ZEIT für Unternehmer 2/2021

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Nummer 02

Juni 2021

FÜR

UNTERNEHMER

NUDGING Wie Chefs mit kleinen Tricks das Engagement ihrer Mitarbeiter wecken

Wie gelingt der Neustart?

Die Insolvenzverwalterin Jutta Rüdlin erklärt, welche Gefahren am Ende einer Krise drohen und wie sich kaputte Firmen sanieren lassen


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EDITORIAL

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Über dieses Heft Langsam wird der Blick frei auf die Nach-Corona-Welt. Unternehmen stoßen auf neue Herausforderungen: Ressourcen werden knapp, Mitarbeiter kommen nicht zurück, Kapital fehlt. Wir zeigen, wie man damit am besten umgeht, beschreiben die gelungene Digitalisierung eines Zementherstellers und fragen eine Insolvenzverwalterin, wann Pleitegehen zur Rettung wird. Das Motto: Alles für den Neustart Ihr »ZEIT für Unternehmer«-Team Heringsdorf Lägerdorf Bremerhaven

Torgelow am See Hamburg Wolfsburg

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Sicher.

Düsseldorf Niestetal Wuppertal Sankt Augustin Coburg

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Rottendorf Mettlach

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Waldenbuch

Arnstorf

Von Arnstorf bis Wuppertal

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Wo die Firmen ihren Sitz haben, die in dieser Ausgabe vorkommen

Komponenten und d Systeme, bei denen Sicher-heit und Automatio on in Hardware und Software e

Titelfoto: Felix Schmitt für ZEIT für Unternehmer

IMPRESSUM Herausgeber: Dr. Uwe Jean Heuser Art-Direktion: Haika Hinze Redaktion: Jens Tönnesmann (verantwortlich) Autoren: Carolyn Braun, Jonas Gerding, Maren Jensen,

Kristina Läsker, Jakob von Lindern, Jana Luck, Ingo Malcher, Catalina Schröder, Sarah Sommer Redaktionsassistenz: Andrea Capita, Katrin Ullmann Chef vom Dienst: Iris Mainka (verantw.), Mark Spörrle Gestaltung: Annett Osterwold Infografik: Pia Bublies (frei) Bildredaktion: Amélie Schneider (verantwortlich), Navina Reus Schlussredaktion: Imke Kromer Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich) Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich) Herstellung: Torsten Bastian (verantwortlich), Oliver Nagel

Maschinen und An nlagen brauchen: innovative e

Druck: Vogel Druck und Medienservice GmbH,

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verschmelzen. Auttomatisierun ngslösungen für die Sicherheit von Mensch, Masc chine und Umwelt.

Malte Riken (stellv.) Projektmanagement: Christopher Goldenstern Verlagsleitung Vertrieb: Nils von der Kall Marketing: René Beck

Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen:

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Anzeigenleitung: Áki Hardarson Anzeigenpreise: Sonderpreisliste Nr. 1 vom 1. 1. 2021 An- und Abmeldung Abonnement (4 Ausgaben):

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INHALT

Fotos (v. l.): Rafael Heygster; Philotheus Nisch; Rubén Plasencia für ZfU

Was Sie erwartet

Bei dieser Frau muss jeder Handgriff sitzen Seite 24

Eine IT-Firma macht ihre ­Mitarbeiter zu Hobbygärtnern Seite 18

TITELTHEMA NEUSTART

SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT

Die Insolvenzverwalterin Jutta Rüdlin erklärt im Interview, warum manche Firmen erst kaputtgehen müssen, damit man sie wieder aufbauen kann 6–9

Unternehmer fördern das Engagement ihrer Beschäftigten – mit klaren Anreizen und versteckten Tricks 18–21

Am Ende einer Krise sind die Hoffnungen groß – aber auch die Risiken 10–12

Die Wünsche der Verbraucher und die Strategien der Firmen in Zahlen 22/23 FOTOSTORY

Was haben Sie aus der Krise gelernt? Unternehmer antworten 14/15

Zu Besuch in der neuen Impfstofffabrik von BioNTech 24–27

RAT AUS DEM SILICON VALLEY

Aynur Boldaz und Asme Kal im Gespräch über ihr außergewöhnliches Familienunternehmen 28–31

Der LinkedIn-Mitgründer Konstantin Guericke weiß, wie man schwierige Gespräche angeht 16

DOPPEL-INTERVIEW

Sie haben sich heftig gestritten – und versöhnt Seite 38

DIGITALISIERUNG

Ein Zementwerk könnte Firmen aus anderen Branchen als Vorbild dienen 32–36 LEBEN

Wenn Unternehmerpaare sich trennen, leidet die Firma. Verträge helfen 38–41 FUHRPARK

Die Elektrotransporter kommen 42–44 UNTERWEGS MIT ...

... dem Maskenproduzenten Oliver Fiechter 47/48 DIE ERFINDUNG MEINES LEBENS

Zwei Gründer bauen Großbatterien 50


TITELTHEMA NEUSTART

»Mut ZEIT für Unternehmer: Frau Rüdlin, seit mehr als einem Jahr leidet die Wirtschaft unter der Corona-Pandemie, viele Firmen kämpfen um ihre Existenz. Sie müssten eigentlich gut zu tun haben, oder? Jutta Rüdlin: Seit Dezember 2020 bin ich lediglich mit zwei Unternehmensinsolvenzen aus den Bereichen Metallbau und Montage beauftragt worden, aber das waren Firmen, in deren Branchen die Auftragslage derzeit eigentlich gut ist und die nicht wegen der Pandemie in Schwierigkeiten geraten sind. Hinzu kommen einige Insolvenzen natür­ licher Personen. Tatsächlich hatte ich aber in den vergangenen zwölf Monaten keinen einzigen Unternehmer unter meinen Klien­ ten, der pandemiebedingt Insolvenz ange­ meldet hat. Wir Insolvenzverwalter haben weniger zu tun denn je, im Krisenjahr 2020 haben ja weniger Firmen Insolvenz ange­ meldet als 2019. Das Insolvenzgeschehen hat sich von der wirtschaftlichen Lage komplett entkoppelt – eine paradoxe Situation. Ist das nicht eine gute Nachricht, wenn möglichst vielen Firmen eine Insolvenz gerade noch mal erspart bleibt? Diese Denkweise zeigt, dass Insolvenzen hierzulande einen viel zu schlechten Ruf haben. Eine Insolvenz wird in erster Linie als ein Scheitern wahrgenommen. Was in Deutschland fehlt, ist die gesellschaftliche Erkenntnis, dass eine Insolvenz einem von einer Krise betroffenen Unternehmen viele Möglichkeiten bietet, sich zu entschulden und zu sanieren, um danach wieder erfolg­ reich zu sein. Zu Beginn des ersten Lock­ downs 2020 hatte ich die Hoffnung, dass sich das in der Corona-Pandemie und der

Jutta Rüdlin ist Insolvenzverwalterin, Sanierungsexpertin und Partnerin der Kanzlei BRRS in Melsungen. Rüdlin hat in Marburg und Freiburg Jura studiert

Jutta Rüdlin ist eine der wenigen Insolvenzverwalterinnen im Land. Hier in Schwierigkeiten befindet und weshalb es am Ende der


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Foto: Felix Schmitt für ZEIT für Unternehmer

zur Insolvenz!« daraus resultierenden noch nie da gewesenen Situation ändern würde und dass es gelingen würde, das mit einer Insolvenz verbundene Stigma aus den Köpfen zu bekommen. Und, hat sich Ihre Hoffnung erfüllt? Nein. Die Bundesregierung möchte uns bei der Rettung und Sanierung der Wirtschaft anscheinend nicht dabeihaben. Und sie hat das Stigma mit ihrer Politik und insbesondere­ ihrer Kommunikation verstärkt, statt es zu beseitigen. Insolvenzen gilt es mit aller Kraft zu vermeiden. Scheitern wird weiterhin nicht als ­Chance, sondern als Katastrophe gesehen; eine Insolvenz wird als bitteres Ende betrachtet und nicht als mutiger Neuanfang. Das zeigt sich zum Beispiel beim Über­ brückungsgeld: Von dieser Staatshilfe sind Firmen ausgeschlossen, die ihren Betrieb vor dem 30. Juni 2021 dauerhaft eingestellt oder die einen Insolvenzantrag gestellt haben. Dabei besteht da ein himmelweiter Unterschied. Ich finde es wirklich unerträglich, dass Unternehmen, die sich kompetente Unterstützung bei Sanierungsberatern und Sachwaltern oder auch Insolvenzverwaltern suchen, gegenüber Unternehmen benachteiligt werden, die in der Hoffnung auf weitere finanzielle Unterstützung – möglicherweise bereits insolvenzreif – abwarten. Welche Folgen hat diese Politik? Es gibt im Moment sicher viele Unternehmen, die künstlich am Leben bleiben, obwohl sie eigentlich nicht überlebensfähig sind – ganz unabhängig vom Lockdown. Diese Firmen sagen sich: Vielleicht schaffen wir’s noch irgendwie, vielleicht reichen die Kredite und die Fördermittel ja, um uns irgendwie durchzubringen. Ich sage diesen

