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Die Neustadt. 225 Jahre Geschichte in 2 Teilen

Die TRAFO-Redaktion geht auf Spurensuche und gräbt das ein oder andere interessante Detail hervor.

von Maya Trampler

Die Geburtsstunde der Flensburger Neustadt

Wo lebe ich eigentlich?

Geht man spazieren in der Neustadt begegnen einem Obst- und Gemüsehändler, Friseure und Baustellen, Leerstand und vielfältiges Leben. Aus Ruinen entsteht Neues. Das ist vernehmbar. Die Neustadt wird saniert und umgestaltet. Es scheint ein wiederkehrendes Thema zu sein. So hat es in dem Stadtteil, der sich nicht selten mit einseitigen und vorurteilsbehafteten Konnotationen konfrontiert sieht, immer wieder Momente des Abbruchs und der Erneuerung gegeben – ein Blick in die Geschichte zeigt dies ziemlich eindrücklich.

Von Meuchelmördern und allerlei Gesindel

Seit 225 Jahren existiert das Viertel, das außerhalb Flensburgs Stadtmauern entstand. Es wurde zunächst entgegen des Willens der Flensburger Kaufleute zur Bebauung frei gegeben. Denn „die Bürger der Stadt sollten eigentlich geschützt werden vor allerhand los und leichtfertigen Gesindel sowie vor Meuchelmördern, die anderenfalls dort Unterschlupf finden könnten.“ So lautete zumindest die offizielle Begründung (Direktor des Stadtarchivs, Dr. Broder Schwennsen).

Dass auch ökonomische Interessen, nämlich die Erhaltung der zu dieser Zeit explodierenden Immobilienpreise sowie der Schutzder Kaufleute vor Konkurrenz, ein weiterer Grund waren, wird auch vermutet.

Flensburg platzt zu diesem Zeitpunkt wortwörtlich aus allen Nähten. Es ist 1780 und „die beengten Verhältnisse verschlechtern die hygienischen Verhältnisse derart, dass die Stadtführung nicht umhin kommt das Bebauungsverbot vor den Toren zu lockern.“ (Dr. Broder Schwennsen). Es soll noch mehr als 15 Jahre dauern bis die offizielle Verkündung mittels Plakat das „Ramsharder Feld“ für die Siedler freigibt, nämlich im Februar 1796. Also entstehen zunächst entlang der Hauptstraße ein paar Gebäude, die sowohl wirtschaftlichen als auch wohnlichen Zwecken dienen. Laut Stadtarchiv werden die zu dieser Zeit typischen Flensburger Produkte produziert und vertrieben: Zucker, Tabak, Öl, Seife, Korn- und Branntwein. Flensburg blickt auf ein koloniales Erbe zurück, das von Sklavenhandel und Ausbeutung gezeichnet ist. Im 18. Jahrhundert war die Stadt mit ihrem Hafen der Hauptumschlagsplatz der dänischen Westindienflotte und gelangte dadurch zu Wohlstand und Bedeutung. Der importierte Zucker wurde von hier aus weitervertrieben oder für Rumprodukte verwendet. Årsmøde – dänisches Jahrestreffen.

In der Mitte ist Dittmers Eisengießerei zu sehen, im Hintergrund die Straßenbahn und das Nordertor zu erahnen. Das Bild entstand 1934

In der Mitte ist Dittmers Eisengießerei zu sehen, im Hintergrund die Straßenbahn und das Nordertor zu erahnen. Das Bild entstand 1934

Zu den erstgenannten Betrieben kommen noch klassische Handwerksbetriebe wie Tischlereien, ein Zimmermeister, ein Schuhmacher und ein Malermeister hinzu. Als erstes Industriegebäude erwähnt wird die Ziegelei (Neustadt 37), die sich schon vor der Bebauungsphase dort niedergelassen hat, sowie die Bergmühle, erbaut 1792, die eines der ältesten Wahrzeichen der Neustadt ist. An der jetzigen Harrisleer Straße entstehen Arbeiterwohnungen, die sich zum Teil noch heute dort befinden.

