Das neue TRAFO Magazin

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Trafo Aus der Neustadt für die ganze Stadt

#leichtverständlich #fotolastig #künstlerisch #unperfekt Nr. 2 | Herbst 2021

Menschen in der

Intro Editorial 3 Impressum 35 Neuigkeiten Zeig uns deine Neustadt 4 Unterschiedlich gemeinsam 5 Liebeskummer lohnt sich nicht 10 Zivilgesellschaft In der Türkei bin ich die Deutsche und in Deutschland bin ich die Türkin 10 Kinder & Jugend Flensburgs Stadtschülersprecher:innen: Wie blickt ihr in die Zukunft? 22 PARAPLY – Hör-Geschichten für die Familie 28 Ab ins Grüne 29 Sailor Moon 30 Neustadtperspektiven Monika Schleh 6 27 Jahre EDEKA Hartwig & Senol 17 Dirk Dillmann im Gespräch 32
Stadtverwaltung Wir sitzen im Rathaus, sind ansprechbar 31 Stadtentwicklung Die Neustadt. 225 Jahre Geschichte in 2 Teilen. 7 Die ersten acht Wochen im Sultanmarkt 11 Kunst & Kultur Der Kunst Supermarkt – ein Einkaufsbericht 14 Ansichts Sachen 2021 20 Syrische Comics 34 Die „Katzenkünstlerin“ 34 Autodidakten aus Flensburg 34 Inhalt

„Transformation in der Neustadt“

Das erste Teamtreffen vor Ort: von links nach rechts; Jovana Gonnsen, Sameh Alkali, Katja Hofschöer-Elbers, Lothar Baur

Da ist sie nun. Die zweite „TRAFO“

Mit der ersten Ausgabe haben wir uns selbst eine hohe Messlatte gelegt. Aber eure Rückmeldungen haben uns gezeigt: Das Stadtteilmagazin kommt an. Die erste Ausgabe war komplett Neuland und ein riesengroßer Lernraum für uns. Wir haben Erfahrungen gesammelt und dazu gelernt. Wir haben Corona getrotzt und mit dem Magazin Verbindungen ermöglicht, in einer Zeit, die durch Distanz geprägt war. Jetzt können wir auf diesen Erfahrungen aufbauen.

Auch mit unserem zweiten Magazin geben wir den Anspruch nicht auf, leicht verständlich zu sein und auch Fotos werden als Fenster in den Stadtteil immer eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen weiterhin Fragmente dieses Stadtteils präsentieren, Menschen und Geschichten aus dem Quartier vorstellen und darüber hinaus informieren. Auch den Fokus auf Kinder- und Jugendprojekte behalten wir bei. Sogar ein kleines Rätsel hat Lucie Morin für die junge Leserschaft eingebaut.

Wir freuen uns sehr, für die Zweitausgabe Schreiberinnen dazu gewonnen zu haben. So wirft Maya Trampler einen Blick in die Geschichte diesen Stadtteils - schließlich ist die Neustadt bereits stolze 225 Jahre alt. Wir freuen uns auf Geschichten unter dem Regenschirm – einem Projekt anlässlich des Weltkin-

dertages, von dem uns die Initiatorin erzählen wird. Wir lassen das Sprachrohr von Flensburgs Schüler*innen zu Wort kommen und unterhalten uns mit jungen Neustädterinnen über Rassismuserfahrungen. Und auch die ganz jungen Perspektiven liegen uns am Herzen: Schülerin Sunny nimmt uns mit in ihre Welt, in der ihr Hund eine große Rolle spielt.

Außerdem gespannt sein dürfen Sie und Ihr auf: Fotoserien aus dem Stadtteil, Rückblicke in die Stadtteilentwicklung mit den Sportpiraten, sowie Einblicke in die Vergangenheit und aktuelle Zwischennutzung des alten Edekamarktes. Und natürlich dürfen Sie sich und Ihr euch auf Leckereien aus der Kunst- und Kulturszene freuen, die wieder richtig aufblühen möchte.

Neu in dieser Ausgabe ist die Verwendung von QR-Codes, mit denen wir auf tolle audio-visuelle Projekte verweisen und Interview-Fortsetzungen Platz geben möchten. Scannt euch einfach durch, oder schaut unter www.8000eins.de vorbei.

Wir hoffen, dass diese Ausgabe wieder so viel Zuspruch findet wie die Erste. Bitte lassen Sie und Ihr nicht nach, uns zu schreiben und Vorschläge für Themen zu machen. Die Nachrichten, die wir bekommen haben, spiegeln sich alle in den Themen dieser Ausgabe wieder. Vielen Dank!

3 Intro
Editorial
Lothar Baur & Katja Hofschröer-Elbers

Zeig uns deine Neustadt

aus der Redaktion, Fotos: Hans Hansen

„Viele bekommen, wenn sie nach Flensburg ziehen, direkt gesagt – Geh‘ nicht in die Neustadt, aber ich sage: Geh‘ in die Neustadt!“

Mit dieser klaren Aufforderung wendet sich die junge Flensburger Künstlerin Dana Paulsen an alle, die nach Flensburg ziehen wollen und an alle, die schon in Flensburg wohnen, aber die Neustadt noch nicht so gut kennen.

Neustadtliebe

Ob werkelnd im Atelier, Drei Gänge-Menü zusammenstellend entlang der Hauptstraße Neustadt oder auf dem Longboard zum Strand cruisend, Dana macht Laune für ihre Neustadt, in der sie wohnt und sich sichtlich wohlfühlt.

Zum Glück Neustadt

In einer anderen Szene erklärt Shvan Assad, warum er sich in der Neustadt so wohl fühlt wie selten in seinem Leben. Er nimmt uns mit ins türkische Café, zeigt uns orientalische Dekoration und erklärt uns seine Kochleidenschaft. Er zeigt uns, was ihn persönlich fasziniert und erzählt uns, was es bedeutet ohne Angst morgens aufzuwachen.

Eingefangen hat diese Szenen der Filmemacher Hans Hansen, einige Tage lang war er mit Dana und Shvan unterwgs. Unsere Neustadtprotagnonist*innen nehmen uns mit in ihre Welt und teilen ganz persönliche Lebensausschnitte und Sichtweisen auf den Stadtteil. Vom Filmprofi geschnitten und vertont stellen „Neustadtliebe“ und „zum Glück Neustadt“ einen tollen Auftakt einer wachsenden Videoreihe dar.

Stadtteilmosaik

Denn im Zusammenklang mit den anderen Videos entsteht ein buntes Bild der verschiedensten BewohnerInnen der Neustadt. Weitere Clips sind bereits in Arbeit. Wie zum Beispiel der von Lilian Grzesiak, die euch in dieser Ausgabe schon mal mit einem Rätsel unterhalten möchte.

Du wohnst in der Neustadt und hast Lust, uns DEIN Viertel zu zeigen? Schreib uns an, wir wollen weitere Perspektiven einfangen! Von uns bekommst du einen Tag professionelle Hilfe, um deinen ganz individuellen Clip zu produzieren. Gesponsert wird das von der„Transformation in der Neustadt“

Okay, das Ostseebad kommt vielleicht in jedem zukünftigen Clip vor – wie viele Stadtteile haben schon einen Strand vor der Haustür – aber dein Clip kann und darf komplett anders aussehen. Zeige uns deine Sicht auf die Neustadt; welche Plätze, Orte und Szenen gehören zu dir? Hier ist Platz für deine Favoriten und deine Persönlichkeit.

Kontakt: erfundenesland@posteo.de redaktion-trafo@posteo.de

„Ich bin so einen langen Weg gekommen bis hier, das ist Glück, das ist ein Geschenk.“

Den QR-Code scannen und los geht‘s mit den Clips: Dana Paulsen und Shvan Assad zeigt uns ihre Neustadt. 8000eins.de/transformation-in-der-neustadt

4 Neuigkeiten

Unterschiedlich gemeinsam

Fotoprojekt geht in die zweite Runde Text: Lothar Baur, Fotos: Tilman Köneke

Die Corona Situation war zwar nicht entspannt, aber Begegnungen an der frischen Luft im öffentlichen Raum waren möglich. Darauf hatte Tilmam Köneke gewartet, denn sein Projekt „Unterschiedlich gemeinsam“ sollte endlich wie geplant durchstarten.

Dafür baut er an verschiedenen Orten in der Neustadt ein mobiles ‚Studio‘ auf. Damit das auch bemerkt wird, helfen ihm ‚Animateure‘, welche die Passant:innen in Gespräche und Situationen verwickeln, um sie für eine Teilnahme an dem Projekt zu begeistern.

Das Ziel des Flensburger Fotografen, der ein Atelier in der Neustadt hat, ist es, Leute

zusammen auf ein Foto zu bringen, die sich (bisher) noch gar nicht kennen, obwohl sie im selben Stadtteil wohnen. Aber "Würde überhaupt jemand mitmachen? Und wenn ja, wer würde sich heute begegnen?".

Die ersten Erfahrungen sind vielversprechend und haben den Fotografen ermutigt, an weiteren Orten unerwartet aufzutauchen. Wenn es wieder möglich ist, dann sollen alle TeilnehmerInnen zu einem gemeinsamen Treffen eingeladen werden. Solange finden sich die Fotos hier im TRAFO Magazin und bald an diversen anderen Orten in der Flensburger Neustadt.

„Menschen, auch wenn sie sich nicht kennen, können aufeinander zugehen und sich begegnen“ fasst Tilman Köneke seine Erfahrungen zusammen. Klar, in der Neustadt jedenfalls geht das. Und hoffentlich überall sonst auch.

Neuigkeiten
„Menschen, auch wenn sie sich nicht kennen, können aufeinander zugehen und sich begegnen“

„Es war eine super Aktion und ich denke immer noch gerne an die Zeit zurück als wir die erste Mega-Blumenaktion gestartet haben. Und jedes Jahr wurde es besser.“

Monika Schleh

Text: Lothar Baur, Fotos: Katja Hofschröer-Elbers

Viele Tage lang wurden Blumenkästen gebaut und deren Bepflanzung und Verteilung rechts und links der Neustadt Straße geplant. An einem einzigen Tag wurde das Projekt dann umgesetzt. Was für eine positive Veränderung ! Federführend war dabei Monika Schleh, die von November 2008 bis März 2021 beim Verein Flensburger Norden beschäftigt war. Jedes Jahr auf‘s Neue sorgte sie dafür, dass der Blumenschmuck die Neustadt verschönert. 2021 hat sie die Neustadt aus familiären Gründen Richtung Niedersachsen verlassen. Wie schade.

Hier kommt unser Gruß an eine, die mit geholfen hat, dass Image der Neustadt zu ändern. Vielen Dank!

Bilder aus dem Archiv: 13 Jahre lang hat Monika die Neustadt begrünt Archivfotos: Verein Flensburger Norden

6 Neustadtperspektiven

Die Neustadt. 225 Jahre Geschichte in 2 Teilen.

Die TRAFO-Redaktion geht auf Spurensuche und gräbt das ein oder andere interessante Detail hervor. von Maya Trampler

Wo lebe ich eigentlich?

Geht man spazieren in der Neustadt begegnen einem Obstund Gemüsehändler, Friseure und Baustellen, Leerstand und vielfältiges Leben. Aus Ruinen entsteht Neues. Das ist vernehmbar. Die Neustadt wird saniert und umgestaltet. Es scheint ein wiederkehrendes Thema zu sein. So hat es in dem Stadtteil, der sich nicht selten mit einseitigen und vorurteilsbehafteten Konnotationen konfrontiert sieht, immer wieder Momente des Abbruchs und der Erneuerung gegeben – ein Blick in die Geschichte zeigt dies ziemlich eindrücklich.

Von Meuchelmördern und allerlei Gesindel

Seit 225 Jahren existiert das Viertel, das außerhalb Flensburgs Stadtmauern entstand. Es wurde zunächst entgegen des Willens der Flensburger Kaufleute zur Bebauung frei gegeben. Denn „die Bürger der Stadt sollten eigentlich geschützt werden vor allerhand los und leichtfertigen Gesindel sowie vor Meuchelmördern, die anderenfalls dort Unterschlupf finden könnten.“ So lautete zumindest die offizielle Begründung (Direktor des Stadtarchivs, Dr. Broder Schwennsen).

der Kaufleute vor Konkurrenz, ein weiterer Grund waren, wird auch vermutet.

Die Geburtsstunde der Flensburger Neustadt

Flensburg platzt zu diesem Zeitpunkt wortwörtlich aus allen Nähten. Es ist 1780 und „die beengten Verhältnisse verschlechtern die hygienischen Verhältnisse derart, dass die Stadtführung nicht umhin kommt das Bebauungsverbot vor den Toren zu lockern.“ (Dr. Broder Schwennsen). Es soll noch mehr als 15 Jahre dauern bis die offizielle Verkündung mittels Plakat das „Ramsharder Feld“ für die Siedler freigibt, nämlich im Februar 1796.

