschenk als ein Blumenstrauß. Berührungen – nahbar, aber res pektvoll, sind wohltuend, oft hei lend, zeigen Zuneigung und Ver trauen.

So sei zum Schluss Kurt Tucholsky zitiert: "Ein kleines biss chen Zärtlichkeit – und alles wäre gut."

HEILENDER DIALOG

„DA BERÜHREN SICH HIMMEL UND ERDE“1

- diese Liedzeile kommt mir manchmal in den Sinn, wenn ich an meinen Dienst am Telefon denke. Da sind die Anrufenden, die sich aus ihrer Not heraus mit ei nem guten Grund bei uns melden, und die Berater, die Seelsorgerinnen, die auf dieses Anliegen reagieren. Ein dialogisches Geschehen, das sich zwischen beiden er eignet. Zunächst einmal. Aber für mich als Christin eröffnet sich noch eine weitere Dimension: die verbor gene, unerwartete und zumeist unausgesprochene Di mension des heilenden Gottes.

Eine mögliche Annäherung an diesen Gedanken mag die Wundererzählung vom blinden Bartimäus sein. Der Blinde macht Jesus auf sich aufmerksam und wird von ihm gefragt:

Eine Frage, die ich in ähnlicher Weise oft den Anru fenden stelle, um ihre Anliegen, ihre Hoffnungen für das Telefongespräch zu erkennen. Bartimäus spricht seine Sehnsucht aus, wieder sehen zu können. Und Jesus heilt ihn. Aber neben dieser erbetenen Heilung von der Blindheit seiner Augen findet noch ein wei teres unerwartetes, heilsames Geschehen statt: Barti mäus erkennt sich selbst, seine Aufgabe und seinen Weg. Denn er folgt Jesus auf seinem Weg. Er erhält eine neue Sichtweise auf die Dinge; es findet für ihn ein Perspektivwechsel statt.

Das erhoffe ich mir auch für die Anrufenden, die sich oft in belastenden, ausweglosen Situationen befinden, für die es offenbar keine Lösung gibt, sondern die sie in Sackgassen und Engen führen: ein unerwartetes, heilsames Geschehen, durch das sie aus ihrer Engfüh rung herausfinden und einen Perspektivwechsel wider aller Hoffnung vollziehen können. Und sei es „nur“ für die Dauer der Begegnung am Telefon.

Blickpunkt 10
„Was willst du, dass ich dir tue?“

JEDES KIND IST EINE SCHLACHT

GEDANKEN ZU DEM 1934 ERSCHIENENEN RATGEBER VON JOHANNA HAARER

Als ich „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von meiner Schwie germutter geschenkt bekam, war ich zwanzig Jahre alt und hatte gerade eine Tochter geboren. Win ter 1967. Die Straßen waren dick verschneit, in der Nacht brachte mich mein Mann in unserer klei nen Isetta in die nahegelegene Kli nik. Dann musste er nach Hause gehen. Ich war allein. Allein mit ei ner Hebamme, die gleichzeitig drei Erstgebärende versorgen musste. Irgendwie ging es vorwärts, noch in der Nacht bekam ich mein Baby in den Arm gelegt. Ich kann mich an die Stunde danach gut erinnern. Meine Tochter war hellwach und sehr konzentriert. Wir beide schau ten uns unentwegt an. Wie schön sie war!

Damals wusste ich noch nicht, dass in diesen Stunden Neugeborenes und Mutter sich aufeinander ein stellen, und durch den Haut- und Blickkontakt unmittelbar nach der Geburt aufeinander geprägt wer den. Die Säuglingsforscher nennen das heute die „sensible Phase“, die für das Entstehen der Bindung zwi schen Mutter und Kind sehr wich tig ist. Am Anfang ist die Haut das wichtigste Kommunikationsorgan des Menschen. Das Streicheln und zarte Berühren fördern Feinfüh ligkeit und Empathie der Mutter.

Es entsteht ein sicheres Band zwi schen Kind und Mutter, das ihnen hilft, ihre Beziehung für die wichti gen ersten Jahre zu festigen.

Doch die Pflegekräfte beendeten unsere Zweisamkeit und nahmen mir das Baby nach einer Stunde weg, mit dem Hinweis, ich und das Kind sollten sich die ersten 24 Stunden nach der Geburt aus ruhen. Mein Mann fand mich am späten Nachmittag in Tränen auf gelöst, weil ich ohne Kind da lag. Erst seine Intervention ermöglich te mir, dass ich „außer der Reihe“ meine Tochter wieder in den Arm nehmen durfte.

