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50 Jahre von Ost nach West
from Bergauf #2.2025
Der Nordalpenweg feiert Geburtstag.
von Gert Kienast
Das ganze Land durch die eindrucksvolle Kulisse der Nordalpen zu durchwandern und über mehrere Wochen hinweg als Tourist im klassischen Sinn unterwegs zu sein: Das ist wohl eines der einprägsamsten Bergabenteuer, die man in Österreich erleben kann. Der Weitwanderweg 01 gibt seit 1975 die Richtung vom Neusiedler See zum Bodensee vor. Nach der Definition im Wegehandbuch des Österreichischen Alpenvereins muss ein Weitwanderweg – um als solcher zu gelten – mindestens 300 Kilometer lang sein und durch drei oder mehr Bundesländer verlaufen. Der Nordalpenweg hat mit diesen Kriterien kein Problem – gleich sieben Bundesländer werden wir auf 1.000 Kilometern besuchen, ja meist sogar der Länge nach durchqueren. Und das in den schönsten Gebirgslandschaften, die unsere Alpenrepublik zu bieten hat.

Los geht’s
… am Neusiedler See: Aber gehen wir es gemütlich an. Wenn wir am Hauptplatz der Freistadt Rust am Ufer des Neusiedler Sees in unsere erste Tagesetappe starten, wandern wir zwar bald durch „Weinberge“, aber die Höhenmeter halten sich noch in Grenzen. Auch der erste Gipfel (Marzer Kogel) und das Rosalien-„Gebirge“ zeigen sich noch sanft. Durch die Bucklige Welt nähern wir uns dem Semmering, knapp davor überschreiten wir zum ersten Mal die Marke von 1.000 Metern über dem Meer. Spätestens hier bietet es sich an, in das festere Schuhwerk zu wechseln, denn schon einen Wandertag später steigen wir hinauf auf die Rax zum Karl-Ludwig-Haus. … oder am Wiener Stadtrand: Wer in Wien zuhause ist, wird wohl eher in Perchtoldsdorf in den Nordalpenweg einsteigen. Auch auf dieser Route müssen wir anfangs nicht mit alpinen Schwierigkeiten rechnen. Und doch übernachten wir gleich am ersten Tag in einer Alpenvereinshütte, dem Peilstein-Haus. Über die Hohe Mandling gelangen wir zur Dürren Wand, nun schon alpin anmutend ermöglicht der Weg uns zahlreiche Blicke auf den Schneeberg und das Alpenvorland. Spätestens dort, auf Niederösterreichs höchstem Gipfel, haben wir verstanden, dass uns der Nordalpenweg nur wenige Verschnaufpausen gönnen wird. Atemberaubend – und das nicht nur im übertragenen Sinne. Gleich am nächsten Tag steigen wir hinunter ins Höllental und auf der anderen Seite wieder hinauf auf die Rax. Wie auf der Route aus dem Burgenland sind wir bis hierher eine knappe Woche unterwegs. Beim Abstieg von der Heukuppe über den Gamsecksteig zeigt der Nordalpenweg kurz einmal seine Zähne, wenig später wandern wir aber bereits wieder über das sanfte Plateau der Schneealpe zum Schneealpen-Haus und auf den Windberg. Wir durchqueren das Mürztal und ein langer, einsamer Wandertag bringt uns zum Meranhaus unter dem Gipfel der Hohen Veitsch.
1975 auf dem Seebergsattel
Am nächsten Tag erreichen wir den Seebergsattel an der Straße Kapfenberg –Mariazell, historischer Boden für den Nordalpenweg: Denn „am Seeberg“ wurde der Weg am 22. Juni 1975 in Anwesenheit von 3.500 (!) Wanderern feierlich eröffnet, gemeinsam mit den Europäischen Fernwanderwegen E4 und E6. Die Festrede hielt Alpenvereins-Altvorsitzender Hans Kinzl. Das vom „Vater der Weitwanderer“ Carl Hermann geschaffene Fernwanderwegekreuz erinnert dort noch heute an diesen Tag.
Der Nordalpenweg ist ein Kind des Erfolgs des fünf Jahre zuvor eröffneten – und ebenfalls über den Seebergsattel führenden – Nord-Süd-Weitwanderwegs (Nebelstein – Wachau – Hochschwab – Eibiswald)(1). Dieser von Hermann geschaffene Weg traf genau den Zeitgeist und wurde von den Wanderern regelrecht gestürmt. So kam bald der Gedanke auf, auch einen Weg in Ost-West-Richtung zu errichten.