Also entstehen zunächst entlang der Hauptstraße ein paar Gebäude, die sowohl wirtschaftlichen als auch wohnlichen Zwecken dienen. Laut Stadtarchiv werden die zu dieser Zeit typischen Flensburger Produkte produziert und vertrieben: Zucker, Tabak, Öl, Seife, Korn- und Branntwein. Flensburg blickt auf ein koloniales Erbe zurück, das von Sklavenhandel und Ausbeutung gezeichnet ist. Im 18. Jahrhundert war die Stadt mit ihrem Hafen der Hauptumschlagsplatz der dänischen Westindienflotte und gelangte dadurch zu Wohlstand und Bedeutung. Der importierte Zucker wurde von hier aus weitervertrieben oder für Rumprodukte verwendet.

Årsmøde – dänisches Jahrestreffen.

In der Mitte ist Dittmers Eisengießerei zu sehen, im Hintergrund die Straßenbahn und das Nordertor zu erahnen. Das Bild entstand 1934, Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt

Dass auch ökonomische Interessen, nämlich die Erhaltung der zu dieser Zeit explodierenden Immobilienpreise sowie der Schutz

Stadtentwicklung
Foto: Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt

Zu den erstgenannten Betrieben kommen noch klassische Handwerksbetriebe wie Tischlereien, ein Zimmermeister, ein Schuhmacher und ein Malermeister hinzu. Als erstes Industriegebäude erwähnt wird die Ziegelei (Neustadt 37), die sich schon vor der Bebauungsphase dort niedergelassen hat, sowie die Bergmühle, erbaut 1792, die eines der ältesten Wahrzeichen der Neustadt ist. An der jetzigen Harrisleer Straße entstehen Arbeiterwohnungen, die sich zum Teil noch heute dort befinden.

Motor und Gesinnungsprägend zugleich: die Industrie

Ein wesentlicher Faktor für die generelle Entwicklung der Neustadt ist laut o.g. Stadthistoriker die Industrialisierung. Nachdem sich die erste Siedlergeneration mit herben Verlusten konfrontiert sieht und der dänische Staat in die napoleonischen Kriege hineingezogen wird, muss um 1832 herum jeder 10. Flensburger aus der Armenkasse unterstützt werden.

Ab 1835 wendet sich die wirtschaftliche Lage wieder zum Guten. Die frühindustrielle Revolution macht auch vor den Toren Flensburgs nicht halt.

Es entstehen Betriebe wie die Eisengiesserei Dittmann und Jensen (Neustadt 40), von dieser sind noch die Fabrikantenvilla (rechts daneben) und einige Fabrikgebäude übrig.

Noch später entsteht das Gaswerk, von dem sich auch der Name Gasstraße ableitet. P.P.Voß betreibt in der Feldstraße eine Salzfabrik, Stahnke und Jensen die Glashütte, die noch als Bushaltestelle und gleichnamige Kneipe im Alltagsbewusstsein verankert sind.

Viel später wird das Viertel mit der Werft und den Stadtwerken an wirtschaftlicher Gewichtung zunehmen. Straßennamen wie die Meiereistraße oder der Brauereiweg erinnern noch an vergangene Zeiten, als die Neustadt noch viel stärker von der Industrie geprägt war, als sie es derzeit ist.

Die Schlacht am Dreiecksplatz

So wie im übrigen Stadtgebiet weist die Neustadt Narben kriegerischer Kämpfe auf. Nicht unerwähnt bleiben soll deshalb die Schlacht am Dreiecksplatz. Dort erinnert noch ein altes Denkmal an die Gefallenen deutsch-Gesinnten des ersten Schleswig-Holsteinischen Krieges (Auf dänisch: Treårskrigen)

Das Kieler Studenten- und Turnerkorps und die Soldaten der

provisorischen Schleswig-Holsteinischen Armee hatten sich 1848 zusammengeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt unterstand das Herzogtum Schleswig dem Befehl des dänischen Königs. Die Grenze reichte bis hinunter zum Eider. Das Herzogtum Holstein war dem deutschen Bunde angeschlossen. Schleswig wurde von dänischer Seite regiert. Ohne Anerkennung des dänischen Königs bildete sich zu dem Zeitpunkt in Kiel eine provisorische Regierung, die versuchte sich unabhängig zu machen. Ziel war die Aufnahme Schleswigs im Deutschen Bund und die Bildung einer Schleswig-Holsteinischen Volksarmee.

Die dänische Armee hatte das Gebiet schlussendlich nach harten Kämpfen am Dreiecksplatz umzingelt und die Gegner gefangen genommen.

Während dieser kriegerischen Auseinandersetzung starb ein Major namens Michelsen, dessen Aufgabe es war die Stellung so lange wie möglich zu halten. Die Michelsenstraße erinnert an den gefallenen Major und der Turnerberg an den aus Kiel stammenden Studenten- und Turnerkorps, der während der Schlacht faktisch ausgelöscht wurde.

Turbulente Zeiten

Bis zum abermaligen industriell geprägten Aufschwung zum Beginn des 20. Jahrhunderts durchlebt die Neustadt weitere tiefgreifende Veränderungen. So werden einerseits Infrastrukturen ausgebaut - die Neustadt erweitert sich z.B. mit der Apenrader Chaussee in den Norden – und andererseits verursachen die Weltwirtschaftskrise und das Ringen um die Vorherrschaft in den Herzogtümern drei Währungsumstellungen sowie die Verschiebung der Grenze bis weit hinauf ins dänische Territorium. 1871: Flensburg ist von nun an Teil des deutschen Kaiserreiches.

Die 2.industrielle Welle

Rund um die Galwiker Bucht wächst kurz darauf Flensburgs – damals – größtes Industriegebiet heran. Es entstehen die Werft, die Aktienbaruerei, das neue

Elektrizitätswerk und der Schlachthof. Um die Bauer Landstr. herum entstehen weitere Arbeiterwohnungen aber auch ein paar Villen, die bis heute noch erhalten sind.

Die Bergmühle auf „Dicker Willis Koppel“ ist heute noch dort zu sehen. Die Werft zog weiter Richtung Norden.

Verein Flensburger Norden

Mit dem Bau der FSG (Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft) wird im Jahre 1872 der Übergang vom Segel- zum Dampfschiff markiert. Für eine Kaufsumme von 21.000 Talern wird das Gelände auf der Hafenwestseite erstanden und anschließend bebaut. Später um 1900 entsteht die neue Werft am Ostseebad, die alte an der Werftstraße dient weiterhin als „Ausrüstungswerft“.

8 Stadtentwicklung

Sozialstruktur

Dreiecksplatz um 1900: Das Denkmal wurde später um ein paar Meter nach hinten versetzt. Blickrichtung Gasstr. von der Harrisleer Str. aus fotografiert

Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt

Der Dreiecksplatz heute Foto: Maya Trampler

Neustadt Blickrichtung St.Petri, daneben die Flügel der Bergmühle, im Vordergrund die Strassenbahn, 1960-1963, Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf:in unbekannt

Gewählt wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts vornehmlich Rot: Die SPD hat einen Wähleranteil von bis zu 80%. Sogar dänisch-Gesinnte, von denen es in der Neustadt sehr viele gibt, schließen sich laut Schwennsen „durch die gelebte sozialdemokratische Infrastruktur“ eher der Arbeiterpartei an, als ihre eigenen Leute zu wählen.

Als Arbeiterviertel ist die Neustadt also entstanden und so wird es auch immer noch von vielen wahrgenommen. Dennoch begegnen einem interessante Zahlen, so liegt der Anteil der Freiberufler, Fabrikanten und Beamten in der erwerbstätigen Neustädter Bevölkerung im Jahre 1847 noch bei 27% und ist im Laufe der Jahre bis 1987 auf nur 6,5% gesunken.

Die Zusammenhänge in der Sozialstruktur sowie die 2 Weltkriege und deren Folgen werden wir in einem zweiten Teil beschreiben.

Gleiche Perspektive, 61Jahre später, Die Flügel der Bergmühle sind verschwunden und auch die Straßenbahn fährt nicht mehr, Foto: Maya Trampler

Quellen:

*Dr. Broder Schwennsen, Stadtarchiv Flensburg

*Vom Land zum Stadtteil, Gerret Liebing Schlaber, Flensburg 2009

*Archiv der Dansk Centralbibliotek

*„Als die Werft an der Werftstraße lag“, https:// www.shz.de/195975 ©2021

*Verein Flensburger-Norden

9 Stadtentwicklung

Liebeskummer lohnt sich nicht

Eine Geschichte und ein Quiz von und mit Lilian Grzesiak aus der Redaktion, Fotografie: Utrich Borchers

Lilian Grzesiak ist Neustädterin. Sie hat zahlreiche Geschichten geschrieben und viele davon veröffentlicht. Es sind auch zwei eigene Geschichtenbände von ihr erschienen.

Mit ihrem Text „Festival der Liebe in vielen Schlagern“ hat sie ein unterhaltsames Werk geschaffen, dessen Text nahezu vollständig aus Schlagern und Musiktiteln besteht. Wie viele Musiktitel kommen in dieser Geschichte vor? Wer das herausfindet, kann ihren Geschichtenband „Ach Herbert, ein fast realer Briefwechsel“ gewinnen.

Zu erreichen ist das ‚Festival‘ und das Quiz über den QR-Code. Außerdem laden wir die ersten 25 Einsender:innen zu einer Live Lesung ein.

In der Türkei bin ich die Deutsche und in Deutschland bin ich die Türkin

Was Rassismus bedeutet – ein Podcast Eda Garipkus im Gespräch mit Dana Paulsen

„Ich war schon frustriert, als das Kopftuchverbot am Arbeitsplatz zulässig wurde. Es hat mich wirklich frustriert, weil es war eine Leistung, die ich von Deutschland nicht erwartet habe. (...) Also ich war mir dessen bewusst, dass viele Leute dieses Stück Stoff fürchten und das nicht befürworten und meinen, es ist ein Zeichen der Unterdrückung. Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass so ein Gesetz in Kraft tritt, was dann vielen Leuten erschwert, einen Job zu finden. Weil es gibt viele, viele junge und intelligente Frauen, die ihre Abschlüsse machen und studieren und wirklich hart dafür arbeiten, um dann am Ende keinen Job zu kriegen?“

„Ich muss glücklicherweise sagen, dass ich eine Person bin, die nicht sehr viel mit Rassismus konfrontiert wird. Und darüber bin ich auch sehr froh.“

Dana spricht mit Eda darüber, wie sie Rassismus versteht und welche Rolle dieser in ihrem Alltag spielt. Zum anhören einfach den QR-Code scannen oder auf 8000eins.de vorbei schauen.

10 Neuigkeiten
„Die Leute wollen nicht wissen, wo du geboren bist, sondern welche Herkunft deine Eltern haben“ – Eda

Der alte Sultanmarkt soll als kulturelles Stadtteilhaus entwickelt werden: In der Neustadt 26 –vielen Menschen noch als Einkaufsladen bekannt – liegen die Räumlichkeiten, die für Projekte angemietet sind und von und für Menschen aus der Neustadt genutzt werden wollen.

Die ersten acht Wochen im Sultanmarkt

Der ehemalige Sultanmarkt in der Neustadt 26 stand schon lange leer. Zentral, mitten in der Neustadt, leicht aus den umliegenden Wohngebieten und aus der Stadt zu erreichen, ist er ein guter Ort für ein Kultur-Stadtteilhaus.

Der Verein Kunst und Kultur Baustelle 8001 hat den Markt angemietet – zunächst befristet, mit der Option diesen Ort dauerhaft zu nutzen. Das erklärte Ziel ist es die Fläche zu einem dem Stadtteil angemessenen Kulturort zu entwickeln. Dementsprechend wird die Entwicklung von Anfang an als interkulturelles Zentrum gedacht und organisiert.

Der Mietvertrag war kaum unterschrieben, da startete schon –wenn auch reichlich provisorisch - ein Kulturprogramm.

Auftakt

Der Markt wurde eine Station des Flensburger Kurzfilmstreifzugs An 20 verschiedenen Orten wurden 20 verschiedene Filme gezeigt. Es lief die Dokumentation „Tamina“. Tamina ist eine Künstlerin, die in Hamburg lebt. In einer Gartenkolonie. Weitere Streifzug-Stationen

in der Neustadt waren die Walzenmühle und die Neustadt 12 (Verein8001). Damit war unser Stadtteil richtig gut bei diesem stadtweiten Kulturangebot vertreten. Das darf gerne so bleiben!

Kurz darauf kam Sameh Alkalis szenische Lesung „Kopfgefängnis“ mit zwei Aufführungen. Eine auf arabisch und eine auf deutsch. Ein bisschen verkehrte Welt war, dass das Publikum bei der arabischen Aufführung eher deutsch und bei der deutschen Aufführung eher arabisch war.

„Die Menschen im Kopfgefängnis“ sind irgendwann einmal von anderen Orten aufgebrochen und an einem neuen Ort zusammen gekommen. Dieser Ort ist die Bühne. Auf die Reise mitgenommen hatten sie nur einen Koffer in der Hand. Den haben sie auf dem Weg entweder verloren oder er wurde ihnen gewaltsam genommen, er verschwand.