Als ich später den Erziehungsrat geber zur Säuglingspflege von Jo hanna Haarer (1900 – 1988) las, erkannte ich, welche Praxis sich in diesem katholischen Krankenhaus über 20 Jahre nach dem Krieg er halten hatte.

Ein grausamer Bestseller

Haarer war Ärztin, 1934 kam ihr Ratgeber in der ersten Auflage he raus. Das Buch war höchst erfolg reich. Es atmete auf jeder Seite die Ideologie der Nationalsozialisten und war für unzählige Familien dieser Jahre eine grausame „Erzie hungshilfe“. 1945 von den Alliier

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Wie man Kinder für einen Krieg erzieht

Das hat mich sehr berührt

Diesen Satz kennen wir alle. Etwas ist uns nahe, ja, es ist uns sogar zu Herzen gegangen, wir waren ergrif fen, fühlten, wie eine Saite in uns zum Schwingen gebracht wurde.

Was ist es, das uns innerlich so anzurühren vermag, was uns im wahrsten Sinne des Wortes „an fasst“? Ich glaube, es sind die emo tional ganz intensiven Momente, ausgelöst durch Worte, Blicke, Ges ten, durch Bilder oder Melodien, durch Lieder, Texte, Gedichte oder Filmszenen. Gehörtes, Gesproche nes, Gesehenes, Gespieltes – all das kann uns tief im Inneren berüh ren, kann dabei u.U. Erinnerungen wachrufen oder sogar Wunsch träume entstehen lassen. Immer vermittelt uns dieses Berührtsein doch ein gutes, ein wohliges, ein angenehmes Gefühl.

Und dieses gute, angenehme Ge fühl ergreift uns in der Regel dann, wenn wir die echte, die körperli che Berührung spüren. Jemand er greift meine Hand, nimmt mich in den Arm, streichelt mich, berührt mich zärtlich oder leidenschaft lich. Dann genieße ich Nähe, weil es guttut, berührt und angefasst zu werden. Und diese Wohltat

empfinden Menschen aller Alters gruppen. Schon dem Säugling ver mittelt sich ganz ohne Sprache be reits in den ersten Lebensminuten Nähe und Wärme durch die Berüh rung der Mutter. Und Berührung, die Verbundenheit und Zuneigung ausstrahlt, genießen wir bis ins hohe Alter.

Berührung –immer eine Wohltat.

Wenn sie einher geht mit Res pekt, Wertschätzung, wenn sie auf Augenhöhe und in gegenseitiger Übereinkunft geschieht. Denn be rührt werden sollte nur jemand, der auch gerne berührt werden möchte. Das sollte eine Selbstver ständlichkeit sein, leider gibt es sie ja auch, diese andere, übergriffige, verbotene Seite der Berührung. Ein laut ausgesprochenes „Fass mich nicht an!“ signalisiert: ich will nicht berührt werden. Doch nicht immer wird ein Nein akzep tiert. Frauen und Männer werden vergewaltigt, Kollegen oder Vorge setzte halten den „kleinen Klaps“ für gesellschaftsfähig („Hab dich nicht so!“). Besonders Kinder und Jugendliche haben kaum eine Chance, der nicht gewünschten Berührung auszuweichen. Sie wer den immer noch von ihren Eltern geschlagen und sind nicht selten wehrlos Erwachsenen ausgeliefert, die sich der eigenen Lust und sexu ellen Befriedigung hingeben.

mehr als unwürdige, ja widerwärti ge Rolle gespielt haben und immer noch spielen, muss nicht eigens er wähnt werden (siehe Heft 17 dazu).

Es gibt diese negative Facette der Berührung, die häufig einher geht mit Erniedrigung, Respektlosigkeit, oftmals sogar mit Aggression und Gewalt.

Diese Tatsache sollte uns Mahnung und Ermutigung sein, immer dann klar Stellung zu beziehen, wenn wir den Eindruck haben, dass Be rührung nicht das ist, was sie ei gentlich sein sollte: eine Wohltat für den, der berührt und für den, der berührt wird.

