Nummer 01
märz 2022
FÜR
UNTERNEHMER DIE WELT IN AUFRUHR Worauf sich der Mittelstand einstellen muss
Sie machen es besser Teil 1 unserer großen Mittelstandsstudie zeigt: Unternehmerinnen wirtschaften anders als Unternehmer. Jeannette zu Fürstenberg und Judith Dada sehen mehr Diversität als Gewinn – und engagieren sich mit Geld und Ideen dafür
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EDITORIAL
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Über dieses Heft Der Überfall auf die Ukraine und die Weltkrise lagen bei Redaktionsschluss Anfang März wie ein Schatten über dieser Ausgabe. Wir haben einen führenden Familienunternehmer gefragt, was der Konflikt für die Wirtschaft bedeutet. Die anderen Themen dieser Ausgabe macht das nicht unwichtiger, etwa den ersten Teil unserer großen Mittelstandsstudie, sie ist eine Standortbestimmung. Viel Gewinn beim Lesen! Ihr »ZEIT für Unternehmer«-Team
Titelfoto: Peter Rigaud für ZfU; kl. Fotos (v. l.): R. Heinicke; H. Kretschmer, V. Tammen; ZEIT-Grafik
An dieser Ausgabe haben unter anderem mitgearbeitet:
Rafael Heygster holte sich nasse Füße, als er einen Unternehmer im Wasser fotografierte
Haika Hinze ist Art-Direktorin der ZEIT und verantwortet die Optik des Magazins
Jens Tönnesmann ist Redakteur bei der ZEIT und ver antwortet das Magazin inhaltlich
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Zwischen Albstadt und Weimar Wo die Firmen ihren Sitz haben, die in dieser Ausgabe vorkommen Ausgezeichnet: Mit ihrem Beitrag »Grün werden für Anfänger« (Ausgabe 4/21) hat die Wirtschaftsjournalistin Kristina Läsker den Medienpreis Mittelstand NORD+OST (3. Platz) gewonnen
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So bringen Unternehmen en Welten das beste aus beide zusammen
Hybride Zoom-Arbeitssituation
Am 19. März endete die Homeoffice-Pflicht in Deutschland. Nachdem Millionen Beschäftigte jetzt lange von zu Hause aus gearbeitet haben und klar wurde, dass vieles gut funktioniert, stellt sich nun die Frage, wie das hybride Büro 2022 aussieht. Denn das hybride Arbeiten zeichnet sich derzeit für viele Unternehmen als das geeignetste Arbeitsmodell für die nächste Zeit ab. Ob Sie und Ihre Mitarbeiter zu großen Teilen in Ihre Büros zurückkehren, vollständig auf eine mobile Arbeitsumgebung umstellen oder Ihrem Team die Entscheidung überlassen: Zooms einheitliche Kommunikationsplattform bietet Ihnen die Funktionen und Funktionalitäten, die Ihr Team benötigt, um in jedem Fall sicher, verbunden und produktiv zu sein. Sowohl physische als auch mobile Arbeitsumgebungen haben ihre Daseinsberechtigung. Hybride Arbeitsumgebungen ermöglichen es den Teammitgliedern, die Umgebung auszuwählen, die am besten zu ihren Bedürfnissen und zu ihrer Arbeit passt. Während einige Vollzeit mobil arbeiten, entscheiden sich andere dafür, ihre Arbeit täglich im Büro zu erledigen. Dabei bleibt es ihnen überlassen, ihren Arbeitsstandort auf Grundlage ihres Terminplans, ihrer Projekte und täglichen Bedürfnisse zu wechseln. In hybriden Arbeitsumg gebungen treffen also die Vorte eile und Herausforderungen von physischen und mobilen Arbeitsumgebungen zusammen n. Verschiedene Schnittstellen einer hybriden Zoom-Arbeitsumgebung
Um beide Welten gleichwertig zu bedienen, bieten die Tools und Funktionen von Zoom den MitarbeiterInnen und Teams auf der einen Seite maximale Flexibilität, auf der anderen Seite bieten sie genügend Sicherheit und Barrierefreiheit, um standortunabhängig gut verbunden zu sein. Damit das hybride Arbeiten gut funktioniert müssen Mitarbeitende: • die Ressourcen haben, um ihre Aufgaben ungeachtet des Arbeitsstils oder des Standorts optimal erfüllen zu können • befähigt sein, durch dynamische und umfassende Vorteile, die an den Arbeitsstil und Standort angepasst sind
Das schafft man, indem man Mitarbeitenden Kommunikationslösungen mit verschiedenen Eigenschaften zur Verfügung stellt: • Technologien und Systeme, die das kollaborative Arbeiten ebenso wie die soziale Interaktion mit Kunden und Kollegen schnell und unkompliziert möglich machen • eine professionelle und sichere Arbeitsumgebung, die das flexible Arbeiten von überall ohne Kompromisse ermöglicht
Machen auch Sie Ihre Mitarbeiter glücklich und lernen Sie einige der Technologien kennen, die wir bei Zoom für die Zukunft des Arbeitens für Organisationen weltweit entwickeln.
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INHALT
Fotos (v. l.): Annette Cardinale für ZfU; Hahn und Hartung für ZfU; Peter Rigaud für ZfU
Was Sie erwartet
Diese Unternehmer setzen auf Software. Schwerpunkt Digitalisierung: ab Seite 14
Streit in der Familienfirma, Stress mit den Nachfolgern? Eine Charta hilft: Seite 44
Diese Investorinnen bringen Gründer dazu, divers zu denken. Das Titelthema: ab Seite 36
DIE MITTELSTANDSSTUDIE
SCHWERPUNKT DIGITALISIERUNG
TITELTHEMA DIVERSITÄT
Bizerba stellt seit 1866 Waagen her und soll jetzt zur Digitalfirma werden – aber es gibt Widerstände. Ein Gespräch mit den Inhabern Angela und Andreas Kraut 14–19
Eine neue Generation von Unternehmerinnen macht sich für mehr Vielfalt in der Wirtschaft stark. Was kann sie ändern? 36–41
Was bewegt die Unternehmerinnen und Unternehmer im Land, welche Herausforderungen sehen sie, und was treibt sie an? Wir stellen den ersten Teil der Ergebnisse unserer großen Untersuchung vor 6–9 CORONA-KRISE
Kein Lockdown konnte Ekkehard Streletzki bremsen: Während andere aufgeben, will der Unternehmer sein riesiges Berliner Hotel um den größten Turm der Stadt erweitern 10–11
Matthew Prince führt im Silicon Valley die Softwarefirma Cloudflare und hat einen Rat 20
Diversity: Wie verschieden agieren Unternehmerinnen und Unternehmer? Ergebnisse aus unserer Mittelstandsstudie 42–43
UKRAINEKRIEG
Ein Serienunternehmer und ein Gründerteam mischen den Markt für Sanitätsware auf. Ein Lehrstück über die Digitalisierung 22–25
Reinhold von Eben-Worlée vom Familien unternehmer-Verband erläutert, welche Folgen der Konflikt langfristig haben könnte – und wie Unternehmer reagieren können 12
Das Logistikunternehmen Hellmann musste zusehen, wie Hacker seine Daten ins Darknet stellten. Chronologie eines Cyberangriffs 26–29
… Nils Glagau, der ab April wieder in der Show »Die Höhle der Löwen« zu sehen ist 48–49
FOTOSTORY
Eine Gründerin macht aus Insekten Nudeln 50
FAMILIENUNTERNEHMEN
Eine Charta kann Konflikte verhindern 44–47 EIN TAG MIT …
DIE ERFINDUNG MEINES LEBENS
Der Unternehmer Carl-Otto Danz über seinen veröffentlichten Entschluss, keine Kunden mehr in Russland zu beliefern 13
Wie wird aus Müll wieder ein nutzbarer Rohstoff? Zu Besuch bei einer Recyclingfirma 30–35
IMPRESSUM
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MITTELSTANDSSTUDIE
Bereit für die nächste Welle In Krisenzeiten erweist sich der Mittelstand als Stütze der Gesellschaft, beklagt aber Bürokratie und fehlenden Respekt. Auftakt der großen Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung »In guter Gesellschaft« VO N JENS TÖ NNES M A NN
Ganz oben, unterm Dach des Kaufhauses Lengermann & Trieschmann (L&T) in Osnabrück, fallen Mark Rauschen die dunklen Tage der Pandemie wieder ein, in denen er nicht wusste, wie es genau weiter gehen sollte mit seinem 112 Jahre alten Unternehmen. Er schaut durch den großen Lichthof des Gebäudes nach unten und erzählt über Mode im Wert von Millionen Euro, die auf jeder der drei Etagen an den Bügeln hing und die er im ersten Lock down nicht mehr verkaufen konnte. Da mals musste er einen Baumarkt anmieten, als Stauraum für die lange bestellte Neu ware, und er dachte darüber nach, not gedrungen das Parkhaus zu verkaufen. Ihm fallen die Zeiten wieder ein, in denen er auf dreimal 800 von 25.000 Quadrat metern öffnen durfte, und die Phase, in der die Kunden nur abholen durften, was
G
sie online bestellt hatten. Zwölf verschie dene Regelungen galten für sein Kaufhaus seit März 2020. Rauschen sagt: »Nur die ser unerschütterliche Optimismus kurz vor naiv hat mich gerettet vorm Herz infarkt und dem Magengeschwür.« Die Pandemie hat gerade kleinere Un ternehmen hart getroffen – und zugleich vor Augen geführt, wie anpassungsfähig und resilient der Mittelstand ist. Das zeigt die große Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung »In gu ter Gesellschaft«, deren Ergebnisse wir in dieser und den folgenden Ausgaben vor stellen. Die Stiftung wurde von den Ge schwistern Anke und Thomas Rippert aus Ostwestfalen gegründet, beide sind als Kinder eines Familienunternehmers auf gewachsen und selbst Unternehmer ge worden. Mit ihrer Stiftung wollen sie ver
antwortungsbewusstes, zeitgemäßes Un ternehmertum fördern. Für die Studie hat das Analyse- und Beratungsunternehmen aserto Unternehmerinnen und Unterneh mer aus ganz Deutschland im Dezember 2021 und Januar 2022 ausführlich befragt, rund 400 haben sich beteiligt. Obwohl die Studie aufgrund der Selbstauswahl der Teilnehmenden nicht repräsentativ sein könne, spiegele sie den Mittelstand in Deutschland erstaunlich gut wider, sagt Lars Harden, Professor für Unternehmensberatung an der Hoch schule Osnabrück und Chef von aserto. So sind 26 Prozent der Befragten weiblich und 48 Prozent zwischen 45 und 59 Jahren alt, 43 Prozent führen ihre Firma schon mehr als 20 Jahre. Laut Harden ein »guter Querschnitt«, der durchaus verallgemei nerbare Aussagen erlaube.
Foto: Rafael Heygster für ZEIT für Unternehmer
Mark Rauschen mit Surfbrett auf der »Hasewelle« in seinem Kaufhaus
MITTELSTANDSSTUDIE
Die Krisenfolgen Die Corona-Pandemie hat ... ... auch positive Auswirkungen 65 % ... Kundenbeziehungen erschwert 61 % ... die Digitalisierung in meiner Firma beschleunigt 58 % ... noch nicht absehbare negative Folgen für mein Unternehmen 33 % ... eine radikale Veränderung meines Geschäftsmodells bewirkt 18 % ... mich von meinen Mitarbeitern entfremdet 17 % Anteil der Befragten, die den Aussagen »voll und ganz« oder »eher« zustimmen
16 %
der Befragten sind mit den politischen Rahmenbedingungen »voll und ganz« oder »eher« zufrieden, wie die Mittelstandsstudie zeigt
Die Unterschätzten Der Mittelstand in Deutschland ... ... stärkt die Regionen vor Ort 95 % ... ist das wirtschaftliche Rückgrat der Gesellschaft 90 % ... ist in gesellschaftlichen Debatten zu leise 77 % ... reagiert zu langsam auf neue Trends wie die Digitalisierung 45 % ... erhält angemessene gesellschaftliche Anerkennung 21 % Anteil der Befragten, die den Aussagen »voll und ganz« oder »eher« zustimmen
Man muss die Ergebnisse also ernst nehmen. Und manche geben einem gleich zu denken – etwa die Antworten auf die Frage, ob man schon einmal überlegt habe, die eigene Firma aufzugeben. »Denke ich ständig«, schreibt ein Unternehmer aus der Finanz- und Versicherungsbranche. »Gestern erst«, ein anderer. Ein Unternehmer sah sich »bei jeder Corona-Welle« vor dieser Frage. Und eine Firmenchefin aus Rheinland-Pfalz schildert, wie erschöpft sie 2020 in »der dritten echten Krise aufgrund von globalen Einflüssen« war; sie habe alle Rücklagen genutzt, um Arbeitsplätze zu sichern. »Wir haben überlebt, und ich bin dankbar, dass ich das Unternehmen behalten habe«, erklärt sie, »dennoch ist der Gedanke ans Aufgeben immer mal wieder präsent.« Die Umfrage verrät auch, wo dieser Gedanke besonders häufig präsent ist – im Handel etwa (siehe Grafik). Also dort, wo die Pandemie zu harten Einschnitten geführt hat. Zugleich zeigt die Befragung, dass sich Unternehmerinnen und Unternehmer trotz aller Zweifel auch von hartem Gegenwind nicht umblasen lassen. Ende Februar ist in Mark Rauschens Kaufhaus wieder eine Art Normalität eingekehrt. Zwar ist das Restaurant mit der Dachterrasse weiterhin zu. Aber seit die Corona-Regeln deutlich gelockert wurden, kommt die Kundschaft für die neue Frühjahrsmode. Beim Rundgang grüßt Rauschen gut gelaunt jeden, dem er begegnet, im Lockdown hat er allen Mitarbeitern das Du angeboten. Der Unternehmer betreibt im Haus ein Fitness-Studio, das wieder geöffnet hat, und im Untergeschoss ist die »Hasewelle«, ein Becken, in dem man auf einer stehenden Welle surfen kann. Der Kaufhof zwei Straßen weiter hat aufgegeben, aber Rauschen ist Kaufhausdirektor und will es bleiben, sein Haus soll ein Ort sein, an dem man gute Beratung erwarten und etwas erleben könne, sagt er, es liege in der DNA von L&T, in einer »Loserbranche gewinnen zu können«. Dabei haben dem 47-Jährigen die Staatshilfen genützt: Zehn Millionen Euro Kredit, der inzwischen zurückgezahlt sei, und eine Überbrückungshilfe von
neun Millionen Euro, die seine Kosten zum Teil ersetzt habe. Mit rund 78 Mil liarden an Hilfen und 55 Milliarden Euro an Krediten hat der Staat der Wirtschaft seit 2020 unter die Arme gegriffen, dazu kamen rund 52 Milliarden Euro für Kurzarbeiter. In Summe also rund 185 Milliarden Euro, denen laut ifo Institut pandemiebedingte Einbußen von 330 Milliarden Euro gegenüberstehen. Rauschen ist dankbar für die Hilfen, aber gut zu sprechen ist er nicht auf die Politik. Er habe sich in der Pandemie den Mund »fusselig« geredet, um für faire Regeln zu werben, aber »in Berlin kennt man nur Kaufhof, Karstadt, Hertie, also die Verlierermodelle der letzten Jahrzehnte«. Damit spricht er vielen Mittelständlern aus der Seele, wie die Studie zeigt: Nur 16 Prozent der Befragten sagen, sie seien mit den politischen Rahmenbedingungen zufrieden. 82 Prozent beklagen die Bürokratie. Als Herausforderungen sehen sie etwa: »Der Glaube in Deutschland, alle Probleme durch Regelwerke lösen zu können.« »Die inzwischen sehr investitionsfeindliche Politik der letzten Jahre, die sehr schlechte Infrastruktur in Deutschland.« »Die weitreichenden globalen Probleme, in denen man sich oft wie eine Nussschale auf hoher See fühlt.« Letzteres befand ein Unternehmer aus Thüringen – wohlgemerkt Wochen bevor Putin die Ukraine überfallen ließ. Interessant ist, welche Probleme die Mittelständler jenseits dessen wahrnehmen: Jüngere bedrückt die Klimakrise sehr, Ältere plagen die Langzeitfolgen der Pandemie. Am meisten Sorgen bereitet allen Befragten in Summe eine »Spaltung der Gesellschaft«. Doch die Studie zeichnet auch das Bild einer selbstbewussten Unternehmerschaft. Neun von zehn Befragten sehen den Mittelstand als das wirtschaftliche Rückgrat der Gesellschaft. Risikobereitschaft, Kompetenz, Verlässlichkeit, Authentizität, Ehrlichkeit und Offenheit: Diese Begriffe fielen besonders oft als Antwort auf die Frage, was einen guten Unternehmer oder eine gute Unternehmerin ausmache. »Mit Kopf, Hand, Fuß und Herz bei der Sache und den Mitarbeiterinnen zu sein«, ant-
ZEIT-Grafik
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wortete eine Unternehmerin aus Sachsen. Ein anderer schrieb: »nicht zu gierig zu sein«. Und eine Teilnehmerin aus der Immobilienbranche notierte: »Vorbild in jeglicher Hinsicht zu sein und im Sinne der Mitarbeiter und des Unternehmenszwecks zu handeln, zu verzichten, strategisch zu verfahren und diszipliniert zu sein.« Die selbst angelegten Maßstäbe sind offenbar so hoch wie die Bedeutung, die man der eigenen Rolle beimisst. Aber nur zwei von zehn Befragten finden, dass sie dafür eine angemessene gesellschaftliche Anerkennung erhalten. »Alle sehen nur die Start-ups oder Konzerne«, findet ein Unternehmer, »aber die ganze Substanz unseres Landes rührt aus dem Mittelstand.« Vielleicht liegt das auch daran, dass die Spitzenleute zwar in einer Umfrage ihrem Ärger Luft machen, sich öffentlich aber zurückhalten: Acht von zehn Befragten finden, der Mittelstand sei in gesellschaftlichen Debatten zu leise. Wie aber ist der Mittelstand für die Herausforderungen von morgen gewappnet? Die Corona-Krise liefert womöglich Anhaltspunkte: Zwei Drittel der Befragten können der Pandemie auch positive Auswirkungen abgewinnen, weil sie beispielsweise für weniger Dienstreisen gesorgt hat. Bei fast genau so vielen hat sie die Digitalisierung beschleunigt. Auf fällig dabei: 76 Prozent der angestellten Geschäftsführer sagen das – aber nur 56 Prozent der Eigentümer-Unternehmer. Marcus Diekmann ist da ein gutes Beispiel: Der Manager kam als externer Geschäftsführer zum Bocholter Unternehmen Rose Bikes, das 1907 als Fahrradladen gegründet wurde und heute stylishe Räder mit und ohne Elektroantrieb herstellt. Ein Jahr vor Ausbruch der Pandemie heuerte er bei der Familienfirma an, laut seinem Linked-In-Profil war es etwa die 20. Sta tion im Lebenslauf. Sein Ziel bei Rose: das Geschäft im Internet voranzubringen. Das ist dem 42-Jährigen offenbar gelungen. Der Umsatz von Rose Bikes ist in den vergangenen drei Jahren von 85 auf 148 Millionen Euro gestiegen. Und der Familienunternehmer Thorsten Heckrath- Rose lobt den »Mut zu schnellen Ent-
scheidungen« bei Diekmann, der in der Pandemie nebenbei auch noch die Initiative »Händler helfen Händlern« ins Leben gerufen, in Start-ups investiert, andere Unternehmen beraten hat. Und der von sich selbst sagt, er sei pragmatisch und »multimandatsfähig«, das habe er ein Leben lang trainiert. Weniger Diskussion, mehr Ergebnisse – das ist sein Credo. Das Motto unterschreiben viele angestellte Geschäftsführer. Laut der Mittelstandsstudie vertrauen sie häufiger auf agile Methoden und auf mobiles Arbeiten. Umgekehrt sagen sie seltener als die Inhaber-Unternehmer, dass sie auf Umsatz verzichten würden, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und deutlich häufiger als die Inhaber sagen sie auch, die Pandemie habe sie von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entfremdet. Da ist es nicht so überraschend, dass Marcus Diekmann jetzt weiterzieht: Er ist in den Beirat von Rose gewechselt und seit Januar Co-Geschäftsführer bei der Eigenmarkentochter des Familienunternehmens Peek & Cloppenburg. Als einer von zweien: Sein Kollege Konstantin Kirchfeld kümmert sich um die Pro duk tion und die Beschaffung, Diekmann soll die Mode digital vermarkten. Wenn die nächste Krise kommt, wird das vielleicht wieder eine Win-win-Konstellation. Die Studie Die Mittelstandsstudie ist eine gemeinsame Initiative von ZEIT für Unternehmer und »In guter Gesellschaft – Stiftung für zeitgemäßes Unternehmertum«. Die Stiftung, die verantwortungsbewusstes Unternehmertum fördern will, finanziert die Durchführung der Befragung sowie ihre wissenschaftliche Auswertung durch das Analyse- und Beratungsunternehmen aserto. Die Ergebnisse werden der Redaktion in anonymisierter Form unentgeltlich zur Verfügung gestellt, auf ihre redaktionelle Veröffentlichung hat die Stiftung keinerlei Einfluss. Weitere Ergebnisse finden Sie auf den Seiten 42/43: Wie verschieden sind Unternehmerinnen und Unternehmer wirklich?
