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Prolog Montag, 13. November 1989 Je höher die Sonne stieg, desto dunkler wurde Edith Scotts Welt. Einen Tag wie diesen hatte es noch nie gegeben. Ihr Wollmantel lag schwer auf ihren Schultern. Sie starrte auf die großen Rollen Stacheldraht, die am Grenzübergang Checkpoint Charlie zur Seite gerollt worden waren. Achtundzwanzig Jahre zuvor hatte sie an genau derselben Stelle gestanden. Damals war der Stacheldraht gerade gezogen worden. Neu. Silbrig glänzend. An jenem Tag waren die Grenzen geschlossen worden; an jenem Tag hatten die Kommunisten mehr als eine Million Bewohner Berlins eingesperrt. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, konnte sie kaum glauben, wie dumm sie gewesen war. Trotz aller Warnungen war sie zurückgegangen. Der Preis war zu hoch gewesen. „Edith?“ Jemand berührte sie an der Schulter. Sie zuckte zusammen. „Es tut mir Leid“, entschuldigte sich Ursel, „ich wollte nicht ...“ Edith nahm die Hand ihrer Freundin und drückte sie. „Nein, meine Liebe, mir tut es Leid. Ich war irgendwie ...“ „Ich weiß.“ Sie wusste es tatsächlich. Die liebe, immer freundliche Ursel. Sie wusste als Einzige Bescheid, und Edith liebte sie deswegen. „Wie lange müssen wir noch warten?“, fragte Edith. „Das liegt an dir, mein Liebes. Nach all diesen Jahren freue ich mich einfach, hier mit dir zu stehen.“ Tränen brannten in Ediths Augen. Sie umarmte diese Frau, die ihre Familie war – nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch die Jahre der Hingabe, des Opfers und der Liebe. „Haben wir uns ’60 oder ’61 mit Park im Café Lorenz getroffen?“, fragte Ursel.

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