Es bleibt ein anderer, sehr schwerer Koffer. In ihren Köpfen. Den werden sie nicht los. Da drin sind alle Gedanken, Geschichten, Erinnerungen, die ihr Leben, ihre Reise, ihren Weg begleitet haben und weiterhin begleiten werden – „Das Kopfgefängnis“

Der Raum ist bereit für Neues. Mit 240m2 Fläche ist genügend Platz da –frische Ideen für einen Spielraum für Kunst und Kultur sind unbedingt erwünscht und erlaubt!

11
von Lothar Baur
Stadtentwicklung

Kultur trotzt Corona!

Und ein paar Tage weiter wurde der Sultanmarkt ein temporäres Impfzentrum. Der Deutsche Städtebund hat eine „vor Ort Impfkampagne“ gestartet und gefragt, ob wir Räume in der Neustadt zur Verfügung stellen möchten, damit alle eine Chance bekommen, geimpft zu werden. Da haben wir zugesagt.

Schon im ersten Durchgang konnten dort über 700 Impfwillige einen ersten Schutz bekommen. Mit Moderna. Aus allen Ecken und Enden des Quartiers kamen die Menschen und freuten sich über dieses unerwartete Angebot. Viele Ältere standen bis dato auf langen Wartelisten und hatten wenig Aussichten auf einen baldigen Termin. Einige waren wirklich verzweifelt. Mit Sameh Alkali hatten wir jemanden vor Ort, der ins Arabische übersetzen konnte. Das war super hilfreich.

Viele junge Menschen kamen, um sich impfen zu lassen und feierten das Ereignis. Einige tanzten vor dem Haus unter dem Beifall der Warteschlange. Alle waren spürbar erleichtert, dass etwas diesem Coronastress entgegen gesetzt werden konnte. Die Impfteams

Im alten Supermarkt: Das Theaterensemble um das Stück „Kopfgefängnis“ bei den Proben.

Die erste Aufführung im alten Sultanmarkt: „Kopfgefängnis“. Unterhaltung mit dem Publikum nach der Vorstellung.

Fotos: Tilman Köneke

fühlten sich dementsprechend sehr wohl bei uns der Neustadt. „Ihr habt hier tolle, freundliche Menschen in diesem Stadtteil“

Dies war der erste Teil einer echten organisatorischen Meisterleistung, die den beteiligten Ärzt*innen, den Unterstützer*innen von der Stadt und unseren freiwilligen Helfer*innen viel abverlangte, aber auch das Gefühl gegeben hat, etwas sehr Sinnvolles zu tun.

Im Juli fand dann, wie geplant, die zweite Impfrunde statt. Danach waren es fast 1000 Menschen, die im alten Sultanmarkt eine vollständige Impfung erhalten haben.

Durchstarten

Jetzt konnten wir endlich daran denken „normal“ durchstarten, denn wir haben ja eigentlich den Plan, das Interkulturelle Zentrum mit einem Schwerpunkt Theater aufzubauen.

Normal durchstarten ist in Corona Zeiten allerdings doch nicht normal. Wir ließen einen neuen Hochleistungslüfter einbauen und kümmerten uns um Luftreinigungsgeräte.

Theaterschnuppern: Sameh Alkali mit einigen Menschen aus seinem Ensemble und Theaterinteressierten.

Foto: Sameh Alkali

12
Stadtentwicklung

Der alte Sultanmarkt außen: Links: Während der Gestaltung der Außenfassade bekommt Felix Graf viel interessierten Besuch.

Rechts: Menschenschlange beim temporären Impfzentrum. Unten: Die ‚Autostopper‘ wurden von Kunststudierenden mit einem Mosaik versehen und bepflanzt und tragen nun zur Aufenthaltsqualität auf dem Parkplatz bei.

Fotos: Lothar Baur

Studierende der Universität Flensburg unterstützten uns, indem sie die großen Betonringe vor dem Haus schmückten und bepflanzten. Ende Juli startete das schon lange geplante Projekt „Fassadengestaltung“ mit Felix Graf.

Theater

Nun hatte es sich herumgesprochen, dass der alte Sultanmarkt eine neue Aufgabe bekommen hat. Ersten Interessenten für Theaterkurse fragten nach, wann es denn losgehen soll. Der Theaterpädagoge Sameh Alkali ist bei uns engagiert und möchte gerne mit einer kleinen „Theaterschule“ starten. Hier müssen wir uns allerdings noch um eine Finanzierung kümmern.

In der Zukunft werden wir auch mit der in der Neustadt beheimatete Theaterpädagogin Lucie Morin zusammen arbeiten. Wir dürfen also einerseits gespannt und andererseits zuversichtlich sein. Der Traum vom „Stadtteiltheater“ schickt sich an, Realität zu sein!

Im August diente der Sultanmarkt als Basis und Rückzugsort für viele Künstler und Künstlerinnen, die in den Projekten „Wo wir Lebensmittel liebten“ und „Tanz.Nord“ mitmachen.

Kinderprogramm

Anfang September feiert das „Kindertheater des Monats“ (KDM) seine Sultanmarkt-Premiere. Mit monatlichen Sonntagnachmittag-Vorstellungen für die ganze Familie.

Das KDM besteht aus kleinen Ensembles (2-3 Spieler*innen), die sich auf Theater für die ganze Familie spezialisiert haben. Deren Stücke sind meist mit Preisen ausgezeichnet worden.

Das „Kindertheater des Monats“ tourt quer durch Schleswig-Holstein und macht Halt im alten Sultanmarkt.

Links: Das Theaterstück „Mäh“, rechts: „1 vor dem anderen“

Fotos: Kindertheater des Monats

Am 05. September, 15:00 Uhr:

Los geht es mit dem Figurentheater „Mäh“. Das ist für Kinder ab 3 Jahren gemacht. „Das vergnügliche Handpuppenspiel erzählt temporeich von den zahlreichen Verwicklungen, die entstehen, wenn jeder nur sein eigenes Glück vor Augen hat …“.

Am 12. September, 15:00 Uhr:

Schon eine Woche darauf ist das Stück „1 vor dem anderen“ zu erleben. Diesmal für 4-6 jährige. „Valentin und Waldemar haben eine Geschichten-Schatzkiste gefunden. Stück für Stück spuckt sie auf Papierstreifen eine Geschichte aus...“.

13
Stadtentwicklung

Hat uns das verändert? Hat dich das verändert? Wen umarmst du noch? Und wem gibst du die Hand? Oder wieder? Was bleibt davon? Oder hast du das schon wieder vergessen?“

Erstaunlicherweise kann ich für mich selbst all diese Fragen beantworten und immer ploppen in meinem Kopf Geschichten dazu auf.

„Wie gut kannst du es dir bequem machen in einem Raum mit anderen? Macht es für dich einen Unterschied, ob die anderen vertraut oder fremd sind? Sitzt du noch bequem? Möchtest du dich umsetzen? Hast du dich an die Anwesenheit der anderen gewöhnt? Wie weit sind sie entfernt? Spürst du den Raum zwischen euch? Ist er leer oder voll? Ist er voll Aerosole? Wie stellst du dir Aerosole vor?

Wie nimmst du den Zwischenraum wahr?

Du hörst mir zu. Du hörst. obwohl du auch was siehst.

Gleich wird es einen Moment nur ums Hören und danach ums Sehen gehen, obwohl du weiter hören wirst. Der Klang ist immer da. Auch der leere Raum klingt. Kling auch der Zwischenraum? Kannst du Distanzen hören?“

Der

Kunst Supermarkt – ein Einkaufsbericht

Von Lothar Baur, Fotos: Ina Steinhusen

Wir werden von einer Art ‚Wächter‘ in einen kleinen Raum geführt. Fühlt sich an und sieht aus wie ein Wartezimmer. 3 graue Sofas stehen da. Ich erkenne diese: es sind die Sofas, die sonst in der Pilkentafel im Eingangsbereich stehen. Das wirkt irgendwie beruhigend. Von nebenan drängen sich noch nie gehörte Geräusche in das kleine Wartezimmer.

Wir werden aufgefordert zuzuhören. Aus einem Lautsprecher erreicht uns eine Stimme in unglaublich angenehmer Studioqualität – es ist unverkennbar die von Elisabeth Bohde, der Chefin der Pilkentafel.

„Du sitzt schon? Hast Du einen angenehmen Platz für Dich gefunden? Setze dich so hin, wie es dir jetzt guttut. Sitzt du bequem?

Sind dir die anderen zu nah? Oder zu weit? Oder gerade richtig?

Wie ist das mit dem Abstand? Darüber haben wir früher nicht viel nachgedacht. Manchmal kamen manche zu nahe und das war lästig. Manchmal wollte man selbst mehr Nähe und traute sich nicht, das war traurig. Aber meist regelte sich das unbewusst, jeder Ort hatte seine Regeln. Im Konzert war Gedrängel richtig, im Café weniger, an der Supermarktkasse war etwas mehr Abstand angemessen…

Und dann plötzlich: Abstandsgebot! Einmeterfünfzig! Ansteckung! Achtung! Abstandsgebot! Wir mussten auf den Abstand achten. Wie viel ist 1 Meter 50 überhaupt? Wir hatten nie geübt das einzuschätzen. Eine neue Anstrengung, eine neue Anspannung, ein neues Konfliktfeld. Eine neue Verunsicherung. Und eine neue Unbeholfenheit, wenn wir jemanden begrüßen.

Sind dir die anderen zu nah?

Oder zu weit? Oder gerade richtig?

Danach werden uns die Augen verbunden und wir werden hinein geführt in ein vor sich hin vibrierendes Performance-Ereignis. Ich höre alles und sehe nichts. Kann ich meiner Begleiterin wirklich vertrauen? Sie hat gesagt, dass ich das tun soll. Also lasse ich mich an der Hand durch den Raum führen, Ziel ungewiss.

Um Orientierung zu finden, versuche ich Geräusche zu erkennen und zu sortieren. Unheimlich viel dringt da auf meine Ohren ein. Es ist aber nicht laut, nicht unangenehm, im Gegenteil. Ich beginne mich wohl zu fühlen. Es ist schön. Klangkunst, bewusst oder unbewusst.

Dann ist die Reise zu Ende. Die verbundenen Augen werden enthüllt. Schon wieder ein Wartezimmer. Ein Mann kommt und fragt mich, ob ich eine Geschichte hören möchte. Warum sollte ich nein sagen. Ich bin ja hier um Kunst zu erleben. Er führt mich in einen ziemlich schäbigen Raum Und erzählt mir eine Geschichte, die allerdings nicht schön, sondern eher traurig ist und erstaunlich viel mit meinem Leben zu tun hat. Zufall.

Vom Gehörten noch leicht benommen trete ich aus dem Zimmer heraus und nun gesellen sich zu den während der Blindführung gehörten Geräusche die entsprechenden Bilder. Viele Bilder. Es ist hier ziemlich hell und ziemlich bunt. Ich stehe orientierungslos herum und frage mich, wo ich hingehen könnte.

Hinter einer transparenten Folie zieht eine Performerin sich einen Pulli nach dem anderen über. Vom Zusehen wird mir schwindelig. Die Hörstationen um sie herum, die wahrscheinlich den Ton zu den Bildern liefern sind gerade besetzt.

14 Kunst & Kultur
„Kling auch der Zwischenraum? Kannst du Distanzen hören?“
Oben: Inventur – Marten Flegel

Oben: Storyshopoutlet – Siegmar Schröder

Unten: Umdrehen – Gwen Kyrg

Rechts: Leere – Pia Alena Wagner

„Es ist wie ein Büfett, also überfriss dich nicht, es ist ein Überfluss, auf das dir nicht die Augen übergehen, es ist ein Supermarkt – ein Kunst - Super – Markt.“ sagte die Stimme im Warteraum.

Ja, es ist ein Überfluss und nach einer langen Zeit von eingeübter Distanz und Abstand und wenig bis null Live-Kunst ist das hier für mich eine echte Herausforderung. Ich beschließe den Performance Supermarkt zu verlassen.

Auf dem Weg zum Ausgang komme ich an der Performace „Einhundert“ vorbei.

„Hier mache ich Sport, weil ich mich damit – Youtube-Video-Aerobic zu machen– durch den Winter und den Lockdown bewegt/gerettet habe. Trotzdem habe ich Lust, einen ironischen Blick auf mein eigenes Tun zu werfen. Ist doch einfach albern, vor dem TV komische Bewegungen zu machen, oder?“, sagt die Performerin. Ja, das ist es. Hier ist sie nicht allein vor dem TV. Hier ist sie eher selbst TV. Im Markt sind jetzt viele Zuschauer:innen.

„Das wird sie nicht durchhalten all die Tage“, meint eine BesucherIn im Vorbeigehen zu mir. Mich fasziniert die Performance. In der Nähe gibt es eine Schaukel, auf der schwebe ich ein bisschen herum und schaue, ob sich etwas ändert bei „Einhundert“. Das ist nicht der Fall. Die Kombination aus Schaukel und „Einhundert“ wirkt völlig völlig entspannend.

