Kapitel 6
Showdown
L
ionel Washington wagte kaum zu atmen, als er die Einfahrt an der Seite seines Hauses hochschlich. Er spähte zum Kellerfenster hinein, wo er und sein Onkel André zusammen auf dem Gästebett geschlafen hatten, in der Nacht, als auf der ganzen Welt das große Massenverschwinden stattgefunden hatte. Jemand schien vorzuhaben, sich dort häuslich einzurichten. Lionel entdeckte zwei Kisten mit Essen, fremde Kleidungsstücke, einen Ventilator, eine Uhr und ein schmales Bettgestell. Wer kam denn auf die Idee, sich in seinem Haus einzunisten, nur weil der Rest seiner Familie verschwunden war? Er hatte geglaubt, die Leute würden das Haus ausräumen, nicht einziehen. Zwei Männer in Onkel Andrés Alter kamen im Eilschritt aus der Tür gelaufen. Lionel schrak zusammen, duckte sich aber schnell hinter die Hausecke, bevor sie ihn bemerken konnten. »Das ist eine gute Sache«, meinte einer von ihnen. »Auf diese Weise kann André seine Schulden abzahlen.« »Willst du ihn hier wohnen lassen?« Der andere lachte. »Er hat uns doch erst auf diese Idee gebracht, Mann. Natürlich kann er hierbleiben. Solange er sich benimmt.« Beide lachten jetzt. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Während sie sich in ihrem Wagen beschäftigten, schlüpfte Lionel ins Haus und schlich die Treppe hoch. Drei oder vier andere Leute waren noch im Haus, aber sie ignorierten ihn. Was sollte das Ganze? 54
Ganz offensichtlich zogen diese Leute ein. Sie übernahmen das Haus, als wäre es ihr eigenes. Die Kleider, der einzige noch verbleibende Hinweis auf die anderen Familienmitglieder, waren bereits zusammengepackt und beiseite geräumt worden. Lionel rannte die Treppe hinunter, um zu sehen, ob auch der Schlafanzug, der Morgenrock und die Pantoffeln seines Vaters fort waren. Unten traf er auf die beiden anderen Männer, die draußen beim Wagen gewesen waren. Er erkannte sie wieder; es waren Andrés sogenannte »Freunde«, denen er Geld schuldete. »Na, wenn das nicht der Neffe ist!« sagte der größere der beiden. »Wie heißt du noch?« Lionel war nicht ganz so mutig, wie er sich den Anschein gab. »Mein Name ist Washington und das ist mein Haus.« »Ach ja? Dir gehört dieses Haus?« »Meiner Familie.« »Aber deine Familie ist fort, nicht?« »Na und?« »Also brauchst du jemanden, der auf dich und das Haus aufpasst, und das werden wir für dich übernehmen. Kostenlos.« »Wer sagt das?« »Wir sagen das, Kleiner, also hüte deine Zunge. André hat uns erzählt, dass alle außer dir verschwunden sind. Und er ist jetzt der Älteste in der Familie.« »Und das heißt?« »Das heißt, dass nur zwei Leute übrig geblieben sind, die Anspruch auf dieses Haus erheben können, und er ist der älteste davon. Ich meine, er ist doch älter als du, nicht?« »Natürlich.« »Na siehst du.« »Und wo ist mein Onkel André?« »In der Nähe.« »Woher wollen Sie das wissen?« 55