225Jahre Neustadt Flensburg

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225 Jahre Neustadt


Foto: Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt

225 Jahre Neustadt ein Stadtteil im Wandel der Zeit Die TRAFO-Redaktion geht auf Spurensuche und gräbt das ein oder andere interessante Detail hervor. von Maya Trampler

Wer den Flensburger Stadtteil „Neustadt“ nicht kennt, aber aus Flensburg stammt, hat folgendes wahrscheinlich schon einmal gelesen oder gehört: Google schlägt vor: flensburg neustadt kriminalität flensburg altstadt neustadt flensburg läden flensburg problemviertel Die Flensburger Neustadt ist Sanierungsgebiet, seit 20 Jahren schon. Die Geschichte birgt aber mehrere Geheimnisse, die zu erzählen sich lohnen. Wussten Sie z.B., dass die Neustadt ein für den gesamten Norden bedeutsames Industrieviertel war? Dass Flensburg einst eine „Stadt der Mühlen“ war? Im Laufe der Geschichte gab es 24 Wasser- und 30 Windmühlen, drei von ihnen befanden sich in der Neustadt. Dass eine Straßenbahn zwischen 1907 und 1973 durch die Neustadt fuhr? Dass es ein großes Gefecht am Dreiecksplatz zwischen Deutschen und Dänen gegeben hat?

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Dass mehrere Häuser in der Neustadt – unter anderem auch das Gebäude des späteren Capitol-Kinos – im zweiten Weltkrieg zerstört wurden? Dass die Neustadt vor nicht einmal 50 Jahren noch voller Leben war? Es gab Laden an Laden, die später durch große Ketten verdrängt wurden. Dass die Neustadt heute die höchste Anzahl an Arbeitsplätzen in der Stadt aufweist?

Wo lebe ich eigentlich? Geht man spazieren in der Neustadt begegnen einem Obstund Gemüsehändler, Friseure und Baustellen, Leerstand und vielfältiges Leben. Aus Ruinen entsteht Neues. Das ist vernehmbar. Die Neustadt wird saniert und umgestaltet. Es scheint ein wiederkehrendes Thema zu sein. So hat es in dem Stadtteil, der sich nicht selten mit einseitigen und vorurteilsbehafteten Konnotationen konfrontiert sieht, immer wieder Momente des Abbruchs und der Erneuerung gegeben – ein Blick in die Geschichte zeigt dies ziemlich eindrücklich.


Von Meuchelmördern und allerlei Gesindel Seit 225 Jahren existiert das Viertel, das außerhalb Flensburgs Stadtmauern entstand. Es wurde zunächst entgegen dem Willen der Flensburger Kaufleute zur Bebauung freigegeben. Denn „die Bürger der Stadt sollten eigentlich geschützt werden vor allerhand los und leichtfertigen Gesindel sowie vor Meuchelmördern, die anderenfalls dort Unterschlupf finden könnten.“ So lautete zumindest die offizielle Begründung (Direktor des Stadtarchivs, Dr. Broder Schwennsen). Dass auch ökonomische Interessen, nämlich die Erhaltung der zu dieser Zeit explodierenden Immobilienpreise sowie der Schutz der Kaufleute vor Konkurrenz, ein weiterer Grund waren, wird auch vermutet.