Unternehmern: Haben Sie Mut zur Insolvenz! Es wäre besser, Sie würden sich mit Ihrer Lage aus­ein­an­der­set­zen, früh einen Insolvenzantrag stellen, im Verfahren selbst das Ruder übernehmen und sanieren, was saniert werden kann. Das ist sicher hart – aber es ist besser, als abzuwarten, möglicherweise unerkannten Haftungsrisiken ausgesetzt zu sein und sich irgendwie durch diese schwierigen Zeiten zu hangeln. Ist es nicht noch sinnvoller, im Zweifel zu viele Unternehmen und Arbeitsplätze zu retten als zu wenige – auch wenn ein paar sogenannte Zombie-Firmen profitieren? Es war sicher wichtig und sinnvoll, zu Beginn der Pandemie quasi »mit der Gieß­ kanne« zu helfen, damit die Unternehmen den Schock verdauen und die vielen gesunden Firmen nicht unverschuldet aufgeben müssen. Diese Vollbremsung brauchte einen Airbag, der sich sofort öffnet. Es war auch richtig, dass man im ersten Lockdown gesagt hat: Wer lockdownbedingt und damit unverschuldet in Liquiditätsprobleme gerät, erhält finanzielle Hilfeleistungen und kann erst mal weitermachen – die Insolvenzantragspflicht ist für diese Unternehmen zunächst ausgesetzt worden. Aber diese Aussetzung wurde mehrfach modifiziert und verlängert, und das kann ernste und unerwünschte wirtschaftliche Folgen ­haben. Welche denn? Zunächst einmal gibt es einen allgemeinen Vertrauensverlust in der Wirtschaft. Wenn ein Unternehmer die verlässlichen Geschäftspartner nicht mehr von jenen unterscheiden kann, die jeden Moment verschwinden könnten, wird er vorsichtiger,

scheut Investitionen, vertagt Aufträge. Die sogenannten Zombie-Firmen binden außerdem Personal und Kapital, das die Wirtschaft an anderer Stelle gut gebrauchen könnte, um zu wachsen, tolle neue Dinge zu entwickeln oder nach der Pandemie durchzustarten. Und es wächst das Risiko, dass sich sehr viele Insolvenzen gleichzeitig ereignen – und zwar ausgerechnet dann, wenn die Krise vorbei ist, Staatshilfen herunter­ gefahren werden und die Insolvenzantragspflicht wieder greift. Manche Unternehmen werden dann merken, dass die Welt nicht wieder so wird wie vor der Pandemie. Die werden dann nicht auf dem alten Niveau wieder einsteigen oder mithalten können, selbst wenn sie vor deren Ausbruch gesund waren. Da wäre ein frühes, rechtzeitiges Insolvenzverfahren mit Neustarthilfe gegenüber einer unkalkulierbaren Dauerüberbrückung der bessere Weg – für die Firmen, ihre Mitarbeiter und die Wirtschaft insgesamt. Wie sehr ist diese Krise eine Krise der Insolvenzverwalter? Viele Insolvenzverfahren dauern mehrere Jahre, daher hatte unsere Kanzlei auch während der Pandemie noch Arbeit. Ich hatte das Glück, kurz vor Beginn der Pandemie ein größeres Logistikunternehmen als Sachwalterin begleiten zu dürfen, das im Oktober 2020 durch einen Insolvenzplan saniert werden konnte. Aber es gibt Kollegen, die ihre Leute in Kurzarbeit geschickt oder ihre Kanzlei geschlossen haben. Die Sorgen sind enorm, denn die Zahl der Insolvenzverfahren war ja schon vor der Pandemie rückläufig. Fehlen uns also Insolvenzverwalter, wenn die Welle der Insolvenzen kommt?

erklärt sie, warum sich ihr Berufsstand ausgerechnet während der Corona-Krise Pandemie zu mehr Pleiten kommen könnte  VO N JENS TÖ NNES M A NN


TITELTHEMA NEUSTART

»Manches muss erst kaputtgehen, Jutta Rüdlin, Sprecherin des Beirats

Nein. Ich glaube nicht, dass da eine riesige Welle kommt. Aber es kann passieren, dass es ausgerechnet dann viele Insolvenzen ge­ ben wird, wenn wir denken, die Krise sei vorbei. Manchen Unternehmen wird dann nämlich Geld fehlen, um Aufträge vorzu­ finanzieren. Andere könnten unter Druck geraten, wenn auch alle ihre Wettbewerber gleichzeitig bestimmte Rohstoffe oder Ma­ schinen haben wollen und sie deswegen ihre Aufträge nicht erfüllen können, während sich ihre Fixkosten anhäufen. Sollte der Staat die Finanzhilfen also aufrechterhalten oder sogar noch ausweiten? Es wäre natürlich widersinnig, wenn der Staat die Unternehmen so weit trägt und dann sagt: Den Neustart, den müsst ihr jetzt alleine schaffen. Gleichwohl kann er die Wirtschaft auch nicht auf ewig mit viel Geld am Leben erhalten. Die Politik muss spätes­ tens am Ende der Pandemie genauer hin­ sehen und Neustarthilfen gezielt verteilen an jene, die wirklich Potenzial haben. Ich fürchte allerdings, dass viele Firmen, die be­ reits vor der Pandemie Probleme hatten, die Finanzhilfen bis zum letzten Euro ausreizen und erst dann Insolvenz anmelden, wenn es gar nicht mehr anders geht. Dann lässt sich leider kaum noch etwas retten. Und das wäre bitter, denn ich bin ja nicht Insolvenz­ verwalterin geworden, um Unternehmen abzuwickeln und Grabreden zu halten, son­ dern um ihre Sanierung und ihren Neustart mitzugestalten. Ein wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Sanierung im Insolvenz­ verfahren ist ein frühzeitiger Antrag. Nehmen wir an, ich bin als Unternehmer kurz davor, zahlungsunfähig zu werden oder überschuldet zu sein. Was kann ich durch eine Insolvenz noch gewinnen? Erst einmal ist wichtig zu wissen: Sie müssen nicht fürchten, Ihr Gesicht zu verlieren. Ich erlebe oft, dass gerade ältere Unternehmer sehr lange zögern, weil sie denken, dass dieser Schritt gegen ihre Ehre geht. Denen sage ich: In einem Insolvenzverfahren analysieren wir,

welche Bereiche Ihres Unternehmens noch zukunftsfähig sind, wo es Synergieeffekte gibt, wo vielleicht ein Investor einspringen kann. Es gibt einen zeitlichen Mindestrah­ men, in dem ein Sanierungskonzept entwi­ ckelt werden kann, um mit dem Stichtag der Insolvenz quasi neu und ohne die alten Schulden zu starten. Sollte die Geschäfts­ führung Fehlentscheidungen getroffen ha­ ben, die persönliche Haftungskonsequenzen nach sich ziehen, sprechen wir hierüber offen und prüfen, ob es Vergleichsmöglichkeiten gibt, die von der Gesamtgläubigerschaft mit­ getragen werden und eine Anschlussinsol­ venz der Geschäftsführer verhindern. Aber selbst im Falle einer Privatinsolvenz ist in­ zwischen eine Entschuldung nach drei Jah­ ren möglich. So hart es klingt: Manches muss erst kaputtgehen, damit man es wieder aufbauen kann. Mit einem erfahrenen Insol­ venzexperten an der Seite maximieren Sie die Sanierungschancen. Sie sind Beiratsvorsitzende des Verbands Insolvenzverwalter Deutschlands. Warum hört die Politik so wenig auf Sie? Wir werden einbezogen, wenn das Insol­ venzrecht angepasst wird. Aber während der Krise hat die Politik manche Regeln mit heißer Nadel gestrickt und zu wenig darauf gehört, welche Chancen damit verbunden sind, wenn man kriselnde Unternehmen frühzeitig restrukturiert. Das liegt sicher auch daran, dass man keine Wahlen gewinnt, wenn man ein tolles Insolvenzregime ge­ schaffen hat; man kann sie aber verlieren, wenn es auf einmal viele Insolvenzen gibt, eben weil die so stigmatisiert sind. In den USA gilt Scheitern als wertvolle Erfahrung, warum nicht hierzulande? Weil zu wenige Geschäftsführer zu den Fuck­up Nights gehen, bei denen Unterneh­ mer über ihre Fehlschläge erzählen und sich gegenseitig für die Offenheit auf die Schulter klopfen (lacht). Dabei zeigt sich bei solchen Gelegenheiten, dass Insolvenzen mit vielen Chancen verbunden sind und Unternehmer