Erwachsene, die junge Menschen verbotenerweise berühren und von ihnen verbotenerweise berührt werden wollen, lösen damit nicht selten lebenslange Traumata aus. Dass bei diesem Thema Pädagogen und auch Kirchenvertreter eine

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Die Sehnsucht nach einer Umarmung

Beim Dokumentieren der Gespräche fehlt mir immer wieder ein ITEM: „Sehnsucht“. Nicht Angst, nicht Ärger, Stress oder Trauer, sondern ein Mangel an Sehnsucht sind Thema gewesen. Schwer aushaltbarer, manchmal unerträglicher Mangel. Sehnsucht. Nicht selten an Berührungen.

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei,“ ist das anthropologische Grundkonzept der Bibel. Der Mensch als Begegnungswesen. Ausgerichtet auf Dialog. Das beinhaltet die elementare Erkennt nis, dass wir Wesen sind, die auf Berührung ange wiesen sind. Sie ist kein Luxus, sondern lebensnot wendig. Wir verkümmern, wenn wir nicht berührt werden. Damit meine ich Berührungen im beider seitigen Einverständnis. Das Wissen um die vielen Missbrauchsopfer lässt es angemessen erscheinen, das ausdrücklich zu betonen.

Die Sehnsucht danach, von einer Hand berührt zu werden, kann quälend brennen. Letzte Wo che erst formulierte es ein Anrufer deutlich: „Seit vielen Jahren hat niemand mich mehr berührt. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können. Nicht mal ein Hände druck. Geschweige denn eine Umarmung. Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt…“ Nicht berührt zu werden bedeutete für diesen Anrufer, zu niemandem zu gehö ren. Auswirkung und Folge tiefer Einsam keit. Sich selbst überlassen. Auf sich selbst zurückgeworfen. Beziehungslos. Er beklagte auch, seinerseits niemanden berühren zu können.

Berührt werden und selbst berühren sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Von einem anderen Menschen die Erlaubnis zu bekommen, ihn oder sie berühren zu dürfen, ist Zeichen des Vertrauens. Auch der Zuneigung und Zugehörigkeit.

Selbst die Hand ausstrecken und die Haut eines anderen Menschen streicheln zu dürfen, gehört genauso zu den Grundbedürfnissen wie das Empfangen von Berührungen.

Wenn kein Mensch da ist, der berührt und sich berühren lässt, stellt sich die Frage, ob dann wenigstens Gott Menschen berührt und sich berühren lässt.

24/7 18.2022 18 Blickpunkt

IM WASSER

Zum einen das unmittelbare Er leben eines Kontaktes über das Sinnesorgan Haut. Auch die zwei Seiten – das Wasser berührt die Schwimmerin und lässt Kühle, Weichheit, Glätte des Elementes erfahren; in der Schwimmbewe gung liegt aber auch die aktive Kontaktaufnahme, das bewusste Anfassen, Ertasten, Erspüren und Berühren des Wassers.

Das ist insofern bemerkenswert, als Berührung doch als etwas Zar tes und Vorsichtiges verstanden wird, zurückhaltend, manchmal sogar zögerlich.

6.15 UHR AN EINEM SOMMERMORGEN ALS ERSTE AM SEEUFER.

Es ist schon hell, aber noch sehr still auf der Insel, die Wasserober fläche unberührt und seidigglatt. Mit dem Fuß zuerst und dann immer weiter in diese Fläche ein tauchen, mit jedem Schritt kleine Wellen anstoßen und die große glänzende Fläche in Bewegungen versetzen. Das kühle Wasser be rührt die Haut, wird spürbar in der eigenen Bewegung und glitzert fein in der Sonne. Aufmerksam in der Konzentration auf das Berüh ren des Wassers und das Berührt werden durch das Wasser, die Luft und die Lichtreflexe, das Geräusch des durch die Hände strömenden Wassers bei jedem Schwimmstoß entsteht ein intensives Gefühl von Gegenwärtigkeit, von innerer Verlangsamung und Ruhe. Sicher flüchtig, aber dennoch deutlich er kennbar.

In diesem Augenblick im See las sen sich verschiedene Aspekte ei ner Berührung erkennen.

Gleichzeitig also ein Berührtwer den und eine Berührung. An dem Punkt, an dem diese Bewegungen aufeinandertreffen, wird die Gren ze des eigenen Körpers spürbar.

Im selben Moment entsteht aber auch ein Kontakt, kann eine Ver bindung hergestellt werden, wird ein anderes berührbar, und die Grenze könnte durchlässig werden.

In einer Berührung scheinen sich sowohl intensive Selbstwahrneh mung und Präsenz, als auch Öff nung und Verströmen gleichzeitig ereignen zu können.