Durch das Getümmel hindurch verlasse ich den Kunstrausch und komme am nächsten Tag wieder.

Nach dem Projekt erzählt Elisabeth Bohde uns von der Freude bei den Künstlern und Künstlerinnen, wieder spielen zu dürfen, Publikum zu haben, sich wieder sehen zu können. Jeden Tag ein Coronatest und 3G. Mit 500 Besuchern und Besucher:innen ist Bohde mehr als zufrieden. Und das Projekt hat von der Fachpresse sehr gute Kritiken bekommen. Nicht alle fanden alles gut, so wie das Publikum auch. Es war einfach eine Überfülle, ein Überangebot, wie in einem richtigen Supermarkt eben.

„Du erinnerst dich an die Supermärkte deines Lebens, und du wirst dich an diesen Kunst – Super- Markt erinnern. Du wirst das mitnehmen, was für dich war.

Du nimmst es mit… auch wenn du nichts mitnehmen kannst, weil in diesem Supermarkt alles flüchtig ist.“

Schön, dass die Neustadt GastgeberIn sein konnte für diese Aktion. Die Pilkentafel bereitet schon ihr nächstes Projekt vor. Diesmal geht es in das Eckener Haus.

15 Kunst & Kultur
„Es ist wie ein Büfett, also überfriss dich nicht“

Vielfältige Situationen und Zustände waren zu erleben im Performance Projekt „Wo wir Lebensmittel liebten“:

Oben: Happy Birthday Superwoman – Irina Runge, Mitte: Pendeln – Charlotte Pfeifer & Pascal Fuhlbruegge

Unten links: Einhundert – Lotta Bohde

Unten rechts: Regentin – Elke Mark

Im Rahmen von Zwischennutzungen für leerstehende Gebäude sind solche Projekte möglich und es wird sicher noch mehr kommen. Finanziert wurde dieses Projekt vom Förderprogramm „Neustart Kultur“.

16 Kunst & Kultur

27 Jahre EDEKA Hartwig & Senol – ein Rückblick

Fast drei Jahrzehnte leiteten Sven Hartwig und Sami Senol den EDEKA-Markt in der Neustadt. Mit viel Engagement, Herzblut, Geschick und Klebeband boten sie den Neustädter:innen mehr als nur Lebensmittel. Gemeinsam werfen wir einen Blick zurück. Sven Hartwig im Gespräch mit Lothar Baur und Kirsten Piper, Fotos: Hartwig/ Senol

TRAFO: Für unseren Kunst- und Kulturverein gegenüber war das natürlich eine kleine Katastrophe, als der Edekamarkt und auch alle Leute plötzlich nicht mehr da waren. Abgesehen von der aktuellen Zwischennutzung ist dieser Fleck Neustadt ja auch irgendwie unendlich tot. Neulich hat mir jemand die Frage gestellt: Weißt du eigentlich noch, was vor dem Edeka da war oder wann der Edeka da eingezogen ist? Und wann hat er zugemacht? Die Fragen gebe ich jetzt einfach mal weiter. Sven: Ich kenne auch nicht alles aus der Geschichte, aber zuerst war es ein Busbahnhof, danach ein P&Q Markt [Sparkette] und danach ein Euro-Spar – der hat damals aufgegeben. Wenn die Filialenketten es nicht schaffen Geld zu verdienen, dann kommen wir selbstständigen Einzelhändler ins Spiel, weil eben ein anderes Engagement bei uns dabei ist.

1991 hab ich den Markt mit fast 1200 qm übernommen, der war damals riesengroß. Ich weiß noch, wie der scheidende Marktleiter sagte: „Gott sei Dank, kann ich hier weg. Hier ist ja nur Alarm.“

Draußen vor der Tür haben sich immer viele Leute zum Biertrinken getroffen, mit denen musste ich dann erst einmal sprechen und sagen: „ Leute, beim besten Willen, so geht das nicht!“ Die waren auch ganz kooperativ und sind nach und nach weggegangen und dann nur vereinzelt wieder aufgetaucht. Das gehörte natürlich auch mit dazu.

TRAFO: Ich kann mich erinnern, dass es bei ihnen an der Kasse auch diese schwarz-gelben Sterne zu kaufen gab. Was hatte das auf sich?

Sven: Die Sterne konnten Kunden kaufen und an eine Magnet Tafel pappen. Und Leute, die wenig Geld hatten, was wir allerdings nie überprüft hatten, sondern das war auf Vertrauensbasis, die konnten sich diese Sterne abnehmen und dann an der Kasse gegen Grundnahrungsmittel einlösen.

TRAFO: Das ist schon sensationell.

Sven: Ja, das war schon ganz gut. Wir haben uns sehr mit dem Markt und dem Stadtteil mit all seinen Facetten identifiziert. Ich hatte nie ein Problem damit, obwohl viele meiner Edeka-Filialen-Kolleg:innen sagten: „Wie kannst du bloß!“ Aber ich hatte da nie ein Problem.

TRAFO: 1991 haben Sie den Markt übernommen und wann sind Sie rausgegangen?

Sven: Also es war ein fließender Übergang, vor drei Jahren, 2018. Seitdem ich diesen Markt geleitet habe, hieß es immer von Seiten der Stadt: „Wir bauen was Schönes, was Neues.“ Sie waren ja auch Kunde bei uns und kennen den Markt. Verwinkelt, verschachtelt, heiß im Sommer. Und eigentlich hat uns der Veterinär immer im Nacken gehangen und gesagt: „Leute, ich muss euch hier die Bude irgendwann mal zumachen, es ist viel zu heiß!“ Ich konnte immer nur dazu sagen: „Ja, wir bauen bald neu, wir bauen ja bald neu!“

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Neustadtperspektiven
„Wir haben uns sehr mit dem Markt und dem Stadtteil mit all seinen Facetten identifiziert.“
„Verwinkelt, verschachtelt, heiss im Sommer.“

2003 wurde dann zum ersten Mal über einen neuen Standort- die Werftstraße gesprochen. Dass wir dahin umsiedeln und neu bauen könnten.

Die Stadt wollte Anfang der 90er Jahre sogar den ganzen Autoverkehr aus der Neustadt raus haben. Die wollten da eine Busspur machen. Und dann sind wir Gewerbetreibende natürlich alle Sturm gelaufen: ohne Autos keine Kunden und ohne Kunden ist Feierabend. Die Stadt wollte die Neustadt am liebsten zur Fußgängerzone machen, so ein bisschen Verlängerung von der Norderstraße.

Dann haben wir über Alternativen gesprochen. Um Platz zu bekommen musste der Verlauf der Werftstraße verändert werden. Der Tankstelle, die es da mal gab, wurde der Pachtvertrag mit der Stadt nicht verlängert. Der Betreiber wollte ja weitermachen und hat gesagt, dass er geht, wenn die Bauarbeiten beginnen. Aber er musste raus. Danach stand die Tankstelle jahrelang leer. Sieben Jahre lang stand sie da und verrottete.

2003 gab es dann die ersten Pläne für einen neuen Markt an der Werftstraße. Aber dann hieß es immer, nächstes Jahr ist es soweit, nächstes Jahr ist es soweit, nächstes Jahr ist es soweit. Und insgesamt hat es von 2003 bis 2018 gedauert, also 15 Jahre.

15 Jahre haben wir in unserem Edekamarkt alles geklebt und geflickt, mit Tesafilm und mit Panzertape. und immer irgendwie versucht, das Ganze am Laufen zu halten, weil wir gesagt haben, wir brauchen nicht investieren. Wir bauen ja bald neu!

Dann wurden auf dem vorgesehenen Gelände Altlasten im Boden gefunden und alles hat sich wieder verzögert.

TRAFO: Schade, schade, weil irgendwie Edeka ja doch eine Institution war und Sie auch viel gemacht haben. Ich erinnere mich an ihre Neustadt Kampagne mit den schwarzen Einkaufstaschen. Bis dahin hatte so etwas nämlich einfach niemand gemacht und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, bei all den super verschiedenen Menschen, die da sind, da will jemand Stadtteil Identität zeigen. Und das hat doch auch funktioniert oder nicht?

Die alte ARAL-Tankstelle in der Neustadt. Sie musste dem neuen EDEKA weichen.

Foto: Gerrit Hencke

Sven: Ja, mit dem Logo: Unser Stadtteil, unser Markt. Also wir haben uns wirklich mit dem Stadtteil identifiziert. Denn viel Geld verdient haben wir da nicht. Wir haben eigentlich immer nur gehofft, dass wir jetzt irgendwann den neuen Standort machen können. Aber wir wurden immer vertröstet. Aber wir hatten eine super Truppe, eine wirklich super Truppe. Wir haben Mitarbeiter gehabt, die 20 ,25, 30 Jahre bei uns waren. Alle Mitarbeiter sind später in den neuen Edeka Markt übernommen worden, das hatten wir so verhandelt. Zum Abschied haben wir in dem alten, leergeräumten Gebäude eine Riesenparty gefeiert.

Da sind viele, viele Tränen geflossen. Aber trotz der speziellen Umstände in der Neustadt haben wir das alles irgendwie doch geliebt und uns damit identifiziert, das hatte so ein klein bisschen Kultcharakter.

TRAFO: Ich erinnere mich auch noch gern an die Abteilung Handwerkszeug.

Sven: Ja, wir haben so oft gehört: Mensch, ich muss wegen einer Schraube jetzt durch die ganze Stadt und viele unserer Kunden hatten auch gar kein Auto und fanden es total umständlich. Und so haben wir das geregelt, dass es ein kleines Sortiment für den Hausgebrauch, Hammer, Schraubenzieher, Meterstab, Farbe usw gab. Wir haben schon versucht, die Bedürfnisse aus dem Stadtteil zu sehen und zu erfüllen. Wir waren immer glücklich, dass die Kunden bei uns fast alles gekriegt haben.

TRAFO: Das haben sie ganz gut hinbekommen …. Ihre Belegschaft war interkulturell und relativ jung, oder?

Sven: Ja, wir haben viel für junge Leute getan. Wir hatten immer 7-8 Auszubildende, hatten auch immer migrantische Jugendliche gehabt, haben mit Behörden und anderen sozialen Einrichtungen aus dem Stadtteil zusammengearbeitet. Wir hatten auch hoffnungslose Fälle, die auch hoffnungslos los geblieben sind und wir es nicht geschafft haben, sie auf einen Weg zu bringen. Viele haben aber auch ihren Weg und Karriere gemacht, nicht nur bei Edeka.

Naja, der Stadtteil hat uns wirklich am Herzen gelegen. Aber natürlich sind wir nicht nur eine soziale Einrichtung, sondern wollten auch Geld verdienen. Aber so viel Geld war da auch wieder nicht zu verdienen, ehrlich gesagt.

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Neustadtperspektiven
„15 Jahre haben wir in unserem Edekamarkt alles geklebt und geflickt“
„Schöner, alter Scheissladen, aber mit sehr viel Herz“
„ein klein bisschen Kultcharakter“

TRAFO: Schon schade, dass der spezielle Satellit Edeka Hartwig

Senol mit so engagierten Leuten dann etwas überspitzt formuliert, vertrieben wurde.

Sven: Also wir haben ja immer weitergemacht, hätten das auch gern weitergemacht, weil wir ja immer gehört haben, es geht jetzt bald los. Wir kriegen jetzt bald einen neuen Markt, denn der alte hatte viele verwinkelte Ecken und du konntest gar nicht mehr richtig platzieren und der Fußboden sah immer aus! Und dann mussten wir immer durch den gesamten Laden fahren, mit den Säcken und leeren Flaschen. Und man fühlt sich ja auch selbst wohler in einem schönen Laden, das macht mehr Spaß.

TRAFO: Aber alle haben es mit Fassung getragen. Also nicht nur Sie und ihre Leute, sondern auch die Kunden. Mit den Jahren sah man schon, dass es immer schwieriger wird. War auch klar, da wird nichts mehr gemacht, weil da irgendwann der Umzug kommen soll.

Sven: Ja, total. Wir bekamen auch damals schon Bewertungen auf Google und haben immer echt gute Kritiken gekriegt. Z.Bspl. „Schöner, alter Scheißladen, aber mit sehr viel Herz und so!“

TRAFO: Oder: „Völlig stickig. Riecht irgendwie seltsam da. Alles komisch, aber supernette Leute, Superladen.“

Es haben sich auch viele Leute gekannt in dem Laden, weil man ja jahrelang hingerannt und sich begegnet ist und es war ja auch die ganze Neustadtmischung vorhanden, vom Obdachlosen bis zu den Menschen aus den besseren Wohnsiedlungen und jungen Leuten aus der Stadt.

Sven: Also ich bin ja aus Hamburg und mein Kollege auch. Wir waren beide Marktleiter in Hamburg. Und dann wurden wir verkauft. Unsere Firma, die hieß damals in den 80ern ‚deutscher Supermarkt‘, kennt heute keiner mehr.

