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ZKO-Festival: Selbst Schwalben stehen still
SELBST SCHWALBEN STEHEN STILL
Adalbert Stifter und Franz Schubert feiern die Sonnenfinsternis
TEXT CORINNE HOLTZ
FEDER UND BOGEN III: ADALBERT STIFTER FR, 24. JUNI 2022, 19.30 UHR ZKO-HAUS
Thomas Douglas Konzept und Erzählung Daniel Hope Music Director Daria Zappa Matesic Violine Ryszard Groblewski Viola Nicola Mosca Violoncello Anna Tyka Nyffenegger Violoncello
Franz Schubert Streichquintett C-Dur D 956
CHF 75
links: Adalbert Stifter rechts: Franz Schubert
Früh aus den Federn, Fernrohr und Schutzgläser geschultert, steigt der Dichter auf den Kornhäuslturm in der Seitenstettengasse Nr. 2 in Wien. Fast wäre er Professor in Prag geworden und hätte seine Kenntnisse in Mathematik, Astronomie und Physik der jungen Generation weitergegeben. Gut, dass es anders gekommen ist. Adalbert Stifter schuf in der kongenialen Verschränkung von Naturwissenschaft und Poesie die vielleicht dichteste literarische Beschreibung einer Sonnenfinsternis.
Stifters Ungeduld wächst. Die Warte ist inzwischen voll mit Menschen, die Zeit am frühen Morgen des 8. Juli 1842 scheint stillzustehen.
Wer je eine Sonnenfinsternis miterleben konnte, weiss: Es wird empfindlich kalt. Vögel werden erst unruhig, dann still. Wind kommt auf. Bleischweres Licht trübt den Blick, die glühende Sichel am Himmel droht zu erlöschen. Bei Stifter regt sich «fürchterliches Rot» und «tiefes, kaltes Blau», dann schmilzt der letzte Funke weg. Die Sonnenfinsternis dauert 1 Minute und 57 Sekunden. Stifter flüstert eine Zeile über den Menschen ohne Licht, der sein Haus anzündet, um die Dunkelheit zu bannen. Lord Byrons apokalyptisches Gedicht Die Finsternis ist in Stifters Kopf, als er vom Kornhäuslturm hinuntersteigt.
«Wäre ich Beethoven, so würde ich es in Musik sagen», heisst es in Stifters Aufsatz weiter. Der musikaffine Dichter träumt nach der Erschütterung von Lichtmusik und deren synästhetischen Wahrnehmung, wie sie erstmals Alexander Skrjabin in seinem Prometheus erproben sollte. Wir stellen Stifters Sonnenfinsternis Franz Schuberts Streichquintett C-Dur D 956 gegenüber. Der Komponist von Liebe und Tod konfrontiert uns in seinem letzten Kammermusikwerk mit Rätseln. Was ist vom obsessiv eingesetzten Schlüsselakkord zu halten (einem verminderten Vierklang), der die Nahtstellen des ersten Satzes kennzeichnet? Gleiches geschah bereits im Kopfsatz des d-moll-Streichquartetts (Der Tod und das Mädchen) und findet sich auch in den Heine-Liedern Die Stadt und Am Meer. Wovon spricht die Explosion im Mittelteil des Adagio? Die Tonart C-Dur stehe für «Unschuld» und «Einfalt», heisst es in der Charakteristik der Töne im Jahr 1806, einem wirkungsmächtigen Lehrwerk. C-Dur reisst uns allerdings auch aus Chaos und Finsternis zu Beginn von Joseph Haydns Schöpfung. Gottes Wort «Es werde Licht» (f-Moll) verwandelt über einen Dominantseptakkord auf G «und es ward» die Nacht in gleissendes Sonnenlicht (C-Dur).
Die Wucht dieser Wendung, dem Adagio-Ausbruch bei Schubert verwandt, kann sich guten Mutes mit der Maximumkorona mit plattem Rand messen, jener totalen Sonnenfinsternis, wie sie Stifter am 8. April 2024 zum nächsten Mal beobachten könnte. Die Destination heisst dann allerdings nicht Wien, sondern z.B. Toronto.
«Endlich, zur vorausgesagten Minute – gleichsam wie von einem unsichtbaren Engel empfing die Sonne den sanften Todeskuss – ein feiner Streifen ihres Lichtes wich vor dem Hauche dieses Kusses zurück, der andere Rand wallte in dem Glase des Sternenrohres zart und golden fort – ‹es kommt›, riefen nun auch die Zuseher.»
