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Wir brauchen mehr Arbeit statt mehr Work-Life-Balance
from Nota bene 26
by Mateo Sudar
Nichts wird in Deutschland so vehement verteidigt wie die eigene Komfortzone. Kaum meinte Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände, in Deutschland brauche es generell mehr „Bock auf Arbeit“, ging es hoch her. „Frech“ sei so eine Behauptung, war noch ein netterer Kommentar. Als Kampeter dann noch sagte, eine gute Work-Life-Balance bekomme man auch mit 39 Stunden Arbeit in der Woche hin, brach eine Wutwelle los nach dem Motto: der Arbeitgeber, der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausbeuten will.
Doch alle, die glauben, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt könne in Teilzeit im internationalen Wettbewerb bestehen, sollten dann wenigstens der früheren SPD-Arbeitsministerin zuhören. Andrea Nahles ist unverdächtig, dem Kapitalismus zu frönen. Die heutige Chefin der Bundesagentur für Arbeit meinte aber jüngst, Fragen der Work-Life-Balance müssten neu ausgehandelt werden. In Richtung der jüngeren Generation machte sie deutlich: „Arbeit ist kein Ponyhof.“
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Was Arbeitgeber und Arbeitsagenturchefin umtreibt, sind die Fakten. Erst 2031 wird die Regelaltersgrenze von 67 Jahren für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreicht. Entscheidend dabei ist der vorzeitige Rentenbezug. Seit seiner Einführung im Jahr 2014 haben schon mehr als zwei Millionen Beschäftigte den vorzeitigen Rentenbezug in Anspruch genommen. Allein 2021 waren es fast 269.000 Beschäftigte, das sind 26,3 Prozent aller Neurentner. Auf der anderen Seite gibt es die Jüngeren, die andere Prioritäten im Arbeitsleben setzen als die Babyboomer.
Rente: Es fehlen 400.000 Fachkräfte jährlich
Doch ob Jung oder Alt, die demografische Entwicklung trifft alle. Jedes Jahr fehlen heute schon über 400.000 Fachkräfte, um den Beitragssatz in der Rentenversicherung konstant zu halten. Das entspricht der Einwohnerzahl einer Stadt größer als Wuppertal.
Selbst wenn wir im Inland alle Potenziale ausschöpfen, angefangen bei einer höheren Frauenerwerbstätigkeit bis hin zu einer längeren Lebensarbeitszeit, es bleibt eine Arbeitskräftelücke. Auch mehr Einwanderung und eine erleichterte Staatsbürgerschaft helfen uns nicht entscheidend weiter.
Was es angesichts dieser Lage deshalb nicht braucht, sind bornierte Abwehrreflexe und Schuldzuweisungen. Wenn jemand es mit der Rettung des Rentensystems ernst meint, muss er über eine längere Lebensarbeitszeit reden. Die Relation zwischen durchschnittlicher Arbeitszeit und Rentenlaufzeit darf nicht weiter auseinanderdriften. Das Verhältnis sollte gleichbleiben. Wir müssen alle länger arbeiten. Über das Wie müssen wir reden.
Thomas Sigmund
Quelle: Thomas Sigmund, Handelsblatt