Die Weitermacher Anteil der Befragten der jeweiligen Branche, die schon einmal überlegt haben, ihre Firma aufzugeben Handel, Verkehr, Gastgewerbe 48 % Information und Kommunikation 46 % Sonstiges 41 % Dienstleistungen 38 % Gesamt 38 % Produzierendes Gewerbe, Bau 25 %
73 %
der Befragten blickten zum Zeitpunkt der Umfrage und damit vor dem Krieg in der Ukraine (sehr) optimistisch in die Zukunft
Die Furcht vor der Spaltung Welche Herausforderungen die Befragten am besorgniserregendsten finden Spaltung der Gesellschaft 64 % Klimakrise 61 % Fake News, Hate-Speech 61 % Populismus 60 % Zukunft der Bildung 57 % soziale Ungleichheit 51 % Rechtsruck 48 % Corona und die Langzeitfolgen 44 % Überalterung der Gesellschaft 41 % Mehrfachauswahl möglich
CORONA-KRISE GASTGEWERBE
Zweifeln sollen andere In der Pandemie fürchten viele Hoteliers den Ruin. Nicht so Ekkehard Streletzki: Der Unternehmer will seinen riesigen Hotelkomplex in Berlin noch größer machen VO N A ND REAS M O LI TO R
Es passiert nicht allzu häufig, dass Ekkehard Streletzki von einem Konkurrenten kalt erwischt wird. Die wenigen Herbergen in der Hauptstadt, die es mit seinem Estrel, dem größten Hotel-, Kongress- und Eventkomplex Europas, halbwegs aufnehmen können, hat er bislang gut in Schach gehalten. Aber nun ärgert ihn die neue Tesla-Fabrik, nur gut 30 Kilometer entfernt, erzählt der 81-jährige Eigentümer des Hotels mit der markanten, wie ein Schiffsbug spitz zu laufenden Silhouette. Seit Monaten heuert Tesla Produktionsarbeiter für die neue Fabrik im brandenburgischen Grünheide an. Dank guter Gehälter und sicherer Aussichten ist ein Job in der Fabrik sogar für Menschen interessant, die Koch gelernt haben. Und die Corona-Pandemie macht es Streletzki schwer, seine Leute im Hotel zu halten. »Viele unserer Mitarbeiter, die wir in Kurzarbeit schicken mussten, gehen jetzt da hin«, erklärt Streletzki. »Die da draußen wohnen«, er zeigt in Richtung Tesla-Fabrik im Südosten, »kommen nicht mehr zurück, wenn sie erst einmal eine gute Stelle gefunden haben. Die sind für uns verloren.« Und fehlen, wenn die Geschäfte wieder anziehen. Ein trüber Tag im Februar. Streletzki steht mitten im Atrium des Estrels. Das nach ihm benannte Haus – E für Ekkehard, Strel für Streletzki – ist mit 1125 Zimmern das mit Abstand größte Hotel Deutschlands. Sein Lebenswerk. Was er sieht, ist für ihn kaum zu ertragen. Im weitläufigen Foyer verlieren sich ein knappes Dutzend Hotelgäste. Drei der vier Restaurants sind dicht. Die Pandemie hat seine Branche im Griff:
Nach Angaben des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands lag ihr Umsatz im Januar 2022 um 50 Prozent unter dem Umsatz im Januar 2019. Etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen sahen sich in ihrer Existenz bedroht. Manche haben schon aufgegeben, verwandeln sich in Seniorenresidenzen oder sichern – wie die Kette Maritim – mit Notverkäufen ihr Überleben. Streletzki stemmt sich dagegen. Überall im Hotelfoyer sind Reinigungskräfte unterwegs, wedeln die großen Pflanzen ab, wischen Staub auch dort, wo gar keiner liegt. Der Boden glänzt. »Das wäre ja das Schlimmste«, sagt der Hotelier, »dass die wenigen Gäste denken: Hier kümmert sich keiner.« Im Gegenteil: Seit Beginn der Pandemie hat er Hunderte Bäder erneuern lassen. Es sind ja kaum Gäste da, die sich gestört fühlen könnten. Die Zimmerbelegungsrate liegt an diesem Tag bei knapp zehn Prozent. Würde man sich ein Hotel ausdenken, das durch die Pandemie besonders stark in Mitleidenschaft gezogen wäre, wäre das Ergebnis eine Kopie des Estrels. Hinter Streletzki liegt ein Horrorjahr. Zeitweise durften Veranstaltungen nur mit maximal 20 Teilnehmern stattfinden. Was will man mit solchen Event-Häppchen in einem Kongresskomplex, der für bis zu 15.000 Besucher ausgelegt ist? Das Haus lebt von Messen, Kongressen, Tagungen. Auch ein neues, 25 Millionen Euro teures Auditorium lag monatelang in Corona-Starre; Großveranstaltungen wurden reihenweise abgesagt. Erst als die Bundesregierung im Februar den Ausstieg aus den Corona-Regeln ver-
kündet – nur noch 3G für Hotels ab dem 4. März –, zeigt sich ein Hoffnungsschimmer: Die ersten größeren Events werden gebucht. Ohne die staatlichen Überbrückungshilfen – bis zu 90 Prozent der Ausgaben für Mieten, Pachten, Strom und Versicherungen – hätten viele Hoteliers schon aufgeben müssen. Auch Estrel hat Hilfen erhalten; wie viel, das will der Chef allerdings nicht sagen. Streletzki hat jedenfalls Geld, und er tut, was möglich ist. Im Untergeschoss ließ er eine Corona-Teststation einrichten; ein Studio für digitale und hybride Veranstaltungen wird gut genutzt, bringt aber im Vergleich zu einem Kongress mit 2000 Teilnehmern nur einen Bruchteil der Einnahmen. In den Shows »Stars in Concert« spielen die Abbaund Beatles-Doubles vor 150 Leuten statt wie früher vor 1000. Ob das wirtschaftlich ist? Der Hotelier schüttelt den Kopf. »Wir wollen zeigen, dass wir noch da sind.« Ekkehard Streletzki ist niemand, der sich so schnell geschlagen gibt. Stets hat der diplomierte Bauingenieur die Zweifler überzeugt. 1994, als er das Estrel eröffnete, in einem trostlosen Winkel der Stadt, direkt neben dem Schrottplatz. Die alteingesessenen Hoteliers der Stadt befanden: Völlig irre, das wird nie was. Streletzki versprach »VierSterne-Komfort zum Zwei-Sterne-Preis« – das waren damals 100 Mark. Eine Provokation. »Der Narr von Neukölln« lautete eine Schlagzeile. Er selbst räumt ein, dass er damals vom Hotelgeschäft so gut wie nichts verstand. Er hatte sich als ständiger BerlinPendler nur über die seit der Einheit drastisch gestiegenen Hotelpreise geärgert. »Wenn
Fotos: Estrel Hotel; Xamax/Ullstein (u.); ZEIT-Grafik
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man damit so viel Geld verdienen kann«, sagte er sich, »dann machst du das auch.« Streletzki hat es allen gezeigt. Vor dem Ausbruch der Pandemie war das Estrel das umsatzstärkste Hotel Deutschlands. 95 Millionen Euro erzielte Streletzkis Firmengruppe laut Konzernbilanz 2019, etwa ein Viertel davon erbrachten Raummieten, Tagungstechnik und Show-Erlöse. Mit der Inbetriebnahme des neuen Flughafens, nur 20 Autominuten entfernt, hat der Standort noch mal gewonnen; bald wird ein Autobahnanschluss fast direkt vorm Hotel fertig. Das Estrel ist großspurig, das ist die raison d’être. Sein Schöpfer ist es nicht. Streletzki spricht in kurzen, klaren Sätzen, schwadroniert nicht. Niemals würde er »Think big!« sagen. Wenn die Stadtpolitiker ihn mal wieder über den grünen Klee loben, sei es ihm fast schon peinlich, sagt er. »Man will doch nicht der Angeber sein.« Dem Unternehmer ist jetzt nach einer Dosis Zukunft zumute. Mit seinem Sohn Maxim, seit einiger Zeit Miteigentümer des Estrels, geht es einmal quer über die Straße. Auf der anderen Seite blicken sie 10, 15 Meter hinab auf eine große, eingezäunte Baustelle. Momentan sind trotz Pandemie deutschlandweit rund 200 Hotelprojekte in Planung oder im Bau. Die Bauherren des größten und ambitioniertesten heißen: Ekkehard und Maxim Streletzki. Vom Estrel Tower ist die Rede, mit 45 Stockwerken und 176 Metern höher als irgendein anderes Bauwerk der Hauptstadt. 260 Millionen Euro soll der von einer Skybar in der obersten Etage gekrönte Hotelturm kosten – ohne Grundstück, »das haben wir schuldenfrei bezahlt«. Noch steckt der Bau, der 2024 eröffnen soll, in den Anfängen. Streletzki zeigt in die Tiefe. »Es ist faszinierend, was da jetzt passiert«, erklärt er, »da sind 52 gewaltige Bohrpfähle im Baugrund verankert, die gehen 30 Meter ins Erdreich. Da kommt das Fundament drauf, und dann geht es in die Höhe.« Die Idee zum Tower hatte Streletzki vor fast zehn Jahren. Die erste Zeichnung entstand auf einer Papierserviette. Er erkundigte sich nach der Höhe der geplanten Hochhäuser am Alexanderplatz. »150 Meter – da hab ich gesagt: Wir müssen deutlich höher sein.« Um den Bau zu finanzieren, musste
550 weitere Zimmer soll der Estrel Tower beherbergen. Mit 176 Metern wäre der Turm das höchste Gebäude Berlins 1125 Zimmer hat das Estrel bereits, damit ist es das größte Hotel Deutschlands
Diese Aussicht soll der Turm bieten, wenn er Ende 2024 eröffnet
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Streletzki bei der Vorstellung des Bauprojekts
Streletzki einige Objekte seiner Firmengruppe verkaufen – ihm gehören auch Wohn-, Büro- und Gewerbeimmobilien. Ob es jetzt wieder Zweifler gibt? »Nein«, sagt Ekkehard Streletzki nur. »Nun ja, es gab den einen oder anderen«, sagt sein Sohn Maxim. »Manche fragen sich schon, ob das gut geht.« Der Senior schaut seinen Sohn erstaunt an. »Also mir hat das keiner gesagt.« »Dir sagt man das vielleicht nicht so.« Maxim Streletzki, der in den USA Hotelmanagement und Immobilienwirtschaft studiert hat, will im Tower eigene Akzente setzen. Er denkt an Kunst-Installationen, an Kick-off-Meetings und Teambuilding-Events, an alles, was sich nicht oder nur schlecht digitalisieren lässt. Er ist 31, seine Freunde arbeiten bei Tech-Firmen, Start-ups und Venture-Capital-Firmen. Er kennt ihre Denk- und Arbeitsweise, er weiß, in welchem Ambiente sie sich wohlfühlen. Und wenn er mit dem Vater mal nicht einer Meinung ist? Der Junior will zur Antwort ansetzen, da sagt sein Vater lachend: »Ich hab immer recht!« Maxim Streletzki lacht mit. Nach dem Ausbruch der Pandemie haben die Streletzkis doch ein paar Zweifel bekommen und das Konzept für den Tower überarbeitet. Sie strichen 300 der 850 Zimmer des neuen Turms, an ihre Stelle traten Serviced Apartments, Co-Working-Büros, Meetingräume und Restaurants. Für die Lobby ist ein Start-up-Inkubator vorgesehen. Trotzdem bleibt es eine mutige, fast tollkühne Wette auf die Zukunft. Der Bau beginn fiel mitten in die Pandemie. Warum sie nicht spätestens da alles gestoppt haben? Mit ein paar Millionen Euro Vertragsstrafe an die beauftragten Firmen wären sie aus der Sache halbwegs heil rausgekommen. »Wir haben überhaupt nicht daran gedacht, irgendetwas zu stoppen«, sagt Ekkehard Streletzki. »Im Gegenteil: Wir haben täglich auf die Baugenehmigung gewartet, damit es endlich losgeht.« Die Gewerke für Rohbau, Fassade und Aufzüge sind jetzt vergeben. »Kommen Sie in drei Jahren wieder«, sagt ein jetzt deutlich besser aufgelegter Ekkehard Streletzki. »Wenn Sie dann vom Flughafen in die Stadt kommen, sehen Sie unseren Tower. Das wird das Tor zu Berlin.«
UKRAINEKRIEG FOLGEN FÜR DEN MITTELSTAND
Von EbenWorlée, 65, gibt 180.000 Familienfirmen eine Stimme
»Dann steigt die Inflation weiter« Reinhold von Eben-Worlée ist Präsident des Verbands der Familienunternehmer. Er warnt vor schweren Auswirkungen des Ukrainekriegs für den Mittelstand – und hat für Unternehmer zwei wichtige Ratschläge
ZEIT für Unternehmer: Herr von Eben- Worlée, zum Zeitpunkt unseres Gesprächs greift Russland die Ukraine unvermindert an, der Westen hat harte Sanktionen verhängt. Wie sehr trifft diese Krise den Mittelstand? Reinhold von Eben-Worlée: Zunächst erschüttert es mich, dass in Europa ein souveränes Land von Russland mit Krieg überzogen wird. Was den Mittelstand un abhängig von den Auswirkungen auf die direkten Geschäfte mit Russland sehr hart trifft, sind die explodierenden Energiekosten. Sie verteuern unsere Pro duktion extrem. Das stellt für alle Unter nehmen eine Stresssituation dar. Wie können Unternehmer reagieren? Von Eben-Worlée: Es ist außerordentlich schwierig, auf andere Energiequellen um zustellen: Wir sind nicht nur beim Gas, sondern auch bei Öl und Kohle sehr von Russland abhängig. Unternehmer müssen also Energie sparen, wo sie können. Und es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben, als die höheren Kosten auf die Preise auf zuschlagen, auch wenn das eine gefähr liche Spirale in Gang setzt.
Welche Spirale genau? Von Eben-Worlée: Wenn die Firmen die Preise erhöhen, dann steigt die Inflation weiter. Die Unternehmen und die Men schen können sich weniger leisten, der Absatz gerät ins Stocken. Womöglich werden die Beschäftigten mehr Lohn for dern, um den Rückgang ihrer Kaufkraft auszugleichen. Das alles wird zu starken Bremsspuren im Mittelstand führen: Wer weniger verdient, kann weniger investieren und weniger Menschen bezahlen. Dazu kommt, dass viele Firmen ihre Reserven in der Corona-Krise aufgebraucht haben. Die Folge: Unternehmen werden ihre Produktion herunterfahren, Menschen in Kurzarbeit schicken, manche ganz auf geben. Das macht mir große Sorgen. Was wäre aus Ihrer Sicht ein Ausweg? Von Eben-Worlée: Wir müssen sehr spar sam mit dem Gas umgehen. Mittelfristig braucht Deutschland Flüssiggasterminals, um unabhängiger zu werden. Wir sollten bis dahin bei der Stromerzeugung mehr auf Kohle setzen, auch heimische, ohne dabei das Ziel des Ausstiegs aus dem Blick zu verlieren. Und wir müssen uns besser
vorbereiten – also etwa Gasfelder erschlie ßen, die wir im Notfall öffnen können. Was ist mit dem Atomausstieg? Von Eben-Worlée: Ob es möglich ist, die drei noch bestehenden Atomkraftwerke über 2022 hinaus zu betreiben, sollte man unbedingt prüfen, denn jede Gigawatt stunde mehr macht uns weniger erpress bar durch russisches Gas. Sollte der Staat in die Energiepreise eingreifen, um die Wirtschaft zu entlasten? Von Eben-Worlée: Subventionen sind keine gute Idee, sie verzerren die Märkte. Aber hilfreich wäre, nach der EEG-Umlage bestehende Belastungen abzuschaffen. Was können Unternehmer grundsätzlich aus dieser Krise lernen? Von Eben-Worlée: Wer im Ausland Ge schäfte macht, sollte eine Kreditausfall versicherung abschließen. Die Ausfuhr bürgschaften, mit denen der deutsche Staat Exporte absichert und die er für Geschäfte mit Russland nun ausgesetzt hat, sind da sehr hilfreich. Wer keine sol chen Instrumente nutzen kann, sollte nur gegen Vorkasse ins Ausland liefern. Die Fragen stellte Jens Tönnesmann
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DAS HUF HAUS
»Wir haben einen moralischen Kompass«
FEELING
Foto: Stefan Boness/Visum
Carl-Otto Danz, 37, leitet das Chemieunternehmen KCD. Noch bevor Sanktionen beschlossen wurden, kappte er die Geschäfte mit Russland VO N TO M S C H M I DTGEN
Als Russland in die Ukraine einfiel, stand für Carl-Otto Danz sofort fest, dass er alle Beziehungen zu den russischen Kunden kappen will. Sein Vater, mit dem er das Weimarer Chemieunternehmen KCD gemeinsam führt, und er haben die russischen Kunden per Brief informiert. Natürlich sei man als Mittelständler mit 30 Mitarbeitern nur »ein kleiner Fisch«, sagt Danz. Insgesamt liefere die Firma nur ein Prozent ihrer KunststoffProdukte nach Russland, im Jahr knapp 3,5 Tonnen. Aber selbst wenn es das Chemieunternehmen härter treffen würde, wäre dieser Schritt für ihn richtig. Er wolle kein Land, das einen Angriffskrieg führt, mit Chemie-Produkten versorgen. KCD stellt Zusätze für die kunststoffverarbeitende Industrie her. »Das ist so, als würden wir einen Koch mit Salz beliefern. Für uns ist es nicht schlimm, wenn wir ein paar Kilo weniger ausliefern, aber für den Koch ist es eine Katastrophe, wenn er ohne Salz kochen muss.« Die dreieinhalb nicht gelieferten Tonnen bewirken, dass 175 Tonnen PVC für den Gebäudeinnenausbau nicht hergestellt werden können.