Die Geburtsstunde der Flensburger Neustadt Flensburg platzt zu diesem Zeitpunkt wortwörtlich aus allen Nähten. Es ist 1780 und „die beengten Verhältnisse verschlechtern die hygienischen Verhältnisse derart, dass die Stadtführung nicht umhin kommt das Bebauungsverbot vor den Toren zu lockern.“ (Dr. Broder Schwennsen). Es soll noch mehr als 15 Jahre dauern bis die offizielle Verkündung mittels Plakat das „Ramsharder Feld“ für die Siedler freigibt, nämlich im Februar 1796. Also entstehen zunächst entlang der Hauptstraße ein paar Gebäude, die sowohl wirtschaftlichen als auch wohnlichen Zwecken dienen. Laut Stadtarchiv werden die zu dieser Zeit typischen Flensburger Produkte produziert und vertrieben: Zucker, Tabak, Öl, Seife, Korn- und Branntwein. Flensburg blickt auf ein koloniales Erbe zurück, das von Sklavenhandel und Ausbeutung gezeichnet ist. Im 18. Jahrhundert war die Stadt mit ihrem Hafen der Hauptumschlagsplatz der dänischen Westindienflotte und gelangte dadurch zu Wohlstand und Bedeutung. Der importierte Zucker wurde von hier aus weitervertrieben oder für Rumprodukte verwendet. Zu den erstgenannten Betrieben kommen noch klassische Handwerksbetriebe wie Tischlereien, ein Zimmermeister, ein Schuhmacher und ein Malermeister hinzu. Als erstes Industriegebäude erwähnt wird die Ziegelei (Neustadt 37), die sich schon vor der Bebauungsphase dort niedergelassen hat, sowie die Bergmühle,

Årsmøde – dänisches Jahrestreffen. In der Mitte ist die Eisengießerei Dittmann und Jensen zu sehen, im Hintergrund die Straßenbahn und das Nordertor zu erahnen. Das Bild entstand 1934, Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt

erbaut 1792, die eines der ältesten Wahrzeichen der Neustadt ist. An der jetzigen Harrisleer Straße entstehen Arbeiterwohnungen, die sich zum Teil noch heute dort befinden.

Motor und Gesinnungsprägend zugleich: die Industrie Ein wesentlicher Faktor für die generelle Entwicklung der Neustadt ist laut o.g. Stadthistoriker die Industrialisierung. Nachdem sich die erste Siedlergeneration mit herben Verlusten konfrontiert sieht und der dänische Staat in die napoleonischen Kriege hineingezogen wird, muss um 1832 herum jeder 10. Flensburger aus der Armenkasse unterstützt werden. Ab 1835 wendet sich die wirtschaftliche Lage wieder zum Guten. Die frühindustrielle Revolution macht auch vor den Toren Flensburgs nicht halt.

Die Bergmühle auf „Dicker Willis Koppel“ ist heute noch dort zu sehen. Die Werft zog weiter Richtung Norden. Fotos: Verein Flensburger Norden

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Dreiecksplatz um 1900: Das Denkmal wurde später um ein paar Meter nach hinten versetzt. Blickrichtung Gasstr. von der Harrisleer Str. aus fotografiert Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt

Der Dreiecksplatz heute Foto: Maya Trampler

Neustadt Blickrichtung St.Petri, daneben die Flügel der Bergmühle, im Vordergrund die Strassenbahn, 1960-1963 Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf:in unbekannt

Damals mit Straßenbahn, heute mit Fahrradparkplatz: Das Nordertor Fotos: Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf:in unbekannt, rechts: Katja Hofschröer-Elbers

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Gleiche Perspektive, 61 Jahre später: Die Flügel der Bergmühle sind verschwunden und auch die Straßenbahn fährt nicht mehr. Foto: Maya Trampler


Die Anfänge der Neustadt: Blick um 1868, Aufgenommen wahrscheinlich vom Turnerberg Fotograf: Friedrich Brandt, aus dem Archiv der Dansk Centralbibliotek

Ähnliche Perspektive, ganz anderes Bild: 150 Jahre später ist die Neustadt kaum wieder zu erkennen Fotoarchiv Raake