In Hamburg gab es 30 Märkte und dann wurden wir geschluckt von Rewe. Wir sind damals als Kaufleute ausgebildet worden mit eigenen Ideen. Und wir wollten was machen, mit viel Eigenverantwortung.

Dann hab ich eine Stellenanzeige im Hamburger Abendblatt aus Flensburg entdeckt, die suchten einen Verkaufsleiter. Dann hab ich mir Flensburg angeguckt und gesagt: „Das mache ich einfach!“ Und als ich dann hier sesshaft wurde und eben halt ein bisschen kapiert habe, wie der Laden funktioniert, da hab ich dann meinen Freund angerufen aus Hamburg, Herrn Senol, und gefragt: „Hast du nicht auch Lust? Wir brauchen ja immer gute Leute, wenn du willst, komm doch her!“ Und dann hat er damals in Niebüll erst einen Markt übernommen und danach ist er hier eingestiegen. Und dann kam zum Glück Edeka und wir wurden von Edeka übernommen. Denn Edeka ist sehr gut organisiert und sie lassen einem viel eigene Spielräume, so dass wir uns auf die Bedürfnisse der Kunden einstellen können.

TRAFO: Waren Sie eigentlich sauer auf die Stadt?

Sven: Es war irgendwie unglücklich alles. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie einen irgendwie verarschen oder so. Sondern das war wirklich einfach den Umständen geschuldet. Da war immer irgendwas.

TRAFO: Jetzt ist es ja so, dass es tatsächlich fertige Pläne gibt für den Bereich ‚alter Edekamarkt‘. Ob es aber dann schnell geht, die Skepsis in der Bevölkerung ist schon riesengroß.

Sven: Also wir haben uns immer gewünscht, dass alles ein bisschen schneller geht, weil die Pläne, die ich immer gehört habe, die waren ja super. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir waren nachher einfach zu alt dafür und haben gesagt: „Gut, dann lassen wir das und machen wir einfach mit Langballig weiter.“

Nachlesen:

Ihr wollt mehr über die Guthabensterne erfahren? Hier findet ihr einen Artikel der shz:

Links: Sami

Senol stellt die Guthabensterne vor .

mitte: Vielen noch bekannt: das alte Logo für den Stadtteil und den Markt, rechts: Hartwig & Senol sagt Tschüss

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Stern-Foto: Markus Dewanger

Ansichts Sachen 2021

„Orte der Transformation in der Neustadt“

Text: Lothar Baur, Fotografien: Peter Kröber

Die „ Ansichts Sachen“ starteten 2011 als Fotoausstellung in der Neustadt. In den Folgejahren fand das Projekt an verschiedenen Orten wie z.B. im Schifffahrtsmuseum oder bei Kunst&Co. statt. 2016 und 2017 sind Fotobroschüren herausgegeben worden, die beide vergriffen sind. Schwerpunkt der „Ansichts Sachen“ waren stets Motive und Geschichten aus dem Flensburger Norden und der Neustadt. Das Projekt begleitet die Entwicklung im Norden schon seit 11 Jahren und hat ganz sicher mitgewirkt, das Image des Nordens zu verändern. 2020 waren die Ansichts Sachen zum ersten mal digital im Netz zu erleben. Im Herbst 2021 werden die „Ansichts Sachen“ nun wieder live und in echt auftauchen und zwar im alten Sultanmarkt. Unter anderem beschäftigt sich das Projekt kulturelle Zwischennutzungen von Gebäuden in der Neustadt und gibt damit einen Impuls, die letzten 15 Jahre Stadtteilgeschichte zu dokumentieren. 19. - 21. November, im alten Sultanmarkt.

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Kunst & Kultur
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Jule, 17 Jahre alt, ging zunächst auf ein G8-Gymnasium und die letzten zwei Jahre auf die Ostsee Schule. Dort hat sie gerade ihren Mittleren Schulabschluss erfolgreich absolviert. Danach geht’s weiter auf die Friedjov Nannsen Schule, um dort das Abi zu machen. Seit Februar ist sie Stadtschülersprecherin.

Wir haben Flensburgs Stadtschülersprecher:innen gefragt: Wie blickt ihr in die Zukunft?

Wir treffen Jule Niedrich und Momme Carstensen zum Interview. Wir wollen erfahren, was sich hinter dem Stadtschülerrat verbirgt und warum sie sich für die Schüler:innen Flensburgs engagieren. Doch zunächst haben wir sie gebeten zeichnend auf Fragen zu reagieren – mit welchem Emoji würdet ihr antworten?

Das Interview führten Dana Paulsen und Katja Hofschröer-Elbers, Fotos: Katja Hofschröer-Elbers

Mögt ihr einmal erklären: Was ist denn eigentlich dieser Stadtschülerrat und was wird da gemacht?

Jule: Der Stadtschüler:innenrat ist im Idealfall die Vertretung aller Flensburger Schulen. Wir sind auch im Stadtrat vertreten, also bei Ratsversammlungen und in den Ausschüssen dabei und repräsentieren dort die Meinung der Schülerschaft Flensburgs.

Wie seid ihr beim Stadtschüler:innenrat gelandet? Was hat euch motiviert?

Momme: Also das klingt jetzt wirklich sehr, sehr unromantisch. Ich bin da irgendwie reingerutscht. Es gab diese Wahlen, ich wurde aufgestellt und plötzlich war ich gewählt.

Außerdem bin ich Delegierter unserer Schule für das Landes-

schülerparlament. Dort wird sozusagen Lobbyarbeit im Sinne der Schüler geleistet. Dieser vertritt die Meinung und Interessen der Schüler:innen in Konferenzen von Ministerien, oder auch von Parteien. Die Bildungspolitik ist ja Ländersache und damit soll sichergestellt werden, dass diese im Sinne der Schüler und Schülerinnen vorangetrieben wird.

Jule: Ich war vorher schon ziemlich viel politisch aktiv, hier in der Kommunalpolitik. Bei der Einwohner:innen-Fragestunde*1 habe ich mich für Bürger:innenbeteiligung eingesetzt und Fragen an die Politik gestellt.

*1 „Die Ratsversammlung bietet im Rahmen öffentlicher Sitzungen Einwohnerinnen und Einwohnern die Möglichkeit, Fragen zu Beratungsgegenständen oder anderen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu stellen und Vorschläge oder Anregungen zu unterbreiten.“ Quelle: flensburg.de

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Da habe ich mich dann auch gefragt: „Was gibt‘s denn so an Jugendbeteiligung an der Stadtpolitik?“ Dadurch habe ich dann vom Statdschüler:innenrat erfahren. Bei meinem ersten Treffen dort, fand auch die Wahl zur stellvertretenden Stadtschulsprecherin statt und ich wurde tatsächlich gewählt.

Was sind denn die Pros und Contras, als Stadtschülersprecher:in? Was macht besonders viel Spaß und was ist vielleicht nicht so schön?

Momme: Wenn man Stadtschülersprecher ist, dann sitzt man einem Gremium vor, welches sehr viel Aktion umsetzt und sehr, sehr viel in die Hand nimmt. Man sieht immer die Ergebnisse. Außerdem sind da unglaublich viele nette und kompetente Leute, mit denen man arbeiten und Sachen realisieren kann.

Und vor allem hat man die Chance mit diesem Posten Leute zu treffen, die wirklich etwas in der Stadt bewirken können. Obwohl wir nicht direkten Einfluss darauf nehmen können, wie die Stadt sich ausrichtet, können wir die Meinungen unserer Generation mit einbringen.

Für mich ist es auf jeden Fall auch ein Hobby. Ich würde es niemals als Arbeit bezeichnen, weil es mir unheimlich viel Spaß macht. Aber es steckt halt auch ordentlich was da hinter.

Momme ist ebenfalls 17 Jahre alt, geht auf die Friedjov Nannsen Schule und kommt jetzt in die zwölfte Klasse. Seit Februar ist er Stadtschülersprecher.

*2 Das Radio Fratz ist eines von zwei „freien Radios“ in Schleswig-Holstein. Die FDP-Fraktion hatte gefordert, diesem die Fördergelder zu entziehen. Hintergrund ist die Berichterstattung rund um den Bahnhofswald. Im Kulturausschuss der Stadt fand der Antrag keine Unterstützung.

Jule: Mir macht‘s auch einfach Spaß – aber ja, es ist Arbeit. Gleichzeitig ich finde es auch spannend, mich in Sachen einzufuchsen und zu gucken: „Okay, inwiefern können wir da was bewirken?“

Es kann ein bisschen deprimieren zu sehen, dass man kommunal, was Schule angeht, häufig nicht unglaublich viel bewirken kann. Weil Schule einfach Ländersache ist. Dadurch, dass wir uns nur zu Themen äußern dürfen, die Jugendliche innerhalb der Schule betreffen, ist unser Arbeitsfeld ziemlich eingeschränkt.

Wie genau sieht das aus, wenn ihr mit im Rat sitzt? Was könnt ihr dort machen?

Jule: Ja, also es gibt einmal die Ratsversammlung, das größte Gremium der Stadt. Und dann gibt‘s noch verschiedene Ausschüsse. Der Planungsausschuss, Kultur- und Tourismusausschuss und so. Wir dürfen in allen sitzen, solange dort etwas besprochen wird, was für Schüler:innen relevant ist. Ob das für uns relevant ist oder nicht, entscheiden nicht wir, sondern das Gremium.

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„Dadurch, dass wir uns nur zu Themen äussern dürfen, die Jugendliche innerhalb der Schule betreffen, ist unser Arbeitsfeld ziemlich eingeschränkt.“

mein Gemütszustand

(Montag-) morgens

so finde ich das Bildungssystem

Schonmal dran gedacht Politiker*in zu werden?

Wir haben Flensburgs Schüler:innenvertretung Stifte in die Hand gedrückt und gebeten ein paar Fragen nur mit Gestik, Mimik und einem gemalten Smiley oder Bild zu beantworten – hier ihre Antworten.

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Kinder & Jugend

Ob wir was sagen dürfen, kommt dann auch immer auf die Argumentation an. Zum Beispiel wurde jetzt diskutiert, ob dem Radio Fratz*2 die Fördergelder entzogen werden sollen. Wir durften uns dazu nur äußern, indem wir argumentieren, dass das Radio Fratz für Schüler:innen wichtig ist.

Mit einem Jugendbeirat gäbe es nicht mehr das Dilemma: „okay, wie argumentieren wir das jetzt, damit wir überhaupt was dazu sagen dürfen.“ Sondern wir dürfen das sagen, weil wir halt die Stimme der Jugendlichen sind und selber entscheiden, was wichtig ist für Jugendliche.

Was wünscht ihr euch für Flensburg, für die Schülerinnen und Schüler hier?

Jule: Wir sind momentan noch die einzige Jugendrepräsentation im Rat. Ich würde mir wünschen, dass wir generell was zu Themen machen dürfen, die Jugendliche betreffen und nicht nur explizit Schüler:innen. Dass es eine echte Jugendvertretung gibt, sodass wir zu allem, was für die Jugend wichtig ist, zu Wort kommen können und ein Stimmrecht haben. Themen, die für die Jugend extrem wichtig sind, aber nicht explizit auf die Schule bezogen behandelt werden können. Zum Beispiel im Bereich Klima.

Momme: Also die Grünen und die Grüne Jugend haben auf jeden Fall einen Antrag auf einen Kinder- und Jugendrat gestellt. Dieser Beirat hätte dann mehr Rechte. Der Antrag ist jetzt durch die Ausschüsse durch und müsste nochmal durch die Hauptversammlung. Aber das läuft und wir werden mit einbezogen. Wir besprechen mit dem Kinder- und Jugendbüro und der Verwaltung wie der Beirat aussehen kann, aus welchen Personen er dann tatsächlich besteht, oder wie man reingewählt wird. Die finale Entscheidung dürfen wir nicht geben, weil wir kein Stimmrecht haben, aber wir können dem unsere eigene Note verleihen.

Zusammenfassend: Wie zufrieden seid ihr mit eurer Rolle im Rat?

Momme: Das ist einfach eine tolle Erfahrung, in der Ratsversammlung zu sitzen für Kinder und Jugendliche und dadurch Einfluss nehmen können. Also ich glaube tatsächlich, dass uns die meisten Parteien anerkennen und auch bereit sind mit uns zu arbeiten. Sie sind wirklich sehr offen auf uns zugegangen.

Jule: Dem würde ich mich anschließen. Also ja, es gibt einiges zu verbessern und da sind wir auch dran.

In euer Rolle als Vertreter:innen der Schülerschaft Flensburgs: was habt ihr bisher gemacht und erreicht? Worauf seid ihr stolz?

Jule: Dass wir es geschafft haben, der Stadt näher zu kommen, ernst genommen zu werden und diese Diskussionen anzukurbeln: „Wie kriegen wir Jugendliche richtig repräsentiert in unserer Stadt?“

Momme: Ich bin ich stolz darauf, dass wir uns trotz Corona, als Gremium zusammengerauft haben und Kontakte aufbauen konnten. Dass da nun ein enger Draht zur Politik, zur Verwaltung und auch zum Kinder- und Jugendbüro besteht. Selbst wenn Jule und ich aufhören sollten – der oder die Nachfolgerin oder Nachfolger, haben dann jetzt eine gute Struktur an der Hand hat, um in Flensburg zu wirken.

