Leseprobe zu: Brandilyn Collins Ohne jede Spur Prolog Er hätte die Polizei rufen sollen. Emily Tarell stand in der großzügigen Diele ihres stattlichen Hauses und hatte die Hand auf das Treppengeländer gelegt. Der prächtige Parkettboden glänzte im Licht des Kristallleuchters. Emily liebte diesen Anblick, der frisch polierte Boden wirkte wie von flüssigem Gold. Doch heute Abend schien er sie fast zu verspotten. Sein Schein war zu leuchtend, zu makellos für den Schandfleck, der dieses Haus und das Familienunternehmen Tarell besudelt hatte. Ein kalter Schauder fuhr Emily mit dürren Fingern zwischen den Schulterblättern entlang. Sie sah die geschnitzte Holztür zum Studierzimmer ihres Mannes zugehen. Im letzten Moment steckte Don seinen Kopf durch den sich schließenden Spalt und warf ihr einen seiner „Mach-dirkeine-Sorgen-Liebes“-Blicke zu. Doch half das nur wenig. Emily konnte die düstere Vorahnung nicht abschütteln, die sich ihr um die Schultern legte und gespenstisch vom Drohen ungekannten Bösen flüsterte. Es säuselte und wisperte, hörbar und doch unhörbar, Warnungen, die von weit her über einen Abgrund kamen. Don war manchmal einfach zu großherzig. Zu vergebungsbereit. Wäre es nach ihr gegangen, dann würde Bill Glatt jetzt auf der Polizeiwache in einem schmutzigen kleinen Kabuff verhört werden, anstatt es sich in einem Sessel im Studierzimmer seines Chefs bequem zu machen. Klack. Die Tür fiel zu, schnitt die vier Männer ab. Emily schluckte. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte nicht einfach herumstehen und warten, verfolgt vom Zischen brodelnden Hasses. Sie hatte ihre Gefühle sowieso schon viel zu offen gezeigt, als sie Peter Dessinger mit einem nervösen „Hallo“ an der Tür begrüßte und Bill Glatt kaum in die Augen sehen konnte, als er eine halbe Stunde später eintraf. Sollte Bill es bis dahin nicht gewusst haben, dass man ihm auf die Schliche gekommen war, dann wusste er es jetzt, allein ihrer Durchsichtigkeit wegen. Ihr Sohn Edwin hatte Emily zugenickt und mit den Lippen „Keine Bange“ geformt. Wie sein Vater. Beide beruhigten sie, obwohl sie nicht auf ihr Gefühl hören wollten, dass da etwas, etwas Bedrohliches auf sie zukam, um sie zu verschlingen. Hatte sie nicht das gleiche dumpfe Magengrummeln gehabt an dem Tag, da Wade seinen Unfall hatte? Emily drückte sich vom Geländer ab und ging Richtung Küche, ihre flachen Schuhe schlappten über die Dielen. Ein Kräutertee würde ihr gut tun. Beruhigende Pfefferminze. Dann würde sie sich mit einem Buch ins Wohnzimmer setzen. Der Fernseher würde ausbleiben. Auf diese Weise könnte sie ein Ohr in Richtung Studierzimmer spitzen und auf eine laute Stimme oder sonst einen Hinweis auf den Verlauf der Aussprache lauschen. Sie wählte einen Teebeutel aus einer lackierten Dose und ließ ihn in ihre Lieblingstasse fallen. Die, die Wade ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, als er zwölf war. Ach, Wade.