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Prolog „Was sagen die Menschen, wer ich sei?“1 Diese Frage stellte Jeschua eines Abends ganz unvermittelt, während er mit seinen Jüngern am Lagerfeuer saß. Sie brieten Wachteln an Stöcken, und ihre Schatten huschten über die Felswände ringsumher. Irgendwo draußen schrie eine Eule, und Levi Mattitjahu wischte sich die tränenden Augen, denn Jochanan schürte das Feuer, dass es nur so qualmte. „Was reden die Leute?“, fragte Jeschua. „Sagt mir, für wen sie mich halten.“ Die Jünger waren solche Fragen inzwischen so sehr gewohnt, dass sie nicht einmal aufschauten, während sie antworteten. „Niemand weiß es genau“, murmelte einer und kaute dabei weiter. „Prophet, Lügner, Gesetzesverkünder, Aufrührer, Rabbi, Ketzer, guter Mensch, schlechter Mensch.“ Das alles klang sehr vage, flüchtig wie die Schatten auf den Felsen. Es kostete nichts, zu sagen: „Jeschua? Na ja, eben ein guter Mensch.“ Doch Jeschua ließ ihnen diese Unverbindlichkeit nicht durchgehen. Er forderte ein Bekenntnis seiner Freunde. „Und was sagt ihr, wer ich sei?“ Schimon platzte mit der Antwort heraus, den Mund noch voll, und es war die Wahrheit auf Anhieb. Das überraschte alle – auch Schimon selber. Der war Fischer und kein Poet. Er sprach aus, was ihm in den Sinn kam, und es hörte sich an, als glaube er, was er antwortete. Aber Schimon glaubte es nicht tief im Herzen. Zumindest ging ihm nicht auf, welche Tragweite seine Worte hatten. Wahrscheinlich begriff es niemand in der Runde zu dieser Zeit, was Schimons Worte bedeuteten. Niemand. Noch nicht. Und selbst heute, nach allem, was geschehen ist, kann der menschliche Geist nicht ermessen, wer Jeschua für diese Welt war und ist und was er uns gebracht hat.

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