resilienter werden, wenn sie mal gescheitert sind. Zumal es ja neben den Regelinsolven­ zen und den Insolvenzen in Eigenregie seit Anfang dieses Jahres ein zusätzliches, zeit­ lich vorgelagertes Restrukturierungsverfah­ ren gibt. Unternehmer haben also mehrere Möglichkeiten, mit einer Krise umzugehen, anstatt sie zu ignorieren, bis es zu spät ist. Bei den Fuckup Nights finden Unternehmer deutliche Worte für ihre Fehler. Wie ist das, wenn die Ihnen gegenübersitzen? Manche können recht klar analysieren, was wann schiefgelaufen ist, und wissen um ihre eigene Verantwortung. Andere haben Angst davor, ihre Fehler einzuräumen, und haben ihren Geschäftspartnern aus Scham lange etwas vorgemacht. Und manche werden sehr emotional. Eine Kollegin von mir hat mal gesagt: Wenn ich gewusst hätte, wie vielen weinenden Männern ich als Insol­ venzverwalterin gegenübersitze, hätte ich mir den Job nicht ausgesucht. Ich sehe das anders und rate den Unternehmern: Lassen Sie es raus, ziehen Sie einen Strich unter die Vergangenheit, damit wir uns jetzt mit der Zukunft beschäftigen können! Was tun Sie, wenn ein Unternehmer in Tränen ausbricht? Gehen Sie raus? Nein. Die meisten sind froh, dass ihnen je­ mand gegenübersitzt, der nicht Teil ihrer Firma ist, sondern von außen mit frischem, unverbrauchtem Blick auf ihre Situation schaut und die nachvollziehen kann. Ich be­ spreche mit den Unternehmern, wie sie den Mitarbeitern erklären können, warum der Insolvenzantrag nötig war und welche Per­ spektive es gibt. Und ich gebe ihnen Rat, wie sie die Mitarbeiter auf dieser Reise mit­ nehmen und ihnen das Gefühl vermitteln können: Es gibt ein lohnendes Ziel auf die­ sem Weg und nicht nur Schlaglöcher. Kommt es vor, dass Unternehmer Sie vor der Belegschaft zum Buhmann machen? Als Buhmann empfinde ich mich selten. In der Finanzkrise vor zehn Jahren gab es mal eine Situation, in der ich rund hundert Mit­


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damit man es wieder aufbauen kann« des Verbands Insolvenzverwalter Deutschlands (VID)

arbeitern erklären musste, dass sie ihren Job verlieren werden. Das ist natürlich nicht leicht, das geht einem schon sehr nahe, und ich verstehe, wenn diese Menschen dann wütend und enttäuscht sind. In solchen Si­ tuationen ist es mir wichtig, die kritischen Entscheidungen transparent und nachvoll­ ziehbar zu erklären. Ich habe aber auch schon mal am Ende eines erfolgreichen­ Sanierungsprozesses im Insolvenzverfahren eine Dankesrede nebst Blumen vom Be­ triebsrat bekommen. Da stand ich ziemlich sprachlos vor der ganzen Truppe. Sie haben sich vor 20 Jahren für den Job entschieden. Was mögen Sie daran? Ich lerne immer wieder neue Menschen und Unternehmen aus allen möglichen Branchen kennen. Die stehen vor ganz unterschied­ lichen praktischen und juristischen Heraus­ forderungen, die ich in kurzer Zeit lösen muss. Ich habe zum Beispiel mal die Insol­ venzen des Eishockeyclubs Kassel Huskies und des Fußballvereins KSV Hessen Kassel verwaltet; da saß ich Politikern und Sponso­ ren gegenüber, und wir haben überlegt, wo wir gemeinsam noch Geld herbekommen können. Gleichzeitig galt es, den Spielbetrieb

aufrechtzuerhalten, um die erforderliche Qualifizierung nicht zu gefährden. Das ist gelungen, und heute spielen die Huskies wieder in der Profiliga. Der KSV wurde durch ein Insolvenzplanverfahren saniert. In gängigen Insolvenzverwalter-Rankings finden sich kaum Frauen, und auch im Gravenbrucher Kreis, einem renommierten Zirkel erfahrener In­sol­venz­exper­ten, sitzen nur Männer. Warum? Als ich 2003 als Insolvenzverwalterin ange­ fangen habe, hat man mich mit den Worten begrüßt: Jetzt kannst du dein Privatleben an den Nagel hängen, der Job verträgt sich nicht mit einer Familie. Das schreckt Frauen womöglich mehr ab als Männer. In meinem Fall hat sich die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie nicht bewahrheitet. Ich bin ver­ heiratet und habe drei Kinder. Manchmal ist Kreativität gefragt, aber ich würde sagen, meine Work-­Life-­Balance passt. Das ist die eine Seite. Die andere sind die teils noch ver­ staubten Strukturen unserer Branche. Was meinen Sie denn damit? Männernetzwerke, die es Frauen in unserem Metier manchmal schwer machen. Und die manchmal dazu beitragen, dass einige alte

Klischees immer noch existieren. Mich hat mal ein Insolvenzrichter angerufen und ge­ sagt: Ich hab hier eine insolvente Schlosserei, aber ist das etwas für Sie als Frau? Das ist aber schon einige Jahre her, und ich denke, sowohl meine Arbeit als auch die meiner Kolleginnen konnte derartige überholte Be­ denken beseitigen. Zum Glück gibt es immer mehr Kolleginnen in meiner Branche. Hat das negative Folgen für die Wirtschaft, dass es vor allem Männer sind, die Insolvenzen begleiten? Eine ausgewogene Geschlechterverteilung wäre auch in unserer Branche wünschens­ wert. Ob jemand ein guter Insolvenzverwal­ ter oder eine gute Insolvenzverwalterin ist, hat aber weniger mit dem Geschlecht, son­ dern mit fachlichen und menschlichen Fä­ higkeiten und Qualitäten zu tun. In unserem Job treffen wir ja viele weitreichende Ent­ scheidungen in kurzer Zeit. Wir müssen sehr kommunikativ, entscheidungsfreudig und organisiert sein, strukturiert arbeiten, juris­ tisch versiert sein und analytisch denken können. Und gerade weil wir so mächtig sind, sollte sich aber auch jede und jeder von uns selbst immer wieder hinterfragen.

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TITELTHEMA NEUSTART

Der Ansturm naht

Viele Unternehmer setzen darauf, dass auf die Krise schnell ein Aufschwung folgt. Dann aber warten ganz neue Herausforderungen. ZEIT für Unternehmer hat sich umgehört VON MA REN JENS EN U ND JENS TÖ NNES M A NN

Fehlendes Personal, begehrte Talente Etwa dort, wo während der Pandemie viele Menschen ihre Jobs verloren oder sich neue gesucht haben. Die Hotellerie ist ein gutes Beispiel: Jetzt wird ein Ansturm erwartet, zuvor war über Monate fast nichts zu tun. Bei Lindner etwa sank die Durchschnittsbelegung von 68 Prozent in 2019 auf 32 Prozent in 2020. Es sei »emotional schwierig« gewesen, hoch motivierte Mitarbeiter in Kurzarbeit zu schicken, sagt Lindner. Der Unternehmer ist zwar optimistisch, »etwas zerrupft« und mit neuen Ideen aus der Krise

zu kommen. Aber die Zahl seiner Beschäftigten ist von 1688 auf 1400 gesunken: »Eine Herausforderung wird sein, dass wir einen Teil unserer Mitarbeiter während der Krise an andere Branchen verloren haben.« Tobias Ragge, der Chef des Hotel­ buchungsportals HRS, spricht sogar von­ einem »massiven Exodus guter Leute« in der Hotellerie. Zwar sehe er sein Unternehmen gut aufgestellt, die Beziehungen zu den Kunden seien intakt. Dennoch habe HRS ein Drittel seiner Stellen abbauen müssen: »Ich habe viele kluge Leute bitten müssen, das Unternehmen zu verlassen.« Sie zurückzubekommen könnte schwer werden; gerade IT-Fachkräfte haben während der Pandemie schnell Alternativen gefunden.