Ein wesentlicher Faktor für die generelle Entwicklung der Neustadt ist laut o.g. Stadthistoriker die Industrialisierung. Nachdem sich die erste Siedlergeneration mit herben Verlusten konfrontiert sieht und der dänische Staat in die napoleonischen Kriege hineingezogen wird, muss um 1832 herum jeder 10. Flensburger aus der Armenkasse unterstützt werden.

Ab 1835 wendet sich die wirtschaftliche Lage wieder zum Guten. Die frühindustrielle Revolution macht auch vor den Toren Flensburgs nicht halt.

Es entstehen Betriebe wie die Eisengiesserei Dittmann und Jensen (Neustadt 40), von dieser sind noch die Fabrikantenvilla (rechts daneben) und einige Fabrikgebäude übrig.

Noch später entsteht das Gaswerk, von dem sich auch der Name Gasstraße ableitet. P.P.Voß betreibt in der Feldstraße eine Salzfabrik, Stahnke und Jensen die Glashütte, die noch als Bushaltestelle und gleichnamige Kneipe im Alltagsbewusstsein verankert sind.

Viel später wird das Viertel mit der Werft und den Stadtwerken an wirtschaftlicher Gewichtung zunehmen. Straßennamen wie die Meiereistraße oder der Brauereiweg erinnern noch an vergangene Zeiten, als die Neustadt noch viel stärker von der Industrie geprägt war, als sie es derzeit ist.

Die Schlacht am Dreiecksplatz

So wie im übrigen Stadtgebiet weist die Neustadt Narben kriegerischer Kämpfe auf. Nicht unerwähnt bleiben soll deshalb die Schlacht am Dreiecksplatz. Dort erinnert noch ein altes Denkmal an die Gefallenen deutsch-Gesinnten des ersten Schleswig-Holsteinischen Krieges (Auf dänisch: Treårskrigen).

Das Kieler Studenten- und Turnerkorps und die Soldaten der Elektrizitätswerk und der Schlachthof. Um die Bauer Landstr. herum entstehen weitere Arbeiterwohnungen aber auch ein paar Villen, die bis heute noch erhalten sind.

Mit dem Bau der FSG (Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft) wird im Jahre 1872 der Übergang vom Segel- zum Dampfschiff markiert. Für eine Kaufsumme von 21.000 Talern wird das Gelände auf der Hafenwestseite erstanden und anschließend bebaut. Später um 1900 entsteht die neue Werft am Ostseebad, die alte an der Werftstraße dient weiterhin als „Ausrüstungswerft“.

Motor und Gesinnungsprägend zugleich: die Industrie

provisorischen Schleswig-Holsteinischen Armee hatten sich 1848 zusammengeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt unterstand das Herzogtum Schleswig dem Befehl des dänischen Königs. Die Grenze reichte bis hinunter zum Eider. Das Herzogtum Holstein war dem deutschen Bunde angeschlossen. Schleswig wurde von dänischer Seite regiert. Ohne Anerkennung des dänischen Königs bildete sich zu dem Zeitpunkt in Kiel eine provisorische Regierung, die versuchte sich unabhängig zu machen. Ziel war die Aufnahme Schleswigs im Deutschen Bund und die Bildung einer Schleswig-Holsteinischen Volksarmee.

Die dänische Armee hatte das Gebiet schlussendlich nach harten Kämpfen am Dreiecksplatz umzingelt und die Gegner gefangen genommen.

Während dieser kriegerischen Auseinandersetzung starb ein Major namens Michelsen, dessen Aufgabe es war die Stellung so lange wie möglich zu halten. Die Michelsenstraße erinnert an den gefallenen Major und der Turnerberg an den aus Kiel stammenden Studenten- und Turnerkorps, der während der Schlacht faktisch ausgelöscht wurde.