Danz hofft, dass die russischen Geschäftspartner nun den Druck auf ihre Regierung erhöhen, einzulenken. Der 37-Jährige hat ein Foto des Briefs getwittert, in der Hoffnung auf Nachahmer. Schnell erreichte der Tweet 600.000 Aufrufe; es meldeten sich Menschen, die Danz beipflichten. Er musste sich aber auch Kritik anhören, weil er den Angriff Putins mit dem Handeln Hitlers verglich. Sollten Unternehmer so offen Flagge zeigen? Darüber habe er nicht lange nachgedacht, sagt Danz: »Ich und meine Familie haben einen moralischer Kompass, den wir einhalten.« Sollte etwa China in Taiwan einfallen, würde die Firma auch ihre Beziehungen zu China kappen, selbst wenn das viel schmerzhafter wäre. Was KCD schon trifft, sind die hohen Energiepreise: Pro Monat zahlt Danz 6000 Euro mehr. Also versucht er zu sparen: Die Mitarbeiter sollen in den Pausen die Tore nach draußen schließen, die Thermostate in den Hallen und im Lager sind niedriger eingestellt. »Würden die hohen Energiepreise uns über das ganze Jahr belasten, wäre das sehr schmerzhaft für uns.«
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Balingen auf der Schwäbischen Alb, im Februar. Seit 1866 stellt das Familienunternehmen Bizerba hier Waagen her. Heute sind viele seiner Produkte digitale Alleskönner, und auch das Unternehmen verwandelt sich: Es entwickelt Software, gerade sucht es IT- Sicherheitsarchitekten und Sensorik-Spezialisten, es kooperiert es mit Start-ups und be liefert Amazon. Im Gespräch erklären Angela und Andreas Kraut, die Bizerba in fünfter Generation leiten, was sie sich von der Digitalisierung versprechen – und vor welchen Hürden sie stehen. ZEIT für Unternehmer: Frau Kraut und Herr Kraut, in Ihrer Firmenchronik aus dem Jahr 2016 nennen Sie die ersten 150 Jahre eine Zeit der Triumphe und der Tragödien. Ist die Pandemie für Sie als Firma eher Tragödie oder Triumph? Angela Kraut: Wohl eher ein Triumph. Coronabedingt konnten viele Menschen seltener ins Restaurant gehen oder verreisen und mussten sich selber versorgen. Lebensmittelhersteller und -händler haben deshalb weltweit eine Sonderkonjunktur erlebt, und die kaufen unsere Waagen, Schneidemaschinen und Preisauszeichner. Was den Umsatz betrifft, sind wir also Profiteure der Situation. Andreas Kraut: Gegessen wird immer, deswegen ist die Branche ohnehin recht krisenfest. Wir sind in der Pandemie aber nicht einfach gewachsen wie unsere Konkurrenten, wir konnten ihnen auch Marktanteile wegnehmen, etwa in den USA, die inzwischen unser größter Markt sind. Da sind wir auch Marktführer. Sie erzielen etwa drei Viertel Ihres Umsatzes im Ausland. Wie sehr haben die globalen Lieferengpässe in der CoronaPandemie Sie getroffen? Angela Kraut: Gespürt haben wir die Schwierigkeiten schon, Computerchips und Displays waren und sind schwer zu kriegen. Bisher haben wir es aber immer geschafft, die Produktion aufrechtzuerhalten. Welche Tricks helfen Ihnen dabei in einer Zeit, in der selbst Kühlschränke knapp sind, weil in ihnen heute Chips stecken? Andreas Kraut: Die Hälfte unserer Entwickler sind nur damit beschäftigt, Umwege und Auswege zu finden. Sie bauen zum Bei-
Gewogen
Andreas und Angela Kraut bauen den Balinger Die Pandemie hilft dabei, aber die ausgeprägte
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Die ersten Waagen von Bizerba konnten nur wiegen. Die neuen Modelle können auch kassieren, werben, drucken und beraten
Waagenhersteller Bizerba zur Digitalfirma um. Technikscheu der Deutschen steht ihnen im Weg
Foto: Annette Cardinale für ZEIT für Unternehmer
wird immer
spiel unsere Geräte so um, dass wir sie mit den Chips bestücken können, die gerade auf dem Weltmarkt zu kriegen sind. Und wir recyceln Chips aus alten Geräten. Das oberste Gebot ist, lieferfähig zu sein – auch wenn dann Neuentwicklungen auf der Strecke bleiben und manche Produkte ganz auf Eis liegen, weil wir deren Bauteile anderswo brauchen. Zum Beispiel? Andreas Kraut: Wir stellen seit je Waagen her, die einfach nur das Gewicht anzeigen. In denen stecken heute aber dieselben Sensoren, die wir für komplexe Anlagen brauchen – und diese haben Vorrang, weil sie locker das Zehn- oder Hundertfache wert sind. Sie klingen, als wäre das kein Problem. Andreas Kraut: Wir mussten anfangs in der Pandemie durchaus Kunden vertrösten. Aber unsere Mitarbeiter im Einkauf haben sich sehr reingehängt, und ich bin auch persönlich auf manche Lieferanten zugegangen, um mehr Ware für uns herauszuholen. Das war oft stressiger als in normalen Jahren. Herr Kraut, Sie haben als CEO vor ein paar Jahren eine Milliarde Euro Umsatz als Ziel ausgegeben. Jetzt die Frage an Sie als Finanzchefin, Frau Kraut: Wie lange muss sich Ihr Bruder noch gedulden? Angela Kraut: Durch die Corona-Pandemie haben wir 2021 einen Riesensprung gemacht; nach vorläufiger Rechnung ist unser Umsatz von 729 auf über 800 Millionen Euro gestiegen, das war der größte Zuwachs in unserer Geschichte. In dem Tempo wäre die Milliarde also 2024 erreicht. Angela Kraut: Es wird eher 2025 oder 2026 werden. Viele unserer Kunden sind jetzt gut versorgt, und womöglich sinkt mit dem Ende der Pandemie auch die Nachfrage etwas. Wir müssen es also schaffen, unseren Wettbewerbern Kunden abzujagen. Laut Ihren Konzernabschlüssen ist Ihr Gewinn vor 2021 weniger stark gewachsen als der Umsatz. Schon 2015 betrug der Überschuss 13 Millionen Euro, 2020 waren es 15 Millionen. Woran liegt das? Angela Kraut: Wir haben viel Geld investiert, um mit unseren Waagen und Wägesystemen auch in Branchen außerhalb des Lebensmittelhandels Fuß zu fassen, etwa in
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der Logistik. Dafür mussten wir andere Firmen übernehmen und neue Produkte entwickeln, das hat viel Geld gekostet. Unser Ziel ist eine Umsatzrendite von sechs Prozent, die wir 2021 wohl auch erreicht haben. Andreas Kraut: Im Grunde geht es uns aber ums langfristige Wachstum, und das muss neue Technologie bringen. Wir reichern all unsere Lösungen mit Software an, denn wir wissen, dass unsere Wägesysteme unseren Kunden viele Daten liefern können; über unsere Geräte werden heute verschiedenste Produkte gewogen, abgefüllt, etikettiert, transportiert, verkauft. Wir haben smarte Motoren entwickelt, die erkennen, ob eine Schneidemaschine eine harte Salami oder einen weichen Käse schneidet, und die dann die Leistung selbstständig anpassen. Die Digitalisierung ist eine riesige Chance für uns. Aber diese Chancen zu ergreifen erfordert ordentlich Manpower. Laut Ihren Geschäftsberichten haben Sie von 2014 bis 2020 die Zahl Ihrer Be schäftigten in Forschung und Entwick lung auf mehr als 400 fast verdoppelt ... Andreas Kraut: ... und darunter sind inzwischen mehr Software-Entwickler als Hardware-Ingenieure. Das zeigt, wie wir mehr und mehr zu einem digitalen Unternehmen werden. Wir bestücken heute zum Beispiel Regale mit smarten Waagen: So merkt ein Regal sofort, wenn ein Artikel entnommen wird, rechnet den Preis ab und ordert bei Bedarf selbstständig Nachschub. Wie schaffen Sie es, Entwickler nach Ba lingen zu lotsen, von wo aus es gerade mal sechs tägliche Direktverbindungen per Zug nach Stuttgart gibt? Angela Kraut: Entwickler sind grundsätzlich schwer zu kriegen, und sie hier aufs Land zu locken ist in der Tat nicht leicht, auch wenn die Region sehr lebenswert ist. Deswegen gehen wir heute dorthin, wo die Fachkräfte sind. Wir haben zum Beispiel in Barcelona ein Büro eröffnet, wo wir Software-Ingenieure beschäftigen. Andreas Kraut: Und wir arbeiten eng mit Start-ups zusammen. Kürzlich haben wir uns zum Beispiel an einem israelischen Start-up namens Supersmart beteiligt, das intelligente Checkout-Prozesse entwickelt. Was genau verbirgt sich denn dahinter?
»Manchmal bin ich die Bremserin. Wir können ja nicht überall investieren« Angela Kraut, 51, CFO
Andreas Kraut: Super smart entwickelt eine künstliche Intelligenz, die Kassen in Supermärkten quasi überflüssig macht: Sie gehen einkaufen, scannen im Laden alles ein und fahren Ihren Einkaufswagen am Schluss auf eine unserer Waagen. Dann kontrolliert das System, ob das Gewicht des Einkaufswagens zu den eingescannten Artikeln passt, Sie zahlen automatisch. Wie erkennt das System, dass ich das teure Kilo Edelkaffee im Wagen habe und nicht das Kilo Standardkaffee? Andreas Kraut: In das System sind auch Kameras integriert, die erfassen, welcher Kaffee oder welcher Wein im Wagen liegt. Natürlich bleiben gewisse Unschärfen. Aber die Erfahrung zeigt, dass es kaum Fehlbuchungen und Diebstähle gibt. Zugleich sparen die Händler viel Geld, wenn sie die klassischen Kassen durch diese autonomen Kassen ersetzen. Unterm Strich lohnt sich das also absolut. Außer für die Kassiererinnen. Super smart wird schon in vielen Läden in der Türkei und in Tschechien eingesetzt, aber ausgerechnet im Hochlohnland Deutschland gibt es bisher nur einige Installationen ... Angela Kraut: ... und als Nächstes werden wohl auch Händler in Polen und Ungarn das System einsetzen. Warum ist das so? Andreas Kraut: Man muss es so deutlich sagen: Deutschland tut sich viel zu schwer damit, Innovationen aufzunehmen. In anderen Ländern sind die Mitarbeiter und Kunden offener dafür. Und es ist in Ost euro pa auch viel einfacher, die smarten Kassen einzuführen. Hierzulande steht ja gleich der Betriebsrat auf der Matte, und als Händler geraten Sie in den Verdacht, Mitarbeiter wegrationalisieren zu wollen. Tun Sie ja auch. Die hohen Lohnkosten sind doch ein Hauptargument, um Ihre Technologie einzuführen und de facto Mitarbeiter durch Roboter zu ersetzen? Andreas Kraut: Nein. Dank der autonomen Kassen können die Mitarbeiter der Supermärkte anderswo eingesetzt werden, sie können sich zum Beispiel um die Kunden kümmern und sie beim Einkauf beraten; das ist etwas, das Menschen viel besser
Fotos: Annette Cardinale für ZEIT für Unternehmer
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können als Maschinen. An der Kasse ist die Maschine dagegen unschlagbar, sie schafft bis zu 90 Einkäufe pro Stunde. Für die Kunden heißt das: Sie bekommen einen besseren Service im Geschäft und müssen am Ende ihres Einkaufs nicht mehr lange in einer Schlange warten und ihre Artikel einzeln auf ein Band legen. Frau Kraut, Sie sind gelernte Bankerin. Wie erklären Sie sich, dass die Deutschen so zögerlich sind, wenn es zum Beispiel darum geht, elektronisch zu bezahlen? Angela Kraut: Das ist sicher eine Mentalitätsfrage. Bargeld gibt einem das Gefühl von Sicherheit, früher habe ich das auch so empfunden. Aber wenn man einmal die Vorzüge des digitalen Bezahlens schätzen gelernt hat, dann verändert sich die Einstellung dazu. Sie verändern gerade sogar Ihr Geschäftsmodell und verkaufen Waagen nicht mehr nur, sondern bieten sie auch im Abo gegen eine monatliche Gebühr an, Wartung inklusive. Reagieren die deutschen Firmenkunden auf dieses Modell auch so verhalten? Angela Kraut: In Deutschland hängen viele Kunden an dem bewährten Modell und kaufen die Geräte lieber, als sie zu leihen; sie sind das gewohnt und sorgen sich, sonst mehr zu bezahlen. Dabei bietet das AboModell Vorteile: Als Kunde kann man seine Kosten damit sehr genau kalkulieren und sehr flexibel auf die Nachfrage reagieren. Und man kann sicher sein, dass die Anlagen technisch stets auf dem neusten Stand sind. Andreas Kraut: Unsere Systeme lassen sich übrigens heute schon aus der Ferne warten, der Servicetechniker muss nicht mehr zum Kunden rausfahren. Auch das stieß anfangs auf Skepsis; erst durch die Lockdowns haben Mitarbeiter und Kunden so richtig verstanden, wie nützlich das ist. Frau Kraut, müssen Sie als Finanzchefin Ihren Bruder als CEO eigentlich manchmal in die Schranken weisen, wenn er sich an Start-ups beteiligen will? Das kann ja auch leicht schiefgehen ... Angela Kraut: Ich sehe, wie wichtig es ist, dass wir innovativ bleiben und vorne dran sind. Aber ich bin ehrlicherweise auch manchmal die Bremserin und sage: Wir können ja nicht überall investieren.
»Wir wissen nicht, welche Ideen scheitern werden, also müssen wir viel ausprobieren« Andreas Kraut, 48, CEO
Müssen Sie also zu oft Ideen zugunsten der Finanzen zurückstellen, Herr Kraut? Andreas Kraut: Ich investiere gerne und probiere gerne neue Dinge aus, das ist mein Naturell. Aber ich sehe auch, dass eine tolle Idee alleine nicht reicht, sondern es auch auf die Umsetzung ankommt – und damit aufs Geld und auf die Mitarbeiter. Ich verstehe deswegen, dass wir einige Ideen auf einer Art Warteliste parken. Zum Beispiel? Andreas Kraut: Wir haben Sensoren für Autositze entwickelt, die aufs Gramm genau erfassen können, wie viel ein Mensch wiegt, und die dann die Stärke des Airbags daran anpassen. Und einen Föhn, der die Haare nicht trocken pustet, sondern die Feuchtigkeit absaugt. Ärgert es Sie, wenn solche Ideen am Ende auf der Strecke bleiben? Andreas Kraut: Nein. Es gehört dazu, dass manche Ideen scheitern. Wir wissen nur eben vorher nicht, welche Ideen das sind, deswegen müssen wir viel ausprobieren. Sie statten auch Amazon mit Ihrer Wägetechnologie aus. Ist das eher ein Ritterschlag für Sie – oder für Amazon? Andreas Kraut: Beides. Es freut uns, dass Amazon sich gezielt unsere Technologie ausgesucht hat. Das liegt sicher mit daran, dass wir so radikal digitalisieren. Auch die Schneidmaschinen, die wir Amazon für seine Frischemärkte liefern, sind ein Hightech-Produkt: Jedes Gerät lässt sich per Smart phone ansteuern und erkennt von selbst, wann es 500 Gramm Fleisch geschnitten hat oder wann das Messer nachgeschärft werden muss. In den 1990er-Jahren gab es bei Bizerba einen Sanierer, der damals Verlustbringer des Unternehmens abgestoßen hat – und zwar ausgerechnet eine Software-Tochterfirma und eine weitere Tochterfirma, die Automationssysteme entwickelt hat. Wurde der Wandel damals verschlafen? Andreas Kraut: Natürlich sehe ich das mit einem weinenden Auge, weil wir vielleicht heute noch weiter wären, wenn wir anders entschieden hätten. Trotzdem war das damals der richtige Schritt, um unsere Ertragskraft zu stärken, das war ja keine einfache Zeit. Wir hatten damals auch nicht die Kul-
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tur, die für die Entwicklung digitaler Lösungen nötig ist. Mir hat später ein längerer Aufenthalt im Silicon Valley geholfen, die Chancen der Digitalisierung zu erkennen. Frau Kraut, Sie sind heimatverbundener, die Ferne hat Sie nie so gelockt, wie Sie in der Firmenchronik schreiben. Lassen Sie sich trotzdem von der Begeisterung Ihres Bruders fürs Digitale anstecken? Angela Kraut: Ich lasse mich gern von neuen I deen begeistern, blicke aber auch mit viel Realismus auf die Dinge. Wenn wir uns beispielsweise an einem Start-up wie Super smart beteiligen oder eine Firma übernehmen, dann schaut mein Bruder etwas mehr auf die Idee, ich durchleuchte eher die Zahlen. Dass wir uns da so ergänzen, ist eine Stärke: Wir haben keinen blinden Fleck. Andreas Kraut: Es ist in einem Familienunternehmen wie unserem wichtig, eine gute Balance aus unterschiedlichen Typen, Erfahrungen und Meinungen zu finden – und wir verstehen uns nicht trotzdem, sondern deswegen so gut. Wir erreichen eigentlich auch immer einen Konsens, was ja in Familienfirmen nicht selbstverständlich ist. War für Sie beide immer klar, dass Sie mal in die Führung des Familienunternehmens aufrücken? Angela Kraut: Unser Vater Günter Kraut war bis 1995 der Kopf der Firma und auch in der Familie der dominierende Part. Wir sind daher sehr eng mit der Firma aufgewachsen. Als er dann 1995 leider ganz unerwartet gestorben ist, war für unsere Mutter Frigga und uns sofort klar, dass Bizerba unser Lebensinhalt ist und auch bleiben soll. Ihre Mutter hat den Tod ihres Mannes als »Blitzschlag« beschrieben, danach hat sie das Unternehmen weitergeführt, obwohl manche Vertraute ihr rieten, die Firma zu verkaufen. Angela Kraut: Unsere Mutter hat in den Jahren danach etwas ganz Bemerkenswertes geschafft: Sie hat das Unternehmen nicht nur erfolgreich geleitet, sondern nach und nach die Firmenanteile der anderen Erben zurückgekauft und so die Eigenständigkeit des Unternehmens bewahrt. Pünktlich zum 150-jährigen Jubiläum 2016 und vier Jahre vor ihrem eigenen Tod hatte Ihre Mutter das Ziel erreicht.
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Beschäftigte arbeiteten 2020 im Bereich Forschung und Entwicklung, das war etwa jeder zehnte
37 Mio.
Euro hat Bizerba im Jahr 2020 in Forschung und Entwicklung gesteckt, circa fünf Prozent des Umsatzes
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Erfindungen hatte Bizerba bis Ende 2020 zum Patent angemeldet oder patentiert, 38 Patente wurden in dem Jahr erteilt
Andreas Kraut: Das war ein ganz besonderer Moment, dem ein unglaublicher Kraftakt vorausgegangen war. Sie hat unsere Anteile von 20 Prozent wieder auf 100 Prozent erhöht – und gleichzeitig das Wachstum des Unternehmens weiter finanziert. Und es bedeutete natürlich, dass wir phasenweise nicht so viel investieren konnten und Bizerba auch kein so ertragreiches Unternehmen war. Aber uns als Familie war die Firma unserer Großeltern und unseres Vaters einfach wichtiger als ein dickes Bankkonto. Gibt es etwas, das Sie beide trotz der Bewunderung für Ihre Eltern anders machen wollen als die beiden? Andreas Kraut: Die Zeit der Patriarchen ist vorbei – in Familien wie auch in Unternehmen. Heute kannst du in einem globalen Unternehmen nicht mehr alles selbst bestimmen, damit limitierst du die Firma viel zu sehr. Es geht darum, Menschen mit Know-how in die Firma zu holen, sie zu motivieren und entscheiden zu lassen. Angela Kraut: Ja, man braucht heute mehr denn je eine starke Mannschaft: gute Leute im Unterbau, die selbstständig handeln und ihre eigene Meinung haben. Sie beide haben noch eine Schwester, aber die hat sich für die Politik entschieden: Nicole Hoffmeister-Kraut ist seit 2016 für die CDU Wirtschaftsministerin von Baden-Württemberg. Geben Sie ihr in der Pandemie manchmal Ratschläge, was Unternehmer gerade brauchen? Angela Kraut: Unsere Schwester steht in stetigem Austausch mit vielen Unternehmen im Land, und sie wird sicher dafür geschätzt, die Denkweise von Unternehmern zu verstehen. Aber wir tauschen uns nicht am Frühstückstisch mit ihr übers Unternehmen aus und machen ihr auch keine Vorschläge für die Politik. Andreas Kraut: Ihr und uns ist es wichtig, die beiden Welten ganz sauber zu trennen, um Interessenkonflikte zu vermeiden und sich nicht angreifbar zu machen. Sie ist zwar weiterhin Gesellschafterin, hat aber unseren Beirat verlassen, als sie Ministerin wurde. Und ich finde es toll, wie leidenschaftlich sie Politik macht. Das Gespräch führte Jens Tönnesmann
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DIGITALISIERUNG RAT AUS DEM SILICON VALLEY
Feuer dich selbst!
Illustration: Pia Bublies; Foto: Cloudflare
Matthew Prince hat die Digitalfirma Cloudflare aufgebaut. Seinen Erfolg erklärt er damit, dass er Menschen angeheuert hat, die seine Arbeit besser machen als er selbst Wissen Sie, Cloudflare ist an der Börse zwar rund 30 Mil liar den Dollar wert, aber wir haben eine Eigenschaft mit vielen familiengeführten Mittelständlern in Deutschland gemein: Meine Mitgründerin Michelle Zatlyn und ich haben immer noch das Sagen. So können wir sehr schnelle Entscheidungen treffen. Der Nachteil ist: Wenn wir bei Cloudflare immer nur machen, was wir beide uns ausdenken, kann das zum Handicap werden. Klar, Michelles und meine I deen haben Cloudflare weit getragen. Angefangen hat alles 2009, nachdem wir uns an der Harvard University kennengelernt haben; wir haben damals ein Seminar von Clayton Christensen besucht, der sich viel mit disruptiven Technologien beschäftigt hat. Mit seiner Hilfe haben wir ein Problem entdeckt: Damals mussten Unternehmer teure Hard ware kaufen, um sich vor Hacker-Attacken zu schützen. Gerade für kleine Firmen war das kaum bezahlbar. Michelle und ich sind mit der Idee angetreten, diese Unterversorgten zu bedienen: Wir bieten die gleiche Technologie übers Internet an, unsere Kunden brauchen also keine Hard ware, sondern bezahlen nur nach Bedarf. Es gibt sogar eine kostenlose Version von Cloudflare: Sie wehrt Angreifer ab, die eine Website mit zahllosen Anfragen lahmlegen wollen. Das kam bei
kleinen Firmen sofort gut an und hat uns die Türen zu großen Firmen geöffnet. Als wir Cloudflare gründeten, trugen wir beide viele Hüte: Ich war einer unserer Programmierer, Leiter des Supports und des Vertriebs. Aber mit der Zeit habe ich mich von jedem dieser Posten gefeuert. Ich habe für jeden Bereich Leute angeheuert, die darin viel klüger sind als ich. Und ich bin ihnen aus dem Weg gegangen. Leute einzustellen, die unsere Arbeit besser machen als wir selbst, sehen Michelle und ich heute als unsere Hauptaufgabe. Ja, wir haben mehr als 2800 Beschäftigte. Trotzdem sprechen Michelle und ich mit so gut wie jedem, den wir einstellen. Nicht um Bewerber genau zu durch leuchten und auszusortieren: Wir tun das, um allen im Unternehmen vorzuleben, wie wichtig es ist, dass wir uns kennen. Wenn Unternehmen unsere Größe erreichen, ist die größte Gefahr nämlich nicht, dass das Geld ausgeht oder die Kunden weglaufen. Umbringen können eine Firma unserer Größe die Verfehlungen Einzelner. Jemand belästigt einen anderen. Jemand begeht einen großen Betrug. Oder: Jemand im Unternehmen hat eine gute Idee, aber sie wird ausgebremst, weil ein anderer nicht will, dass sie gehört wird. Die Natur der Hierarchie und der Bürokratie begünstigt solche Probleme.