Mehrere Jahre dauerten die Vorarbeiten durch die Initiatoren Robert Wurst, Werner Rachoy und Franz Groissböck. Und auch wenn vorerst manches – von den Markierungen bis zum Wanderführer – noch ein Provisorium war, an jenem Junitag konnte der Weg der Öffentlichkeit übergeben werden, damals noch unter dem Namen „West-Ost-Weitwanderweg“.

Gebirge an Gebirge
Fast schon modern anmutender Hüttenkomfort erwartet uns nun im „steirischen Gebirg“, dem Hochschwabmassiv, durch welches der Nordalpenweg nun führt. Die neu errichtete Voisthaler-Hütte, das moderne Schiestlhaus und die frisch sanierte Sonnschien-Hütte erwarten unsere Einkehr und geben uns Schutz vor dem bekannt wechsellaunigen Wetter des Hochschwabs. Auf dem 2.277 Meter hohen Gipfel genießen wir die Aussicht auf mehrere Tourentage voraus und zurück.
Der idyllisch gelegene Leopoldsteiner See markiert das Ende unserer Hochschwabüberquerung, in der Bergbaustadt Eisenerz können wir unsere Akkus wieder aufladen. Der Doppelgipfel des Lugauers steht Spalier, wenn wir den Nationalpark Gesäuse betreten, wir gelangen zur Hess-Hütte und ins Bergsteigerdorf Johnsbach. Hochtor, Hochzinödl, Admonter Reichenstein und Admonter Kaibling stehen am Wegesrand – typisch für den Nordalpenweg, dass er sich geschickt zwischen Gipfeln hindurchschlängelt, uns aber prächtige Ausblicke bietet und lohnende Abstecher anträgt.
Mit Oberösterreich betreten wir am Pyhrgasgatterl bereits das vierte Bundesland auf unserer Wanderung, Spital am Pyhrn ist unser Basislager für die Durchquerung des Toten Gebirges. Egal, ob wir die Standseilbahn auf die Wurzeralm benutzen oder „by fair means“ entlang der Skipiste aufsteigen: Mit dem Gipfel des Warschenecks (2.388 m) und der Kammwanderung dorthin erwartet uns am nächsten Tag wieder eine aussichtsreiche Wanderung.
Über Vorder- und Hinterstoder gelangt der Nordalpenweg in den westlichen Teil des Toten Gebirges. Der Übergang vom Priel-Schutzhaus zur Pühringer-Hütte leitet uns durch eine eindrucksvolle Karstwüste, die rot-weiß-roten Markierungen sind der einzige Hinweis darauf, dass hier gelegentlich Menschen unterwegs sind. Albert-Appel-Haus, Loser- und Lambacher Hütte sind die weiteren Stationen, bevor wir nach fast einer Woche im Toten Gebirge nach Bad Goisern kommen.

Gute Frage: 01 oder 01A?
Dort stellt uns der Nordalpenweg vor die Wahl – und dies wird er in seinem Mittelteil noch öfter tun: Wählen wir die (Haupt-) Route über das Dachsteinplateau oder die etwas zahmere, kürzere, landschaftlich aber nicht minder schöne Route 01A drum herum? Hier haben die Planer des Weges an alles gedacht, in den 1970ern war die Ausdehnung des Gletschers auf dem Dachstein noch eine andere, der Weg unter dem Gosaukamm bot damals wie heute eine entspanntere Alternative. Nahe der Hofpürgl-Hütte treffen die zwei Routen wieder aufeinander und –nun bereits in Salzburg – durch die südlichen Ausläufer des Tennengebirges mit der Söldenhütte erreichen wir die Salzach und somit einen Meilenstein auf unserer Wanderung von Ost nach West: Halbzeit auf dem Nordalpenweg.