Die Arbeitersiedlung in der Harrisleerstr. um 1871 Fotograf*in unbekannt

Der Straßenzug im Jahr 2022 Fotoarchiv Raake

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Es entstehen Betriebe wie die Eisengiesserei Dittmann und Jensen (Neustadt 40), von dieser sind noch die Fabrikantenvilla (rechts daneben) und einige Fabrikgebäude übrig. Noch später entsteht das Gaswerk, von dem sich auch der Name Gasstraße ableitet. P.P.Voß betreibt in der Feldstraße eine Salzfabrik, Stahnke und Jensen die Glashütte, die noch als Bushaltestelle und gleichnamige Kneipe im Alltagsbewusstsein verankert sind. Viel später wird das Viertel mit der Werft und den Stadtwerken an wirtschaftlicher Gewichtung zunehmen. Straßennamen wie die Meiereistraße oder der Brauereiweg erinnern noch an vergangene Zeiten, als die Neustadt noch viel stärker von der Industrie geprägt war, als sie es derzeit ist.

Die Schlacht am Dreiecksplatz So wie im übrigen Stadtgebiet weist die Neustadt Narben kriegerischer Kämpfe auf. Nicht unerwähnt bleiben soll deshalb die Schlacht am Dreiecksplatz. Dort erinnert noch ein altes Denkmal an die Gefallenen deutsch-Gesinnten des ersten Schleswig-Holsteinischen Krieges (Auf dänisch: Treårskrigen). Das Kieler Studenten- und Turnerkorps und die Soldaten der provisorischen Schleswig-Holsteinischen Armee hatten sich 1848 zusammengeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt unterstand das Herzogtum Schleswig dem Befehl des dänischen Königs. Die Grenze reichte bis hinunter zur Eider. Das Herzogtum Holstein war dem deutschen Bunde angeschlossen. Schleswig wurde von dänischer Seite regiert. Ohne Anerkennung des dänischen Königs bildete sich zu dem Zeitpunkt in Kiel eine provisorische Regierung, die versuchte sich unabhängig zu machen. Ziel war die Aufnahme Schleswigs im Deutschen Bund und die Bildung einer Schleswig-Holsteinischen Volksarmee. Die dänische Armee hatte das Gebiet schlussendlich nach harten Kämpfen am Dreiecksplatz umzingelt und die Gegner gefangen genommen. Während dieser kriegerischen Auseinandersetzung starb ein Major namens Michelsen, dessen Aufgabe es war, die Stellung so lange wie möglich zu halten. Die Michelsenstraße erinnert an den gefallenen Major und der Turnerberg an den aus Kiel stammenden Studenten- und Turnerkorps, der während der Schlacht faktisch ausgelöscht wurde.

9.April 1848: Kampfszene vor der Eisengießerei in der Neustadt, Lithografie: Ch.M.Tegners lith. Inst., Kopenhagen, Archiv der Dansk Centralbibliotek

Turbulente Zeiten Bis zum abermaligen industriell geprägten Aufschwung zum Beginn des 20. Jahrhunderts durchlebt die Neustadt weitere tiefgreifende Veränderungen. So werden einerseits Infrastrukturen ausgebaut - die Neustadt erweitert sich z.B. mit der Apenrader Chaussee in den Norden – und andererseits verursachen die Weltwirtschaftskrise und das Ringen um die Vorherrschaft in den Herzogtümern drei Währungsumstellungen sowie die Verschiebung der Grenze bis weit hinauf ins dänische Territorium. 1871: Flensburg ist von nun an Teil des deutschen Kaiserreiches.

Die 2. industrielle Welle Rund um die Galwiker Bucht wächst kurz darauf Flensburgs – damals – größtes Industriegebiet heran. Es entstehen die Werft, die Aktienbaruerei, das neue Elektrizitätswerk und der Schlachthof. Um die Bauer Landstr. herum entstehen weitere Arbeiterwohnungen aber auch ein paar Villen, die bis heute noch erhalten sind. Mit dem Bau der FSG (Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft) wird im Jahre 1872 der Übergang vom Segel- zum Dampfschiff markiert. Für eine Kaufsumme von 21.000 Talern wird das Gelände auf der Hafenwestseite erstanden und anschließend bebaut. Später um 1900 entsteht die neue Werft am Ostseebad, die alte an der Werftstraße dient weiterhin als „Ausrüstungswerft“.