Denn je größer deine Firma wird, desto größer wird auch die Gefahr, dass du als CEO unerreichbar wirst. Du kannst dir eine Krawatte umbinden, dir ein Büro mit Vorzimmer zulegen, dich herumfahren lassen. Dann hörst du nichts von der Person, die belästigt wird. Du erfährst zu spät von der Person, die einen Betrug bemerkt. Du bekommst nichts mit von der guten Idee, die deine Firma nach vorne bringen könnte. Du siehst die Bedrohung zu spät. Aus dieser Erkenntnis habe ich gelernt. Ich trage keine Krawatten, habe ich noch nie. Vor allem aber will ich auch in fünf oder zehn Jahren noch versuchen, mit so vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie möglich zu sprechen. Ich gebe jedem meine persönliche Telefonnummer, ich möchte erreichbar sein. Sich als Chef zugänglich zu machen ist der beste Weg, um mitzubekommen, was im Unternehmen los ist – und die Fehler zu vermeiden, die Firmen unserer Größe wirklich gefährden. Protokoll: Jens Tönnesmann Prince, 47, gründete 2001 die erste Firma, 2009 folgte Cloudflare. Er arbeitete auch schon als Skilehrer und als Jura-Dozent
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DIGITALISIERUNG SANITÄTSBRANCHE
Der Baron und das Plattfuß-Syndikat Orthopädische Schuheinlagen auf Rezept im Netz kaufen? Ein Serienunternehmer und ein Start-up wollen das ermöglichen und stoßen auf verkrustete Strukturen VO N KR I STI NA L ÄS K E R
Peter Baron von le Fort vor seinem Sanitätshaus in Hamburg
Als Peter Baron von le Fort auf die Stapel mit Pappschachteln zeigt, kriegt er schlechte Laune. »So hässliche Verpackungen haben andere Branchen längst abgeschafft«, sagt er. »Welcher Kunde will das kaufen?« Der 77-Jährige trägt Anzug mit Einstecktuch, er arbeitet seit mehr als vier Jahrzehnten im Einzelhandel. Er könnte im Ruhestand sein. Doch er will nicht. Er will lieber die
Sanitäts branche aufmischen, um sie »von ihrem Muff« zu befreien, wie er sagt. Das Vorhaben mag auf den ersten Blick nur eine Nische der deutschen Wirtschaft betreffen. Aber es zeigt, auf welche verkrusteten Strukturen und Widerstände in diesem Land diejenigen stoßen, die es mit der Digitalisierung ernst meinen – auch dann, wenn sie die Kunden hinter sich wissen.
Vor gut zehn Jahren hatte Le Fort ein Sanitätshaus namens Schattschneider übernommen. Den Laden in der Hamburger Innenstadt gibt es seit 1869, Le Fort modernisierte die Innenräume, ergänzte das Sortiment um Fitness-Artikel wie Yoga-Matten, trainierte seine Verkäuferinnen und dekoriert regelmäßig die Schaufenster neu. Ganz so, als wäre sein Sanitätshaus ein Sportgeschäft
Foto: Sebi Berens für ZEIT Unternehmer
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– und nicht nur ein Ort, an dem man vom Arzt verschriebene Hilfsmittel erhält. Jetzt steht Le Fort vor seinen Regalen und regt sich über die Boxen für Bandagen oder Brustprothesen auf, auf denen so viel Kleingedrucktes steht, dass sie die Kunden eher abschrecken statt ermutigen. Für ihn gehören sie zur »bizarren Welt« dieser kaum kundenorientierten Branche. Wie die lieblos dekorierten Geschäfte, die fehlenden Auszeichnungen mit Preisen, die teils kruden Öffnungszeiten und die Absprachen zwischen Sanitätshäusern und Ärzten. Es ist eine Welt, die er verändern will. 2018 wagte Le Fort einen Angriff auf die traditionsreiche Branche – er beschloss, sie zu digitalisieren. Dafür sammelte er mehr als drei Millionen Euro ein, etwa beim früheren Tchibo-Chef Dieter Ammer und finanzierte Meevo Healthcare. Das Start-up will rezeptpflichtige Hilfsmittel nicht nur direkt im Laden verkaufen, es will Patienten auch über das Internet versorgen. Für viele Alteingesessene sei das ein Tabubruch, sagt Le Fort. »Die Branche tobt.« Und wehrt sich heftig. Neben dem Hamburger Rathaus empfängt Arlett Chlupka bei Meevo. Im Schaufenster baumeln Puppenbeine mit poppigen Stützstrümpfen, drinnen stehen Rollatoren aus Carbon neben Ledersofas. Das Geschäft sieht nach Wellness aus, weniger nach Bandscheibenvorfall. »Wenn man zu uns kommt, soll man sich nicht krank fühlen«, sagt die Wirtschaftsingenieurin. Chlupka leitet das Start-up mit zwei anderen, das Trio wolle sich besser um Wünsche von Patienten kümmern, sagt sie. »Sanitätshäuser sind doch sonst bloß eine Rezept-Einlöse-Stelle.« Um Partner zu finden, hätten sie viele Gespräche mit Krankenkassen geführt, erzählt Chlupka. Im August 2021 schloss das Start-up einen Pioniervertrag mit der Barmer ab, einer der größten Krankenkassen des Landes. Darin erlaubte die Barmer ihren etwa 8,8 Millionen Versicherten, sich übers Netz bei Meevo mit orthopädischen Einlagen auf Rezept zu versorgen. Online ging so was bisher nicht. Patienten müssen meist zweimal ins Geschäft kommen: zum Anpassen und zum Abholen der Einlagen. Laut neuem Vertrag dürfen Barmer-Kunden ihre Rezepte zusätzlich auch auf Meevos
Website craftsoles.de einreichen. Dann erhalten sie per Post ein Abdruck-Set, nehmen die Fußabdrücke selbst und füllen einen Fragebogen aus. Auf Wunsch können sie sich auch per Telefon oder Video-Chat beraten lassen. Mithilfe der Angaben fertigen Meevos Orthopädietechniker dann Ein lagen an und schicken sie kostenfrei zu. Was schlicht klingt, ist in der Welt von Ärzten und Krankenkassen rar: Patienten werden selten als Kunden behandelt. Seit dem Start des Online-Service im August hatte Meevo »Tausende rezeptpflichtige Paare« Schuheinlagen verkauft, sagt Chlupka. Bis zum 18. Oktober 2021. Da musste sich die Barmer dem Widerstand der Branche beugen und das Angebot aussetzen. Anders als den Patienten gefiel die Online-Versorgung vielen Sanitätshäusern gar nicht. In einer siebenseitigen Stellungnahme sprachen sich der Bundesinnungsverband für Orthopädietechnik und etliche Fachgesellschaften gegen das Internetangebot aus: Eine »individuelle und fachlich versierte Betreuung« durch Ärzte und Orthopädietechniker sei »zwingend erforderlich«, heißt es da. Alles andere führe zu einem »erheblichen Risiko für die Patientensicherheit«. Die Verbände monierten, dass bei einer Online-Versorgung übers Netz auch heikle Schuheinlagen etwa für Diabetiker oder für Minderjährige ohne direkte Beratung und Anpassung gefertigt würden. Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbands, beklagte die »laienhafte Versorgung« und hielt der Barmer und Meevo vor, dass sie »gesundheitliche Schäden bewusst in Kauf nehmen«. Es gehe Kasse und Versorger nur um eines, polterte Reuter: »Kostensenkung um jeden Preis.« Die Barmer und Meevo bestreiten diese Vorwürfe: Es lägen keinerlei Gesundheits risiken vor. Die Online-Versorgung sei ein zusätzlicher Weg für Kunden, betont Thomas Rabe, Fachteamleiter OrthopädietechnikVerträge bei der Barmer. Es sei im Prozess zudem sichergestellt, dass Diabetiker, unter 18-Jährige oder Patienten mit schweren Fußfehlformen weiterhin persönlich von Orthopädietechnikern vor Ort vermessen und beraten würden. Für viele andere Gruppen sei die Selbstvermessung gut geeignet: »Die Fehleranfälligkeit beim Abdrucknehmen ist
Arbeiten wie immer, aber nicht wie früher? Wir machen das schon.
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DIGITALISIERUNG SANITÄTSBRANCHE
sehr gering.« Die Meevo-Chefin Chlupka bestätigt das. Fast niemand habe die Einlagen bisher zurückgeschickt. »Die Kunden bewerten uns mit 4,9 von 5,0 Sternen.« Nachgeben mussten die Barmer und Meevo dennoch. Die Online-Versorgung – so lautete der Kern einzelner Klagen von Sanitätshäusern – entspreche nicht den gesetzlichen Mindeststandards im sogenannten Hilfsmittelverzeichnis. Das Bundesamt für Soziale Sicherung ordnete die Aussetzung des Vertrags an – seither darf Meevo die Einlagen auf Rezept nicht mehr über das Internet an Barmer-Versicherte verkaufen. Warum ist der Widerstand so massiv? Es geht neben medizinischen Grundsätzen um das viele Geld, das man mit Platt-, Hohl oder Spreizfüßen machen kann. Orthopä dische Einlagen sind das am häufigsten verschriebene Hilfsmittel im Land, das relativ schlichte Produkt bescherte Sanitätshäusern 2020 einen Umsatz von 482 Millionen Euro. Bei jedem zweiten Paar leisten sich Patienten besondere Materialien oder Farben und zahlen dafür im Schnitt 32,40 Euro drauf. Bei keinem anderen Hilfsmittel sind die Mehrkosten höher, das ist für Sanitätshäuser ein gutes Geschäft. Bei Meevo kostet ein Paar Einlagen 84,99 Euro, die Mehrkosten hätten im Schnitt bei 15 Euro gelegen, sagt Chlupka. Damit ist das Start-up ein Ärgernis für alteingesessene Betriebe: Meevo bricht mit der Intransparenz im Markt, sorgt für Wett bewerb bei Mehrkosten, und es hat alten Geschäften Umsatz weggenommen. Außerdem will Meevo laut eigener Aussage unabhängig von Arztpraxen arbeiten, die ihnen Kunden schicken. Stattdessen investiert das Start-up kräftig in den Auftritt im Netz, damit es von Kunden leichter gefunden wird. Meevo ist das, was man einen schöpfe rischen Zerstörer nennt: eine Firma, die eine Innovation auf den Markt bringt, Abläufe beschleunigt, Kosten senkt, vielen Kunden Vorteile bietet, und Etablierte ärgert. Eigentlich ist der Markt seit Langem verteilt. In Deutschland gibt es etwa 4500 Betriebe. Deren Besitzer pflegten oft enge Beziehungen zu Arztpraxen, um ihre Existenz zu sichern, erzählt Peter Baron von Le Fort. Das bremse Quereinsteiger, verhindere Inno
vationen und sorge für teils hohe Preise – zulasten der Kassen und Versicherten. Der Kaufmann hat es selbst erlebt: 2015 erwarb er auch ein Sanitätshaus in HamburgPoppenbüttel. Anders als die Vorbesitzerin habe er die Ärzte in den umliegenden Praxen nicht gekannt. »Die haben kaum Patienten in meinen Laden geschickt«, sagt er. Überprüfen lässt sich das nicht. Aber für ein Sanitätshaus ist es ein Problem, weil etwa zwei Drittel der Erlöse aus ärztlich verordneten Hilfsmitteln stammten. Le Fort schloss den Laden wieder. Es lohnte sich nicht. Doch von so etwas lässt er sich nicht bremsen, die oft rüden Methoden im Einzelhandel erschrecken ihn nicht. Er hat lange einen Baumarkt-Filialisten geleitet. Er grün-
4,4 Mio.
Patienten wurden 2020 mit orthopädischen Einlagen versorgt, wie Zahlen des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen zeigen
482 Mio.
Euro Umsatz brachte das den Sanitätshäusern im Land
dete und zog Ketten hoch wie den Fahrradhändler BOC. Er hat für Wirtschaftsprüferfirmen Einzelhändler beraten. Sein Netzwerk ist eng, seine Lust aufs Aufmischen groß, und Geld für den Angriff hat er auch. Für seinen Angriff hat Le Fort gezielt nach Menschen wie Arlett Chlupka gesucht. Die 34-Jährige betreute zuvor bei Fielmann Digitalisierungsprojekte. Zur DNA der Optikerkette gehören die Ausrichtung auf Kundenwünsche – und das Wissen, sich dafür auch mit der Branche anlegen zu müssen. Nur so konnte Günther Fielmann in den Achtzigern modische Brillen zum Nulltarif anbieten. Der Gründer ist vielen ein Vorbild für Disruption. »Es kann nicht sein, dass ein Sanitätshaus noch so funktioniert wie vor 20 Jahren«, sagt auch Chlupka. Doch bisher müssen sich tradierte Sanitätshäuser kaum um Kunden bemühen,
weil die Praxen ihnen ja eh die Patienten schicken. Viele Läden seien mit Margen zwischen 50 und 60 Prozent »kleine Gelddruckmaschinen«, sagt Le Fort. Möglich ist das auch, weil Patienten fast nie Ahnung von Preisen haben oder gar feilschen, denn das meiste übernehmen eh die Kassen. Manchmal sind die Beziehungen zwischen Sanitätshäusern und Praxen so eng, dass sie nicht mehr legal sind. Etwa, wenn Orthopädietechniker den Ärzten Geld geben oder ihnen die Praxis-Einrichtung zahlen. Geld gegen Kunden: Kickback-Zahlungen heißt so etwas. In Hamburg ermittelt die Staatsanwaltschaft seit Monaten wegen des Verdachts der gewerbsmäßigen Bestechung und des Betrugs gegen einen Hersteller und Händler für Orthopädietechnik und eine »unbekannte Anzahl niedergelassener Ärzte«. Der Verdacht: Die Mediziner hätten Bargeld und Aufwandsentschädigungen erhalten, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Liddy Oechtering. Im September durchsuchten Fahnder die Zentrale des Sanitätsbetriebs und ein Privathaus, nun sichten sie die Unterlagen. Unklar ist, ob und wann es zur Anklage kommt. Ermittlungen bei Korruption im Gesundheitswesen seien meistens »überdurchschnittlich aufwendig«, sagt Oechtering. Und schwer zu beweisen. Und jetzt? Aufgeben will die Barmer Krankenkasse nicht. »Wir wollen, dass das Hilfsmittelverzeichnis überarbeitet wird«, sagt Barmer-Fachteamleiter Rabe. Doch selbst wenn das gelingen sollte und die kri tische Branche ihr Plazet zur Online- Versorgung unter Auflagen geben würde, könnten Jahre vergehen. Die Barmer rechnet damit, dass der Kauf von rezeptpflichtigen Einlagen übers Netz frühestens von 2023 an möglich sein könnte. Frühestens. Viele schauen jetzt auf solche Vorstöße von Krankenkassen, etwa die Start-ups Get Steps aus Berlin oder 4Point aus Hamburg. Auch sie verkaufen orthopädische Einlagen online, auch sie würden gerne Rezepte annehmen, mit Krankenkassen kooperieren und dadurch mehr Umsatz machen. Und Meevo wolle durchhalten, bis die Barmer das Ganze durchgestritten habe, beteuert Chefin Chlupka. Der Rückhalt von Peter Baron von Le Fort ist ihr gewiss.
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DIGITALISIERUNG CYBERKRIMINALITÄT
Plötzlich nackt
Foto [M]: Dan Saelinger/Trunk Archive
Der Logistiker Hellmann wurde von Hackern angegriffen und lahmgelegt. Nun stehen interne Daten im Darknet. Aus dem Fall können andere lernen VO N EVA WO LFA NGEL
Es empfiehlt sich, Platinen gut zu schützen
Sami Awad-Hartmann macht keinen Hehl daraus, dass er lieber über andere Dinge mit der Presse sprechen würde als ausgerechnet über seine schwärzesten beruflichen Stunden. Und sein Arbeitgeber, das Osnabrücker Logistikunternehmen Hellmann, zögert lange, bevor er das Gespräch mit seinem IT-Chef erlaubt. Die Materie, um die es geht, ist sensibel, und Awad-Hartmann bringt Beistand mit zum Interview: Andreas Lamping, den Chefjustiziar, und Patrick Oestreich, den Kaufmännischen Direktor. Die leitende Pressesprecherin Christiane Brüning ist auch dabei, und sie betont, dies sei überhaupt das erste und zugleich das letzte Interview zu dem »Vorfall«, der sich Ende 2021 bei Hellmann ereignet hat. Der Vorfall: ein Angriff aus dem Netz, an dessen Ende Hellmann halb nackt dastand – obwohl die Firma viel richtig gemacht hat. Man braucht nur aus dem Meetingraum im dritten Stock der Firmenzentrale zu schauen, in dem das Gespräch stattfindet, dann weiß man, warum Hellmann so ein attraktives Ziel für Angreifer ist. Auf dem riesigen Vorplatz rangieren unzählige Lastwagen, die Tag für Tag unzählige Güter durch die Republik fahren, auf die irgend jemand dringend wartet. Logistikfirmen, Häfen, Tanklager: Solche Ziele suchen sich Hacker gerne – gelingt ein Angriff, entstehen an zahllosen Orten der Welt Probleme. Hellmann ist als globaler Logistiker mit 11.000 Beschäftigten in aller Welt und einem Jahresumsatz von 2,5 Milliarden Euro ein lohnendes Ziel. Eines von vielen: Auf mehr als 100 Milliarden Euro schätzt der Digitalverband Bitkom den Schaden, der Firmen 2021 hierzulande durch Angriffe auf die IT, Ausfälle von Servern und Erpressung mit gestohlenen Daten entstanden ist. Für Sami Awad-Hartmann beginnt alles mit einem Anruf an einem Tag im Dezember, er ist gerade auf Dienstreise in Dubai, so erzählt der IT-Chef es rückblickend. Ein Mitarbeiter teilt ihm mit: Die Alarmsysteme sind angesprungen. Solche Systeme über wachen Firmennetzwerke automatisiert und melden beispielsweise, wenn Programme benutzt werden, die Schaden anrichten können. Oder sie schlagen Alarm, wenn auffällig viele Daten heruntergeladen werden.