konnte das Unternehmen seinen Umsatz aus dem Vorjahreszeitraum sogar um 22,4 Prozent übertreffen. Genau deswegen dürfte das Ende der Pandemie für die Traditionsfirma eine Herausforderung werden: »Die Menschen werden wieder reisen und draußen sein«, sagt Göring. Das Geld steht für Porzellan dann nicht mehr zur Verfügung. Michael Melzer will sich nicht nur den neuen Gewohnheiten seiner Kunden an­ passen, sein Unternehmen hat im Zuge der Krise selbst seine Präferenzen verändert. Melzer hat im September 2020 genau zu dem Zeitpunkt als Chef der Klier Hair Group aus Wolfsburg angefangen, als das örtliche Amtsgericht dem Unternehmen bewilligt hatte, sich in Eigenregie in einem Schutzschirmverfahren zu sanieren – die Veränderte Kundengewohnheiten Corona-Pandemie hatte Europas größten Im Gastgewerbe kommt noch etwas dazu: Friseurdienstleister in die Insolvenz getrieDie Menschen werden nach der Pandemie ben. Das 72 Jahre alte Unternehmen schloss womöglich anders reisen als vorher und bei- rund 500 seiner 1350 Salons und Shops. spielsweise seltener Geschäftsreisen machen, Durch Entlassungen und Eigenkündigunerwartet Ragge. Der Hotelier Rolf Seelige- gen schrumpfte die Zahl der Mitarbeiter um Steinhoff von der Heringsdorfer Kette See- etwa ein Viertel auf 6400 Beschäftigte. Antelhotels glaubt, dass die Menschen Urlaube fang April stimmten die Gläubiger einem kurzfristiger und spontaner buchen und Insolvenzplan zu. »Jetzt können wir optinicht mehr so lange verreisen, es werde mistisch nach vorne blicken und uns hoffmehr »Mikro-Urlaube« geben, sagt er. nungsvoll einer gut aussehenden Zukunft Der Keramikhersteller Villeroy & Boch widmen«, sagt Melzer. hat vom veränderten Kaufverhalten wähDie Krise soll für die Klier Hair Group rend der Krise eher profitiert: »Die Menschen also zur Chance werden: Schon vor der bleiben zu Hause und wollen es sich dort Pandemie hatte das Unternehmen Schwieschön machen«, sagt Frank Göring, der­ rigkeiten, weil seine Umsätze kaum mit den Vorstandschef des Familienunternehmens steigenden Filialmieten mithielten. Im Zuge aus Mettlach im Saarland. Deswegen endete seiner Sanierung hat es sich von unrentablen das Krisenjahr 2020 für die Traditionsfirma Geschäften und teuren Innenstadtlagen vernur mit einem kleinen Umsatz-Einbruch abschiedet und für alle Salons und Shops die von 833 auf 801 Millionen Euro, der­ Mieten neu verhandelt. Jene Läden, die die Online-Shop kompensierte das wegbrechen- Krise überstanden haben, sollen Termine de Laden­geschäft. Im ersten Quartal 2021 zukünftig einfacher online vergeben und

Foto: Daniel Gebhart de Koekkoek/Connected Archive

Der 1. Mai war für Otto Lindner in diesem Jahr ein besonderes Datum: Nach Monaten des harten Lockdowns durfte die Windrose auf Sylt wieder öffnen, eines von 26 Häusern der Kette Lindner Hotels & Resorts, die Lindner in zweiter Generation leitet. Das Hotel mit seinen 76 Zimmern und Suiten nimmt an einem Modellprojekt in Nordfriesland teil, das vorsichtige Öffnungen unter strengen Voraussetzungen erlaubt, solange die Corona-Infektionszahlen niedrig bleiben. Schon die Ankündigung habe einen sprunghaften Anstieg der Buchungen ausgelöst, sagt Lindner: »Die Reiselust der Deutschen ist kaum noch zu bremsen, alle scheinen auf gepackten Koffern zu sitzen.« Von null auf hundert in wenigen Tagen: Für manche ist der Neustart in dieser Phase der Corona-Krise extrem. Und für Lindner ist es ein Hoffnungsschimmer nach einem Jahr 2020, in dem der Umsatz von 192 Millionen auf 46 Millionen Euro eingebrochen ist. Aber für ihn und viele andere Unternehmer ist der Neustart auch mit Herausforderungen verbunden. Denn an vielen Stellen fängt es an zu knirschen, während die Wirtschaft wieder hochfährt.


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mit Kunden in sozialen Netzwerken besser kommunizieren. »Wir müssen uns mehr dem verändertem Kundenverhalten widmen«, sagt Melzer.

Hat die Warterei bald ein Ende? Viele Pagen stehen bereit, um wieder Urlaubsgäste zu begrüßen

Knappe Rohstoffe, kaputte Lieferketten Wer nach einer Beinahe-Pleite und in einer Krise Mieten neu aushandelt, hat womöglich gute Karten. Schwieriger ist es, wenn man mit vielen Wettbewerbern um wenige Angebote konkurriert. Barbara Austel weiß, wie das ist. Austel ist Aufsichtsratsvorsitzende der TTS Tooltechnic Systems, der Mutterfirma des Werkzeugherstellers Festool in Wendlingen, eines fast 100 Jahre alten­ Unternehmens mit 2700 Mitarbeitern in 68 Ländern. Die Kunden sind Tischler, Maler, Zimmerer. Wenn die Pandemie zu Ende geht, dürften die Handwerker mehr Werkzeuge brauchen, schon nach dem ersten Lockdown war das so; manche Werkzeuge konnte Festool erst nach längerer Wartezeit liefern. »Das tut uns sowohl für den Fachhandel als auch für unsere Kunden sehr leid«, sagt Austel, »deswegen arbeiten wir auch seit Monaten mit Hochdruck daran, das wieder ins Lot zu bringen.« Zwar beziehe Festool den Großteil seiner Komponenten aus Europa und profitiere von langen Lieferbeziehungen. Aber: »Unsere Branche ist in Sachen Akku-Technologie und Elektronik von wenigen Lieferanten aus Asien abhängig – so auch wir.« Michael Stoschek hat ähnliche Sorgen. Der 73-Jährige ist Vorsitzender der Gesellschafterversammlung von Brose Fahrzeugteile; der Autozulieferer aus Coburg hat 25.000 Mitarbeiter weltweit. Seit Jahren steht die Autoindustrie unter Druck, deshalb hat Brose schon vor Corona Maßnahmen eingeleitet, um schlanker und wettbewerbsfähiger zu werden. In der Pandemie brachen dann zwar die Umsätze mit Fahrzeugherstellern um 17 Prozent ein, doch Verluste konnte Brose gerade noch vermeiden. Jetzt glaubt Stoschek, dass sein Unternehmen »gestärkt und erfolgreich« durchstarten wird – allerdings sei fraglich, ob und wie schnell die Autohersteller sich erholen. »Nach dem coronabedingten Nachfrageeinbruch behindert jetzt Halbleiter- und Rohstoffmangel die Erholung«, sagt Stoschek.


TITELTHEMA NEUSTART

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Viele Lieferketten sind zudem der Nach­ frage nicht mehr gewachsen. Das beobachtet zum Beispiel Evelyn Duarte Martinez. Sie ist Geschäftsführerin von FEP Fahrzeug­ elektrik Pirna, die aus Sachsen mehr als eine Milliarde Schaltelemente, Steckverbindun­ gen und Kunststoffteile pro Jahr an die Auto­ industrie liefert. Nach Ausbruch der Pande­ mie habe FEP zeitweise bis zu 80 Prozent weniger Aufträge erhalten als davor. Aber schon 2020 erholte sich die Lage. »Und jetzt haben wir so viele Aufträge, dass wir an unsere Grenzen kommen«, sagt Duarte Martinez. Zugleich kämen viele Container­ schiffe unpünktlich, eine Reederei sei ganz von der Bildfläche verschwunden, die Häfen hätten Kapazitäten runtergefahren, die jetzt fehlen. Es gelte, sich täglich auf die aktuellen Herausforderungen einzustellen und auf Sicht zu fahren, schnelle Reaktionen seien angesagt. »Ich hoffe«, sagt Duarte Martinez, »dass sich das im Sommer normalisiert.« Geschwächte Reserven, fehlendes Geld Und es gibt einen weiteren Faktor, von dem beim Neustart viel abhängt: das Geld. »Man verdurstet nicht am Anfang der Wüste, sondern am Ende«, sagt ein Unternehmer. Besonders trocken war es während der Pandemie in der Textilbranche. Weil die Geschäfte monatelang schließen mussten, blieben laut dem BTE Handelsverband Textil mehr als 500 Millionen Kleidungs­ stücke liegen. Normalerweise wird jedes da­ von im Schnitt zum Dreifachen seines Ein­ kaufspreises verkauft, der Umsatz deckt Mieten, Betriebskosten, Gehälter und die Warenkosten selbst. So aber mussten Mode­ ketten wie Tom Tailor, Hallhuber, Esprit und Adler Insolvenz anmelden. Das Unternehmen s.Oliver aus dem fränkischen Rottendorf überstand die Durststrecke – dank seiner Reserven. »Wir