Grenzverschiebungen Es gab immer wieder Unstimmigkeiten darüber, wo die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland zu verlaufen hat. Vor dem Dänisch-Deutschen Krieg lag sie noch auf Höhe der Eider am Danewerk. Dort verläuft sie auch noch nach der Eingemeindung des Herzogtums Schleswig in den dänischen Staat. Die Grenze zum restlichen Dänemark markiert der Kongeå (die Königsau).

1921: Menschenmassen in der Neustadt: Die erstmalige Jahresfeier der Volksabstimmung Die Grenzabstimmung von 1920 hat bis heute Bestand, Fotograf*in unbekannt, aus dem Archiv der Dansk Centralbibliotek

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1864 marschieren die Preußen und Österreicher ein, um sich Schleswig und Holstein zurückzuerobern. Es gibt eine große Schlacht an den Dübbeler Schanzen. Die Grenze verläuft daraufhin an der Königsau und die zuvor bestehende Zollgrenze verschiebt sich auch dorthin. Dadurch entstehen schwierige wirtschaftliche Umstellungsprobleme für Flensburg, die im Zuge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs der siebziger Jahre (nach der Reichsgründung 1871) gelöst werden können (‚Gründerzeit‘).

Wirtschaftlicher Aufschwung Die Flensburger Neustadt profitiert von dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung und wächst ab den 1870er Jahren uneinheitlich und weit über die alten Hauptstraßen hinaus. Die Ablösung der Segelschiffe durch Dampfschiffe brachte eine neue Ära der Industrie. „Vor allem im Bereich der Apenrader Straße, aber auch weiterhin im Umfeld der inneren Neustadt entstehen Fabriken, Arbeiterwohnungen und Villen Seite an Seite.“ (Schlaber, 2009) Der FAB (Flensburger Arbeiter Bauverein) errichtet als erste deutsche Baugenossenschaft für Arbeiter in der Harrisleer Straße mehrere Mietshäuser und setzt sich mit der nach ihm benannten Vereinsstraße ein Denkmal. Klein-England, nannte man die Harrisleer Str. damals (Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte). Denn hier wird nach englischem Vorbild zum größten Teil

1899 eröffnet. 1901 geht die Neue Werft an den Start. (Werftstr.24, heutige Zentrale des Flensburger Fahrzeugbaus) 1908/09 wurde die St.Petri Kirche erbaut. Ein Gebäude, das die Neustadt ganz besonders prägt, entsteht im Jahre 1889: Die Walzenmühle, als Aktiengesellschaft gegründet, erhebt sie sich „auf unsicherem Grund und stark fundamentiert am Eingang des Stadtteils“ (Schwennsen, Verein Flensburer Norden). Sie ist eine ehemalige Industriemühle mit einem Siloturm, in welcher Korn gemahlen wurde und verdrängt damit die alten Mühlen, die noch mit Wind und Wasser betrieben werden. Darüber hinaus wachsen um 1900 herum vor allem an den Anhöhen hohe Mietshäuser im Jugendstil aus dem Boden.

Sozialstruktur Der Neustädter Raum entwickelt sich zum größten Industriebezirk im ehemalige Herzogtum Schleswig. Für die neu entstandenen Betriebe können nur noch Aktiengesellschaften das Geld aufbringen (lt. Verein Flensburger-Norden). Dadurch verändert sich auch das Stadtbild und die Sozialstruktur extrem. War die Neustadt vorher auch noch stark durch die bürgerliche Mitte geprägt, so wird sie nun ein Arbeiterviertel mit dazwischen liegenden Villen. Als Arbeiterviertel ist die Neustadt also entstanden und so wird es auch immer noch von vielen wahrgenommen. Dennoch begegnen einem interessante Zahlen, so liegt der Anteil der Freiberufler, Fabrikanten und Beamten in der erwerbstätigen Neustädter Bevölkerung im Jahre 1847 noch bei 27% und ist im Laufe der Jahre bis 1987 auf nur 6,5% gesunken. Gewählt wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts vornehmlich Rot: Die SPD hat einen Wähleranteil von bis zu 80%. Sogar dänisch-Gesinnte, von denen es in der Neustadt sehr viele gibt, schließen sich laut Schwennsen „durch die gelebte sozialdemokratische Infrastruktur“ eher der Arbeiterpartei an, als ihre eigenen Leute zu wählen.