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Awad-Hartmann bleibt erst mal gelassen. In den meisten Fällen gibt es ja harmlose Erklärungen für Warnungen des Systems. Mal nutzt ein Mitarbeiter ohne böse Absicht eine Anwendung, die er eigentlich nicht nutzen sollte. Oder Beschäftigte tauschen ungewöhnlich viele Daten aus, weil sie beispielsweise Videos hin- und herschicken. Awad-Hartmanns IT-Experten nehmen des wegen eher routinemäßig das Firmennetzwerk genauer unter die Lupe. Und finden dann, einige Stunden sind seit der ersten Meldung vergangen, doch recht eindeutige Hinweise auf Aktivitäten externer Angreifer. Welche genau, das möchte das Unternehmen auch im späteren Gespräch nicht sagen. Für Awad-Hartmann beginnt eine schlaflose Nacht. Von Dubai aus spricht er in virtuellen Meetings mit der Geschäfts leitung, ruft sein Krisenteam zusammen, bespricht sich mit Profis von einem externen IT-Forensik-Unternehmen, das die Spuren
untersucht. Die größte Sorge: Die Angreifer könnten mit Schadprogrammen – sogenannter Ransomware – die Daten auf den Servern des Unternehmens verschlüsseln und ein Lösegeld erpressen. Awad-Hartmann ist sicher: Das ist nur eine Frage der Zeit. Mitten in der Nacht trifft der IT-Chef eine schwierige Entscheidung. Er orientiert sich dabei an einem Notfallplan für IT- Sicherheitsvorfälle, den jede Firma in der Schublade haben sollte und den Hellmann zu diesem Zeitpunkt schon besitzt. »Wir haben uns noch in der Nacht komplett von der Außenwelt abgekoppelt«, erzählt AwadHartmann rückblickend. Damit ist die Gefahr erst mal gebannt. Doch wenn sich ein Logistikunternehmen aus der digitalen Welt zurückzieht, bleibt in der physischen Welt einiges liegen. Andreas Lamping, der Chefjustiziar, sagt: »Der Ausfall betraf rund 11.000 Mitarbeiter in 59 Ländern. Es war klar, dass wir dann nicht
mehr wirklich arbeitsfähig sind.« Die Lagerverwaltung sei großteils digital organisiert, »ohne ein solches System kann man nicht lange arbeiten«. Schließlich habe man dann auch keinen Überblick über die Lager bestände, »man weiß nicht, wo was ist«. Nun schlägt die Stunde der Improvisierer, die unter extremem Zeitdruck analoge »Workarounds« konzipieren. Bedeutet konkret: unzählige Telefonate führen, Bestände auf Papier erfassen, Lieferscheine faxen, Listen auf Notizblöcken anfertigen. Jetzt zahlt sich aus, dass einige Mitarbeiter schon vor 30 Jahren mit der Schreibmaschine Luftfrachtbriefe geschrieben haben. Es gelingt Hellmann, einen großen Teil seiner Aufträge abzuarbeiten. Aber weil Aufträge heute digital erteilt werden, kommen keine neuen mehr. Es ist klar: Je früher die Server wieder hochfahren, umso kleiner fällt der Schaden aus. Das Unternehmen trifft in dieser Situa tion eine Entscheidung, die aus Sicht von
Wis.sen = gesicherte Informationen Daten und Dokumente sicher managen. Von der Erfassung bis zur Archivierung.
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DIGITALISIERUNG CYBERKRIMINALITÄT
Experten richtig ist: Es informiert seine Kunden schnell und transparent. Patrick Oestreich telefoniert mit einer Vielzahl von ihnen. Dabei beobachtet er, dass sich die Kunden in zwei Gruppen teilen lassen: jene, die noch keinen Cyberangriff durchgemacht haben, und jene, »die genau wussten, wie es uns geht«. Vor allem Letztere reagieren sehr verständnisvoll, erzählt Oestreich. Die Firmenleitung beschließt außerdem einen Tag nach dem Angriff, die Kunden zu informieren. Und sie räumt ein, dass man Datenlecks nicht ausschließen könne. Das ist die nächste große Sorge des IT-Chefs Sami Awad-Hartmann: Womöglich haben die Hacker schon sensible Informationen wie Kundenlisten oder Passwörter abgefischt, bevor er die Server abgeschaltet hat. Eine Woche nach Entdeckung des Angriffs fährt Hellmann die ersten IT-Systeme wieder an. Der Chefjustiziar Andreas Lamping vergleicht das mit dem Wiederaufbau eines Gebäudes nach einem schweren Unwetter: »Sie müssen schauen, ob jedes Bauteil trägt, bevor Sie darauf aufbauen und bevor Sie wieder Menschen reinlassen.« Nun brauchen alle Beschäftigten neue Passwörter – schließlich ist es möglich, dass die Angreifer das ein oder andere Passwort abgegriffen haben. Wie aber informiert man die Mitarbeiter darüber? Per E-Mail? Wenn nur eins der mehreren Tausend Postfächer von den Angreifern mitgelesen wird, würden diese ebenfalls ein neues Passwort erhalten – und hätten so bereits wieder einen Fuß in der Tür. »Man entwickelt eine gesunde Paranoia«, sagt der IT-Chef Awad-Hartmann. Seine Lösung lautet: alle anrufen. Ein Wochenende lang. 9000 kaufmännische Mitarbeiter erhalten so neue, komplexe Passwörter. Aber dann erfolgt der nächste Schlag: Eine Hackergruppe veröffentlicht tatsächlich Daten von den Hellmann-Servern. 70 Gigabyte tauchen auf einer Seite im Darknet auf, der Unterwelt des Internets, in der sich oft kaum rekonstruieren lässt, wer hinter einer Internetseite steckt. Die Firma erfährt von einem Dienstleister davon. Das Datenpaket enthält Millionen an Dokumenten. Mühsam zu sichten, voller Interna: E-Mail-Adressen von HellmannBeschäftigten und -Kunden, offizielle Do-
kumente mit Briefköpfen, Rechnungen, jede Menge Transportlisten. Allein eine Tabelle enthält 89.000 Datensätze, die verraten, welche Wege welche Waren nehmen, welche Häfen und Flughäfen sie passieren und welche Logistikdienstleister beteiligt sind. Kurz gesagt: Es ist eine Katastrophe. Anruf bei Stephan Gerling. »Interne Dokumente helfen, das Wording der Firma zu lernen«, erklärt der Sicherheitsforscher. Und mit der richtigen Wortwahl lassen sich authentische Fake- E-Mails verfassen, die Menschen dazu bringen, Geld zu überweisen oder Anhänge mit Schadsoftware herunterzuladen. Kriminelle können mithilfe der Transportlisten versuchen, Lieferungen abzufangen. Auch für Mitbewerber können
»Kein Unternehmen kann sich sicher fühlen« Sami Awad-Hartmann, IT-Chef von Hellmann
die internen Dokumente ein gefundenes Fressen sein. Laut Gerling ist das Muster solcher Attacken stets ähnlich: Üblicherweise laden Angreifer nach dem erfolgreichen Eindringen Daten herunter, dann verschlüsseln sie diese Daten auf den Servern des Opfers, sodass es keinen Zugang mehr hat. »Und wenn sich das Unternehmen weigert, das Lösegeld zu bezahlen, drohen sie mit Veröffentlichung.« Im Fall von Hellmann wurden die Daten weder verschlüsselt, noch gab es Drohungen – sagt jedenfalls das Unternehmen. Vielleicht, weil es die Server rechtzeitig ab geklemmt hat. »Wir wollen darüber nicht spekulieren«, sagt Sami Awad-Hartmann. Auch zu der Frage, wie die Angreifer eingedrungen sind, möchte er sich nicht äußern.
Es gehe jetzt um Prävention. Überall in der Zentrale hängen aktuell Warnhinweise: »Es ist verboten, mobile Hotspots zu nutzen.« Denn solche Zugangspunkte werden oft von Angreifern geschaffen, sehen wie echte Zugänge zum Firmen-WLAN aus, dienen aber dazu, den Datenverkehr abzufangen. Sicherheitsforscher Gerling empfiehlt neben den üblichen Sicherheitsvorkehrungen – starke Passwörter, Back-ups aller Daten, Software stets aktualisieren – vor allem Sorgfalt beim Aufbau von Unternehmenssystemen. Außerdem müsse man daran denken, die Passwörter zu ändern, die Soft ware-Hersteller in der Standardkonfigura tion mitlieferten. Zudem sei es wichtig, nur jene Anteile und Accounts eines Systems zu aktivieren, die man wirklich braucht. Gerling rät außerdem, Notfallpläne für Angriffe aufzustellen – und dann regelmäßig zu überprüfen. Bei systemrelevanten Prozessen sollten Firmen überlegen, welche sich möglicherweise eine Zeit lang auf analoge Weise weiterführen lassen. Business-Continuity-Management nennen Fachleute das – die Fähigkeit, weiterzumachen, auch während eines Angriffs. Der Rest ist der Kampf gegen die Bequemlichkeit: »Sicherheit erreicht man nicht, indem man einfach ein Produkt installiert«, sagt Gerling, »es ist ein Prozess, der gelebt werden muss. Installieren, abhaken und vergessen war gestern.« Dass es Hellmann getroffen hat, obwohl das Unternehmen viel in IT-Sicherheit investiert, zeigt aber auch, wie schwierig es ist, sich zu schützen. Ebenso wichtig wie eine gute Überwachung der eigenen Systeme und die Sensibilisierung der Mitarbeiter ist aus Sicht von Awad-Hartmann eine schnelle Reaktion entlang des Krisenplans: »Das reduziert den Schaden.« Wie hoch der am Ende bei Hellmann ausgefallen ist, wollen Awad-Hartmann und seine Kollegen nicht sagen – »aber klar ist: Er wäre sehr viel höher, wenn wir nicht so schnell reagiert hätten.« Auf der Hellmann-Website sind heute kaum noch Hinweise auf den Angriff zu finden. 2021 feierte das Unternehmen sein 150-jähriges Bestehen, und als Jubiläum einer Erfolgsgeschichte soll das Jahr auch in Erinnerung bleiben – nicht als das Jahr der großen Cyberattacke.
ANZEIGE »Das Zuhause wird zum Headquarter« für vielerlei Aktivitäten, prognostiziert die »Next Home«-Studie von QVC.
Morgen werden die Geräte unsichtbar
»Matter« – einem lizenzfreien Standard, den die weltgrößten Anbieter gemeinsam entwickelt haben. Darauf wartet beispielsweise die Sanitär- und Heizungsbranche nicht. Sie bietet bereits heute digital gesteuerte Heizungen an, die bei Bedarf automa-
Der Mensch hats gern bequem, und das lässt er sich was kosten. »Alles was Convenience und Zeitersparnis bringt, weckt Begehrlichkeiten«, konstatiert die »Next Home«-Studie des Video-Commerce-Retailers QVC. Sie stellt die Frage »Wie wohnt Deutschland übermorgen?« und findet spannende Antworten.
Smarte Helfer im Next Home stellen sich auf die Bewohnerinnen und Bewohner ein und entlasten durch Convenience und Zeitersparnis.
tisiert herunterfahren oder die Wohnungen in verschiedene Wärmezonen unterteilen. Der Einspareffekt: bis zu 14 Prozent – nicht unerheblich in Zeiten steigender Energiepreise. TOUCHSCREEN? ÜBERFLÜSSIG
Fünf Milliarden Menschen surfen zumin-
tere Erkenntnis betrifft die Arbeitswelt:
dest gelegentlich im Internet – und sind
»Das Zuhause wird zum Headquarter.«
doch längst in der Minderheit. Mehr als
Gestern wurde im Homeoffice improvi-
20 Milliarden Geräte sind über das Inter-
siert, heute entwickelt es sich zum voll
net vernetzt, und diese Zahl wächst ra-
funktionsfähigen Arbeitsplatz. Und mor-
gebunden sein und verschwinden aus un-
sant. Das Internet der Dinge – auf Eng-
gen? Verwandeln sich Räume quasi auf
serer Wahrnehmung. Das Licht geht eben
lisch »Internet of Things«, IoT – erobert
Knopfdruck, etwa vom Wohnzimmer zum
aus, wenn wir den Raum verlassen – ganz
unseren Alltag. Allen voran das Smart-
Büro, abends in einen Fitnessraum – und
selbstverständlich. Und so bequem Touch-Displays auch sein mögen: Die
Das ist die Gegenwart. Die Zukunft wird – futuristisch. Digitale Inhalte und Services werden nicht mehr an statische Geräte
phone. Und dann sind da noch »Siri« und
wieder zurück. »Arbeit und Auszeit
»Alexa«, die uns verraten, wie das Wetter
werden noch stärker verschränkt«, sagt
meisten der befragten Deutschen zwi-
heute wird, während der Saugroboter zu
Mathias Bork, Geschäftsführer von QVC
schen 14 und 55 Jahren wünschen sich,
unseren Füßen herumwuselt.
Deutschland.
dass Geräte im Haushalt auf Sprache re-
DAS HOME WIRD SMART
überflüssig.« Dafür kommt die Cyberputz-
agieren. Ergo: »Der Touchscreen wird
Das ist erst der Auftakt für die IoTWelt, heißt es in der »Next Home«-Zukunftsstudie. Regelmäßig untersucht der
Kein Wunder also, wenn man es zu Hau-
frau: 66 Prozent der Deutschen wünschen
Video-Commerce-Retailer QVC unter
se bequem haben möchte, schon um sich
sich laut »Next Home«-Studie einen Rei-
Leitung von Trendforscher Prof. Peter
auf das Wesentliche zu konzentrieren.
nigungsroboter, der die Wohnung sauber
Wippermann, Gründer des Trendbüros,
IoT-Geräte könnten einige nervige Arbei-
hält. Der Mensch hats halt gern bequem.
wie sich unsere Zukunft ändert. In der ak-
ten übernehmen, doch noch läuft es nicht
tuellen Studie geht es um Body-Optimie-
immer rund im »Smart Home«. Aufgrund
rung, Do-it-yourself als Gegentrend zur
unterschiedlicher Standards lassen sich
Digitalisierung, Haustiere und darum, wie
viele Geräte nur mühsam oder gar nicht
sich nach dem Shopping auch das Sozial-
vernetzen. Das werde sich laut »Next
leben ins Metaversum verlagert. Eine wei-
Home«-Studie demnächst ändern, dank
Mathias Bork ist Geschäftsführer von QVC Deutschland. Das digitale Handelsunternehmen ist Pionier beim Live-Shopping.
www.qvc-zukunftsstudie.de
FOTOSTORY BUHCK
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Was passiert mit unserem Müll? Die Buhck-Gruppe macht aus Abfällen Geld – im Jahr 2020 setzte sie 160 Millionen Euro um. Zu Besuch in einer Sortieranlage in Hamburg VO N NAV I NA REU S ; FOTO S : H A NNA LENZ
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1 Diesen Container muss jeder Lastwagen passieren, der Müll bei der Sortieranlage im Hamburger Stadtteil Billbrook anliefert. 235 Lastwagen hat das Unternehmen Buhck, sie bringen pro Jahr etwa 300.000 Tonnen Abfall in die Sortieranlagen. Je mehr Müll ein Fahrzeug geladen hat, umso mehr wird dem Verursacher in Rechnung gestellt. 2 Bevor ein Fahrer seinen Müll abkippt, wird der Lastwagen auf einer im Boden eingelassenen Waage gewogen. 3 In diesen Tagen stinkt es auf dem Hof nicht so sehr wie früher, weil Restaurants infolge der Pandemie weniger Kundschaft haben und so auch weniger Speiseabfälle anfallen.
FOTOSTORY BUHCK
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4 Wo sich Abfälle türmen, fühlen sich Möwen sehr wohl. 5 Müll, der sich nur schwer recyceln lässt, wird von einem Kran in einen Schredder bugsiert – alte Matratzen etwa. Auf diese Weise entsteht ein Material, aus dem sich leichter Metallteile herausfiltern und Brennstoffe für Heizkraftwerke herstellen lassen. 6 Um die Abfälle möglichst gut zu verwerten, müssen sie sortenrein sein. Deswegen werden sie in diesem Gebäude sortiert. Am Ende landet in jedem der sogenannten Bunker ein anderer Rohstoff.
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7 In dem Gebäude befindet sich oberhalb der Hallen ein Fließband. Dort sortieren Arbeiter den Müll per Hand – und lassen ihn je nach Sorte durch Luken nach unten fallen. So werden zum Beispiel Kunststoffe und Pappe voneinander getrennt. 8 Im letzten Schritt werden die recycelten Rohstoffe für die Wiederverwertung vorbereitet, hier wird Pappe zu Ballen gepresst. Für manche Pappmaterialien gibt es 100 bis 120, mitunter sogar 200 Euro pro Tonne – Sortieren und Recyceln ist also harte Arbeit, lohnt sich aber.
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FOTOSTORY BUHCK
DER UNTERNEHMER-FRAGEBOGEN
Der Sortierer I M PR ES S UM
Henner Buhck führt in vierter Generation die Buhck-Gruppe, zu der 35 Firmen in Norddeutschland zählen.
Wir brauchen sie für nicht verwertbare Abfälle, beispielsweise Asbest. Wo machen Sie Kompromisse? Etwa beim Klimaschutz, der für uns nicht um jeden Preis geht, wir müssen uns noch im Markt behaupten können. Nur weil die Mehrkosten noch vertretbar sind, schaffen wir uns bald einen ersten Elektro-Lkw an. Freuen Sie sich, wenn Wettbewerber das Geschäft beleben – oder ärgern Sie sich? Wenn die fair unterwegs sind, stärkt das die Motivation aller, Kunden vernünftig zu betreuen. Unfair ist aber, wenn Wettbewerber Restmüll trotz gesetzlicher Pflicht verbrennen, ohne ihn vorher zu sortieren, um Aufwand und Geld zu sparen. Zum Glück lehnen viele Kunden solche Praktiken ab. Wie wichtig ist Ihnen Diversität? Ein Unternehmen kann es sich gar nicht leisten, das riesige Potenzial von beispielsweise Frauen oder Menschen mit Mi gra tions hin ter grund nicht zu nutzen. Bisher sind nur zwanzig Prozent unserer Führungsriege Frauen. Das muss mehr werden! Welche Entwicklung erfüllt Sie mit der größten Genugtuung? Unsere Mission Klimaschutz hat im Unternehmen und auch bei unseren Kunden viel Begeisterung ausgelöst. Alle ziehen mit, darauf bin ich stolz. Wen würden Sie gerne einmal zum Business-Lunch treffen? Elon Musk. Von Visionären wie ihm kann man viel lernen. Ich fahre einen Tesla, genau wie acht unserer Mitarbeiter. Jetzt wollen wir alle Standorte mit Fotovoltaik anlagen und Speichertechnik aus bauen, damit wir die Elektrofahrzeuge aufladen können.
Foto: Buhck
Was macht Ihr Unternehmen? Wir entsorgen und recyceln Abfälle, bieten Serviceleistungen für Kanäle und Rohre an und beraten Kunden. Was begrenzt Ihr Wachstum am meisten? Der aktuelle Fachkräftemangel. Wir haben volle Auftragsbücher, genug Fahrzeugkapazitäten, aber zu wenig Personal – eine sehr unerfreuliche Situation! Ihr Unternehmen wäre nichts ohne ... ... seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ihre Ideen und ihr Engagement lassen das Unternehmen überhaupt erst laufen. Woran wäre Ihre Firma fast gescheitert? Wir haben zehn Jahre lang ein Abenteuer in Polen gewagt. Wir wollten dort einen Rohstoffhandel aufbauen, was auch in Deutschland nicht unser Schwerpunkt war und ist. Es bestand zwar nie die Gefahr, dass das Unternehmen daran scheitert, aber wir haben sehr viel Geld verloren. Was an Ihren Produkten finden Sie ästhetisch – und was nützlich? Wir erbringen ja Dienstleistungen und produzieren nichts. Wenn man aber technik begeistert ist, dann sind unsere Maschinen schon ästhetisch, etwa ein modernes Kanalreinigungsfahrzeug oder ein Elektrobagger. Uns ist auch wichtig, dass unsere Fahrzeuge sauber aus sehen und nicht »müllig«. Nützlich ist, dass wir im Sinne der Nachhaltigkeit Abfälle sammeln und verwerten. Welche Ihrer Dienstleistungen mögen Sie am wenigsten? Die Deponierung von Abfällen. Sie ist wenig innovativ und die Henner Buhck, schlechteste Entsorgungslösung. 55
Die Fragen stellte Tom Schmidtgen
Herausgeber: Dr. Uwe Jean Heuser Art-Direktion: Haika Hinze Redaktion: Jens Tönnesmann
(verantwortlich) Autoren: Carolyn Braun, Kristina Läsker,
Stefan Merx, Katja Michel, Andreas Molitor, Tom Schmidtgen, Julia Wäschenbach, Eva Wolfangel Redaktionsassistenz: Andrea Capita, Katrin Ullmann Chef vom Dienst: Iris Mainka (verantw.), Mark Spörrle Gestaltung: Johanna Knor, Christoph Lehner Infografik: Pia Bublies (frei) Bildredaktion: Amélie Schneider (verantw.), Sebi Berens, Navina Reus Schlussredaktion: Imke Kromer Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich) Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich) Herstellung: Torsten Bastian (verantw.), Oliver Nagel Druck: Vogel Druck und Medienservice GmbH, Höchberg Geschäftsführung: Dr. Rainer Esser Verlagsleitung Magazine: Sandra Kreft, Malte Winter (stellv.) Projektmanagement: Stefan Wilke Verlagsleitung Vertrieb: Nils von der Kall Marketing: René Beck Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen:
Silvie Rundel Anzeigenleitung: Áki Hardarson Anzeigenpreise: Sonderpreisliste Nr. 1
vom 1. 1. 2022 An- und Abmeldung Abonnement (4 Ausgaben):
www.convent.de/zfu Verlag und Redaktion:
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH und Co. KG, Helmut-Schmidt-Haus, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon: 040/32 80-0, E-Mail: DieZeit@zeit.de
Damit die nächste Krisensitzung nicht im Serverraum stattfindet.