3,5 %

Wirtschaftswachstum erwartet die Bundesregierung für 2021, Stand Ende April

waren in den vergangenen 50 Jahren immer profitabel«, sagt Claus-Dietrich Lahrs. »Aber nach sechs Monaten Lockdown wird auch bei uns das Geld knapp.« Der Geschäfts­ führer von s.Oliver hofft auf einen milden Corona-Sommer und dass seine 190 monate­ lang geschlossenen Filialen wieder Kunden begrüßen dürfen. Abgesehen vom Kurzar­ beitergeld habe s.Oliver bisher keine CoronaHilfen erhalten, sagt Lahrs. Ohne staatliche Ausgleichszahlungen seien wichtige Investi­ tionen in die Zukunft aber nicht möglich. Er fordert vom Staat »eine Kompensation für die Verluste der Monate, in denen wir erzwungenermaßen schließen mussten«. Wie s.Oliver hat jedes dritte Unterneh­ men in der Krise von seinem Eigenkapital gezehrt. Das zeigt das Mittelstandspanel der Förderbank KfW. Aber: »Die finanzielle Si­ tuation vieler Unternehmen ist weiterhin stabil und eine Überschuldung in der Breite des Mittelstands nicht zu erwarten«, sagt Detlev Kalischer. Der Bereichsleiter der KfW für Corona-Hilfen blickt optimistisch in die Zukunft: »Trotz der Schwere der Krise konnten bisher rund 50 Prozent der Mittel­ ständler ihre Eigenkapitalquote konstant halten oder sogar steigern.« Wo das nicht gelungen ist, will die Bank helfen: Täglich würden Unternehmer über 60 Millionen Euro Darlehen beantragen, allein im ersten Quartal habe man rund 20.000 Kredite bewilligt. »Wir gehen davon aus, dass dieser Trend bestehen bleibt«, sagt Kalischer, »entweder brauchen die Unter­ nehmen in der Krise weiter Liquidität – oder sie haben die Krise hinter sich und wollen den Wachstumsschub finanzieren.« Politische Risiken, unklare Aussichten Damit der Neustart gelingt, können Unter­ nehmen noch eine Weile auf Hilfen hoffen: Mit der dritten Überbrückungshilfe bezu­

102 Mrd.

Euro weniger Umsatz als 2019 haben deutsche Mittelständler 2020 auf dem Weltmarkt erzielt – ein Einbruch von 17 Prozent

schusst der Staat Investitionen, etwa in die Digitalisierung wie bei der Einrichtung eines Online-Shops oder für die Implementierung von Buchungs- und Reservierungssystemen. Die Frage ist aber nicht nur, ob diese Starthilfen reichen. Viele Unternehmer fürchten auch, dass sie konterkariert werden könnten – durch Steuererhöhungen etwa oder auch eine neue Vermögensteuer. Ange­ sichts der Rufe danach »sträuben sich mir die Nackenhaare«, sagt Sarna Röser, Bundes­ vorsitzende des Verbands Die Jungen Unter­ nehmer. »Viele Mittelständler, die so stark gelitten haben und auch noch leiden, die fast ihr gesamtes Eigenkapital aufgezehrt haben und trotzdem versuchen, jeden Arbeitsplatz zu halten, die sollten jetzt nicht belastet, sondern entlastet werden.« Eine Steuerreform, die den Mittelstand begünstigt und Zukunftsinvestitionen er­ möglicht: Das fordern auch Astrid Ham­ ker, Präsidentin des Wirtschaftsrats der CDU, und Jochen Leonhardt, Vizepräsi­ dent des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft. Der Verband hat einen »ZehnPunkte-Plan des Mittelstands« erarbeitet, um mit Schwung aus der Krise zu kommen. Eine zentrale Forderung: Ein »Transforma­ tionsfonds«, der Unternehmen mit 40 Milli­ arden Euro pro Jahr dabei hilft, in die Digi­ talisierung, die Dekarbonisierung und die Qualifizierung der Beschäftigten zu inves­ tieren. Das sei nötig, weil viele Mittelständler infolge der Corona-Krise weder aus eigener Kraft investieren noch dafür nötige Kredite bekommen könnten. Leonhardt verlangt neben einem finanziellen aber auch einen mentalen Wiederaufbauplan: »Wir müssen die Unternehmer motivieren, damit sie Mut fassen und aus der wirtschaftlichen Notlage heraus einen Neustart wagen.« Die Psyche soll nicht zu einem weiteren Risikofaktor werden.

25 %

der Mittelständler haben laut KfW ihre Innovationsaktivitäten während der Krise reduziert

23 %

der Mittelständler beklagen laut KfW, dass Banken aktuell restriktiv Kredite vergeben


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Exklusives Sammlerstück – der Range Rover Fifty Leistungsfäh higkeit und Praxistaug glichkeit, Luxus und Design – selten finde en sich AutomobilAttrib bute wie e diese derart perffek kt vereint wie beim Ra ange Rover, dem woh hl begeh hrtesten und anspruchsvollsten SUV der Welt. Als erstes Allradffahrzeug, das auf der Straße genauso leistungsstark ist wie abseits befestigter Wege, setzt der Range Rover bis heute neue Maßstäbe.

Eine besondere Rolle spielt hierbei der Range Rover Fifty. Er wird in einer Stückzahl von lediglich 1970 Fahrzeugen maß ßgesch hneid dert geffertigt – alls Reminiszenz an n das Premierenjah hr des Range e Rover, das glleich hzeitig alls Gründ dungsjah hr für die Klasse de er Luxus-Geländewagen gilt.. Das im vergangenen Jahr vorgestellte Sondermodell – im 50sten Jubiläumsjahr des Range Rover – wird aktuell und in den kom mmenden Monaten ausgelie efert. Weltweit sind nur noch wenige Exemplare der begehrten Sonderedition erhältlich.

Maßgeschneiderte Details für die Jubiläumsedition des Range Rover Der Range Rover Fifty basiert auf dem bereits opulent ausgestatteten Modell Range Rover Autobiography und fügt noch ein paar maßgeschneiderte Details hinzu. So präsentiert die Jubiläumsedition mehrere Karosserieakzente in der Farbe Auric Atlas und 22-Zoll-Leichtmetallfelgen, in zwei exklusiv für dieses Modell designten Varianten. Hinzu kommen „Fifty“-Schriftzüge aus der Feder des Land Rover Chefdesigners Gerry McGovern. Diese befinden sich an der Karosserie und im Interieur, etwa auf einer Plakette in der Mittelkonsole, die auch die Modellnummer von 1 bis 1970 enthält, sowie an Kopfstützen, dem Armaturenbrett und den beleuchteten Einstiegsleisten. Das Sondermodell ist ab 153.110 Euro1 erhältlich, sowohl mit dem Standard als auch mit langem

Radstand. Zur Wahl stehen ferner die vier sorgfältig ausgesuchten Lackfarben Carpathian Grey, Rosello Red, Aruba und Santorini Black. Für einige wenige Exemplare der Jubiläumsedition bietet die Veredlungsschmiede Land Rover Special Vehicle Operations ferner drei klassische Lackierungen an, die Tönen aus der Farbpalette der ersten Range Rover Generation nachgebildet sind: Tuscan Blue, Bahama Gold und Davos White. Bei den Antrieben können die Kunden ebenfalls nach ihrem Geschmack auswählen, denn das Sondermodell gibt es mit Diesel, Benzinmotor und sogar als P400e Plug-in Hybrid. In der Welt der Luxusautomobile besetzt der Range Rover schon immer eine herausragende Position. Sein einzigartiger und für den gesamten Markt maßgeblicher Charakter sowie der hohe

Verbrauchs- und Emissionswerte Range Rover Modelljahr 2020 22,5–23,1 kWh/100 km | 3,2–13,1 l/100 km | 72–298 g/km (Stromverbrauch/Kraftstoffverbrauch/CO₂-Emissionen, jeweils kombiniert)2 Range Rover P400e mit 297 kW (404 PS), AWD Automatik PHEV bis Range Rover P565 Kompressor mit 416 kW (565 PS), AWD Automatik 1 UVP der Jaguar Land Rover Deutschland GmbH 2 Rechtliche Hinweise: landrover.de/dat

technische Anspruch formen die spezifischen Werte der Marke. In der aktuellen vierten Modellgeneration, mit mehr als einer Million produzierten Fahrzeugen, ist der Range Rover nach wie vor der ultimative Ausdruck von Luxus gepaart mit einer hohen Alltags- und Geländetauglichkeit. Sein unverkennbares, hochwertiges Design, sein Komfort und seine Souveränität in allen Situationen machen den Range Rover so attraktiv wie er es bereits bei seiner Premiere am 17. Juni 1970 war. Mit dem Range Rover Fifty gibt es nun für die Liebhaber des Besonderen eine echte Hommage an diesen legendären Luxus-4×4. Detaillierte Informationen zu den in Deutschland noch erhältlichen Modellen sind über Ihren Land Rover-Händler erhältlich.


