1 Jason räusperte sich. Seine Frau wußte, was als nächstes kommen würde, und der Schmerz stieg erneut in ihr auf. Bei jeder Abendmahlzeit während der letzten fünfhundertundfünfzehn Tage hatte er laut für ihre Tochter gebetet, wobei er sich stets langsam durch das Gebet arbeitete und jedes Wort betonte, als wolle er seine Aufrichtigkeit beweisen. »Oh Gott«, sagte er heute abend, »wo immer Hannah jetzt sein mag, wir bitten, daß sie wissen möge, daß sie unter deinem Schutz steht. Danke, daß du sie behütest. Und noch mehr Dank dafür, daß du eines Tages unseren Glauben belohnen und sie nach Hause bringen wirst.« Er machte eine Kunstpause, als wolle er die Aufmerksamkeit des Allmächtigen fesseln, und fuhr dann mit brechender Stimme fort. »Nur – laß es bald geschehen. Wir vermissen sie so sehr …« Hannah Freedman lag auf der Wohnzimmercouch, und wieder einmal erfüllte sie der Gedanke mit Stolz, daß sie der Grund war, der Cody aus seiner Einsamkeit herausgelockt hatte. Er war ihr völlig verfallen – und der Gedanke war fesselnd. Sie bewunderte ihren brillantbesetzten Ehering und genoß die Erkenntnis, daß Cody sie stets wie eine Prinzessin behandelte, als habe sie ihm durch königlichen Erlaß irgendwie ein neues Leben geschenkt. Selbst jetzt, da sie allein in ihrem Haus in einem Vorort von Miami war, spürte sie seine Vernarrtheit. Sie schwebte in allen Zimmern und fühlte sich getragen von der allgegenwärtigen Erinnerung an Codys liebevolle Worte und Umarmungen. Hannah drehte sich schwerfällig auf die Seite. Das Baby, das sie in sich trug, verhinderte, daß sie sich ganz auf den Bauch rollen konnte. Sie lächelte. Es war wie in einem Märchen. Sie und Cody waren sich erst vor zehn Monaten begegnet – sie eine Ausreißerin, noch nicht einmal achtzehn Jahre alt; er ein kultivierter, fünfundzwanzigjähriger Mann mit 6
einem verantwortungsvollen Beruf. Und nun würden sie für immer zusammenbleiben. Konnte das wahr sein? Wie war es möglich, daß sie es so gut hatten? Sie streckte den Arm über den Kopf nach hinten aus und griff nach einem eingerahmten Foto von Cody, das einsam auf dem Beistelltisch stand. Die Aufnahme war wenige Wochen vor ihrem ersten Treffen entstanden. Sie zeigte dasselbe gutaussehende Gesicht, denselben grünäugigen, aschblonden Mann, der jetzt ihr Ehemann war – doch damals war er ganz anders gewesen. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, doch dahinter versteckte sich das Gefühl eines schweren Verlustes, das sein Leben beherrscht hatte, seit seine Eltern zwei Jahre zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Aus dieser scheinbar unheilbaren Isolation hatte sie ihn befreit. Und Cody wiederum hatte sie von einem elenden Dasein errettet und sie auf einen hohen Sockel der Erfüllung gestellt, der ihre kühnsten Träume übertraf. Dankbarkeit ließ ihre Gedanken emporschweben, während sie das Bild an die Brust drückte. Voller seliger Empfindungen erlebte sie zum tausendsten Mal von neuem die unaufhörliche Leidenschaft der letzten zehn Monate. Zuerst die explosive Romanze – die Chemie zwischen ihnen, die sofort wie Schießpulver auf Feuer reagierte. Dann kam die ungeplante, aber willkommene Schwangerschaft, gefolgt vom Austausch ihrer Eheversprechen vor siebeneinhalb Monaten. Jeder Tag war ein Fest gewesen. Wenn sie all das noch einmal durchleben könnte, würde sie nicht ein einziges Detail verändern. Eine Wanduhr auf der anderen Seite des Zimmers begann zu läuten, und Hanna schloß ihre Augen und brachte ihre Gedanken zum Schweigen, um zu lauschen: vier Uhr. Es war vier Uhr, Freitagnachmittag, der 15. Dezember. Draußen war die »Weihnachtsstimmung« mit all ihrem Kommerz fast auf ihrem Höhepunkt – und sie, Hannah Freedman, hatte alles, wovon eine Frau im Leben träumen konnte: ein großes, schönes Haus, ein leidenschaftliches Liebesleben und emotionale Geborgenheit. Schon in vierzig Minuten würde ihr Geliebter von der Arbeit in seiner Tierarztpraxis nach Hause kommen, 7