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Wo Netzwerke wirksam gegen Cyberangriffe abgeschirmt werden müssen, steht secunet bereit. SINA Gateways von secunet schützen Netz-Infrastrukturen mit BSI-zugelassener Verschlüsselungstechnik und machen sie premiumsicher. secunet.com protecting digital infrastructures
TITELTHEMA DIVERSITÄT
Die neuen Pionierinnen
Gründerinnen erhalten oft weniger Kapital als Gründer, Start-ups fehlt es an Diversität. Judith Dada ...
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Der deutschen Wirtschaft mangelt es immer noch an Vielfalt. Eine neue Generation von Unternehmerinnen hat sich vorgenommen, das zu ändern
Fotos: Peter Rigaud für ZEIT für Unternehmer
VO N KATJA M I C H EL
... und Jeannette zu Fürstenberg vom Wagnisfinanzierer La Famiglia arbeiten dagegen an
TITELTHEMA DIVERSITÄT
Die Sache mit dem Klappstuhl haute nicht hin, egal wie Tijen Onaran es auch anstellte. »If they don’t g ive you a seat at the table, bring a folding chair« – wenn sie dir keinen Platz am Tisch geben, bring einen Klappstuhl mit: Diesen Tipp kannte die deutsche Politologin aus der Historie von der ersten Afroamerikanerin, die in den US-Kongress gewählt wurde. Doch sosehr Tijen Onaran sich auch bemühte, machte sie doch immer wieder die Erfahrung, dass niemand für sie zur Seite rückte. Als sie auf Konferenzen von Firmengründern ging, fühlte sie sich fremd. Schließlich war sie kein Mann, hatte nicht an einer der bekannten Wirtschafts-Unis studiert, wollte auch keine neue App auf den Markt bringen. Diversity als Geschäfts modell? Stieß in dieser Welt auf wenig Begeisterung. Gerade bei Investoren. Also beschloss sie, statt eines Klappstuhls gleich ihren eigenen Tisch aufzustellen – und gründete das Frauen-Karrierenetzwerk Global Digital Women. Und wenn es heute mal wieder um die Frage geht, wie es gelingen kann, dass an den Tischen der Macht nicht immer nur die gleichen Menschen sitzen, dann wird sie gerne eingeladen. Das Ziel des Netzwerks: für eine gerechte Teilhabe aller in Wirtschaft und Gesellschaft einzutreten, den Anteil an Frauen in Führungsebenen zu erhöhen und die Gleichstellung der Geschlechter zu beschleunigen. Der Weg dorthin ist auch heute noch weit. Im deutschen Mittelstand liegt der Anteil der Chefinnen laut dem KfW-Mittelstandspanel bei 16,8 Prozent, und kaum höher liegt der Wert laut dem Bundesverband Deutsche Startups unter den Start-upGründern. Auch die Berichte der AllBright Stiftung, die sich für mehr Frauen in Füh-
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rungspositionen einsetzt, zeichnen regel mäßig ein deprimierendes Bild. So ist der Frauenanteil in den Vorständen der 160 börsennotierten Unternehmen des Dax, MDax und SDax in der Corona-Krise sogar leicht gesunken. Für den Dax lag er vergangenen September nur bei 17,4 Prozent, in den Vorständen der MDax- und SDax- Unternehmen sogar deutlich darunter. Zum Vergleich: Der Anteil der Frauen im TopManagement liegt in den USA bei 28,6 Prozent, in Großbritannien bei 24,5 Prozent. In puncto Diversität in den Chefetagen hat Deutschland extremen Nachholbedarf. Wie sehr diese Ungleichheit als Belastung empfunden wird, das zeigen auch die Ergebnisse der großen Mittelstandsbefragung von ZEIT für Unternehmer (siehe Seite 42/43). 64 Prozent der befragten Unternehmerinnen vermissen Unterstützung durch die Politik, 44 Prozent wünschen sich spezielle Austauschangebote für Unternehmerinnen. Studien belegen, dass Vielfalt sich für Unternehmen auszahlt Die gute Nachricht ist: Eine neue Genera tion von Unternehmerinnen arbeitet daran, den Missstand zu beheben. Tijen Onaran, 36 Jahre alt, gehört dazu. Oder Verena Pausder, 43 Jahre, die in ihrem Buch Das neue Land ein Zukunftsbild zeichnet, das auf neue Technologien, Startup-Denken und Gleichberechtigung setzt. Pausder steht auch hinter der Initiative #stayonboard. Die hat sich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass Chefinnen und Chefs von Aktiengesellschaften während familiärer Auszeiten ihre Ämter nicht mehr niederlegen müssen. Dann ist da Isabelle Hoyer, 43, die
das Programm Employers for Equality gegründet hat, bei dem sie unter anderem Gesprächsrunden zum Erfahrungsaustausch zwischen Personalmanagern organisiert und Work shops anbietet, um Teams zu mehr Diversität zu führen. Sie alle sind Pionierinnen, die Strukturen verändern und Diversität in der Wirtschaft vorantreiben. Von einer »neuen Welle von Unternehmerinnen« spricht Ann- Kristin Achleitner, Wirtschaftsprofessorin und Aufsichtsrätin mehrerer Konzerne. Die 56-Jährige sagt, sie selbst habe nie eine Frau als Förderer gehabt – es gab schlicht keine älteren Frauen auf verantwortungsvollen Positionen, die sie hätten fördern können. Heute coacht sie junge Unternehmerinnen, die Logistik- und Messtechnik-Start-ups führen, auch Tijen Onaran. Achleitner sieht heute nicht nur mehr Gründerinnen, sondern auch eine größere Zahl von Frauen im technischen Bereich: »Es ist eine kritische Masse erreicht, die sich austauscht und gegenseitig stützt.« Bei den neuen Unternehmerinnen beobachtet die Professorin eine größere Natürlichkeit und Selbstsicherheit, wenn es um Führen und Gründen geht. Mehr Vielfalt wäre nicht nur gerecht, sie würde sich auch wirtschaftlich lohnen. Einer großen Analyse von 2015 zufolge, die Ergebnisse aus 140 Untersuchungen zum Thema zusammenfasst, sind Unternehmen mit Frauenbeteiligung an der Spitze finanziell erfolgreicher als solche, die von reinen Männerteams geführt werden. Auch Analysen der Unternehmensberatung McKinsey zeigen, dass Unternehmen mit hoher Gender-Diversität signifikant häufiger überdurchschnittlich profitabel sind. Und eine weltweite Befragung der Internationalen
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Foto: Uli Deck/dpa/Picture-Alliance
betrug der Anteil der Chefinnen im deutschen Mittelstand 2020. In Summe führten 638.000 Frauen ein Unternehmen
Arbeitsorganisation unter mehr als 12.000 Unternehmen legt dar, dass es nicht per se erfolgreichere Firmen sind, die mehr Frauen in die Führungsebene holen – sondern dass mehr Frauen in der Führungsebene zu höheren Profiten und mehr Produktivität führen. Vielfältigere Teams erhöhen auch nachweislich die Resilienz. Sehr homogene Gruppen unterschätzen dagegen oft Risiken. Der Gender-Aspekt ist dabei nur eine Dimension von Vielfalt, neben sexueller Orientierung, Religion oder Alter. Zuletzt ist vermehrt die soziale Herkunft in den Fokus gerückt. Stefanie Mattes, Jahrgang 1975, zum Beispiel hat Aufsteiger.org gegründet. Sie selbst war die Erste, die in ihrer Familie studierte. Heute bringt sie Menschen, die ähnliche Bedingungen hatten, mit Mentoren zusammen. Schon länger gibt es die Initiative Arbeiterkind.de, gegründet von Katja Urbatsch, 43, die mehr Kinder von Nichtakademikern zum Studium führt. »Bei vielen Unternehmen ist angekommen, dass es sich lohnt, Vielfalt zu fördern«, ist der Eindruck von Claudia Peus, Professorin von der TU München. Was die konkrete Umsetzung angeht, sieht sie allerdings deutliche Unterschiede. Während die einen sich ehrgeizige Diversitätsziele setzen und einen ernsthaften Wandel angehen, drucken andere zur Pride-Week zwar Broschüren mit Regenbogen-Logos – belassen es aber dabei. Experten sprechen von Purple- oder Rainbow-Washing, analog zum Greenwashing. Tijen Onaran hat Vielfalt zu einem Geschäftsmodell gemacht. Ein Nachmittag in München, zur Frauenkirche sind es nur ein paar Schritte. Hier liegt eines von zwei Büros, aus denen sie ihre Firma führt. Draußen pulsiert das Leben der Altstadt, drinnen sitzt
Tijen Onaran ist eine von ihnen
die 36-Jährige in Leoparden-Hose und orange far be ner Bluse. Ihr Mann, Marco Duller-Onaran, studierter BWLer und CoGeschäftsführer, bringt den Kaffee. Er macht auch ihre Termine. Wer Tijen sprechen will, muss sich an Marco wenden. Er kümmert sich um Strategie und Management, sie wird als Rednerin gebucht, moderiert Gründer-Events, schreibt Bücher und Kolumnen. 2017 haben die beiden ihr gemeinsames Unternehmen gegründet, das heute 18 Mitarbeitende beschäftigt. Eine kleine Firma – deren Gründerin zuletzt oft in Unternehmer-Rankings auftauchte. Da stellt sich die Frage: Woher kommt sie? Neu ist, wie groß die Frauen-Netzwerke heute werden Onaran wächst in Karlsruhe auf. Die Mutter stammt aus einer türkischen Gastarbeiter familie und ist Verkäuferin, der Vater hat in der Türkei studiert und später in Deutschland als Architekt gearbeitet. Ihre Tochter schicken sie auf ein katholisches Mädchengymnasium, weil es dort eine Nachmittagsbetreuung gibt. Tijen beginnt sich früh für Politik zu interessieren. Mit 17 tritt sie der Jugendorganisation der FDP bei, weil sie an Freiheit und Eigenverantwortung glaubt. Als sie zu ihrer ersten Sitzung bei den Jungen Liberalen geht, betritt sie einen Raum voller junger Männer in Polohemden und Segelschuhen. Ihre Reaktion sagt viel über den Menschen Tijen Onaran: »Ich fand, ich war genau das Puzzleteil, das ihnen fehlte, und beschloss: Herausforderung angenommen.« Herausforderung angenommen. 2006 kandidiert sie für den Landtag, wird danach Referentin der Europaabgeordneten Silvana
Koch-Mehrin, macht für die FDP-Politikerin Wahlkampf und stellt fest, »dass Frauen mehr tun müssen als Männer, um wahrgenommen zu werden und sich durchzuboxen«. Später betreut sie für den damaligen FDPChef Guido Westerwelle die Social-MediaKampagne, erlebt sein Outing mit – und wie intern manche so gar nicht damit klar kommen, dass der FDP-Chef Männer liebt. Onaran wechselt in die Wirtschaft, geht auf Gründerkonferenzen. »In der FDP gab es wenige Frauen, auf diesen Events waren so gut wie gar keine«, erinnert sie sich. Die Szene erlebt sie als verschlossene Welt, die vor allem aus hippen Gründern besteht, die alle an denselben Wirtschafts-Unis studiert haben. »Ich hatte lange das Gefühl: Ich muss mir einen Platz am Tisch erkämpfen«, sagt sie. »Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich gar keinen Platz an diesem Tisch brauche.« Tijen Onaran weiß aus der Politik, wie wichtig Sichtbarkeit und Vernetzung sind, nun bringt sie die Frauen aus der Digitalszene zusammen. Alles beginnt mit einer Mail, die sie an Frauen aus ihrem beruflichen Umfeld schickt: Ihr solltet euch kennen lernen. Zum ersten Treffen kommen zwölf Frauen. Aber das Bedürfnis nach Austausch ist riesig. Schnell sind mehrere Hundert Frauen auf dem Verteiler, heute erreicht das Netzwerk über 40.000 Menschen. Damals entsteht die Idee, aus dem Stammtisch eine Firma zu machen. Die Events finden heute bei Unternehmen statt, die dafür zahlen, sich der weiblichen Zielgruppe präsentieren zu können. Ein zweites Geschäftsfeld ist die Beratung. Für AnnKristin Achleitner sind die Global Digital Women ein Phänomen: »Frauen-Netzwerke hat es natürlich auch früher schon gegeben.
TITELTHEMA DIVERSITÄT
»Bei vielen Unternehmen ist angekommen, dass es sich lohnt, Vielfalt zu fördern« Claudia Peus, geschäftsführende Vizepräsidentin für Talentmanagement und Diversity der TU München
Aber in dieser organisierten Form und in dieser Breite erlebe ich das als neu.« Onarans nächstes Projekt ist ein Fonds, mit dem sie in divers geführte Start-ups investieren will – und in Geschäftsideen, von denen klassische VCs kaum zu überzeugen sind. Sie hat das selbst erlebt und ihre Gründung schließlich selbst finanziert. Zahlen zeigen das Problem: 2020 hat der Female Founders Monitor ergeben, dass weibliche Start-up-Teams deutlich seltener Wagniskapital erhalten als männliche und so eher auf ihre Ersparnisse und Kredite angewiesen sind. Und wenn sie Geld von Investoren erhalten, dann im Schnitt weniger. Onaran will dem etwas entgegensetzen, dafür sammelt sie Geld ein und investiert selbst, etwa in die Start-ups Nevernot, das Softtampons produziert, und Pumpkin Organics, einen Hersteller von Bio-Babynahrung. Für die Unternehmerin ist klar: ohne Diversität kein Geld. Die Mehrheit des Gründerteams muss aus Frauen bestehen. Wenn mit der Zeit mehr erfolgreiche Unternehmerinnen auch zu Investorinnen werden, dann verstärkt sich die Wende zu mehr Diversität mit der Zeit selbst. Wie das geht, kann man in Berlin erfahren, bei Jeannette zu Fürstenberg, 39, und Judith Dada, 30. Wenn die beiden aus dem Besprechungsraum ihres Risikokapitalfonds La Famiglia aus dem Fenster schauen, dann blicken sie auf das Berliner Stadtschloss und die Spree, von diesem Punkt in Berlin-Mitte sind viele Start-ups der Stadt nur ein paar Minuten entfernt. Zu Fürstenberg stammt aus der Industriellenfamilie, die hinter dem Duisburger Unternehmen Krohne Messtechnik steht. Durch ihren Großvater entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Unternehmertum.
Sie arbeitet zunächst für einen Investmentfonds, bevor sie 2015 die Investment firma La Famiglia gründet. »Für mich ist das Investieren der beste Weg, mitzugestalten und teilzuhaben am Ideenreichtum und an der unternehmerischen Energie, die dort freigesetzt werden«, sagt sie. Zum Portfolio von La Famiglia gehören zum Beispiel KIund Logistik-Start-ups ebenso wie ein digitaler Versicherer. Geldgeber sind deutsche Mittelständler wie Miele und Viessmann, international bekannte Unternehmerfamilien wie Swarovski und Hermès, aber auch erfolgreiche Gründer. Die Idee hinter La Famiglia ist, nicht nur Kapital bereitzustellen, sondern ein Beziehungsgeflecht zu knüpfen. Die Start-ups kommen auf diese Weise früh mit eta blier ten Firmen und potenziellen Kunden zusammen. Das kann ihnen Märkte eröffnen, die ihnen sonst oft lange verschlossen bleiben. Die Pionierinnen wollen mit ihrem Geld das Silicon Valley replizieren Diese Idee hat auch Judith Dada überzeugt. Von Facebook kommt sie 2017 zu La Famiglia, wird zweite Partnerin. Dada ist in München als Tochter eines nigerianischen Einwanderers und einer Kindergärtnerin aufgewachsen. Der Vater – IT-Spezialist, dessen Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt wurden – gab ihr mit, dass sie aufgrund ihrer Herkunft würde höher springen müssen als andere Kinder. »Ich möchte jedem schwarzen Mädchen da draußen zeigen, dass wir genauso erfolgreich sein können wie Menschen anderer Haut farbe. Das ist für mich ein großer Antrieb, Last und Segen zugleich«, sagt sie heute.
Entsprechend zielstrebig geht sie ihren Weg. Nach der Schule studiert Dada Wirtschaftsund Kommunikationswissenschaft sowie Technologiemanagement, digitalisiert ein Studentenmagazin, erforscht in New York und Oxford das junge Internet. Heute bringt sie bei La Famiglia vor allem ihr Wissen über Daten und Maschinenintelligenz ein. Mit La Famiglia wolle sie dazu beitragen, Wertschöpfung in Europa zu halten, sagt Dada, die bei Facebook den größten Werbekunden Amazon betreute und so die Macht zweier amerikanischer Digitalkonzerne erlebte. »Ich bin überzeugt, dass wir das Silicon Valley in Deutschland replizieren können, wenn wir es schaffen, die unternehmerische und die technische Seite besser zusammenzubringen«, sagt sie. Die beiden Unternehmerinnen sehen sich als Zukunftsgestalterinnen, nicht als Vermögensverwalterinnen. Immer noch klopfen bei La Famiglia mehr Gründer als Gründerinnen an. So etwa die Chefs des Start-ups Alcemy, an dem La Famiglia beteiligt ist. Sie haben ein Verfahren entwickelt, das jene bisher ungenutzten Daten auswertet, die bei der Herstellung von Zement und Beton anfallen. Die Soft ware lernt, die Qualität des Produkts vorherzusagen, und ermöglicht so, Beton und Zement effizienter und mit weniger CO₂-Ausstoß herzustellen. Dem Gründerduo rieten die Investorinnen, früh eine Frau ins Führungsteam zu holen, und vermittelten eine Kandidatin, die heute bei Alcemy das operative Geschäft leitet. »Es ist wichtig, schon in der Aufbauphase eines Unternehmens eine diverse Firmenkultur zu schaffen«, sagt zu Fürstenberg. »In einer männlich dominierten Kultur fühlen sich viele Frauen nicht wohl. Das später zu drehen ist sehr schwer.«
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»Viele Frauen kehren nach der Elternzeit geduckt in den Job zurück« Ricarda Engelmeier, My Collective
Diese Erfahrung machen einige junge Wachstumsfirmen. Um deren Diversität steht es keinesfalls besser als um die der alten Konzerne. Unternehmen wie Delivery Hero, Hello Fresh, Home24 und Westwing seien zu Börsenkonzernen geworden und hätten dabei die Fehler der alten Generation wieder holt, bemängelt die AllBright Stiftung: Sie wachsen ohne Frauen. Nach Angaben der Stiftung lag im April 2021 der Frauenanteil in den Vorständen der Firmen, die in den letzten 15 Jahren gegründet wurden und in den Dax aufstiegen, bei mickrigen 5,4 Pro zent. Erst mit dem Börsengang und der Auf nahme in einen Index verstärke sich durch die Transparenzpflicht der Druck von außen, dann komme die Diversität in den Blick. Manch börsennotierter Konzern hat mittlerweile verbindliche Vorstandsquoten – auch damit das Management Kundinnen leichter versteht. Immerhin werden 70 Pro zent der Kaufentscheidungen in Privathaus halten von Frauen getroffen. Und angesichts des Fachkräftemangels werden auch andere Firmen den Kreis der Menschen, die für Spitzenpositionen infrage kommen, erwei tern. Und das heißt zuallererst: mehr Frauen. Ein kritischer Zeitpunkt, an dem viele weibliche Talente der Geschäftswelt verloren gehen, ist die Elternzeit. Ricarda Engel meier hat die Firma My Collective gegrün det und ein Programm für Unternehmen entwickelt, mit dem sie ihre Führungskräfte in der Babypause binden und weiterentwi ckeln können. An einem Mittwoch um zehn Uhr hat sich ein gutes Dutzend Frauen in die Videokonferenz eingewählt. Eine ist mit zwei kranken Kindern zu Hause und lässt die Kamera aus, eine andere hat sich das Baby in der Trage umgebunden. Sie alle
sind Chefinnen in Elternzeit und sind von ihren Arbeitgebern wie Beiersdorf und Schaeffler für das Programm ausgewählt worden. Männer sind heute nicht dabei. Sie sind überhaupt selten anzutreffen bei My Collective. Engelmeier will das ändern und lädt vermehrt auch Männer ein, die Work shops zu leiten. Jetzt steht aber eine Session bei einer gut gelaunten Motivationstrainerin aus den USA an, selbst Mutter und ehe malige Top-Managerin. »Worin seid ihr großartig, in der Familie und im Job?«, fragt sie. »Sagt mir nicht, dass ihr gut seid in et was, sondern dass ihr großartig darin seid.«
beitswelt quer durch die Industrie gesehen wird«, erzählt sie. Weil es alle so machten, nahm sie nach der Geburt ihrer Tochter ein Jahr Elternzeit und streifte viel durch die Straßen. Sie konnte nicht glauben, wie viele gut ausgebildete Frauen morgens um zehn mit Kinderwagen unterwegs waren und wie viel Potenzial somit ungenutzt bleibt. »Für mich machte das volks- und betriebswirt schaftlich einfach keinen Sinn«, sagt sie. Jeden Mittwoch bietet My Collective Trainings an. Damit es sich besser mit dem Babyalltag vereinbaren lässt, findet das kom plette Programm online statt. Wer möchte, kann sich auch als Start-up-Mentorin enga Mutter oder Vater werden ohne gieren. Bei sogenannten Pitch-Nights stellen Karriereknick Gründerinnen und Gründer ihre Geschäfts ideen vor, die My-Collective-Frauen können Ricarda Engelmeier, 42, hat My Collective sie später coachen. »Viele Frauen kehren 2019 während ihrer eigenen Elternzeit ge nach der Elternzeit geduckt in den Job zu gründet, nachdem ihr drittes Kind zur Welt rück«, sagt Engelmeier. My Collective stärkt gekommen war. Die ersten beiden sind in ihr Selbstvertrauen und ermuntert sie, auch Indien geboren, eine echte Babypause in der Elternzeit Kontakt zum Unternehmen machte Engelmeier damals nicht. In Delhi zu halten. Vor der Rückkehr bekommt jede hat sie für die Gesellschaft für Internationale Teilnehmerin ein Training, das sie auf das Zusammenarbeit und das indische IT- entscheidende Gespräch mit den Vorgesetz Ministerium gearbeitet, bevor sie in ihre ten vorbereitet. Darüber nämlich, wann und Heimatstadt München zurückkehrte und in in welchem Umfang sie zurückkommt. Viele der Strategieabteilung von Siemens begann. der My-Collective-Führungskräfte werden Das My-Collective-Büro liegt in einer ehe mehr als die üblichen 50 bis 70 Prozent ar maligen Galerie, großformatige Kunst hängt beiten, die normal sind. an den Wänden. Sie teilt es mit ihrem Mann, An diesem Mittwoch hat auch die ame der ebenfalls ein Start-up gegründet hat. rikanische Motivationstrainerin noch einen Zwischendurch steckt er den Kopf zur Tür Tipp parat: nicht beschweren, keine Details rein und verabschiedet sich. Er muss los, weil über durchwachte Nächte erzählen. »Sagt der Sohn früher aus der Schule kommt. einfach: It’s a new mum’s life.« Das Leben Die Rückkehr nach Deutschland erlebte einer jungen Mutter. Was das heißt, könne Engelmeier als Kulturschock. »Es hat mich sich dann jeder selbst denken. Und je mehr wirklich erschreckt, wie man in Deutsch Eltern in den Chefetagen sitzen, desto zu land als Mutter mit zwei Kindern in der Ar treffender wird diese Vorstellung sein.
