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50 Jahre "Rotpunkt"
from Bergauf #2.2025
Frei klettern, frei denken: Kurt Alberts einfaches Symbol mit großer Wirkung jährt sich zum 50. Mal.
von Michael Larcher
Rotpunkt!“ – in meinem Tourenbuch finde ich die Notiz zum ersten Mal 1978 – hinter der Eintragung „10. September, Vinatzer“ (Kletterroute am Piz Ciavazes, Dolomiten). Ich war 18 Jahre alt, „Rotpunkt“ gerade drei Jahre jung: Im Frühjahr 1975 malte der damals 21-jährige Kurt Albert an den Einstieg von Kletterrouten im Frankenjura (Fränkische Schweiz, Deutschland) einen roten Punkt, um damit Routen zu kennzeichnen, die er „absolut frei geklettert“ war. 1975, das war zehn Jahre vor dem ersten Kletterwettkampf, 20 Jahre vor den ersten Kletterhallen, 45 Jahre vor dem Einzug des Klettersports in das olympische Dorf.
Ein roter Punkt – Symbol für was? Kurt Albert und Reiner Pickl lieferten die Erklärung in der Zeitschrift Alpinismus (8/1977): „Rotpunkt am Beginn eines Kletterweges bedeutet, es ist möglich, den Anstieg ohne Benutzung der Haken als Griffe oder Tritte oder sonstiger Hilfsmittel, die der Schwerkraft entgegenwirken, in freier Kletterei zu bewältigen.“ Haken, Schlingen, Klemmkeile etc. dienen also nur zur Sicherung. Auch daran auszuruhen ist nicht gestattet.
Rotpunkt – das Regelwerk
Das Nichtbelasten der Sicherungskette und das Klettern im Vorstieg sind die entscheidenden Merkmale einer Rotpunkt-Begehung. Das bedeutet, dass die Route ohne Sturz, ohne Ausruhen im Seil oder Hochziehen an Haken in einem Zug durchstiegen werden muss. Mehrmaliges Probieren der Route vor der Rotpunkt-Begehung ist erlaubt. Wer das Kunststück schafft, eine völlig unbekannte Route beim ersten Versuch Rotpunkt zu klettern, wird belohnt: Er und sie dürfen von einer „Onsight“-Begehung berichten.
Gelockert ist inzwischen auch der Umgang mit den Expressen: Eine freie Begehung mit bereits eingehängten Expressschlingen wäre früher „Pinkpoint“ gewesen und nicht als vollwertige Begehung anerkannt worden. Inzwischen ist diese Strenge Geschichte und als Rotpunkt gilt auch die Begehung einer Route mit vorgehängten Expressen, was an Kunst- und Wettkampfwänden ohnehin Standard ist.
Eine Route mit mehreren Seillängen gilt als Rotpunkt geklettert, wenn er oder sie alle Seillängen vorgestiegen ist. So geschehen z. B. im September 1993. Da kletterte die US-Amerikanerin Lynn Hill als erster Mensch die berühmteste Kletterroute der Welt Rotpunkt – „The Nose“ am El Capitan im Yosemite Valley. Ihren Erfolg kommentierte sie anschließend mit: „It goes, boys“.
Kurt Albert gelingt 1987 – mit dem Tiroler Gerald Sprachmann – die erste Rotpunkt-Begehung der Großen Zinne Direttissima („Hasse – Brandler“). Die Schwierigkeitsbewertung dieser Route, „6/A3“ – „A“ steht für „artificiel“ –, wird seither ergänzt durch „8+“, wenn Rotpunkt geklettert.

Rotpunkt als Schlüssel
Rotpunkt wurde zum wichtigsten Begehungsstil, zu einem Schlüssel, um aus dem „Alpin(ismus)klettern“ die so erfolgreiche Spielform „Sportklettern“ zu entwickeln. Der Klettersport emanzipierte sich von der Ideologie des Alpinismus, in der das Abenteuer mit ungewissem Ausgang seinen Platz haben muss. Sportklettern heute ist Rotpunktklettern ist Freiklettern. Dabei ist Freiklettern nicht – wie häufig missverstanden – Klettern ohne Seil und Sicherung. Im Gegenteil: Die Rotpunktidee konnte sich nur in einer Umgebung durchsetzen, in der ein Totalabsturz ausgeschlossen werden konnte.
Es braucht also Seile, die nicht reißen, und verlässliche Sicherungsmethoden. Beides gibt es seit Mitte der 1960erJahre. Und: Es brauchte verlässliche Haken, Bohrhaken! Denn nichts entscheidet mehr über das Risiko beim Klettern als Qualität und Anzahl der Fixpunkte, der Zwischensicherungen, der Haken. Auch hier hatte sich Entscheidendes getan: Der Bauingenieur Oskar Bühler konstruierte Mitte der 1960er-Jahre einen Haken aus rostfreiem Edelstahl, der in den Fels einzementiert wurde.
Erst als die technischen Voraussetzungen für eine sichere Sturzumgebung erfüllt waren, konnte das Klettern seinen Sportanteil voll entfalten und sich zu einer artistischen Bewegungskunst entwickeln. Mit Bohrhaken als Hardware und Rotpunkt als Software hob die Schwierigkeitsskala in ungeahnte Höhen ab.