»Dass ein Teil der Politiker die Impulse aus der Wirtschaft zu wenig erfragt, wahrnimmt oder berücksichtigen will. Jedes Unternehmen ist eine Gemeinschaft, und zwar vorrangig von Arbeitnehmern, die alle ihren Arbeitsplatz erhalten wollen. Ich als Unternehmerin und Arbeitgeberin will genau dasselbe. Wir sind nicht die Feinde der Politik.« Ingrid Hofmann, Gründerin des Personaldienstleisters I. K. Hofmann

Was haben Sie aus der Krise gelernt? Eine Umfrage VO N JENS TÖ NNES M A NN

»Für mich hat sich vor allem eine Erkenntnis bestätigt, die ich aus 50 Jahren Erfahrung als Unternehmer habe: Unerwartete Situationen darf man nicht mit Panik und Emotionalität angehen.« Michael Stoschek, Vorsitzender der Gesellschafterversammlung der Brose Gruppe

»Nicht zu zögern. In der Krise sind klare Ansagen gefordert, auch im Führungskreis. Da kommt man mit dem kooperativen Diskussionsstil der ›guten Zeiten‹ nicht weiter.«

»Ich habe gelernt, mit Angst konstruktiv umzugehen. Dabei hat mir geholfen, mich für die Interessen meiner Branche zu engagieren. Und ich habe verstanden: Wenn ich als Unternehmer nicht reaktionsfreudig bin, dann gibt es mich bald nicht mehr.«

Otto Lindner, Vorstand der Hotelkette Lindner Hotels

Benjamin Unger, Chef des Hotels Blauer Engel in Aue-Bad Schlema

»Wir haben gesehen, dass Unternehmer mit viel Verantwortungsbewusstsein und sehr flexibel reagieren. In manchen Betrieben war es notwendig, das Geschäftsmodell komplett zu verändern. Das ist die Stärke der Unternehmer – wir sind Macher.« Sarna Röser, Familienunternehmerin und Bundesvorsitzende des Verbands Die Jungen Unternehmer

Fotos (S. 14, im Uhrzeigersinn): I. K. Hofmann; Florian Hammerich; Michael Aust; Anne Großmann; Stefan Finger; Fotos (S. 15, im Uhrzeigersinn): FEP Fahrzeugtechnik Riesa; Festool; HRS; Schloss Torgelow; Steffen Höft

TITELTHEMA NEUSTART

»Dass man als Unternehmer nicht nur schnell sein Rolf Seelige-Steinhoff,


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»Dass es ungemein wichtig ist, viel mit den Mitarbeitern zu kommunizieren.« Evelyn Duarte Martinez, Geschäftsführerin der FEP Fahrzeugtechnik Pirna

»Ich habe gelernt: Wenn eine Tür zugeht, geht auch woanders eine neue auf. Mir hat der Austausch mit meinen Teams geholfen. Außerdem habe ich mit Atem-Meditation angefangen: Das erdet mich zu Beginn des Tages und gibt mir die Ruhe, um diese Krise beherzt zu meistern.« Tobias Ragge, Chef des Hotelbuchungsportals HRS

»Man wird sich seiner Grenzen bewusst, merkt aber zugleich, dass man anpassungsfähiger ist als gedacht. Es zeigt sich: Der beste unternehmerische Plan wird Makulatur, wenn solch dramatische Entwicklungen ein­ treten, die man selbst nicht beeinflussen kann. Hier galt es zu lernen, dass man sich jeden Tag auf neue Vorgaben von außen einstellen muss. Wichtig ist nur eines: Man darf sich nicht unterkriegen lassen.« Jochen Leonhardt, Vizepräsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft

»Mir als Unternehmerin und Gesellschafterin hat diese lange, sehr herausfordernde Zeit einmal mehr bestätigt, dass ein offener und respektvoller Umgang miteinander das A und O ist. Auch der Leitsatz ›Vertrauen beginnt dort, wo Sicherheit aufhört‹ hat erneut Gültigkeit gezeigt. Vor Corona wusste man meist, wie alles laufen soll oder könnte. Mit Corona lösten sich bekannte Lebenssituationen und -strukturen völlig auf, und wir mussten lernen, uns noch stärker aufeinander zu verlassen und uns zu vertrauen – und insbesondere jetzt, da so viel im Remote-Modus läuft.«

»Dass es – egal was kommt – richtig ist, auf die Stärke des Teams und das eigene Bauchgefühl zu vertrauen. Das macht Mut für unkonventionelle Lösungen und gibt Kraft, der Dynamik der Krise besonnen zu begegnen.« Mario Lehmann, Gründer des privaten Internatgymnasiums Schloss Torgelow

Barbara Austel, Aufsichtsratsvorsitzende von TTS Tooltechnic Systems

muss, sondern auch noch schneller als alle anderen« Geschäftsführer der Seetelhotels


RAT AUS DEM SILICON VALLEY

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»Gehen Sie wandern!«

»Seit 35 Jahren lebe ich jetzt im Silicon Valley und habe in dieser Zeit viele Unternehmer kennengelernt. Die guten unter ihnen verbinden zwei Eigenschaften, die auf den ersten Blick gegensätzlich scheinen: Sie halten an ihrer Idee fest, auch wenn die nicht auf Anhieb funktioniert. Und sie sind Menschen, die gute Fragen stellen, zuhören und bereit sind, dazuzulernen. Sie sind also fokussiert und veränderungswillig zugleich. Die spannende Frage ist: Wie erkennen Sie solche Menschen? Ich rate Ihnen, was ich seit Jahren tue und auch der Apple-Gründer Steve Jobs gerne getan hat: Gehen Sie mit potenziellen Geschäftspartnern wandern. Dabei lernen Sie einander auf eine ganz andere Art und Weise kennen. Sie bauen Vertrauen auf, sind kreativer, sortieren Ihre Gedanken und tauschen Ideen aus, die Sie einander in­ einem Konferenzraum nicht verraten würden. Sie begegnen sich eher auf Augenhöhe als in einem Büro, in dem schon das Setting eine Hierarchie erzeugen und für Distanz sorgen kann, was es schwer macht, sich offen und ehrlich zu unterhalten. Als Reid Hoffman und ich vor fast 20 Jahren das Karrierenetzwerk LinkedIn gegründet haben, saßen wir anfangs oft in einem Café. Bis wir gemerkt haben, dass wir dort zwar viel Essen in uns hinein­ geschaufelt haben, aber uns kaum auf unser Projekt konzentrieren konnten. Also fingen wir an, uns draußen zu treffen und Wanderungen zu unternehmen. Ich weiß heute noch genau, wo wir auf welche Idee gekommen sind; die Probleme, die wir damals

zu lösen hatten, sind in meinem Gedächtnis quasi räumlich verankert. Wir hatten zum Beispiel in der Anfangsphase von LinkedIn das Problem, dass prominentere Nutzer mit Anfragen überflutet wurden. Die Gefahr bestand, dass sich diese Nutzer genervt abmelden – also ausgerechnet jene Multiplikatoren, die für unser Netzwerk besonders wichtig waren. Wir waren gerade auf einem Wanderweg namens Stanford Dish Trail unterwegs, als wir unweit der Dish – einer großen Satelliten­ schüssel – auf die Idee kamen, wie wir das Problem lösen können: Manche Mitglieder kann man nur noch anschreiben, wenn man ihnen vorher von einem gemeinsamen Bekannten vorgestellt wird. Das bewirkte, dass Multiplikatoren fast nur noch Nachrichten bekamen, die für sie auch relevant waren.

Konstantin Guericke ist in den 1980er-Jahren aus Norddeutschland nach Kalifornien gezogen, um in Stanford Wirtschaftsinformatik zu studieren. Im Jahr 2002 gründete er im Silicon Valley gemeinsam mit Reid Hoffman das Businessnetzwerk LinkedIn. Heute ist er als Mentor und Investor aktiv

Seitdem gehe ich immer wieder wandern – nie allein, immer mit anderen Unternehmern, Geschäftspartnern, Studierenden, Mentees. Meine längste Tour führte zu ­einem Gipfel namens Half Dome im Yosemite-­ Nationalpark, da waren wir 16 Stunden unterwegs. Daraus ist unsere Gruppe »The Silicon Half Domers« entstanden, die zweimal im Jahr größere Touren unternimmt; dabei lerne ich auch immer wieder neue Unternehmer kennen. Unterwegs können Sie übrigens auch leichter persönliche Dinge besprechen. Zum Beispiel die schwierige Frage, ob man weiter zusammenarbeiten oder lieber getrennte Wege gehen sollte. Auch Konflikte können Sie während eines Hikes gut ansprechen und lösen, denn unterwegs haben Sie Zeit und können auch nicht so leicht gestört werden wie im Büro. Ein Tipp, wenn Sie vorher nicht wissen, wie viel Zeit Sie wirklich brauchen werden: Suchen Sie sich Routen aus, die Sie abkürzen können, wenn ein Gespräch langweilig wird – und die Sie verlängern können, wenn es interessanter ist als gedacht! Wichtig: Unter Wandern verstehe ich keinen Spaziergang durch die Innenstadt, denn da werden Sie ständig unterbrochen – von Ampeln, dem Lärm, dem Verkehr.­ Gehen Sie dort wandern, wo Sie ungestört sind. Und selbst wenn am Ende nichts dabei herauskommt, dann haben Sie immerhin etwas erlebt, frische Luft getankt und etwas für Ihre Gesundheit getan.« Protokoll: Jens Tönnesmann

Illustration: Pia Bublies für ZEIT für Unternehmer; Foto: privat

Konstantin Guericke hat das Karrierenetzwerk LinkedIn mitgegründet und ist seitdem überzeugt: Meetings hält man am besten an der frischen Luft ab


MACHT FLOTTEN EFFIZIENTER. DER FORD KUGA PLUG-IN HYBRID Dank effi effizientem zientem Plug-in-Hybrid-Antrieb können Sie mit diesem SUV die CO2-Bilanz Ihres Fuhrparks verbessern und haben gleichzeitig die Reichweite und Flexibilität, die Ihr Unternehmen jetzt und in Zukunft weiterbringen. weiterbringen. Kraftstoff verbrauch (in l/100 km nach § 2 Nrn. 5, 6, 6a Pkw-EnVKV in der jeweils geltenden Fassung): 5,4–1,2 Kraftstoffverbrauch (kombiniert); CO2-Emissionen: 125–26 g/km (kombiniert); Stromverbrauch: 15,8 kWh/100 km (kombiniert).