TITELTHEMA DIVERSITÄT
Werte statt Kohle
Unternehmerinnen agieren anders als Unternehmer, wie die große Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung »In guter Gesellschaft« zeigt VO N JENS TÖ N NES M AN N
Worin sich die Sichtweisen von Unternehmerinnen und Unternehmern besonders unterscheiden
66 %
In Deutschland herrscht ein gründungsfreundliches Klima. In Deutschland herrscht ein gründungsfreundliches Klima. Es gibt zu wenig Unterstützung für weibliche seitens derfür Politik. EsUnternehmerinnen gibt zu wenig Unterstützung weibliche Unternehmerinnen seitens der Politik. Anteil der Befragten, die den Aussagen »voll undder ganz« oder »eher« zustimmen Anteil Befragten, die den Aussagen »voll und ganz« oder »eher« zustimmen
der Unternehmerinnen würden auf Umsätze verzichten, um mit ihrer Firma die Welt zu verbessern
6% 15 % 6% 15 % 35 % 35 % Unternehmerinnen Unternehmerinnen
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Unternehmer Unternehmer
Wie sich die unternehmerische Praxis von Unternehmerinnen und Unternehmern unterscheidet In meinem Unternehmen berücksichtigen wir Diversität besonders In meinem Unternehmen berücksichtigen wir Diversität besonders In meinem Unternehmen gibt es regelmäßige Termine zum Austausch In meinem Unternehmen gibt es regelmäßige Termine zum Austausch In meinem Unternehmen setzen wir auf digitale Plattformen In meinem Unternehmen setzen wir auf digitale Plattformen
ZEIT-Grafik
Anteil der Befragten, die die Aussagen mit »ja« beantworten Anteil der Befragten, die die Aussagen mit »ja« beantworten
Wenn Frauen ein Unternehmen führen, orientieren sie sich an anderen Zielen als Männer. Unternehmerinnen folgen anderen Trends, gestalten ihren Arbeitsalltag oft an ders und vertrauen auf andere Ratgeber als ihre männlichen Pendants. Offenbar ge lingt es ihnen besser, Privatleben und Unternehmertum in Einklang zu bringen. Allerdings hat ein etwas größerer Anteil der Unternehmerinnen schon in Betracht ge zogen, die eigene Firma aufzugeben. Das alles zeigt die große Mittelstands studie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung »In guter Gesellschaft«, für die das
29 % 29 %
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46 % 46 % Unternehmerinnen Unternehmerinnen
Analyse- und Beratungsunternehmen aserto rund um den Jahreswechsel 100 Unterneh merinnen und 300 Unternehmer ausführ lich befragt hat. »Die Ergebnisse der Studie lesen sich als klares Plädoyer für mehr Diver sität in der Wirtschaft«, sagt Lars Harden, Professor für Unternehmensberatung an der Hochschule Osnabrück und Chef von aserto. Doch da gibt es einen Haken: Auf dem Weg zu mehr Vielfalt vermissen 64 Prozent der weiblichen Befragten Unterstützung für Unternehmerinnen durch die Politik, wäh rend das nur 35 Prozent der männlichen Befragten bemängeln.
80 % 73 % 80 % 73 % 66 % 66 % Unternehmer Unternehmer
Da fangen die Unterschiede erst an. So sorgen sich Unternehmerinnen und Unter nehmer zwar gleichermaßen vor einer Spal tung der Gesellschaft und der Klimakrise. Doch Unternehmer messen der Digitalisie rung, dem demografischen Wandel und der künstlichen Intelligenz viel Bedeutung bei, Unternehmerinnen sehen häufiger das ge wachsene Gesundheitsbewusstsein als prä genden Trend (siehe Grafiken). Dazu passt, dass zwei Drittel der befragten Unternehme rinnen die Welt zu einem besseren Ort machen wollen, auch wenn sie dafür auf Umsätze verzichten müssen – nur die Hälfte
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Wie Unternehmerinnen und Unternehmer ihren Alltag meistern Ich fühle mich oftmich auch an eigene Rituale IchIch fühle IchIch fühle mich oftoft Ich arbeite IchIch arbeite auch ananIch habe IchIch habe eigene Rituale fühle fühle arbeite auch habe eigene Rituale Ich fühle hin- und hergerissen Tagen und im entwickelt, mich mich häufig häufig hinund hergerissen Tagen und imund und Strategien entwickelt, mich häufig hinund hergerissen freienfreien freien Tagen und im Strategien und Strategien entwickelt, fühle mich Ich arbeite auch Ich habe eigene Rituale Ich fühle IchIch fühle mich oftoft Urlaub, Ich arbeite auch anan um Ich habe eigene Ich fühle zwischen meiner Familie das gehört Privatleben undRituale körperlich zwischen meiner Familie Urlaub, dasdas gehört um Privatleben und körperlich zwischen meiner Familie Urlaub, gehört um Privatleben und körperlich hinund hergerissen für freien freien Tagen und und Strategien entwickelt,erschöpft mich häufig hinund hergerissen Tagen und imim Beruf und Strategien entwickelt, mich häufig und meinem Unternehmen mich dazu zu trennen erschöpft und meinem Unternehmen fürfür mich dazu Beruf zuzu trennen erschöpft und meinem Unternehmen mich dazu Beruf trennen zwischen meiner Familie Urlaub, gehört Privatleben und körperlich zwischen meiner Familie Urlaub, dasdas gehört umum Privatleben und körperlich und meinem Unternehmen mich dazu Beruf trennen erschöpft und meinem Unternehmen fürfür mich dazu Beruf zuzu trennen erschöpft Unternehmerinnen %% Unternehmerinnen Unternehmerinnen 21 % 2121 2121 %%
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Unternehmerinnen Unternehmerinnen
Unternehmer Unternehmer Unternehmer Unternehmer Unternehmer
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Welche Megatrends Unternehmerinnen und Unternehmer bedeutsam finden
Wissenskultur (56(56 %) Wissenskultur (56 %) Wissenskultur (56 %) Wissenskultur (56 %) Wissenskultur %)
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Globalisierung (42 %) Globalisierung (42 %)%) Globalisierung (42 Globalisierung %)%) Globalisierung (42 Unternehmerinnen Unternehmerinnen Unternehmerinnen Unternehmerinnen Unternehmerinnen
der Unternehmer unterschreibt das. Unternehmerinnen definieren auch öfter einen Purpose, und häufiger als Unternehmer legen sie ausdrücklich Wert auf Diversität. Bemerkenswert ist, dass zwar 74 Prozent der Unternehmer sagen, dass sie wichtige Probleme ihres Berufsalltags mit ihren Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern besprechen – offenbar brauchen gerade Unternehmer die Partner an ihrer Seite. Zugleich suchen aber nur 59 Prozent der Unternehmerinnen bei ihren Partnern Rat – in höherem Maß als Männer vertrauen sie auf Coaches und den Rat anderer Unternehmerinnen.
Unternehmer Unternehmer Unternehmer Unternehmer Unternehmer
Sind die Unternehmerinnen aus diesen Gründen auch erfolgreicher als Unternehmer – oder weniger erfolgreich? Das lässt sich mithilfe der Mittelstandsstudie nicht beantworten. Was sich aber zeigt: Während jeder dritte Unternehmer sich oft zwischen Familie und Unternehmen hin- und hergerissen fühlt, sagt das von sich nur jede fünfte Unternehmerin. Die befragten Frauen arbeiten nicht ganz so oft an freien Tagen und haben eher Rituale und Strategien ent wickelt, um Privatleben und Beruf zu trennen. Offenbar gelingt es ihnen also besser, beides unter einen Hut zu bringen. Aller-
Unternehmer Unternehmer
Post-Corona-Gesellschaft(54 (54%)%) Post-Corona-Gesellschaft Konnektivität (56 (56 %) Konnektivität %) Konnektivität (56 %) Konnektivität (56 %) Konnektivität (56 %)
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Unternehmerinnen Unternehmerinnen
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Unternehmer Unternehmer
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Neue Mobilität Neue Mobilität (38(38 %)%) Künstliche Intelligenz (44 %) Künstliche Intelligenz (44 %)%) Künstliche Intelligenz (44 Künstliche Intelligenz (44 Künstliche Intelligenz (44 %)%) Gesunde Rahmenbedingungen (42 %) Gesunde Rahmenbedingungen (42 %) Gesunde Rahmenbedingungen (42 %) Gesunde Rahmenbedingungen (42 Gesunde Rahmenbedingungen (42 %)%)
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Neue Mobilität (31 %) Neue Mobilität %) Künstliche Intelligenz (40(31%) Künstliche Intelligenz (40 %) %) Künstliche Intelligenz Künstliche Intelligenz(40 (40%)
dings sorgen sie sich öfter vor Altersarmut, doch während sich schon zwei Drittel der Unternehmer mit der Altersvorsorge ausein andergesetzt haben, hat das nur die Hälfte der Unternehmerinnen getan. »Unternehmerinnen sind wertgetriebener und weniger am Geld orientiert als Unternehmer«, bilanziert der Forscher Lars Harden. »Diese Haltung mag klischeehaft klingen, kann die Wirtschaftswelt in einer Zeit der Umbrüche aber nur bereichern.« Weitere Informationen zu der Studie finden Sie auf Seite 6–9
FAMILIENUNTERNEHMEN CHARTA
Jetzt gib her das Ding! Viele Familienfirmen sind heftig zerstritten. Davor kann eine Charta schützen, die Ziele, Werte und Nachfolgeregeln festlegt. Auf dem Weg dahin geht es ans Eingemachte VO N JU LI A WÄS C H ENBAC H
V Vor sieben Jahren wurde es kompliziert bei der Curt Bauer GmbH in Aue-Bad Schlema im Erzgebirge. So kompliziert, wie es in vielen Unternehmen wird, wenn die Inhaber familie wächst – und nicht mehr alle einer Meinung sind. Bei den Bauers war es damals so: Es gibt vier mögliche Nachfolger für die beiden Brüder an der Unternehmensspitze. Alle vier sind geeignet, und alle vier haben Interesse an der traditionsreichen Firma, die 1882 gegründet wurde und heute weltweit Bettwäsche und Tischtücher vertreibt. Solche Situationen können sich zu echten Krisen auswachsen, Familien entzweien und Beschäftigte verunsichern. Das zeigen viele Beispiele aus der Welt der Familienunternehmen: Die Oetkers haben nach dem Tod des 2007 verstorbenen Rudolf-August Oetker Jahre gebraucht, bis sie im Sommer vergangenen Jahres ihren Streit um die Macht beilegen konnten – und spalten den Konzern aus Bielefeld nun auf. Auch die Bahlsens aus Hannover machten nach einem schweren Zerwürfnis Ende der 1990er drei Firmen aus dem gemeinsamen Unternehmen. Beim Fleischverarbeiter Tönnies aus Rheda-Wiedenbrück streitet man seit Jahren, teilweise
öffentlich und vor Gericht. Wer eine Familienfirma führt oder eines Tages führen will, der sollte die Gefahr solcher Konflikte nicht unterschätzen. Und möglichst vorbeugen, solange es noch harmonisch läuft. So wie die Bauers im Erzgebirge. Die Brüder Michael und Gert Bauer sind jahrzehntelang einer Meinung, die Gegner sind andere, etwa die Treuhandanstalt. Nach der Wende gelingt es den beiden, die Familienfirma aus deren Vermögen zurückzubekommen und damit das Erbe ihres Urgroßvaters anzutreten. Sie übernehmen gemeinsam die Leitung und führen die Geschäfte des Betriebs mit heute 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. 2014 aber geht Michael, damals 60 Jahre und der Ältere der Brüder, langsam auf die Rente zu. Die Brüder fragen sich: Wer soll die Familienfirma nach uns weiterführen? Michaels 35-jähriger Sohn und seine 34-jährige Tochter Claudia arbeiten im Unternehmen, die beiden erwachsenen Kinder des jüngeren Bauer-Bruders Gert noch nicht. Sie sind die vier Aspiranten. Die Charta soll komplexe Konstellationen ordnen Wie so oft ist es der große Bruder Michael, der die Sache anpackt. Er hört von einem Seminar der Intes Akademie für Familienunternehmen, besucht es und befindet danach: Eine Familienverfassung muss her, damit die Nachfolge konfliktfrei über die Bühne geht. Eine solche sogenannte Familiencharta existiere inzwischen etwa in knapp einem Drittel aller Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 250 Millionen
Euro, schätzt Tom Rüsen, Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen (Wifu). Sie soll regeln, wie die Familie mit dem Unternehmen umgeht, möglichst bevor es Streit gibt (siehe Kasten). Das Wifu hat 2019 eine Studie zu Familienstrategien veröffentlicht und dafür 214 Unternehmen befragt. Für eine Familienverfassung sprechen demnach vor allem drei Aspekte: Sie soll die Zukunft des Unternehmens sichern, Ordnung in immer komplexere Familienkonstellationen bringen und nachhaltig für Zusammenhalt sorgen. Auch die Nachfolgeregelung wird häufig als zentraler Grund genannt. Auch in einer Familie braucht es gute Führung Während mittelständische Unternehmen mit einem kleinen Gesellschafterkreis es früher oft nicht für notwendig hielten, sich eine Familienverfassung zu geben, sei auch für diese Firmen die sogenannte Family Governance heute ein wichtiges Thema, sagt die Kölner Beraterin Birgit Felden. Sie begleitet die Unternehmen bei der Erstellung von Familienchartas. »Das Bewusstsein dafür, dass es für eine gute Unternehmensführung auch einer guten Führung in der Familie bedarf, hat sich durchgesetzt.« Was aber steht in so einem Dokument? Eine ordentliche Familiencharta, sagt Tom Rüsen, enthalte nicht nur Vereinbarungen zu gemeinsamen Werten. Sondern auch Regeln für das Konfliktmanagement und Angaben zu der Frage, welche Kompetenzen die Gesellschafter eigentlich haben
Foto: Hahn und Hartung für ZEIT für Unternehmer
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Wer bekommt den Chefposten samt Generalschlüssel? An dieser Frage zerbrechen manche Unternehmerfamilien
FAMILIENUNTERNEHMEN CHARTA
Hält hoffentlich Generationen: Familienverfassung mit Einband
Das Chefbriefing Was regelt eine Charta? Eine Familiencharta – auch Verfassung oder Kodex genannt – ist eine schriftliche Vereinbarung einer Unternehmerfamilie. Sie kann zum Beispiel die Rollen und Funktionen von Familienmitgliedern im Unternehmen und als Gesellschafter, die Voraussetzungen für die Nachfolge, die Werte und Ziele des Unternehmens und der Familien, Strategien zur Konfliktbewältigung und Krisenprävention, die Ausschüttungspolitik und die Vermögensstrategie des Familienunternehmens regeln. Auf diese Weise soll sie Konflikten und Krisen vorbeugen. Wie verbindlich ist eine Charta? Eine Familiencharta ist nur moralisch bindend. Aber Familien können sich entscheiden, Teile der Verfassung in den Gesellschaftervertrag zu übertragen. Wie viel kostet eine Charta? Helfen Berater und Anwälte bei dem Prozess, müssen Firmen mit Honoraren zwischen 50.000 und 100.000 Euro rechnen, schätzt Tom Rüsen vom Wittener Institut für Familienunternehmen.
