ZKO OPUS III - Mai/Juni 2022

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Z KO - F E S T I VA L

WO L K E N F L U G

MEIN PULS GEHT SCHNELLER ALS BEI ANDEREN Glück und Glanz der Geigerin und Komponistin Grażyna Bacewicz (1909–1969) TEXT CORINNE HOLTZ

Sie kommt zu früh, bereits im siebten Monat, zur Welt. Sie schreibt fünfzehn Briefe in einer halben Stunde und sie läuft, statt zu gehen. Wie es dazu kommt? «Ich habe einen kleinen, unsichtbaren Motor, dank dessen ich in zehn Minuten mache, wofür andere eine Stunde brauchen.» Dieses gleichermassen selbstbewusste wie selbstironische Bekenntnis findet sich in einer ihrer autobiografischen Anekdoten im Sammelband Znak szczególny («Das besondere Kennzeichen»).

Gymnasium, anschliessend trat sie ein Doppelstudium an Konservatorium und Universität an. Paris war für viele ihrer Landsleute das Zentrum der Kultur. Dort unterzog sich Bacewicz ab 1932, mit den Diplomen Violine und Komposition im Gepäck, dem künstlerischen Regime wirkungsmächtiger Persönlichkeiten: Nadia Boulanger, die Grössen wie Leonard Bernstein und Astor Piazzolla unterrichtete, sowie Carl Flesch, Geiger und Pädagoge mit internationaler Strahlkraft.

Grazyna Bacewicz, Geigerin virtuoser Literatur und Komponistin von über 200 Werken, war auch literarisch tätig. Sie schrieb ein humoristisch-satirisches Theaterstück für das polnische Fernsehen und hinterliess Manuskripte mehrerer unveröffentlichter Romane.

Bacewicz würde heute als Überfliegerin gelten. Ihr vielgestaltiges Werk – etwa Vokalmusik, Opern, Sinfonien, sieben Violinkonzerte, Kammermusik sowie Film- und Hörspielmusik – könnte in vier Phasen gegliedert werden. Tonale Musik (bis 1958), aussertonales Komponieren (bis zu ihrem Tod im Jahr 1969) sowie die Suche nach einem eigenen Ton im jugendlichen Experimentieren (bis 1944) und reife Expressivität (ab 1945).

Ihr Werdegang ist aussergewöhnlich und dennoch typisch für das Selbstverständnis ihrer Herkunftsfamilien. Grazyna Bacewicz war das dritte von vier Kindern und kam 1909 in Łódz (Lodz) zur Welt. Der Vater war ein exilierter litauischer Musiker und Musikpädagoge, die emanzipierte Mutter entstammte einer wohlhabenden polnischen Familie mit adeligem Hintergrund. Förderung und Bildung kam auch den beiden Mädchen zu. Der Vater unterrichtete alle vier Kinder auf Violine und Klavier und vermittelte ihnen Grundkenntnisse der Musiktheorie. Die Mutter (Maria Modlinska) zog 1923 wegen besserer Bildungschancen mit den Kindern nach Warschau, während der Vater (Kestutis Bacewicz) die Übersiedlung nach Litauen zu organisieren versuchte. Grazyna absolvierte das

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Das Quartett für vier Violinen widmet Bacewicz 1949 ganz allgemein «Studierenden des Konservatoriums». Neoklassizistischer Zauber und tänzerischer Elan beflügeln die vier eng geführten Stimmen. Es ist ein spielerischer Weckruf inmitten der Doktrin des erstickenden Sozialistischen Realismus. Felix Mendelssohns berühmtes Oktett für Streicher Es-Dur op. 20 beschliesst den Reigen kammermusikalischer Perlen. Der Geniestreich des 16-Jährigen, das Scherzo, inspiriert von Goethes Walpurgisnachtszene in Faust I, huldigt ebenfalls der Geigenkunst: der Leichtigkeit des jung verstorbenen Berliner Virtuosen Eduard Rietz.


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