Diese Karte bildet eindrücklich die Grenzverschiebung zwischen Deutschland und Dänemark ab. Die Grenze wie wir sie heute kennen besteht seit 1921.

Wohnraum für die Arbeiter und Angestellten der schnell wachsenden Industrie gebaut. Interessante Eckdaten: Die FSG wird 1872 gebaut, die Pferdebahn Neustadt-Angelburger Str nimmt 1881 ihren Betrieb auf. 1882 wird das Wasserwerk in Betrieb genommen,1889 wird die Export-Bier Brauerei gegründet, 1894 das Elektrizitätswerk. Der Schlachthof wird

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Mobilität

Im Jahre 1907 stellt die Pferdebahn ihren Betrieb ein und wird durch die elektrische Straßenbahn ersetzt. Die Flensburger Werft steht an der Spitze der deutschen Werftindustrie, gefolgt von Blohm & Voss (Hamburg) und Stettiner Vulkan (Stettin). Flensburg avanciert zur drittgrößten Reedereistadt nach Hamburg und Bremen.

Krieg und Flucht

Zwischen 1914 und 1918 macht der 1. Weltkrieg den wirtschaftlichen Aufschwung wieder zunichte. Ein weiteres Mal wird die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland verhandelt. Diesmal durch eine Volksabstimmung im Jahre 1920. Nordschleswig wird ein Teil Dänemarks und Flensburg zur Grenzstadt. Seitdem befindet sich die Grenze dort, wo sie heute ist. Im 2. Weltkrieg fallen in Flensburg im Vergleich zu anderen Städten wenig Bomben. Doch ist die Neustadt der Stadtteil, der am stärksten betroffen ist. Die Werft ist ein wichtiges strategisches Ziel, da sie während des Krieges begonnen hatte U-Boote zu produzieren. Am 19. Mai 1943 kam es zu einem tragischen Ereignis, das einigen Alteingesessenen vielleicht noch im Gedächtnis geblieben ist: Während eines schweren Angriffs durch US-amerikanische Bomber starben 21 Erwachsene und 15 Kinder des dänischen Kindergartens Mariehjem in der Neustadt durch eine aufgerissene Wasserleitung, die in den verschütteten Bunker floss, wo insgesamt 270 Menschen Schutz suchten. Die Eingeschlossenen ertranken. Insgesamt fielen an diesem Tag 458 Bomben auf den nördlichen Teil der Stadt. Das Nordertor wurde beschädigt, die Rüstungsbetriebe im Norden

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der Stadt, ganze Teile der Werft, das Gaswerk, das Wasserwerk, 14 Wohngebäude wurden vollkommen zerstört und mehrere 100 beschädigt. Die U-Boot-Produktion wurde nach dem Bombenangriff im Jahre 1944 endgültig eingestellt. Gegen Ende des 2. Weltkrieges gelangen innerhalb eines Jahres 30.000 Kriegsflüchtlinge in die Stadt. Erstmalig hat die Stadt nun eine Einwohnerzahl von über 100.000 und gilt für 7 Jahre als Großstadt. Die letzte Reichsregierung flieht auch hierher und verkündet von der Marineschule aus am 07. Mai 1945 die Kapitulation und das Ende des „3. Reiches“.