Was würdet ihr am deutschen Bildungssystem ändern, wenn ihr könntet?

Jule: Dadurch, dass ich halt für zumindest zwei Jahre in einem komplett anderen Bildungssystem war – was ich viel, viel positiver wahrnehme – ist da bereits vieles, was ich gut finde.

Was war an deiner Schule anders?

Ich war auf einer Schule, die an das Montessori Prinzip angelehnt ist. Erstmal war die Gemeinschaft viel größer. Du hattest nicht Klassen, sondern Jahrgänge und Mentoren-Gruppen. Du hast dir den Unterricht in Lernperioden immer selber gewählt, hast dadurch sehr unabhängig gearbeitet und sehr nach deinen eigenen Bedürfnissen.

Der Stoff wird generell vielfältiger vermittelt. Es wird sehr viel auf Selbermachen gesetzt, sehr viel auf Präsentationen, dass du lernst, frei zu sprechen und so weiter. Und viel nach dem Prinzip, dass die Lehrer einem helfen selber zu lernen.

Die Verbindung zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen ist auch komplett anders. Viel, viel, viel mehr auf Augenhöhe, die Lehrer:innen werden auch geduzt. Und generell redet mensch mit den Lehrer:innen ganz anders. Und diese auch mit dir. Sie sind viel mehr Vertrauenspersonen, als ich das von Regelschulen kenne.

Welche Teile von dieser Schule würdest du gerne in das ‚normale‘ Schulsystem integrieren?

Jule: Dieser komplett andere Umgang zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen. Sie sind sehr, sehr offen sind für Kritik und auch bereit, etwas zu ändern. Ich glaube einfach, dass den Schüler:innen mehr zugehört und mehr auf deren Bedürfnisse geachtet wird. Das ist ziemlich wichtig.

Dann, dass Leistungsdruck rausgenommen wird und auch das Konkurrenzdenken weniger wird. Auf meiner Schule hat sich niemand dafür interessiert, welche Note die anderen haben. Und falls doch, dann ging es nicht darum, die Person runterzumachen, sondern: „Okay, wie können wir dir helfen, dass du das nächste Mal besser wirst?“

Generell, gegenseitige Hilfe ist irgendwie mehr da.

Momme, wie ist das bei dir? Gibt‘s Sachen, die du am Bildungssystem ändern möchtest?

Momme: Also ich glaube, dass das System Gymnasium ein Auslaufmodell ist. Dass in Zukunft nicht mehr getrennt wird nach Leistungsstand. Ich war auf einer Gemeinschaftsschule. Durch die verschiedenen Leistungsstände wurde nicht Konkurrenzkampf – wie auf dem Gymnasium – gefördert, sondern eher der Zusammenhalt.

Ich finde das englische System sehr interessant, in dem man eigentlich immer nur in Kursen zusammen ist, es also keine Klassen gibt. Diese verschiedenen Fächer sind sehr individuell auf den Schüler angepasst – wie auch im dänischen System.

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Kinder & Jugend
„Das System Gymnasium [ist] ein Auslaufmodell“
„Die Schulen dort bieten den Schüler:innnen eher ein zu Hause“

Schulen in Skandinavien, zum Beispiel in Finnland, sehen nicht aus wie deutsche Schulen. Man kann nicht schönreden, dass die deutschen Schulen marode sind, wie auch das Schulsystem. Die Schulen dort bieten den Schüler:innnen eher ein zu Hause, ein entspanntes Lernumfeld mit Laptops und der Haltung: „Ihr könnt da arbeiten wo ihr wollt“, weg von Frontalunterricht an der Tafel, sondern individuell auf die Bedürfnisse der Schüler:innen eingehend.

Und natürlich ist die Zukunft digital, auch wenn wir da jetzt meilenweit hinterherhinken.

Ein kleiner Corona-throwback: Wie ist es so gelaufen – an der Privatschule und der öffentlichen Schule?

Jule: Bei uns hat es echt gut geklappt. Auch, dass Schüler:innen einzeln unterstützt wurden. Also ich habe garnichts zu meckern bei uns.

Momme: Meine Schule, also wir waren digital nicht so gut ausgestattet. Die Lehrer:innen haben uns vor allem über ihre privaten E-Mails noch zusätzlich Material gegeben und uns angeboten per Skype oder Zoom oder auch Telefon Aufgaben zu besprechen. Es war alles sehr unprofessionell, aber auch, weil es eine neue Situation war, auf die sich alle einstellen mussten. Aber die Lehrer:innen waren alle recht verständnisvoll.

Jeder und jede, die dieses oder letztes Jahr den Abschluss gemacht hat, kann stolz auf sich sein und sich auf die Schultern klopfen! Es wird ja immer vom ‚Corona-Abschluss‘ gesprochen. Als wäre das was Schlechteres. Wir als Schüler:innen, die das mitgemacht haben, wissen, dass es eine viel größere Leistung ist, so eine Prüfung unter Pandemie-Bedingungen zu schreiben. Unter dieser psychischen Belastung und dann noch ungefähr dasselbe Niveau abzuliefern – Hut ab!

Wir haben ja mit euch Emoji-Fotos gemacht. Unter anderem haben wir gefragt: könnt ihr euch vorstellen, in der Politik durchzustarten?

Momme: Das klingt jetzt vielleicht blöd oder martialisch, aber ich habe Blut geleckt.

Es war hart, da reinzukommen und sich erstmal in diese Strukturen einzuarbeiten. Aber ich glaube, dass der Stadtschülerrat mir und Jule viel gezeigt hat und beigebracht hat und wir mit sehr, sehr viel Wissen und Erfahrungen rausgehen. Aber was ich bisher zurückbekomme oder was ich erlebt habe, ist auf jeden Fall unglaublich toll. Wenn sich also die Chance bietet, würde ich mich unglaublich freuen, das fort zu führen.

Jule: Ich hätte Lust, den Stadtschüler:innenrat weiterzumachen. Aber auf Parteipolitik hätte ich gar keine Lust. In meinen letzten Jahren kommunalpolitischer Arbeit

habe ich schon mitgekriegt, dass das einfach ultra anstrengend ist. Und man sehr an die Partei gebunden ist und kaum individuell handeln kann. Was ich nicht so cool finde.

Also nicht nur weil es viel Arbeit ist, sondern einfach der Umgang untereinander –es gibt irgendwie nur Streit. Ist mir zu anstrengend.

Aber politische Arbeit will ich auf jeden Fall weiterhin machen. Aber nicht Realpolitik, sondern halt Aktivismus. Im Bereich Klima und Menschenrechte und so weiter.

Unser Magazin heißt ja Trafo.

Jule: Wegen Transformationen? Wegen Veränderung?

Genau, was verbindet ihr denn mit diesem Begriff?

Momme: Ich mit meinem naturwissenschaftlichen Profil muss erst einmal an die Transformation von Strom denken. Aber das haken wir kurz ab. Meine Lehrer sind jetzt ganz stolz, dass ich das gebracht habe. Ich würde sagen, dass Transformation ‚die Veränderung‘ ist, aber halt eine Veränderung im Konsens. Also kein Zerstören, Aufbrechen, sondern wirklich eine Veränderung im System und mit allen Leuten. Eine Veränderung, wo alle daran teilhaben können.

Jule: Ich mag die Formulierung. Also im ersten Moment verbinde ich Transformation mit dem Transformation Studiengang hier in Flensburg an der Uni. Weil das auch was ist, was ich anstrebe. Das zu studieren. Aber ja, Transformation bedeutet halt irgendwie Veränderung der Gesellschaft. In meinen Augen ist es etwas, was nötig ist – in so vielen Bereichen.

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„es gibt irgendwie nur Streit. Ist mir zu anstrengend.“
„Jeder und jede, die dieses oder letztes
Jahr den Abschluss gemacht hat, kann stolz auf sich sein!“
Kinder & Jugend
mein Gesicht vor einer Prüfung

Jule und Momme loten Interessen und Möglichkeitsräume aus. Sie fuchsen sich in (Rats-) Strukturen rein und finden raus, über welche Hebel man für die Schülerschaft aktiv werden, sich einbringen und etwas bewirken kann.

Gibt es ein Thema, was jetzt noch gar nicht auf dem Tisch kam, aber ganz wichtig ist und hier hingehört?

Jule: Klima ist eines meiner großen Themen.

Ich glaube es ist wichtig, dass weniger gedacht wird: „Klimawandel, da haben wir ein Problem mit in so und so vielen Jahren…“ Es ist ein Problem, das jetzt schon da ist. Und sich auch hier schon bemerkbar macht*3, aber noch nicht in dem Ausmaß, dass alle sterben. Aber dafür sterben aufgrund der Klimakrise in anderen Teilen der Welt Menschen.

Wir sollten nicht denken: „Okay, wir müssen was tun, wen es uns hier erreicht.“ Wir müssen jetzt was tun. Das ist alles zurückzuführen auf unsere Gesellschaft. Es wird so zentralisiert gedacht, postkolonial.

Ich drücke es anders aus: Die finanziellen Interessen haben einfach noch einen zu großen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Wir Menschen machen es uns gerne bequem. Und solange es noch nicht so lebensbedrohlich für uns direkt hier ist, will auch niemand den Arsch hochkriegen.

Momme: Also ich würde jeden aufrufen, der in unserem Alter ist, sich zu engagieren, zu partizipieren. Weil es der einzige Weg ist, wie jeder und jede seine und ihre Meinung in die Welt tragen kann und sie auch ‚einen Change‘ machen kann. Wir können nicht erwarten, dass die Politik genau weiß, was wir wollen. Das können sie nicht wissen, weil die meisten älter sind als wir. Aber wir als Jugend können unsere Stimme erheben und können uns engagieren. Natürlich nicht nur bei uns im Stadtschüler:innenrat, sondern auch in Parteien, an Schulen, im Verein.

Also jetzt uns als Jugend direkt ansprechend: „Engagiert euch, macht was! Weil das der einzige Weg ist, um eure Ziele zu realisieren und euer Meinung einen Platz zu geben.“

Jule: Daran anknüpfend, ist mir gerade noch eingefallen: Einen Appell an ein bundesweites Wahlrecht ab 16. Vor allem jetzt, wo die Jugendbewegung nochmal größer und sichtbarer geworden ist mit Fridays for Future. Es ist wichtig, dass den Jugendlichen eine Stimme gegeben wird innerhalb der repräsentativen Demokratie. Und das nicht nur kommunal und landesweit, sondern auch bundesweit.

Auch im Rat wird viel argumentiert: „Ja, wir brauchen nicht mehr Bürgerbeteiligung, wir haben ja die repräsentative Demokratie.“ Aber davon sind wir halt nicht repräsentiert. Ich hatte noch nicht einmal die Möglichkeit zu wählen. Ich bin nicht präsentiert von der Stadtverwaltung, also will ich mitbestimmen dürfen.

Und dieses Privileg, als Stadtschülersprecherin sprechen zu können, haben nicht alle. Wir können nicht jede einzelne Meinung der kompletten Jugend vertreten. Und deswegen sollte es den Jugendlichen möglich gemacht werden, ihre Meinung zu vertreten.

*3 Anm.: Wir haben das Interview Anfang Juli geführt. Diese Aussage bezieht sich nicht auf die Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern.

Abschluss in der Tasche

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„Wir können nicht erwarten, dass die Politik genau weiss, was wir wollen“
Schule und Corona
Kinder & Jugend

PARAPLY

Hör-Geschichten für die Familie

Zum Mitmachen, Erzählen, Erfinden, Vorlesen, Lauschen, Spazieren und Träumen… von Lucie Morin

Trotz Sonne und Strandwetter haben sich seit Juni Leser und Leserinnen zusammen gefunden und Kindergeschichten zum Thema „Regenschirm“ gesucht oder erfunden. Paraply heißt auf Dänisch Regenschirm. Doch es geht um mehr als das Regenwetter in Flensburg.

Denn wir haben Kindergeschichten in verschiedenen Sprachen geschrieben, übersetzt, vorgelesen und als Hörgeschichten aufgenommen. Das bekannte Bilderbuch „Der rote Regenschirm“ von Ingrid und Dieter Schubert ist sogar in deutscher Gebärdensprache als Video zu sehen. Viele weitere Geschichten und Gedichte erzählen von Reisen in verträumten Landschaften, von Freundschaften und Abenteuern unter dem Regenschirm.

Am Sonntag, dem 19. September werden die Hörgeschichten online auf die Webseite paraply.de hochgeladen. Gleichzeitig stellen wir die Geschichten in der Neustadt bei vier Hör-Stationen vor. Für den Spaziergang wird es einen Kinder-Stadtteilplan geben. Kinder bestimmen also den Weg! Man kann die Geschichten mit dem eigenen Handy oder vor Ort hören.