Für das althochdeutsche Wort  (h)ruoren gibt das Wörterbuch neben an- und berühren auch be wegen und spielen an. Auch in dem zugrunde liegenden Verb von be rühren ‚rühren‘ wird deutlich, dass durch Berührung etwas in Schwung kommt, angeregt wird. Vergleich bar vielleicht mit kleinen Teilchen, die einen Schubs bekommen und sich in verschiedene Richtungen zerstreuen oder in eine Kreisbahn eintreten, Energie entwickeln, ei nen gewohnten Ort verlassen. Auf das Innere übertragen kann uns etwas so berühren, dass Gedanken und Empfindungen angeregt, Ideen angestoßen werden und sich neue Blickwinkel eröffnen.

Ganz anders als es das Verb ergrei fen nahelegt: Das klingt machtvol ler, entschlossener, dynamischer. Aber gerade das Leichte, das wirk liche Aufmerksamkeit erfordert, kennzeichnet Berührung, durch die im Innern Bewegung, womög lich sogar Veränderung entsteht oder warum nicht ganz groß ge dacht: ein erhabenes Gefühl. Es ist lohnend, alle Sinne für das Er leben von Berührung im Innern wie im Äußeren zu schärfen, nicht zuletzt, um Vielfalt, Strukturen, Muster wahrnehmen und erken nen zu können. Dann mag aus dem Berühren möglicherweise ein Be greifen werden, wenn sich Gefühl tes, Erlebtes und Gedachtes neu zusammensetzt, ausdifferenziert und vernetzt. Berührungen wahr zunehmen, sie sehr sorgfältig und mit Muße zu studieren, kann dazu beitragen, meine natürliche Umge bung und besonders die Menschen darin mit ihren anrührenden Ge schichten eindringlicher zu bemer ken.

Um 6.45 Uhr steht die Sonne schon wieder ein Stückchen höher über dem See, die Farben des Morgens haben sich verändert und der Blick über die Schulter auf das Wasser zeigt, dass die Schwimmerin nur kleine Wellenbewegungen hinter lassen hat, die bald verschwinden werden. Innerlich hat die Berüh rung mit dem Wasser eine ganze eigene Bewegung angestoßen, die mit durch den Tag schwingen wird.

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Mein Gott, ist das rührend

Weihnachtskrippen sind oft fürs Herz.

Das Jesuskind liegt in der Krippe, und die Hirten stehen um es versammelt. Sie sind andächtig und angerührt von dem Zauber, den jedes Neugeborene hervorruft. Die Botschaft der Engel, die ihnen den Weg zur Krippe weisen, haben sie noch im Kopf: heute ist euch der Heiland geboren. Maria umsorgt das Kind oder ist fromm im Gebet versunken, Josef steht in Krippen oft ein wenig abseits, manchmal macht er sich nützlich und hält eine Laterne.

Viele Krippendarstellungen haben dieses Flair von Romantik und Harmonie. Damit sind sie von der Erzählung des Evangelisten Lukas weit entfernt.

Krippen wollen uns verzaubern und eine Ahnung von der Berührung zwischen Gott und dem Men schen vermitteln. Es gibt eine berühmte Berüh rungsszene, die ganz anders komponiert ist als die der Weihnachtskrippe: Michelangelos Gemälde von der Erschaffung Adams. Dieses Bild wird oft nur in Ausschnitten gezeigt und auf einen Aspekt verdichtet, nämlich auf die Finger, die sich fast be rühren. Gott erweckt den Adam zum Leben. Er ver leiht ihm eine Seele, indem er ihn wie durch einen Fingerzeig aus dem Schlaf erweckt. Vorher hat Gott Adam aus dem Lehm des Erdbodens geformt.

Berühmt aber ist diese Darstellung aus der Sixtini schen Kapelle, weil sie die göttliche Dynamik, die Leben schafft, in eine kleine Geste bündelt. Der Le bensfunken springt anscheinend von Gott zu Adam hinüber über diese Lücke hinweg, die den Unter schied zwischen Schöpfer und Geschöpf ausdrückt.

Beinahe berühren sich Himmel und Erde: Gott macht den Menschen.

An Weihnachten berühren sich wiederum Him mel und Erde: Gott macht sich zum Menschen. Die Weihnachtserzählungen künden davon, und wir lassen uns auf diese Berührung ein, indem wir gerührt reagieren. Gott wird ein Kindlein klein. Ein Kind, das später eine Karriere als Wanderprediger antreten und kein großer Staatsmann oder König werden wird.