Es ist sicher ratsam, den folgenden Aufstieg auf den Hochkönig auf zwei Tage zu verteilen, und das nicht nur wegen der knapp 2.400 Meter Höhenunterschied. Am folgenden Tag erwartet uns nämlich die längste Etappe der gesamten Tour. Zehn bis zwölf Stunden Gehzeit sind für die Überschreitung des Hochkönigstocks zum Riemannhaus zu veranschlagen, die Schwierigkeiten auf dem Herzogsteig nicht zu vernachlässigen. Will oder muss man diese Etappe teilen, ist dies lediglich im Wildalmkirchl-Biwak möglich, dafür wird man dort mit einer einsamen Nacht belohnt.
Wer am Matrashaus keinen Schlafplatz bekommt oder sich die lange Überschreitung nicht zumutet, kann auf eine Route auf der Südseite des Hochkönigs ausweichen, die durch die grünen Hänge unterhalb der schroffen Felsen verläuft: über die Mitterfeldalm zur Erich-Hütte und nach Maria Alm, wo dann der Aufstieg zum Riemannhaus beginnt. Die beiden Routen wieder vereint, durchqueren wir das Steinerne Meer zum Ingolstädter Haus und über die Kallbrunnalm gelangen wir nach Lofer. Bereits im sechsten Bundesland überschreiten wir das Kaisergebirge, nächtigen dabei im Stripsenjoch-Haus zwischen Wildem und Zahmem Kaiser, in Kufstein überqueren wir den Inn. Eine längere Verbindungsetappe (hier müssen wir einige Forststraßenkilometer in Kauf nehmen) bringt uns in das Bergsteigerdorf Steinberg am Rofan. Über den Schafsteig steigen wir steil hinauf zur Rofanspitze und zur Erfurter Hütte, wo wir einen prächtigen Blick auf den Achensee genießen. Spätestens jetzt beginnt das letzte Drittel unserer Wanderung.
Das Karwendelgebirge durchqueren wir auf der Route des Karwendelmarschs (wenn auch in die Gegenrichtung), im Gegensatz zu den Teilnehmer*innen dieser jährlichen Veranstaltung dürfen wir uns aber mehrere Tage Zeit nehmen, um die Schönheit der Berglandschaft zu genießen. In Scharnitz müssen wir uns entscheiden, ob wir die Zugspitze (und damit den höchsten Punkt des Nordalpenwegs) mitnehmen oder die gemütlichere Route durch das Gaistal wählen. Die meisten Begeher*innen begnügen sich hier damit, die Zugspitze von der Aussichtsterrasse der Wolfratshauser Hütte zu bewundern.

Aus zwei werden zehn
Gemeinsam mit dem Nord-Süd-Weitwanderweg bildete der Nordalpenweg die Grundlage für das heute zehn Routen umfassende Netz der österreichischen Weitwanderwege, welches bis Mitte der 1980er-Jahre entstand. Bereits bald nach der Eröffnung unseres „West-Ost-Weges“ im Jahr 1975 erstellte Min.-Rat Robert Wurst den so genannten „Generalplan für ein Österreichisches Weitwanderwegenetz“. Der Nordalpenweg erhielt in diesem Dokument seinen endgültigen Namen sowie die Wegnummer 01 zugewiesen2
Vier Weitwanderwege in Ost-WestRichtung und fünf Wege in Nord-SüdRichtung wurden angelegt, ein weiterer führt sternförmig aus den östlichen Bundesländern nach Mariazell. Die Weitwanderwege nutzten das bestehende Wegenetz, die eingangs genannten Kriterien sorgten dafür, dass diese quer durch unser Land verlaufen. Die Markierung und Betreuung der einzelnen Wege erfolgt durch die örtlich zuständigen Sektionen alpiner Vereine in den jeweiligen Arbeitsgebieten, die 1978 gegründete Sektion Weitwanderer des Österreichischen Alpenvereins hat die Betreuung der Weitwander*innen übernommen. Dies umfasst die Herausgabe der Wanderführer, Beratung und Auskunftserteilung sowie die Vergabe der Abzeichen nach erfolgter Durchwanderung dieser Wege. Über 900 Begeher*innen haben das goldene Nordalpenwegsabzeichen seit 1975 erhalten. Rund 75 Personen konnten bisher alle zehn Weitwanderwege – das sind rund 8.000 Kilometer – zur Gänze absolvieren, einem Wanderer gelang dieses Kunststück sogar zweimal.