Die Hör-Stationen werden von Künstler*innen vorbereitet und laden zum Träumen ein: An der Bergmühle wird eine Land-Art-Installation entstehen, vor dem alten Sultanmarkt kann man durch eine bedruckte Installation gehen, die Petri-Treppe verwandeln wir in ein Bilderbuch und im Galwik-Park erwartet euch eine mu-

sikalische Überraschung! So können wir für kurze Zeit in die Geschichten eintauchen, reisen und Abenteuer erleben. So kann der Spaziergang ein Riesenspaß werden. Und später wird man erzählen … „Zusammen gingen sie…

Segeln, Zelten, Fliegen, Klettern

Und wann immer es regnete, versammelten sie sich unter dem fabelhaften Schirm und träumten von neuen Abenteuern.“

– aus dem Kinderbuch „der fabelhafte Schirm“ von Jackie Azúa Kramer und Maral Sassoumi

(3-6 Jahre, Nord-Süd Verlag, Zürich,2017)

Willkommen unter dem Regenschirm der vielen Sprachen und Geschichten. Egal in welcher Sprache du dich Zuhause fühlst, unter unserem Regenschirm gibt es Platz für alle!

Informationen und Anmeldung: www.paraply.de

Lucie Morin* *ist Theaterpädagogin und Kulturvermittlerin aus der Neustadt und kommt ursprünglich aus Cherbourg - der bekanntesten Regenschirm-Stadt Frankreichs. Sie überlegt sich gerne Projekte für Kinder und Erwachsene, die uns einander näher bringen und unsere Welt ein wenig bunter machen. atelier-inter-kultur.de

28 Kinder & Jugend

Finde die fehlenden Wörter und erfahre, wo du die Hör-Stationen von PARAPLY am 19. September besuchen kannst.

1. Ich wohne auf einem Berg und meine Flügel stehen leider meist still!

2. In welchem Park dreht niemand durch, aber alle ab?

3. Versteckt zwischen Terrassenstraße und Alter Kupfermühlenweg führe ich hoch hinaus!

4. Hier wurden früher Gewürze und Speisen aus aller Welt verkauft. Jetzt stehe ich leer und warte auf Kunst!

Ab ins Grüne

Text & Bild: Katja Hofschröer-Elbers

Es wächst und gedeiht: Die Kleingartenanlage vom Kinder und Jugendtreff Speicher (wir berichteten). Gartenhaus, Komposttoilette und Hochbeete stehen, die Hängematten laden zum Seele baumeln ein. Erste kleine Grillfeste mit Gulaschkanone fanden statt, eine weitere Fläche für Gemeinschaftsaktionen wurde hinzu gepachtet. Kommt vorbei und schaut es euch an!

Kontakt: Tel.: 0175 6061420 ads.speicher@gmail.com

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R G2 E3 N S4 C H I R M ––Ü T RÄTSEL
Kinder & Jugend

Hallo, mein Name ist Sunny und ich möchte euch an dieser Stelle gerne das Leben mit meiner Hündin Sailor Moon näherbringen.

Sailor Moon ist eine Französische Bulldogge und mittlerweile fünf Jahre alt. Wir haben sie damals von meiner Tante bekommen. Neben Sailor Moon haben wir noch zwei weitere Hunde: Spike – einen Jack Russel und Coco - einen Zwergpinscher. Und wir haben sogar auch noch Vögel, drei Hamster und ein Meerschweinchen. Und bei meiner Oma habe ich sogar noch ein Pferd stehen. Ich mag Tiere wirklich gerne.

Für Sailor Moon bin ich jetzt verantwortlich, was bedeutet, dass ich täglich dreimal mit ihr spazieren gehe und sie füttere. Auch um ihre Erziehung kümmere ich mich. Jetzt aktuell gab es gerade eine Phase, in der sie Fremden gegenüber skeptisch war und teilweise versucht hat, diese zu beißen. Ich glaube, dass könnte damit zusammenhängen, dass sie gerade Welpen bekommen hat. Das ist bestimmt ein Beschützerinstinkt und mittlerweile habe ich ihr das auch schon wieder weitestgehend abgewöhnt. Jedenfalls haben wir jetzt noch sieben Welpen zu Hause, die wir aber nicht behalten werden. Wenn sie alt genug sind, werden sie neue Besitzer bekommen.

Ich mag an Sailor Moon am liebsten, dass sie so kuschelig ist. Sie möchte ganz oft gestreichelt werden und ist fast immer in meiner Nähe. Manchmal schnarcht sie auch ganz komisch. Ganz am Anfang habe ich mich deswegen sogar mal voll erschrocken.

Da hat sie sich in meinem Bett versteckt und ich habe sie nicht gesehen, sondern nur das Schnarchen gehört. Das war witzig.

Was ich nicht so gerne mag, ist die Kackhaufen aufzusammeln beim Gassi gehen. Vor allem auch, weil hier auf meiner Runde zu wenig Halter für die Tüten sind. Manchmal muss ich dann noch runter in die Neustadt laufen, um dort welche zu holen, weil hier oben in der Nähe vom Jobcenter sind die meistens leer. Das sollte sich ändern. Mülleimer gibt es auf der Strecke dafür aber genug.

Beim Gassi gehen kann ich Sailor Moon, manchmal nenne ich sie auch Sally oder Moon, meistens auch freilaufen lassen. Sie hört auf mein Schnipsen und kommt zu mir zurück, falls sie mal zu weit weg gehen sollte. Manchmal hat sie aber auch ihren eigenen Kopf und legt sich zum Beispiel mitten auf der Straße hin. Das hat schon mal ein bisschen gedauert, bis ich sie wieder dazu bekommen habe, weiter zu gehen. Ansonsten hat sie keine Angst vor Autos und legt sich auch mal unter sie. Ich habe sie auch schon mit in unseren Schrebergarten genommen. Das mag sie da. Genauso wie am Strand. Sogar ins Wasser mag sie gerne, obwohl sie zu Hause die Badewanne gar nicht mag. Wenn ich sie mal saubermachen muss, ist das dann gar nicht so einfach.

Ich bin auf jeden Fall froh, Sailor Moon zu haben und möchte auch mein Leben lang einen Hund und allgemein Tiere um mich haben.

30 Kinder & Jugend
Sailor Moon von Sunny

„Wir sitzen im Rathaus, sind ansprechbar“

Eine Anlaufstelle für Opfer von Diskriminierung und Rassismus für Flensburg

Text & Foto: Katja Hofschröer-Elbers

Wir treffen Katharina Bluhm und Katja Jüngling von der „Stabsstelle Integration“ zum Gespräch. Sie setzen sich im Rathaus für ein gutes interkulturelles Zusammenleben aller Flensburger*innen ein. Doch was verbirgt sich hinter diesem Wortkonstrukt „Stabsstelle Integration“ und was machen die beiden dort?

Stabsstelle Integration

„In Flensburg leben derzeit über 27.000 Menschen mit Migrationshintergrund aus mehr als 140 Ländern, was ca. 28% der gesamten Stadtbevölkerung entspricht. Dazu gehören derzeit 3.500 Geflüchtete“, ist auf der Webseite der Stadt zu lesen. Im Flensburger Integrationskonzept werden fortlaufend Maßnahmen festgeschrieben, die das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen in der Stadt verbessern sollen.

Ein Schwerpunkt der Stabsstelle stellt dabei die interkulturelle Öffnung der Verwaltung dar. Sie will gegenseitiges Verständnis für unterschiedliche Lebenserfahrungen und Sichtweisen vermitteln. Ziel ist es Barrieren abzubauen, damit alle Menschen gleichberechtigt am gesellschaftlichenen, wirtschaftlichen und poltischen Leben in Flensburg teilhaben können. Das fünfköpfige Team ist stets ansprechbar für Fragen rund um Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, zu Gesundheits- oder Bildungsfragen. Darüber hinaus möchten sie den interkulturellen und den interreligiösen Dialog, sowie das ehrenamtliche Engagement fördern.

Anlaufstelle bei Diskriminierung und Rassismus

Eine der neuen Maßnahmen ist die „Anlaufstelle für Opfer von Diskriminierung oder Rassismus“.

Sie ist für Menschen da, die Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung erfahren. Rassismus bedeutet eine Abwertung z.B. aufgrund des Aussehens, Namens, Kultur, Herkunft oder Religion zu erfahren. Diskriminierung beschreibt die Benachteiligung aufgrund von Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, Alter oder Behinderung.

Betroffene finden im Team der Stabsstelle ein offenes Ohr, Sensibilität und Fachkompetenz. Hier werden sie ernst genommen und können Unterstützung bekommen.

Oft gehe es darum, überhaupt erst einmal die persönliche Geschichte erzählen und loswerden zu können, berichtet Bluhm. Einen sicheren Ort zu haben, an dem Erfahrungen geteilt werden.

Wenn dann weitere Schritte gegangen werden sollen, etwa eine Rechtsberatung gebraucht wird, vermitteln die beiden weitere Unterstützungsangebote.

Über eine Telefonnummer kann Kontakt zur Anlaufstelle aufgenommen werden. Noch ist die Anlaufstelle im Rathaus angesiedelt. Diesen Ort aufzusuchen könne durchaus eine Hemmschwelle darstellen, berichtet Katja Jüngling. Oft werden sie in Verbindung gebracht mit dem Einwanderungsbüro, wovon sie jedoch komplett unabhängig sind.

Ende des Jahres – nach einjähriger Pilotphase – soll geguckt werden, ob die Anlaufstelle fest angeboten wird, dann möglicherweise auch an einem anderen Ort, bei einem anderen Träger.

Zunächst sei es wichtig, dass das Angebot überhaupt wahrgenommen werde, sagt Katharina Bluhm. Zu diesem Zwecke hat das Team einen Informations-Flyer in neun Sprachen erstellt, der digital abgerufen werden kann und auch bei vielen sozialen Einrichtungen ausliegt.

Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sind schwierig und belastend. Sich als betroffene Person überhaupt zu offenbaren ist mitunter herausfordernd. Oft werde eher der Weg der Verdrängung gewählt, berichten uns die beiden.

Aber das muss nicht so sein. Unter der Telefonnummer kann ganz unverbindlich, anonym und kostenfrei Kontakt aufgenommen werden. Das Gespräch ist vertraulich.

Kontakt:

Unter dieser Telefonnummer könnt ihr Katharina Bluhm und Katja Jüngling von der Erstanlaufstelle erreichen –anonym, kostenfrei und vertraulich: 0461 85 43 21 Weitere Infos zu diesem Angebot in diesem Flyer.

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Menschen aus der Stadtverwaltung

Dirk Dillmann im Gespräch

20 Jahre Sportpiraten

Das Gespräch führte Lothar Baur

TRAFO: Es gibt nur ganz wenige Menschen, die fragen, Dirk Dillmann, wer ist das? Anscheinend kennen dich alle. Aber was du wirklich tust ist vielleicht doch nicht so klar. Du machst das mit den Sportpiraten nicht erst seit gestern, sondern gefühlt schon immer. Wie viele Jahre hast du jetzt schon mit den Sportpiraten zusammen verbracht?

Dirk: Ich hab die Sportpiraten initiiert, aus der Erzieherausbildung heraus und das war 2001. Das heißt seit Juni gibt es uns 20 Jahre.

TRAFO: 20 Jahre! Wie ist das nach 20 Jahren? Viele Menschen, die 20 Jahre ‚dasselbe machen sind irgendwann ausgelaugt, haben so ihre Krisen. Die hattest du auch, aber bei dir hat man das Gefühl, du erfindest dich immer wieder neu.

Dirk: Das ist halt das Spannende an dem Arbeitsfeld bei den Sportpiraten und vor allen Dingen auch mit dem BMX und Skatepark Schlachthof. Kein Tag ist so wie der andere. Keine Woche. Kein Monat. Da ist einfach viel Bewegung. Das mag ich auch so an meinem Job. Dass ich neben der offenen Kinder und Jugendarbeit auch viel Marketing und Projektentwicklung mache. Da ist einfach viel Spielraum, vieles möglich zu machen für Kinder und Jugendliche mit Kindern und Jugendlichen.

TRAFO: Als du vor 20 Jahren angefangen warst du selbst ein Teil der Szene. Was hat sich mit dem Älterwerden verändert?

Dirk: Ich glaube, dass ist so ein bisschen wie im Fußball. Ich bin ja auch ehemaliger Fußballer. Ich spiele seit vielen Jahren nicht mehr, aber ich weiß halt, dass so Altliga-Spieler eben nicht mehr ganz so bissig sind. Aber die gleichen das dann durch fit sein und Routine aus. Das ist auch bei mir so. Ich weiß schon, ich bin heute noch bissig, aber ich glaube, ich bin anders bissig. Weil ich Erfahrung habe und auch weiß, wie ich mit Verwaltung und Politik zusammenarbeiten kann. Und mein Respekt hat sich da verändert. Früher war es glaube ich Angst, tatsächlich. Da war der große Respekt vor Verwaltung und Politik und heute ist es immer noch Respekt, anerkennender Respekt. Heute ist es schon so, dass wir auch auf einer Ebene agieren können. Also da geht es erst mal nur um mein Gefühl. Ich glaube einfach, in diesen 20 Jahren ist viel zusammengekommen.