Wie man sich das vorstellen mag, dass Gott Mensch wird, und aller berechtigten Skepsis an dieser Bot schaft zum Trotz: Gott schlüpft nicht einfach in unsere Haut als wäre sie ein Overall. Er nimmt es komplett auf sich, Mensch zu sein. Sein Leben war das eines Menschen, sagt Paulus. Jesus konnte schwitzen und frieren, hatte Hunger und er konnte bluten.

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AUSNAHMSWEISE

LOB

Meist erhält Peter Brockmann, Leiter der TelefonSeelsorge Bremen und FeedbackManager der TelefonSeelsorge Deutschland, Beschwerden. Aber nicht nur. Manchmal gibt es auch positive Rückmeldungsschätze. Eine anonymisierte Auswahl der anrufenden, chattenden und mailenden Menschen lesen Sie hier:

Danke, dass sie immer wieder für mich da sind. Ich schätze ihre Unterstützung sehr. Im Moment mache ich eine schwierige Phase durch. Eine Therapie, die einiges hochspült. Was ich versuche mit Gesprächen zu bewältigen. Des halb rufe ich immer wieder an. …

Sehr verehrte Damen und Herren, ich schätze Ihre Arbeit sehr und habe sie selbst auch bereits ein mal in Anspruch genommen. Ich bin noch ziemlich jung und mei ne Generation ist viel und vor al lem zunehmend in den sozialen Medien unterwegs. Die momen tane Pandemie, der Ukrainekon flikt, sowie der Klimawandel sind für uns alle eine große Belastung. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene wissen häufig nicht ausreichend von den "klassischen" Hilfsangeboten wie der Telefon seelsorge.

… und dann kommt eine Liste mit Verbesserungsvorschlägen

Sehr geehrte Damen und Herren, an den Telefonen der TelefonSeel sorge, ich habe heute auf NDR.de den Artikel „Ukraine-Krieg: Was hilft gegen die Angst?“ gelesen. Am Ende des Artikels wurde u.a. die Deut sche TelefonSeelsorge als Ansprechpartner aufgeführt. Als ich das sah, musste ich daran denken, dass in diesen schwierigen Zeiten bei Ihnen die Telefone bestimmt nicht stillstehen und sich besonders viele Hilfs bedürftige bei Ihnen melden. Deshalb wollte ich Ihnen einfach mal DANKE sagen, für Ihre tolle und wichtige Arbeit, die sicherlich bei vielen Menschen sehr viel Gutes bewirkt!

Herzlichen Dank, die Gespräche waren für mich hilfreich und er kenntnisreich bei meiner Ent scheidungsfindung. Nun bin ich zuversichtlich und ermutigt zu handeln. Bleiben Sie alle schön ge sund und stark!

Hallo Herr Brockmann, vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Das verstehe ich, bin selber techni scher Informatiker. Ich kann nur "Danke" sagen, dass Sie und alle für Menschen wie mich da sind, Danke!

Hallo liebe TelefonSeelsorge, ich möchte mich bedanken. In der vergan genen Nacht habe ich um 00:15 angerufen und mir wurde von einem sehr offenen und wunderbaren Menschen ein Ohr geschenkt. Ich warn te vor, es könne etwas länger dauern. Die Antwort war, er sei die ganze Nacht da. Das Gespräch dauerte rund 90 min und ich habe das Gefühl bekommen, gut aufgehoben zu sein. Mir wurde zugehört und die Proble me und Sorgen wurden offen be/angesprochen. Ich brauche grundsätz lich Hilfe – vielleicht war das ein Schritt in die richtige Richtung. Tau send Dank für dieses Telefonat. Ich hoffe es wird dem entsprechenden Herrn zugetragen.

Liebes Team der TelefonSeelsorge, ich finde Ihre Arbeit wunderbar und immens wichtig. Als Betriebspsychologin habe ich gestern auf Ihrer sehr informativen und hilfreichen Internetseite die internati onalen Telefonhotlines durchgeschaut (weil ich einen Kunden be treue mit vielen internationalen Angestellten und ihm diese empfoh len habe). International Helplines – TelefonSeelsorge® Deutschland (eine Auflistung finden sie auf der Rückseite der Zeitschrift)

sind sehr geduldig, offen, empathisch und ermutigend gewesen. Weiter so!!!

Ihre Mitarbeiter

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