Lechtaler Höhenweg, Vorarlberger Finale
Ab der Wolfratshauser Hütte verläuft der Nordalpenweg auf einem der schönsten Höhenwege, die unser Land zu bieten hat. Die nächsten Tage werden wir in den Lechtaler Alpen verbringen und länger nicht ins Tal gelangen, die Alpenvereinshütten geben nun den Etappenrhythmus vor. Die Loreahütte (Selbstversorger!) und die Anhalter Hütte sind unsere nächsten Stationen.
Anspruchsvoller geht der Weg westlich des Hahntennjochs weiter, speziell bei den Schartenübergängen müssen wir öfters die Hände benützen und greifen gerne zu den Seilversicherungen.
Mit der Memminger Hütte erreichen wir einen Weitwanderknotenpunkt. Hier kreuzt der Europäische Fernwanderweg E5, eine der beliebteren „Alpenüberquerungen“. War unser Weg bisher nie überlaufen, hier müssen wir die Schlafplätze mit zahlreichen Nord-Süd-Wanderer*innen teilen. Zum Glück währt der Rummel nur kurz –bereits auf dem Weiterweg zur Ansbacher Hütte sind wir wieder auf ruhigeren Wegen unterwegs. Über die Leutkircher Hütte gelangen wir zum Arlberg, wahlweise über die Valluga oder über die Alpe Rauz wandern wir nach Zürs.
Vom Bodensee trennt uns nun noch das Lechquellengebirge. Durch unerwartet grüne Landschaften gelangen wir zur Freiburger Hütte am bekannten Formarinsee. Der Hohe Freschen markiert schließlich den letzten Zweitausender auf unserer Tour. Langsam schraubt der Nordalpenweg seine Schwierigkeiten zurück, die letzten Wandertage genießen wir auf sanften Wegen im Bregenzerwald und entlang der Bregenzer Ach gelangen wir ans Ufer des Bodensees. Ein kurzes Stück noch, dann stehen wir zwischen Seebühne und Bahnhof, wo unsere Wanderung endet. Um viele Erfahrungen reicher werden wir lange zurückblicken auf diese erlebnisreichen 1.000 Kilometer in Österreichs Bergwelt.

(1) Siehe Bergauf #2.2020, „Richtungsweisend, 50 Jahre NordSüdWeitwanderweg“.
(2) Siehe Bergauf #3.2023, „Kein Weg zu weit“.
Autor: Gert Kienast, geboren 1972, Studium der Technischen Mathematik / Informationsverarbeitung in Graz. Vorsitzender und Tourenführer des Alpenvereins Weitwanderer.
Info: Tipps zur Begehung
Literatur: Erika & Fritz Käfer: Nordalpenweg 01. Kompakter Wanderführer im Eigenverlag der ÖAV Sektion Weitwanderer. 2025 neu erschienen und erhältlich bei freytag & berndt
Charakteristik: Alpiner Weitwanderweg durch die Nördlichen Kalkalpen. Trittsicherheit und Bergerfahrung sind jedenfalls notwendig, immer wieder trifft man versicherte Kletterstellen, Gletscherbegehungen sind keine erforderlich. Anspruchsvolle Abschnitte können oft auf Varianten umgangen werden. Nur wenige Gipfel liegen direkt am Weg, zahlreiche Gipfelziele können aber „mitgenommen“ werden.
Übernachtung: Vorwiegend auf Hütten alpiner Vereine bzw. in Gasthöfen in Talorten. Sofern man nicht in der Gruppe unterwegs ist, findet sich auf Alpenvereinshütten meist auch kurzfristig Platz, an Wochenenden ist an einigen neuralgischen Punkten jedoch eine Reservierung dringend anzuraten.
Wegmarkierung: rot-weiß-rot 01, der Wegnummer wird je nach Gebirgsgruppe noch eine Hunderterstelle vorangestellt (z. B. 201 im Toten Gebirge, 601 in den Lechtaler Alpen)
Startpunkte: Rust am Neusiedler See bzw. Perchtoldsdorf
Ziel: Bregenz / Bodensee
Länge: rund 1.000 km, je nach Routenwahl und persönlichen Vorlieben ca. 55 – 65 Tagesetappen
Öffentliche Verkehrsmittel: In zahlreichen Talorten besteht gute öffentliche Verkehrsanbindung, was eine Begehung des Nordalpenwegs in Etappen ermöglicht.
Höchster Punkt: Zugspitze (2.962 m)
Tiefster Punkt: Rust (123 m)