Die Sportpiraten sind ein freier Träger der Kinder und Jugendhilfe und haben einen stadtweit Auftrag. Der ‚BMX und Skatepark Schlachthof‘ in der Flensburger Nordstadt wird von ihnen betrieben. Dort finden Angebote für junge Erwachsene und Jugendliche ab 14 Jahren statt – der Schwerpunkt liegt dabei auf Bewegung, Kultur und Sport.

Weiter geht‘s: Religiosität, Sport, Kultur und was die Pandemie für Kinder und Jugendliche bedeutet. Das Gespräch in ganzer Länge findet ihr online.

Ich habe aus Erfahrung gelernt. Das trifft es, glaube ich. Ja.

TRAFO: Du bist ja auch ein Mensch, der kein Abitur hat.

Dirk: Noch schlimmer, ich bin Hauptschüler.

TRAFO: Das hat es vielleicht für dich auch eine Zeit irgendwie so attraktiv gemacht, wenn man so ‚von unten‘ hochkommt und so ein Projekt raus haut, dann ist das schon eine Ansage. Hattest du jemals das Gefühl, nicht richtig anerkannt oder als Sonderling wahrgenommen zu werden?

Dirk: Nee, das Gefühl habe ich nie gehabt…

TRAFO: Also gab es immer offene Türen für Dich. Ist das dein Selbstbewusstsein oder was ist das?

Dirk: Ich glaube, ich bin immer authentisch rüber gekommen. Ich glaube, das ist so durch meine Person. Letztendlich hat ja die Hauptschule und die LKW-Schlosser Ausbildung und so mich zu dem gemacht, der ich bin. Das ist es glaube ich gewesen.

Also ich hab in all der Zeit nur zweimal so Sprüche erlebt. Einmal ging es um eine Stelle, wo jemand zu mir gesagt hat, das ist aber eine Stelle für Sozialpädagogen. Und einmal hatten wir das mit einem Sponsor, der mir gesagt hat, dass ja klar wäre, dass ich von Marketing keine Ahnung habe, weil ich das ja nicht studiert hätte. Und ich meine, wenn man sich den Schlachthof ansieht, was hier alles passiert ist, da konnte ich das ganz gut mit einem Grinsen beantworten.

32 Neustadtperspektiven
„Noch schlimmer, ich bin Hauptschüler.“

TRAFO: Dein Leben hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Ganz offensichtlich für alle nach außen sichtbar. Wie ist es denn so? Ich dachte bei mir, auch ein Dirk Dillmann hat Lebenskrisen. Wie reagiert denn deine Umgebung wenn sich das eigene Leben verändert, der persönliche Alltag schwierig ist? Du hattest eine Zeitlang sehr zu kämpfen mit der allgemeinen politischen Lage in der Stadt, als 2015/ 2016 die Flüchtlingssituation so anstrengend war, mit Überforderung, einer selbstgewählten und freiwilligen Überforderung, denn du hast wie viele in dieser Zeit Tag und Nacht gearbeitet. Dirk: Die Flüchtlingssituation 2015/2016, glaube ich, hat alle Menschen, die sich da rein geworfen haben, nachhaltig verändert und beeinflusst. Und alle brauchten damals eine Zeit, um wieder zurechtzukommen. Ich war als Verein und als Person am Bahnhof engagiert, haben uns dann irgendwann da auch gelöst und unsere Arbeit hier auf Flensburger und Neu-Flensburger:innen verlagert, auf Menschen, die in Flensburg bleiben dürfen. Ja, aber das war eine sehr emotionale Zeit und die hat natürlich auch mit jeder Person und eben auch mit mir viel gemacht. Das hat mich sehr verändert, hat mich sehr bewegt und sie hat mich sehr berührt. Sie hat mich, glaube ich, teilweise schwach gemacht, andererseits auch stark gemacht; auf jeden Fall geprägt. Auch politisch nochmal geprägt. Dass man für andere Menschen einzustehen hat und dass man sich gegen Nazis engagieren muss, für eine bunte Gesellschaft. Und dass es wichtig ist, Haltung zu zeigen.

TRAFO: Und dann hat sich deine persönliche Familiensituation verändert. Privatleben soll ja eigentlich ein Tabu sein. Ist ja auch im persönlichen Raum, der geschützt sein soll, ich habe ihn jetzt auch durchbrochen, weil du mir das erlaubt hast. Und weil du dein Privatleben ja auf Facebook durchaus darstellst. Und dann muss man eben auch mit Kommentaren bzw. Gerede rechnen.

Dirk: Wenn sich Familien trennen oder Mann und Frau oder Frau und Mann trennen, dann ist das ein harter Schritt. Wenn Kinder da sind… Das den Kindern irgendwie mitzuteilen und zu erklären, dass man diese Beziehung auflösen will… Wenn Vater und Mutter sich trennen, das ist nicht schön, dann geht es in erster Linie um die Kinder. Für die da zu sein.

Es gibt doch dieses grosse Wandmotiv hier in der Neustadt. ‚Es ist normal verschieden zu sein‘ (...). Das hätte ich mir in einem anderen Stadtteil gewünscht. Ich finde, das braucht die Neustadt nicht.

TRAFO: Nochmal zurück zur Zeit am Bahnhof 15/16 und danach. Ich habe den Eindruck, dass es immer mehr Menschen gibt, die anfangen, Dinge in Frage zu stellen. Die sagen: „das sind zu viele Ausländer, das kann ein Stadtteil nicht aushalten“, und fragen „Wo ist eigentlich das Ende der Migration?” Und schauen z.B. nach Dänemark. Diese 30 Prozent Regelungen, das hast du bestimmt mitbekommen, In Stadtteilen ab 1000 Menschen dürfen nicht mehr als 30% der Menschen Migranten sein. Das ist dort dabei, ein Gesetz zu werden. Wie ist das für dich, wenn du das hörst? Es gibt Leute, die möchten Veränderungen und die sagen, das muss auch bei uns anders werden: „Nicht alle aus dem Ausland können sich hier in der Neustadt versammeln.”

„Die Flüchtlingssituation 2015/2016, (...) hat alle Menschen, die sich da rein geworfen haben, nachhaltig

Dirk: Ich denke, dass man das beachten muss.

Es gibt doch dieses große Wandmotiv hier in der Neustadt. ‚Es ist normal verschieden zu sein‘ – ich weiß gar nicht genau, was da drauf steht. Das hätte ich mir in einem anderen Stadtteil gewünscht. Ich finde, das braucht die Neustadt nicht. Also wir wissen das alle. Wir sind irgendwie alle verschieden aber irgendwie sind wir auch alle gleich. So, und ich denke aber, dass wir hier in der Neustadt nicht drei, vier, fünf Moscheen brauchen. Ich würde mir wünschen, dass sie im Stadtgebiet verteilt sind. Dann würden sich die Menschen glaub ich mehr durchmischen. Ich denke, das ist wichtig. Ich glaube schon, dass man aufpassen muss, dass es keine, ich nenne das jetzt einfach mal ‚Ghettoisierung‘ gibt. Da muss man drauf aufpassen. Ich denke, dass der Schlachthof ein gutes Beispiel dafür ist, dass es um eine soziale Durchmischung geht.

Das Schöne ist, dass ich nicht wirklich spüre, wenn Leute über mich reden. Aber mir selbst sagt das halt keiner, weil sie irgendwie dann doch irgendwie Respekt haben oder sich nicht trauen. Und so Hinterrum, klar kriege ich das manchmal mit. Aber da hab ich schon so die klare Position, wer austeilt, muss auch einstecken können.

Nach außen hin bin ich ja irgendwie so ein starker und Typ und ja, eine starke Persönlichkeit. Und ich glaube, dass muss ich dann aushalten.

Menschen, die mir nahe stehen, die wissen, wie es mir geht.

Ja, dann bin ich dabei. Das ist dann so gelebte Integration, dass jede und jeder zum Schlachthof kommen kann, egal wo er herkommt. Und das ist dann natürlich. Dafür ist dieser Ort Schlachthof, dieser Jugendpark, BMX und Skatepark einfach gut. Normalerweise würden die Kids z. B. von der westlichen Höhe oder aus Engelsby nicht einfach so in die Nordstadt kommen. Sie fahren durchs Nordertor, obwohl sie das nicht wollen, sich nicht durch trauen. Aber sie müssen da durch, weil sie zum Schlachthof wollen. Nein, natürlich fahren die den Brauereiweg. Aber wenn man das Nordertor mal ein bisschen breiter denkt, fahren sie durchs Tor - durch dieses dunkle Nordertor (lacht), nur so bildlich gesprochen. Und weil sie ein Ziel haben, nämlich zum Schlachthof zu kommen, müssen sie da durch.

Und das erleben wir hier als einfach, dass alle Kids willkommen sind. Und da braucht man nicht über Migration oder Geflüchtete oder so reden. Wir haben hier Kinder aus allen Stadtteilen unter dem täglichen Publikum. Das ist ein riesen Gewinn, sie gehören einfach dazu. Die sind in der Gesamtheit vielleicht ein bisschen anders. Aber genau das macht es spannend und interessant und toll. Und deshalb ist es hier ein guter Ort und eben auch ein guter Job. Es ist einfach gut, hier arbeiten zu dürfen.

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Neustadtperspektiven
verändert und beeinflusst.“

Syrische Comics

22. bis 24. Oktober, Verein 8001, Neustadt 12 aus der Redaktion, Bilder: Hala Ismael und Ziad Zankello

Hala Ismael und Ziad Zankello sind Künstler*innen aus Aleppo, das liegt im Norden Syriens. Seit fünf Jahren leben sie in Schleswig-Holstein und zeichnen Comics und Karikaturen.

Ihre Bilder zeigen Ernsthaftes, Lustiges, Kritisches und Aktuelles aus Deutschland und Syrien. Sie sind eine Einladung auf das Leben in Syrien und in Deutschland zu schauen und eigene Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen. Ihre Kunst bietet die Möglichkeit ins Gespräch zu gehen und sie macht Spaß.

Hala und Ziad haben ein eigenes online Comic – Magazin: Faschal, Fehlschlag. Sie bieten während der Ausstellung einen Workshop an: „Typisch Deutsch-Typisch Syrisch? – Ein Workshop zu unseren Bildern im Kopf.“

Die „Katzenkünstlerin“

12. - 14. November, alter Sultanmarkt aus der Redaktion, Foto: Lothar Baur

„Wer denkt, dass es sich bei meiner Streetart nur um Katzen handelt, irrt! Denn meine Motivwahl ist im eigentlichen genauso vielfältig, wie die Orte an denen die Straßenkunst auftaucht. Dabei fällt meine Motivwahl oft tierisch aus. Dies hat den Hintergrund, dass es sich dabei um Lebewesen handelt, die vom Aussterben bedroht sind. So gebe ich ihnen die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen. Denn die Tiere selbst, können das ja schlecht.Die tierische Straßenkunst hat also einen tiefen Sinn, die ich aber gerne auf eine humorvolle Art verpacke.“

Die „Katzenkünstlerin“ hat den Streetart-Boom in Flensburg angefacht und ist immer noch nachts und unbeauftragt unterwegs. Während bei allen unseren Ausstellungen die KünstlerInnen anwesend sind, ist das hier natürlich nicht der Fall.

Hier könnt ihr ein Interview mit der Inkognito-Künstlerin hören.

Autodidakten aus Flensburg

01.-05. Dezember, alter Sultanmarkt aus der Redaktion, Bild: Rudi Ristau

Lazurd Alotba, Rudi Ristau und Felix Graf haben jeweils in der Kunst Baustelle 8001 sehr erfolgreich Einzelausstellungen gezeigt. Die kommende Gemeinschaftsausstellung bringt die drei jungen Kunstschaffenden und ihre sehr verschiedenen Werke zusammen und gibt den Besuchern und Besucherinnen die Möglichkeit einen umfassenden Eindruck von autodidaktischer Kunst in Flensburg zu erleben. Die Ausstellung findet im alten Sultanmarkt statt.

34 Kunst & Kultur

Herbst 2021

Die Inhalte des Magazins wurden nach bestem Wissen und Gewissen durch Hinweise, Informationen und Adressen ergänzt. Der Kunst und Kultur Baustelle 8001 e.V. übernimmt keine Haftung für die Aussagen und Inhalte Dritter.

Herausgebende:

Vorstand der „Kunst und Kultur Baustelle 8001 e.V“, Neustadt 12, 24939 Flensburg

Redaktion: Lothar Baur, Katja Hofschröer-Elbers

Konzept & Gestaltung: Katja Hofschröer-Elbers

Druck

Druckerei Ernst H. Nielsen

Auflage: 1100

Was bewegt Sie und Euch? Schreibt uns!

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Hier kommt der Kontakt: zur Trafo-Redaktion:

Email: redaktion-trafo@posteo.de zum Verein 8001:

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