Turbulente Zeiten

Bis zum abermaligen industriell geprägten Aufschwung zum Beginn des 20. Jahrhunderts durchlebt die Neustadt weitere tiefgreifende Veränderungen. So werden einerseits Infrastrukturen ausgebaut - die Neustadt erweitert sich z.B. mit der Apenrader Chaussee in den Norden – und andererseits verursachen die Weltwirtschaftskrise und das Ringen um die Vorherrschaft in den Herzogtümern drei Währungsumstellungen sowie die Verschiebung der Grenze bis weit hinauf ins dänische Territorium. 1871: Flensburg ist von nun an Teil des deutschen Kaiserreiches.

Die 2.industrielle Welle

Rund um die Galwiker Bucht wächst kurz darauf Flensburgs – damals – größtes Industriegebiet heran. Es entstehen die Werft, die Aktienbaruerei, das neue

Die Bergmühle auf „Dicker Willis Koppel“ ist heute noch dort zu sehen.

Die Bergmühle auf „Dicker Willis Koppel“ ist heute noch dort zu sehen.

Dreiecksplatz um 1900: Das Denkmal wurde später um ein paar Meter nach hinten versetzt. Blickrichtung Gasstr. von der Harrisleer Str. aus fotografiert Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt Der Dreiecksplatz heute Foto: Maya Trampler

Dreiecksplatz um 1900: Das Denkmal wurde später um ein paar Meter nach hinten versetzt. Blickrichtung Gasstr. von der Harrisleer Str. aus fotografiert Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf*in unbekannt Der Dreiecksplatz heute Foto: Maya Trampler

Sozialstruktur

Neustadt Blickrichtung St.Petri, daneben die Flügel der Bergmühle, im Vordergrund die Strassenbahn, 1960-1963, Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf:in unbekannt Gleiche Perspektive, 61Jahre später, Die Flügel der Bergmühle sind verschwunden und auch die Straßenbahn fährt nicht mehr, Foto: Maya Trampler

Neustadt Blickrichtung St.Petri, daneben die Flügel der Bergmühle, im Vordergrund die Strassenbahn, 1960-1963, Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf:in unbekannt Gleiche Perspektive, 61Jahre später, Die Flügel der Bergmühle sind verschwunden und auch die Straßenbahn fährt nicht mehr, Foto: Maya Trampler

Neustadt Blickrichtung St.Petri, daneben die Flügel der Bergmühle, im Vordergrund die Strassenbahn, 1960-1963, Archiv der Dansk Centralbibliotek, Fotograf:in unbekannt Gleiche Perspektive, 61Jahre später, Die Flügel der Bergmühle sind verschwunden und auch die Straßenbahn fährt nicht mehr, Foto: Maya Trampler

Gewählt wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts vornehmlich Rot: Die SPD hat einen Wähleranteil von bis zu 80%. Sogar dänisch-Gesinnte, von denen es in der Neustadt sehr viele gibt, schließen sich laut Schwennsen „durch die gelebte sozialdemokratische Infrastruktur“ eher der Arbeiterpartei an, als ihre eigenen Leute zu wählen.

Als Arbeiterviertel ist die Neustadt also entstanden und so wird es auch immer noch von vielen wahrgenommen. Dennoch begegnen einem interessante Zahlen, so liegt der Anteil der Freiberufler, Fabrikanten und Beamten in der erwerbstätigen Neustädter Bevölkerung im Jahre 1847 noch bei 27% und ist im Laufe der Jahre bis 1987 auf nur 6,5% gesunken.

Die Zusammenhänge in der Sozialstruktur sowie die 2 Weltkriege und deren Folgen werden wir in einem zweiten Teil beschreiben. Quellen: *Dr. Broder Schwennsen, Stadtarchiv Flensburg *Vom Land zum Stadtteil, Gerret Liebing Schlaber, Flensburg 2009 *Archiv der Dansk Centralbibliotek *„Als die Werft an der Werftstraße lag“, https:// www.shz.de/195975 ©2021 *Verein Flensburger-Norden