Verdammte Hacke, ich pflanz jetzt was

Wenn Unternehmer es ernst meinen mit der Nachhaltigkeit, müssen sie ihre Mitarbeitenden dazu kriegen, mitzumachen. Mit ein paar erprobten Methoden kann das gelingen – auch ganz ohne harte Ansagen oder Zwang  VON JO NAS GERD I NG U ND JA KO B VO N LI ND ERN


NACHHALTIGKEIT NUDGING

Foto: Philotheus Nisch

E

Rechen­zentren. Es plant, konstruiert und wartet die Server eines Unternehmens, durch die alle Daten fließen; und es sorgt dafür, dass diese Daten dort sicher sind. Die Branche ist nicht gerade dafür bekannt, dass sie besonders umweltfreundlich ist. Oft stammt der Strom der energie­ hungrigen Server aus Kohlekraftwerken und Atommeilern. »Wir müssen raus aus dieser Ecke«, findet Maier und appelliert an andere Manager und Unternehmerinnen, auf Ökostrom zu setzen, die eigene Energieeffizienz zu verbessern und sich Umweltstandards zu verschreiben. »Es bringt nichts, s ist eine Videokonferenz der besonderen wenn sich nur die Wohlfühlfirmen engagieArt, zu der das Unternehmen Prior1 seine ren, die ohnehin eine positive Bilanz haben.« Beschäftigten an diesem Frühlingstag einMaier trifft einen Nerv: Unternehmen geladen hat. An ihren Bildschirmen schauen wollen heute mehr denn je ihrer ökolo­ sie zu, wie zwei Frauen einen jungen­ gischen und sozialen Verantwortung in der Aprikosenbaum, Stachelbeersträucher, Erd- Gesellschaft gerecht werden. So zeigt etwa beerpflanzen und Rittersporn auf einem eine aktuelle Studie der Commerzbank, Fleckchen Erde eingraben und Kompost mit dass 53 Prozent der mittelständischen UnHühnermist drauf verteilen. Sie erfahren ternehmen in Deutschland in den vergangevon einer Expertin für dynamische Agro- nen zwei Jahren verstärkt in Nachhaltigkeit forstwirtschaft, wie sie auch selbst ein vielsei- investiert haben, nur zwei Prozent haben tiges Beet anlegen können – für mehr Bio- ihre Ausgaben zurückgefahren – trotz der diversität, eine gesündere Ernährung und Corona-Pandemie (siehe Seiten 22/23). Und gegen den Klimawandel. Immer wieder läuft wer es wirklich ernst meint, der nimmt nicht ein Hund durchs Bild, hinter einem Zaun nur Geld in die Hand, sondern setzt auch fahren Autos vorbei; ab und zu schauen auf die Kreativität der Mitarbeiterinnen. Passanten neugierig herüber. »Einfach mal Eine Herausforderung: Um Produkte anfangen und ausprobieren«, sagt die Exper- ressourcenschonender herzustellen, reicht es tin, »drei Quadratmeter reichen schon!« manchmal schon, den Stromanbieter zu Seinen Mitarbeitern beibringen, wie wechseln – Menschen hingegen brechen man zu Hause einen Blumenkübel oder ein nicht so leicht aus ihren Routinen aus. Und Beet bestückt? Stefan Maier hält das für eine oft zahlt sich das, was Mitarbeiter bewirken, gute Idee. Der 56-jährige Chef von Prior1 nicht sofort aus und ist auch schwer messbar. will mehr Umweltbewusstsein schaffen. Per »Solange Nachhaltigkeit nicht Teil der UnVideocall erreicht man ihn im Homeoffice, ternehmenskultur ist, bringen vereinzelte durch das Fenster hinter ihm sind die Bäume Aktionen ohnehin wenig«, sagt der Verhalin seinem Garten zu sehen. Die Strecke nach tensforscher Florian Kutzner von der österKirchheim zum oberbayerischen Standort reichischen Privatuniversität Schloss Seeder Firma Prior1 legt er mit öffentlichen burg bei Salzburg. Doch es gibt eine ganze Verkehrsmitteln zurück. Nächtigt Maier Reihe von Möglichkeiten, mit denen Unterunter der Woche in Nordrhein-Westfalen, nehmerinnen das Verhalten ihrer Beschäffährt er die fünf Kilometer zur Niederlas- tigten auch ohne Zwang und harte Ansagen sung in St. Augustin mit dem Rad. Ein beeinflussen können. Auto? Braucht er nicht. »Und ich möchte, Stefan Maier glaubt: »Die Menschen dass meine Beschäftigten auch ihre eigene müssen selbst von etwas überzeugt sein,­ Lebensweise ändern«, sagt der Unternehmer. Zusammenhänge verstehen und dauerhaft­ Prior1 ist keine Gärtnerei und kein­ etwas verändern wollen.« Sonst werde das Bioladen. Prior1 ist ein Dienstleister für nichts. Der Unternehmer hat deswegen

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mit der Offset Company, einer Druckerei aus Wuppertal, das Forum für Nachhaltigkeit gegründet. In Diskussionsrunden können sich ihre Mitarbeitenden darüber aus­ tauschen, wie sie nachhaltiger arbeiten und leben könnten. In Pandemiezeiten eben virtuell: Ende April traf man sich im Netz zum Workshop darüber, wie künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit zusammenpassen. Und im Sommer schalten sich alle noch mal zusammen, um ihre aufgeblühten Gärten zu vergleichen. »Mittlerweile organisiert eine Mitarbeiterin alle Veranstaltungen«, freut sich Maier über die Dynamik, die er angestoßen hat. »Ich halte mich da komplett raus, nehme nur noch als Gast teil.« Eine Bilanz fürs Engagement Stefan Maier will es aber nicht bei den Seminaren belassen; es reicht ihm auch nicht, sobald wie möglich wieder auf einer Klimademo eine Papptafel zu schwenken. Die Nachhaltigkeit von Prior1 soll sich messen lassen. 2018 hat er deswegen eine Gemeinwohlbilanz erstellt: einen Unternehmens­ bericht also, bei dem systematisch ökologische und soziale Kriterien, Fragen der Mitentscheidung und Ethik abgehandelt werden. Mehr als 400 Unternehmen in Euro­ pa publizieren bereits Gemeinwohlbilanzen. Bei jeder Firmenentscheidung wägt Maier nun ab, wie sie sich auf die Gemeinwohl­ bilanz auswirkt. Die BahnCard 100 etwa, die Prior1 den Mitarbeitenden anstelle eines Dienstwagens anbietet, die E-Autos, die das Unternehmen angeschafft hat, und die Fahrräder, die es mitunter verschenkt. Wenn sich Mitarbeitende sozial einbringen, wird das ebenfalls gewürdigt. Möchte jemand aus dem Unternehmen für Fridays for Future oder gegen Rassismus auf die Straße gehen, ist das während der Arbeitszeit erlaubt. Auch sonst will Maier es seinen Beschäftigten erleichtern, sich zu engagieren. Eine Kollegin etwa lasse sich während ihrer Arbeitszeit zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin ausbilden. »Das ist ein Dienst an der Gesellschaft«, sagt Maier, »dahinter stehen wir zu eintausend Prozent.« Und was hat das Unternehmen davon? Der Verhaltenswissenschaftler Florian Kutzner ist es gewohnt, nach verdeckten


NACHHALTIGKEIT NUDGING

Kleine Stupser, große Wirkung Wie das geht, davon kann Ulrich Grewe erzählen. Er ist Geschäftsführer von Deut­ sche See, dem größten Fischverarbeiter des Landes. Bevor die filetierten und geräucher­ ten Meerestiere mit Lastwagen via 19 bun­ desweite Niederlassungen an Kantinen, Sterneköche und Einzelhändler ausgeliefert werden, müssen sie am Hauptstandort in Bremerhaven ins Kühllager. Wie beim Kühlschrank daheim sollten auch die Türen zur Halle so lange wie mög­ lich geschlossen bleiben, damit keine Energie verschwendet wird. »Aber die Mitarbeiter fanden es viel angenehmer, sie offen stehen zu lassen und mit ihren Gabelstaplern hin­