By fair means
Der Welterfolg des Begehungsstils „Rotpunkt“ gründet nicht nur im Genieblitz seines Begründers, eines Ausnahmekönners. Der Erfolg des Neuen gründet zum einen in der dem Alpinismus immanenten Suche nach dem „guten Stil“, zum anderen im Zeitgeist der 1970er- und 1980er-Jahre. Freiklettern und Bergsteigen „by fair means“ begleiten den Alpinismus spätestens seit August 1880: Da notierte der britische Alpinist Albert Mummery nach seinem Scheitern am Dent du Géant (Mont Blanc): „Absolutely inaccessible by fair means.“ Noch viele geistige Väter wären zu nennen, jedenfalls Paul Preuß (1886 – 1913), der radikalste Vertreter der Kletterzunft. Sein Credo – „das Können ist des Dürfens Maß“ – ist zum Narrativ der Sicherheitsarbeit im Bergsport geworden. Undenkbar wäre ein Erfolg des Rotpunkt-Stils ohne die Tradition des Klettersports in der Sächsischen Schweiz, im Elbsandsteingebirge. Rudolf Fehrmann veröffentlichte 1913 seinen Kletterführer mit den heute noch gültigen Kletterregeln für die Sächsische Schweiz. Hauptcharakteristikum war und ist der Verzicht auf künstliche Hilfsmittel zur Fortbewegung am Fels. Und dann, natürlich, Reinhold Messner: 1968 lanciert er 23-jährig mit „Direttissima – oder Mord am Unmöglichen“ einen glühenden Appell zum Verzicht auf technische Hilfsmittel. „Man nagelt zu viel und klettert zu wenig“ – so Messners Kritik in Kurzfassung.
1975 – die Zeit war reif für Rotpunkt. Wir erinnern uns: Die UIAA-Schwierigkeitsskala reichte von I bis VI, wobei mit VI+ „eine Freikletterstelle bezeichnet wird, deren Überwindung für die besten Kletterer in Hochform, bei günstigen Verhältnissen unter optimaler Ausnutzung der Felsbeschaffenheit und dem heutigen Ausrüstungsstand einen Gang an der Sturzgrenze bedeutet“. Tatsächlich wurde bereits deutlich schwieriger geklettert – in den USA, in Großbritannien, auch in den Alpen.
Helmut Kiene und Reinhard Karl eröffneten 1977 die „Pumprisse“ im Wilden Kaiser – ihr Bewertungsvorschlag: 7(heute: 7). Reinhold Messners Buch „Der 7. Grad“ erschien 1977 bereits in der zweiten Auflage. Im Mai 1979 gibt die UIAA der Macht des Faktischen nach: Die Schwierigkeitsskala wird geöffnet, zudem werden die verbalen Beschreibungen aufgegeben. Heute reicht die Skala bis UIAA XII bzw. französisch 9c.
Kurt Albert (1954 – 2010)
Eine kurze Geschichte zu 50 Jahren Rotpunkt darf und muss auch eine Verbeugung sein vor Kurt Albert und seinem Vermächtnis: Denn der rote Punkt war das knallige Aufbruchssignal in eine neue Ära und die farbliche Manifestation eines neuen Begehungsstils. Dieser prägt bis heute die Entwicklung einer Sportart auf der ganzen Welt. Am wenigsten mit so viel Aufmerksamkeit gerechnet hat wohl Kurt Albert selbst.
In seiner herausragenden Biographie über Albert schreibt Tom Dauer: „Selbst seinen Rotpunkt betrachtete er nicht als Konzept, geschweige denn als Philosophie – sondern als eine unter vielen Möglichkeiten, der Lust am Klettern nachzugehen.“ Wo Albert war, da war der Spaß am Leben, materielle Dinge waren ihm höchstens Mittel zum Zweck. Neid schien er nicht zu kennen, selbst als ihn andere Kletterer und Freunde wie der große Wolfgang Güllich überflügelten. So charakterisieren ihn jene, die ihn kannten und mit ihm zu den Felsen überall auf der Welt zwischen Karakorum und Patagonien zogen. Im Herbst 2010, im Alter von 56 Jahren, stürzte Kurt Albert durch einen unglücklichen Sicherungsfehler aus einem Klettersteig in der Fränkischen Schweiz – 18 Meter tief.
Autor: Michael Larcher ist Berg und Skiführer, beeideter Sachverständiger für Alpinunfälle und ehemaliger Leiter der Abteilung Bergsport im Österreichischen Alpenverein.
Info: Podcast #48: 50 Jahre Rotpunkt
In diesem Feature blickt Michel Mehle auf die Entstehung und Entwicklung des Rotpunkts zurück und fragt: Was ist geblieben vom damaligen Freiheitsversprechen des Freikletterns? Er spricht mit den Profialpinisten Babsi Zangerl, Alex Huber und Bernd Arnold und lässt sich von Autor und Filmemacher Tom Dauer erklären, was freies Klettern mit freiem Denken zu tun hat.
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