offenen Gespräche viele Dinge geklärt, die sonst nicht ans Tageslicht gekommen wären. Das hat unser Miteinander gestärkt.« Die Bauers haben ZEIT für Unternehmer Einblicke in die gebundene Broschüre ge währt, die jedes Familienmitglied bekom men hat. Sie umfasst 18 Seiten und enthält »professionelle Regeln im Unternehmen und faire Spielregeln in der Familie«, so steht es in der Präambel. Auch gemeinsame Werte sind festgehalten, zum Beispiel dass der Familie Eintracht wichtig ist. Zitat Seite 7:»Wir sind harmoniebedürftig.« Wer Firmeninhaber werden darf, lässt sich festschreiben Die Bauers haben vereinbart, dass der Be trieb nicht mehr als vier Gesellschafter ha ben darf. Sie haben geregelt, wann Gewinne ausgeschüttet werden dürfen und wie, wel che konkreten wirtschaftlichen Ziele das Unternehmen hat, welche Qualifikationen Geschäftsführer haben müssen – und wer überhaupt Inhaber der Firma werden darf. »Nicht ehelich leibliche und eheliche nicht leibliche Kinder«, so steht es in der Verfas sung der Familie Bauer, dürfen »nur mit Zustimmung der Familie als mögliche Nachfolger in Betracht gezogen werden. Dies gilt ebenfalls für adoptierte Kinder.« Rechtlich bindend ist das Ganze nicht, und schon gar nicht ewig gültig. »Wir emp fehlen, dass Familien sich ihre Verfassungen alle zwei bis drei Jahre wieder anschauen«, sagt die Nachfolge-Expertin Birgit Felden. Dabei sollten die Gesellschafter prüfen, ob etwas geändert werden muss. Auch bei den Bauers war in diesem Jahr eine Revision notwendig. Ursprünglich hatte die Verfassung vorgesehen, dass Mi chaels Bruder Gert und sein Sohn Ralph das Unternehmen nach Michaels Ausscheiden zunächst gemeinsam leiten sollten. Aber die heute 42-jährige Claudia wollte dann doch nicht nur Mitglied der Geschäftsführung sein, sondern deren Sprecherin. »Früher ist der älteste Sohn automatisch als Thronfolger aufgewachsen«, sagt die Be raterin Nina Heinemann. »Heute ist das anders – und für die Söhne nicht immer leicht.« Bei der Familie Bauer, sagt Michael,
Foto: Hahn und Hartung für ZEIT für Unternehmer
sollen. »Das wirklich Schwierige« sei aber, im Alltag umzusetzen, was die Familie da in der Strategie festgehalten hat, auch wenn sich eigentlich alle einig seien. Das Doku ment selbst sei zudem nicht mal das Ent scheidende, findet der Mittelstandsexperte, sondern der Weg dorthin: »Die Familien verfassung dokumentiert das Ergebnis einer Auseinandersetzung«, sagt Rüsen. Das ge meinsame Arbeiten an der Familienverfas sung birgt nämlich schon jede Menge Sprengstoff. Das haben auch die Bauer-Brüder und ihre Kinder in fünf Workshops mit der Nachfolgeberaterin Nina Heinemann aus Bochum erfahren. In diesen Sitzungen, in denen sie die Charta gemeinsam erarbeiten, kommt alles auf den Tisch. Dabei sind Mi chael und Gert, ihre Ehefrauen und die vier Kinder. In einer Übung sollen sie zum Bei spiel die Stärken und Schwächen der anderen aufzählen. Zuerst habe ihre Selbsteinschät zung kaum zu den Meinungen der anderen über sie gepasst, erzählt Claudia Bauer, Mi chaels Tochter. Als sie dieselbe Übung kürzlich wiederholten, hatten sich alle besser kennengelernt: »Forsch«, »ehrgeizig«, »struk turiert«, das waren die Adjektive, die auf den verschiedenen Zetteln über sie standen. Damit kann sie gut leben. »Ich komme sehr nach meinem Vater«, erzählt Claudia. Sie sagt ehrlich ihre Meinung, kann sich gut durchsetzen, andere mitreißen. Wie ihr Va ter Michael ist sie eine starke Persönlichkeit. Doch die Firmenleitung, das steht für sie bei den ersten Familiencharta-Runden fest, will sie nicht übernehmen. Sie hat zwei Kinder, heute zehn und zwölf Jahre alt, und will für sie da sein. »Ich hatte Angst, dass ich weder meiner Rolle im Unternehmen noch der als Mutter gerecht werden würde.« Dass die Bedürfnisse aller Familienmit glieder gehört werden, ist laut Beraterin Heinemann ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Verfassung. Ohne die neutrale Moderatorin, bestätigt Claudia Bauer, hät ten die Gespräche »explosiv« enden können. Wenn es um die Familie geht, sind eben immer auch Emotionen im Spiel. »Man braucht bei Diskussionen einfach manchmal jemanden, der einen wieder runterholt«, sagt Bauer. »Gleichzeitig haben wir durch die
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einer der beiden Senioren, habe man sich schnell geeinigt. »Meine Tochter ist jemand, der die Leute mitzieht«, sagt der 67-Jährige. »Im Mittelpunkt steht für uns alle, dass es der Firma gut geht und dass es ein vernünftiges Miteinander in der Familie gibt.« Um die Familienbande zu stärken, vereinbaren viele Unternehmen, einmal im Jahr ein gemeinsames Wochenende zu organisieren. In größeren Familien ist dafür ein eigenes Komitee zuständig. In der Charta der Bauers steht: »Um den Zusammenhalt zu erhalten, wollen wir auch zukünftig an einem engen und vertrauten Verhältnis arbeiten. Da wir unternehmungs lustig sind, machen wir gemeinsame Reisen und Feste.« Auch Regeln zum Auftreten der Familienmitglieder in der Öffentlichkeit können Teil einer Verfassung sein. Die Bauers haben am Ende ihrer Charta symbolisch drei Familienfotos eingefügt. Eins zeigt die Brüder Michael und Gert mit ihren
Ehefrauen und Kindern, ganz einträchtig unterm Weihnachtsbaum. Manchmal sagt ein Bild eben mehr als tausend Worte.
sagt die älteste Tochter Kerim StöbichSchaller. In einer Familiencharta hielten sie bis ins Detail etwa fest, wie sie sich selbst weiterbilden wollen und welche VoraussetMit einer Charta lässt sich familiären zungen ihre eigenen Kinder einmal erfüllen Notfällen vorbeugen müssen, um Gesellschafter werden zu können. Stöbich-Schaller sagt: »Wir waren vorAußerdem kann eine Familiencharta bei fa- her nicht in seine Entscheidungen mit einmiliären Notfällen helfen. So war es bei der gebunden gewesen und mussten in unsere Firma Stöbich Brandschutz aus Goslar. Die Gesellschafterrollen erst hineinwachsen.« drei Schwestern Kerim (48), Janine (43) und Familie Bauer ist da schon weiter. Sie arLiesa (28), »steckten zunächst gar nicht so beitet gerade daran, Claudia Bauers neue tief im Unternehmen drin«, wie Kerim Rolle als Sprecherin der Geschäftsführung Stöbich-Schaller erzählt. Doch als der Vater in die Familiencharta einzubauen. »Ich verund Firmengründer mit Mitte 70 schwer suche, viel zu kommunizieren, auf die vererkrankte, mussten die Töchter plötzlich schiedenen Charaktere in unserer Familie ihre Rollen in dem Unternehmen mit im- einzugehen und Probleme offen anzuspremerhin rund 1000 Mitarbeiterinnen und chen«, sagt Claudia Bauer. Sie ist zuversichtMitarbeitern finden. lich, dass Unternehmen und Familie auf Eineinhalb Jahre nach der Diagnose ist einem guten Weg sind. Die Familienbande Jochen Stöbich im Februar 2021 gestorben. sind stark – gerade weil die Bauers sich immer »Wir drei waren ein bisschen überfordert«, wieder ausführlich damit beschäftigen.
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EIN TAG MIT... ...NILS GLAGAU
G Ganz am Ende des Gewerbegebiets, nach Kampfsportstudio und vergittertem Eigenheim, wird es plötzlich funky. Über dem Eingang zu einem Firmengebäude mit komplett begrünter Fassade leuchtet in Lila eine Gitarre, daneben steht der Schriftzug: »Rock B(r)and«. An diesem Wendehammer beginnt die erstaunliche Nils-Glagau-Story. Ein schwarzer Audi R8 mit Bronzefelgen zeigt: Der Chef ist schon da. Wie er später sagt: seit sieben Uhr. Der 46-Jährige startet meist mit einer Stunde im Kraftraum. Wer ist dieser unverschämt gut aus sehendeTyp, der sich in einem Podcast als »selbstbewusst, gelassen, gewissenhaft« charakterisiert? Studiert man Bunte, Bild und die Jahresabschlüsse, könnte man denken: ein Strahlemann, der mit geschickt vermarkteten Mikronährstoffen Millionen verdient, die er als Promi-Investor und Juror in der Gründer-Show Die Höhle der Löwen wieder aufs Spiel setzt. Skeptische Neugier also beim Eintritt in die Höhle des TV- Löwen. Entspricht er dem Klischee? Oder neidet ihm da jemand seinen Erfolg? Im T-Shirt begrüßt Glagau »im schönen Langenfeld«. Freundlich zurückhaltend startet der zweifache Familienvater die Begegnung, die bis zum Abend dauern wird und das Ziel hat, herauszufinden, wie Glagau wirklich ist – jenseits der Kameras, im Alltag. Kunst und Leuchten, wohin das Auge blickt, ein spektakulär großes Aquarium als Küchenblock im Lichthof. Nils Glagau hat es sich auf Arbeit hübsch gemacht. Zeit für einen Espresso und eine erste Fragerunde an einem besonderen Ort: der Pyramide. Glagau hat einen Masterabschluss in Ethnologie, er war einst an Ausgrabungen beteiligt. Was liegt näher, als sich mitten in die Firma eine Binnenpyramide schreinern
Der Spieler Unterwegs mit dem Mann, der Mikronährstoffe mischt und Start-ups sammelt VO N ST EFA N M ERX
Nils Glagau, 46, ist Ethnologe, ehemaliger Barbetreiber, Familienunternehmer, Start-up-Investor und Fernseh-Promi
zu lassen, zum ungestörten Konferieren und Denken. »Die Maße orientieren sich an der Cheopspyramide«, erklärt Glagau. Hier, nicht weit von Köln, hat sein Vater Kristian, ein Pharmamanager, 1991 Orthomol gegründet – und mit seinen Nahrungsergänzungsmitteln den Zeitgeist der auf keimenden Fitnessgesellschaft getroffen. Mit dem Versprechen, die Körperdepots der Kunden mit Mikronährstoffen zu befüllen, mit Vitaminen, Mineralstoffen, Enzymen, gewann er schnell wichtige Verbündete: Die Apotheker-Gilde verdient gut mit am mar-
genträchtigen Sortiment, das ganze Regale füllt. »Die blaue Wand«, sagt Nils Glagau in Anspielung auf die tiefblauen Verpackungen. Im Inneren der Pyramide schlägt Glagau waagerecht ein Bein über das andere: Wohlfühlposition. Bei Orthomol, der Cashcow seiner Firmengruppe, ist er für Marketing und Vertrieb zuständig, die Produktion und Technik betreut sein Co-Geschäftsführer Michael Schmidt, seit 2006 die Konstante in der Chefetage der 480-Mitarbeiter-Firma. Als Vater Kristian 2009 überraschend verstarb, übernahm Sohn Nils die Führung –
Foto: Tillmann Franzen
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und liftete den Umsatz von 81 auf 124 Millionen Euro in 2021. Für 2020 weist die Bilanz einen satten Überschuss von 23 Millionen Euro aus. »Im Corona-Jahr gab es einen Run auf Immunpräparate«, erklärt Glagau. Was mit Pülverchen verdient wird, riskiert der Unternehmer teilweise in seinem Start-up-Accelerator Rock B(r)and. Spielerei? »Es ist mein privates Geld, da will ich schon schwarze Zahlen schreiben.« Und die Agilität der Gründerinnen und Gründer befruchte sein klassisches Geschäft. Mit meist sechsstelligen Beträgen steigt Glagau ein, schon rund 20 Ventures bündelt er in seiner Firmensammlung. Prototypen stellt er in einem Regal aus: die Boxen für die Laien-Bienenhaltung von EasyBee etwa oder die Evertree-Urne, die aus Asche besteht. Auch in der elften Staffel von Die Höhle der Löwen sei er »schon fleißig« ge wesen. Was er erbeutet und wie viel Geld er dafür auf den Tisch gelegt hat? Geheim bis zur Ausstrahlung, die im April beginnt. Mitunter platzt ein Deal auch noch, sobald die Kameras aus sind. Und Glagau selbst las auch schon in der Boulevardpresse die Kritik, er investiere zu zögerlich. Das lässt ihn kalt: »Ich bin da sicher nicht das finanzielle Schwergewicht in der Runde.« Ideen, die nah dran sind am pharma zeutischen Kerngeschäft, sortiert Glagau unter der Orthomol-Holding ein, er will dort die »wissenschaftliche DNA« seiner Firma mit Gründergeist mischen. Das erste Produkt FLØR wird gerade gelauncht, drei Orthomol-Leute haben die Marke kreiert. Strategiemeeting für FLØR, das Gründerteam entert die Pyramide. Melanie Tillert, Head of New Brands, zieht pastell farbene Beutel hervor, darin die Produkte. Glagau sagt einen seiner typischen Sätze: »Das wird eine echte Love-Brand.« Könnte man fast auf die Verpackung drucken. Man ziele auf 24- bis 39-jährige Frauen, die schön sein wollen, nicht gestresst, erklärt Tillert, Werbebotschaft: »Es geht um Dich!« Der skandinavische Name suggeriere: Frische, Natur, Design. Die Tüten enthalten Nährstoffkapseln. Je zwei täglich für »Stärke«, für »Laune«, für »Strahlen«, dazu eine »Basic« – das wäre dann das volle Programm »Slow Aging« für die Beautyfrau, langsames
Altern in Schönheit. Stolze 115 Euro im Monat zahlt, wer das intensiv durchzieht. Der natürliche Feind des Langenfelder Wirkstoffimperiums sind die Plastikröhrchen mit Vitaminen und Mineralstoffen aus dem Discounter. Hier die schnelle Brausetablette von dm für drei Cent – dort die »blaue Wand« in der Apotheke mit Monats packungen von Orthomol, die gut und gerne 30 Euro kosten. Warum funktioniert das? »Wir müssen mit Wissenschaft überzeugen, sonst fliegt es uns um die Ohren«, erklärt Glagau. Die Zweifel der Kritiker an der Wirksamkeit seiner Produkte kennt er, aber die vielen Sportler, die darauf schwören, lassen ihn sagen: »Es ist kein Placebo.« Auch wissenschaftlich sieht er sich abgesichert und beruft sich auf den Nobelpreisträger und Begründer der orthomolekularen Medizin, Linus Pauling. Glagau sagt aber auch: »Wer seinen Mikronährstoffbedarf über die übliche Ernährung deckt, der braucht uns nicht.« Fototafeln im Nachbarraum zeigen die Firmengeschichte. 1991: Vater Kristian vor dem Einfamilienhaus, der Sohn, damals 16, hilft in der Garage beim Eintüten der ersten Präparate. Zu den Legenden gehört, dass sich Nils oft den Kopf gestoßen hat am Garagentor. Kollisionen gab es wohl, aber später eher mit seinem Vater: Zwei Alphas in einer Firma, das ging nur bedingt gut. Also ging der Junior erst mal einen anderen Weg, erkundete die Welt und eröffnete eine mexikanische Bar. Er probiert gern alles aus: Gitarre, Tennis, Surfen, Fußball. Die Orthomol-Zentrale hat er zu einem IndoorSpielplatz umgebaut. Einmal durch die Poststelle, und man steht in einer Halle mit Billard, Flippern, Tischkicker. Mittagspause heißt für Glagau: nichts essen, aus Prinzip, lieber die Gegner am Kickertisch vernaschen. Trocken zimmert er Ball um Ball rein. Danach geht es zum Stammwerk, zehn Minuten braucht der Audi mit den Bronzerädern. Hier wird abgefüllt und verpackt, was von Lohnfertigern gemischt und gepresst wurde. Das Fundament für den Erfolg. Doch der 2020 eingeweihte Erweiterungsbau stößt an seine Grenzen. Technikchef Michael Neeten erörtert das nächste Bau vorhaben: Eine Brücke zwischen zwei Betriebsteilen soll den Materialfluss verbessern.
Draußen vor dem Fenster gibt es Fläche satt. »Ist aber Naturschutzgebiet«, sagt Glagau und lässt den Blick schweifen. »Ich bin froh, dass es nicht bebaut wird.« Stattdessen hofft er, dass die Stadt ihm eines der raren Grundstücke überlässt. »Vor allem die Nachfrage nach Trinkfläschchen geht buchstäblich durch die Decke«, sagt der Chef. 125.000 Fläschchen, unter anderem gefüllt mit Nährstoffen, schafft eine Schicht. Und aufs Jahr gerechnet so viele, dass fast jeder Bundesbürger eines austrinken könnte. Einen Termin hat Glagau noch, mit dem Team »Laufmaus«. Auf dem Bildschirm erscheinen Martin Rutemöller und Tim Dahms. Die Gründer haben Glagau im TV mit ihren »ergonomisch geformten Griff elementen« überzeugt. Er gab 140.000 Euro für 12,5 Prozent der Anteile. Wer die löch rigen Kunststoffschalen beim Joggen in den Händen hält, so das Versprechen, verbessert seine Haltung, läuft entspannter und belastet die Knie weniger. »Sensomotorische und mechanische Reize lösen Kettenphänomene aus«, erklärt Rutemöller. Das Weihnachtsgeschäft war gigantisch, dann brach der Absatz ein. Das Problem solcher Ideen: Es ist schwer zu sagen, was sie taugen oder ob sie vor allem gut beworben sind. Eine Studie der Ostbayerischen Technischen Hochschule soll Zweifel ausräumen. »Es gibt höchste Signifikanzen für Wirksamkeit«, hört Glagau via Zoom und fügt sicherheitshalber selbst hinzu: »Die Studie ist nicht bezahlt.« Die Plastikschalen haben ihren Preis: 79 Euro. Warum 79? »Wir wollten erst 84 nehmen, fanden das aber zu teuer«, sagt Marketingprofi Rutemöller. »Fragen, Sorgen, Nöte, Anmerkungen?« »Ja, Anmerkung«, sagt Glagau. Er könnte den eingebrochenen Absatz hinterfragen. Oder den stolzen Preis kommentieren. Stattdessen spricht er Schlussworte: »Ich finde es toll, finde auch den Weg mit euch genial.« Minuten später mischt sich Glagau ein hauseigenes Sportgetränk, setzt die Basecap auf und fährt den Tarantino-Soundtrack hoch. Beachvolleyball zum Abschluss des Arbeitstages, in seiner eigenen Halle hat er einen Court aufgebaut. Sechs Männer, eine Frau. Hier ist Nils Glagau das, was er am liebsten ist: der Spieler.
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DIE ERFINDUNG MEINES LEBENS
Lara Schuhwerk, 29, stellt aus Grillen Nudeln her
Die Grillenmeisterin Eine junge Gründerin will die Deutschen von Lebensmitteln auf Insektenbasis überzeugen VON CAROLYN BR AU N
Die Idee Dazu kam die Erkenntnis, dass Insektenmehl deutlich ressourcenschonender hergestellt werden kann als Fleisch. Also gründete Schuhwerk 2018 – nach ihrem BWL-Master – Beneto Foods, um alternative, gesunde und klimafreundliche Proteinquellen zu entwickeln. Zunächst setzte sie auf Pasta aus Insekten. Genauer: aus Grillen. Den Nudelteig entwickelte sie selbst, in der Küche ihrer Eltern und der Küche ihrer WG. Heute sagt sie: »Jeder, der das damals probieren musste, tut mir heute noch leid.«
Die Marktlücke Grillen, sagt Schuhwerk, seien »echte Multitalente in puncto Nährstoffe«, weil sie nicht nur mehr Proteine als etwa Rindfleisch und mehr Eisen als Brokkoli enthalten. Bei ihrer Zucht werde auch weniger CO₂ ausgestoßen als bei der Rinderzucht, und es würden keine Hormone und Antibiotika eingesetzt. Schuhwerks Pasta besteht bisher allerdings nur zu 15 Prozent aus Grillen, der Rest sind Dinkelgrieß und Erbsenprotein. Grillenmehl gehöre eben »im Insektenbereich zu den teuersten Rohstoffen«, und manche Tüte enthalte »undefinierbaren Matsch.« Existierende Grillenfarmen würden zudem alle Tiere auf einmal ernten, »die Babygrille, die noch viel zu klein ist, und die asbach uralte, die wahrscheinlich nicht mehr schmeckt«. Schuhwerk will das besser und günstiger machen. Sie will Grillen selbst züchten. Zweifler und Förderer Lara Schuhwerk fand einen Landwirt, in dessen Stall sie eine solche Farm entwickelte. Ein Exist-Gründerstipendium half ebenfalls. Zusammen mit ihren beiden Co-Gründern, einem Biologen und einem
Maschinenbauingenieur, hat Schuhwerk 100.000 Euro investiert, um den Prototyp zu bauen: einen Schrank, zwei Meter hoch, 1,20 Meter breit und 70 Zentimeter tief. Darin wird die Grille »vollautomatisiert und platzeffizient« gefüttert und getränkt, bis sie genau richtig für die Ernte ist. In Kürze, so hofft Schuhwerk, soll die Schrankfarm serientauglich sein. Inzwischen hat sie einen prominenten Geldgeber: Der ehemalige Rennfahrer und heutige Start-up-Investor Nico Rosberg unterstützt ihr Projekt. Der Erfolg 2022 werde ein spannendes Jahr, sagt Lara Schuhwerk. Sie stehe vor einer Kreuzung mit vielen Wegen, manche Trampelpfade, manche Autobahnen. Die Corona-Pandemie hat das Wachstum ihrer Firma aus Albstadt in der Schwäbischen Alb gebremst. Schuhwerk führt das darauf zurück, dass die Klimakrise vorübergehend in den Hintergrund gerückt sei. Das werde sich aber bald wieder ändern, ist sie sich sicher. Bis dahin arbeitet sie an der Massenmarkttauglichkeit ihres Produkts. Next Step: eine Fleischalternative aus Grillenmehl.
DIE NÄCHSTE AUSGABE VON ZEIT FÜR UNTERNEHMER ERSCHEINT AM 16. JUNI 2022
Fotos (v. l.): Beneto Foods; blickwinkel/imago
Die Irritation Es ist sieben Jahre her, dass Lara Schuhwerk das erste Mal zugebissen hat, auf dem Night Market in Peking. »Alles, was sechs oder acht Beine oder Flügel hatte«, habe es da zu essen gegeben. Die damals 22-Jährige hatte sich zu der Wette provozieren lassen, einen schwarzen Skorpion zu kosten. Fünf Zentimeter lang, aufgespießt, einmal kurz frittiert. Die Augen sagten: igitt. Die Zunge sagte: wie nussige Chips mit Hähnchen-Aroma. Außen knusprig, innen ein wenig schleimig. Insgesamt: sehr lecker. Das Gehirn meldete »ein Synapsenfeuerwerk«.
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