1 Mai 1937, dunkle Zeiten: eine Nazionalsozialistische Parade zieht durch die Neustadt Fotograf*in unbekannt, Archiv der Dansk Centralbibliotek


Die Neustadt von Oben: 1912 aus dem Luftschiff „Hansa“ fotografiert und 2021 aus dem Segelflugzeug, Fotoarchiv Raake

Hotel Norden am jetzigen Dreiecksplatz, Fotoarchiv Raake

19. Mai 1943: Neustadt Nr. 50, Das Gebäude des alten Capitol Kinos fiel den Bomben im 2. Weltkrieg zum Opfer. Fotograf*in unbekannt, Archiv der Dansk Centralbibliotek

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Rückblick: Nahversorgung direkt um die Ecke. Vor gut 40 Jahren prägte vielfältiger Einzelhandel den Kern des Stadtteils Fotos auf dieser Seite: Fotoarchiv Raake

Wirtschaft und Gastarbeit

Mit Ansiedelung der Firma Danfoss kommt 1958 ein weiterer industrieller Betrieb in die Neustadt. Die Stadt kann zu diesem Zeitpunkt nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stellen und deshalb heuert die Firma zum großen Teil griechische und türkische „Gastarbeiter” zur Herstellung von Kompressoren an.

Sprung in Richtung Gegenwart „Heute zeigt die Neustadt ein uneinheitliches Bild. Viele Häuser aus der Anfangszeit sind erhalten geblieben. Die meisten Industriegebäude sind hingegen verschwunden und vor allem durch große Supermärkte sowie das Polizeirevier ersetzt worden” (Schlaber). Das alte Industriegebiet zwischen Neustadt, Apenrader Straße und Galwik ist heute weitestgehend deindustrialisiert. In den 70er Jahren herrschte ein äußerst vielfältiges Geschäftsleben vor allem entlang der Hauptstraße. „Es gab Laden an Laden

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– eine Stadt in der Stadt,“ (wie meine Nachbarin Gudrun erzählt, die seit ihrer Geburt in ein und demselben Haus wohnt). Auch Thomas Raake, langjähriger Besitzer des gleichnamigen Fotofachgeschäfts, erinnert sich gut an diese Zeit: „Wir hatten einen Baumarkt, einen Eisenwarenhandel, Kaisers Kaffee, ein Bekleidungsgeschäft, ein Hotel, eine Heißmangel, einen Feinkostladen, mehrere Bäcker und einen Milchladen, einen Fischladen, RoehrEcke (Schreibwarenladen), das Capitol-Kino und vieles mehr.“ Diese sind im Zuge der Verbreitung großer Supermarktketten leider zum großen Teil verschwunden – Leerstand entstand. Es gab Bankrotte, Aufgaben aus Altersgründen und einem Sog in die Innenstadt. Aufgefangen wurde dieser durch erste migrantische Bemühungen sich selbstständig zu machen. Und dieses bunte Geschäftstreiben prägt heute den Stadtteil. Für die heute verbliebenen Baustellen und Brachen hat die Stadt große Pläne: Eine neue Flaniermeile entlang des Fördeufers und 480 Wohnungen im Schwarzenbachtal (zwischen Neustadt, Junkerhohlweg und der Harrisleer Straße) sollen gebaut werden. Die Stadtplaner des Sanierungsträgers „Ihrsan“ haben in den letzten


20 Jahren ausführlich an der Entwicklung des Stadtteils gefeilt und mehrere Projekte angeschoben, die auch ein weiteres Wohngebiet gegenüber der alten Walzenmühle beinhalten. Es sollen Wohnungen, eine Drogerie, Cafés und ein Quartiersplatz entstehen, die den Stadtteil weiter beleben sollen.

