Leseprobe zu: Brandilyn Collins Die Nacht hat kein Gesicht
Flüchtig, huschend wie nächtliche Gespenster wisperten ihr die Geräusche ins Unterbewusstsein. Nur der schwache Schein einer Straßenlaterne, der durchs Kinderzimmerfenster fiel, und das grüne Nachtlämpchen neben der Schranktür erhellten die Finsternis, als die zwölfjährige Erin Willit die Augen aufschlug. Sie spürte, wie sich ihre Stirn krauste und eine Hand sich zusammenballte, während sie versuchte herauszufinden, was sie geweckt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Eine Eiche schob knorrige Zweige zwischen die Straßenlaterne und das Fenster, und ihre Blätter warfen unheimliche Spinnenschatten an die gegenüberliegende Wand. Als sie noch kleiner war, wollte Erin, dass nachts auf dem Schreibtisch an jener Wand ein Licht brannte. Damit der ruckartige Blättertanz nicht ganz so gruselig aussah. Doch seit einer ganzen Zeit schon schaute sie völlig furchtlos zu, wie die Dunkelheit zittrig über die Popstarposter an der Wand huschte. Aber nicht heute Nacht. Heute Nacht zuckten und krümmten die Schatten sich. Erin lauschte. Die vagen Geräusche aus dem Büro ihres Papas hinter ihrer Wand wurden deutlicher. Eine Schublade wurde aufgezogen. Der Inhalt raschelte. Ihr Herz schlug einen Purzelbaum, dann kämpfte es um sein Gleichgewicht. An den Geräuschen war nichts Ungewöhnliches. Jeder, der im Büro arbeitete, könnte sie verursacht haben. Jemand, der Rechnungen bezahlte, wie sie es ihren Vater schon so oft hatte tun sehen, der kein Geräusch und keine Bewegung machte, bis er einen Stift brauchte oder ein Stück Papier … bis eine Schublade aufgezogen wurde, um Unterlagen herauszuholen. Erin wusste, wie still ihr Papa sein konnte, wenn er im Büro arbeitete. Sie war an das Quietschen seines Stuhls gewöhnt, an den Bums, wenn er die Aktentasche auf den Schreibtisch stellte. Die Schattenblätter an der Wand huschten über das Gesicht eines männlichen Stars, ließen die Stirn hervortreten und die Wangen einsinken und gaben ihm etwas Zombihaftes. Erin wandte den Blick ab. Sie hob den Kopf vom Kissen und lauschte angestrengter. Der Atem blieb ihr im Halse stecken und es machte leise klick, als ihr Mund aufging. Mehr Geräusche. Das konnte nicht ihr Papa sein. Der war mit seinem Flugzeug erst am Nachmittag nach San Diego geflogen, um seine kranke Schwester zu besuchen. Vielleicht war Mutti im Büro. Dort stand ein zweiter Schreibtisch, an dem sie arbeitete, wenn sie Papa half. Erin schaute auf den Radiowecker. Fast halb eins. So spät arbeitete Mutti nie. Und außerdem klangen die Geräusche verstohlen, heimlich. Nach jemandem, der irgendwo herumschleicht, wo er nichts zu suchen hat. Erins Herz schlug noch einen Purzelbaum, dann schlug es gleichmäßig hart und schnell. Wusch, wusch, wusch, rauschte ihr das Blut in den Ohren. Alle anderen Geräusche verstummten, gingen im Adrenalinfluss unter. In dem krampfhaften Bemühen, etwas zu hören, packte Erin den Saum ihres Schlafanzugoberteils. Sie hob