Viel Bedeutendes ist hier passiert Die Neustadt hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Es ist ein Stadtteil, geprägt von extremen Schwankungen, welche sich auch im Stadtbild manifestiert haben. Immer wieder gab es Kriege, welche wirtschaftliche und sozialstrukturelle Entwicklungen zu Nichte gemacht haben: Die Austragung der deutsch-dänischen Grenzkonflikte, Bombardements im zweiten Weltkrieg, wirtschaftliche Auf und Abs – die Neustadt war als Industriestandort immer besonders stark betroffen. Der Stadtteil wirkt wie ein Brennglas für schwierige Umstrukturierungen, bis heute: Einkaufszentren in Randlagen, die Abwanderung kleiner Geschäfte, die Stagnation der Quartiersentwicklung mit viel Leerstand und Brachen, Frust über langwierige Planungsprozesse, die Zuwanderung und Durchmischung verschiedener Kulturen - all das hat starke Auswirkungen auf die Stadtteilkultur.

Und jetzt? Die Neustadt hat nach wie vor mit einem Außenseiter-Image zu kämpfen. Zu Unrecht – hat doch der Stadtteil als Geburtsort so vieler Innovationen Pioniercharakter für die ganze Stadt:

Ausblick (von der Walzenmühle): hier soll ein neues Stadtteilzentrum mit Wohnraum, Quartiersplatz und Einzelhandel entstehen Foto: Katja Hofschröer-Elbers, Grafik: CKRS Architektengesellschaft mbH

Pferdebahn, elektrische Eisenbahn, Mühlen, Brennereien, Handwerk, Gaswerk, die Werft. Was bleibt ist ein ambivalenter Blick in die Zukunft. Neben Unzufriedenheit ist auch (und wieder) viel Energie da: Menschen, die diesen Stadtteil als ihre Heimat bezeichnen und ihn beleben. Buntes Treiben auf den Straßen. Engagierte Menschen, Einrichtungen, Vereine und Initiativen, die das Quartier mitgestalten. Eine tiefe Verbundenheit mit dem Stadtteil und ihrer Menschen ist spürbar. Was auch bleibt, wenn man sich mit den Bewohnern und Bewohnerinnen des Stadtteils unterhält, ist der Wunsch nach kulturellem Austausch und Begegnungen hier im Quartier, die Sehnsucht nach höherer Aufenthaltsqualität im Zentrum, die Vorfreude auf ein Wiederaufleben des Stadtteilkerns – durch neuen Wohnraum, Neubauten mit diversem Einzelhandel und einem belebten Zentrum. Allen gemein ist der Wunsch nach einem Aufblühen eines Stadtteil, der es verdient hat gesehen zu werden!

Quellen:

Im Sommer 2021 knabbern (oder kippen) die Bagger an der Kaimauer: Auch jetzt finden weiterhin aufwendige Bauarbeiten am Westufer der Förde statt. In Zukunft soll hier die „Fördepromenade“ den Fuß- und Radweg entlang der Förde bis zum Galwik-Park erweitern. Foto: Peter Kröber, Grafik: kessler.krämer Landschaftsarchitekten

*Dr. Broder Schwennsen, Stadtarchiv Flensburg *Vom Land zum Stadtteil, Gerret Liebing Schlaber, Flensburg 2009 *Archiv der Dansk Centralbibliotek *„Als die Werft an der Werftstraße lag“, https://www.shz.de/195975 ©2021 *Verein Flensburger-Norden

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Kopfzeile A April 2022 Sonderausgabe des „TRAFO Magazins“ anlässlich des 225-jährigen Jubiläums der Flensburger Neustadt Die Inhalte der Veröffentlichung wurden nach bestem Wissen und Gewissen durch Hinweise, Informationen und Adressen ergänzt. Der Kunst und Kultur Baustelle 8001 e.V. übernimmt keine Haftung für die Aussagen und Inhalte Dritter.

Herausgebende: „Kunst und Kultur Baustelle 8001 e.V“, Neustadt 12, 24939 Flensburg

Text: Maya Trampler

Gestaltung: Katja Hofschröer-Elbers

Was bewegt Euch? Schreibt uns! Fragen, Kritik, Anregungen oder Wünsche? Hier kommt der Kontakt: zur Trafo-Redaktion: redaktion-trafo@posteo.de zum Verein 8001: erfundenesland@posteo.de

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