Beim Fischverarbeiter Deutsche See aus Bremerhaven sollen Smileys die Beschäftigten dazu animieren, sich umweltfreundlich zu verhalten. Der Chef Ulrich Grewe (kleines Bild) macht aus den kleinen Manipulationen kein Geheimnis

durchzusausen«, berichtet Grewe. Immer wieder habe man das Lagerpersonal darauf angesprochen. »Aber da kannst du reden wie ein Wanderprediger«, erinnert sich Grewe. Die Türen standen trotzdem offen. Dabei ist Grewe jemand, der sich nicht so leicht unterkriegen lässt. Obwohl der 53-Jährige am Vortag des Videointerviews in einen Autounfall verwickelt gewesen ist, sitzt er am Morgen munter am Schreibtisch. Vor dem Modell eines Segelschiffs wackelt er auf seinem Bürostuhl hin und her, gestikuliert wild, und selbst durch die coronabedingte OP-Maske zeichnet sich sein Lachen ab. Bereits 2010 erhielt das Bremer Unter­ nehmen den Deutschen Nachhaltigkeits­ preis. Auch heute setzt Grewe immer wieder neue ökologische oder soziale Maßnahmen um. Bei den Gabelstaplerfahrern jedoch, da hat Grewe sich lange die Zähne ausgebissen. Helfen sollte ihm schließlich eine Me­ thode der Verhaltenswissenschaften, das

Nudging, zu Deutsch: Stupsen. Der Begriff wurde durch die beiden Forscher Richard Thaler und Cass Sunstein geprägt. Sie zeig­ ten, dass sich das Verhalten von Menschen auch ohne Verbote und Gebote oder finan­ zielle Anreize beeinflussen lässt. Berühmtes Beispiel: Wird das Obst in der Kantine pro­ minent auf Augenhöhe präsentiert, während die Süßspeisen unten stehen, greifen mehr Menschen zum Apfel statt zum Pudding. Ein solcher Nudge half Grewe auch bei seinem Kühlhausproblem. Neben der Tem­ peraturanzeige im Kühlhaus hat er eine Leuchttafel anbringen lassen, auf der ein Smiley abgebildet ist: Steigt die Temperatur, wird aus dem lachenden ein neutrales, dann ein trauriges Gesicht. Das Unternehmen misst den Effekt: Dank der Smiley-Thermo­ meter öffneten die Lageristen die Türen um 19 Prozent seltener, die Wirkung des Nudges sei also »erheblich«, bilanziert­ Grewe. »Es ist erstaunlich, wie sich ganz

Fotos: energiekonsens; Deutsche See (u.)

Motiven einer grün getünchten Firmen­ fassade­zu suchen. Mal sind sie schnell ent­ deckt, mal gut verborgen. Doch Maier mache das nicht wegen eines Profits, meint Kutzner. »Dieser Arbeitgeber versucht wirklich, etwas sozial Nachhaltiges anzuregen.« Soll die firmeninterne Wende gelingen, helfen Vorbilder. Wenn sie ein Verhalten im Betrieb vorleben, ziehen die anderen eher mit. Das muss nicht der Chef sein, meint Kutzner. »Man kann auch Respektpersonen aus dem Unternehmen dazu animieren, Botschafter eines Verhaltens zu werden.« Das ist ein Grund, weshalb Mitarbeitende des Schokoladenherstellers Ritter während der Arbeitszeit ins Zeltlager fahren dürfen. Das Unternehmen aus Waldenbuch in­ Baden-Württemberg spendet bis zu 1000 Euro an Einrichtungen, in denen sich Mit­ arbeitende engagieren, und stellt sie dafür bis zu zwei Tage mit Bezahlung frei. Sie können die Zeit dann zum Beispiel dafür einsetzen, Ferienfreizeiten für kranke Kin­ der und deren Familien zu organisieren. Der Schokoladenproduzent stellt Mit­ arbeitende auch frei für ein dauerhaftes En­ gagement, etwa bei der Feuerwehr und dem Roten Kreuz. Erst kürzlich wurde das Unter­ nehmen dafür vom Innenminister mit einer Auszeichnung für »ehrenamtsfreundliche Arbeitgeber im Bevölkerungsschutz« geehrt. Auf die Motivation zu setzen, die Mit­ arbeitende schon mitbringen, ist das eine. Engagement dort zu fördern, wo die Leute bisher keine Lust gezeigt haben, das andere.


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ohne Zwang Verhaltensänderungen herbei­ Womöglich wirken sie dann sogar noch führen lassen.« besser. Forscher der Uni Mannheim haben Mit Piktogrammen auf Augenhöhe er­ mit dem gängigsten Nudge experimentiert: innert Grewe seine Mitarbeitenden auch ans Dabei wird das gewünschte Verhalten als Ausschalten von Lichtern. Und: »Aus dem »Standardoption« vorgegeben. Konkret stell­ Wegwerfen von Abfall soll ein Spiel werden«, ten sie Teilnehmende vor die Wahl, welche sagt Grewe. Früher landeten schon mal leere Studienfächer sie belegen möchten – vorein­ Dosen im Biomüll. Die Wege zu den je­ gestellt waren jene Fächer, die sich die Hoch­ weiligen Müllcontainern weisen heute­ schule wünschte. Teilnehmende, die über verschiedenfarbige Bodenmarkierungen auf. den Nudge, die Motive der Hochschule und »Am liebsten würde ich Punkte wie beim die Kursempfehlung aufgeklärt wurden,­ Korbwurf im Basketball vergeben.« wichen seltener von der Vorauswahl ab als Auf die Nudges kam Grewe nicht ganz die einer unaufgeklärten Kontrollgruppe. allein. Deutsche See nimmt teil an »Green Zu wenig Aufklärung bewirke, dass die Nudging«, einem vom Bundesumwelt­ Menschen misstrauisch werden und sich ge­ ministerium geförderten Projekt. Im ersten täuscht fühlen, so das Fazit. Schritt hat die Bremer Agentur Energie­ Australische Forscher zeigten außerdem, konsens mit 13 Modellunternehmen indivi­ dass es zu sogenannten Spill-over-Effekten duelle Nudges entwickelt. Diese lässt sie ins Private kommen kann: Wenn Unterneh­ testen und auswerten, um herauszufinden, men ihre Beschäftigten in der Firma nach­ welche Alltagskniffe sich später auch als vollziehbar zu mehr Umweltschutz motivie­ Schablone für andere Firmen anbieten. Auf ren, fangen sie auch zu Hause damit an. der Website green-nudging.de findet sich ein Gutes tun und Punkte sammeln ausführlicher Maßnahmenkatalog. Die Kleintierklinik Bremen lässt Teams Günther Greil reichen solche sanften Stup­ gegeneinander antreten: Wer morgens das ser nicht. Er ist Mitglied der Geschäftslei­ Auto stehen lässt, legt eine Glaskugel in der tung der Lindner Group mit Sitz im nieder­ Farbe seiner Gruppe in einen Behälter. Das bayerischen Arnstorf. Die Lindner Group Team mit den meisten Kugeln wird am ist eine Spezialbaufirma: Die Fassade eines Ende des Jahres belohnt. Um Mitarbeitende Terminals des Flughafens Heathrow kommt vom Fahrspaß mit E-Autos zu überzeugen, genauso aus Arnstorf wie die Treppen in der organisiert die Kommunikationsagentur Hamburger Elbphilharmonie. Das Unter­ GfG eine Rallye mit den Stromern – und nehmen belohnt offensiv Mitarbeitende, die setzt sie im internen Buchungssystem vor Gutes tun. »Motivieren statt anordnen«, das die sonst üblichen Verbrenner. Der SAP- sei auch die Philosophie des Gründers Hans Dienstleister Abat bietet Mehrwegbehälter Lindner, der das Unternehmen heute mit an den Ausgängen des Büros an, damit die seiner Tochter Veronika leitet, so Greil. Angestellten beim Imbiss um die Ecke auf Mitarbeitende der Unternehmen können Plastikboxen verzichten können. seit 2017 sogenannte LinCoins sammeln Nudging ist nicht unumstritten. Eine und diese wiederum für Prämien ausgeben. häufige Sorge ist, dass sich Mitarbeitende Punkte gibt es zum Beispiel dafür, sich in manipuliert fühlen könnten. »Manche einem Mentoring-Programm um Prakti­ Nudges wirken auch unbewusst«, sagt der kanten zu kümmern oder bei der Planung Verhaltenswissenschaftler Kutzner. »Der von Dienstreisen auf die Umwelt zu achten. Nachteil ist, dass ich den Menschen die »Wir sehen, dass das wirkt«, sagt Greil. »In­ Möglichkeit nehme, darüber nachzuden­ zwischen fahren unsere Beschäftigten weni­ ken, ob ein gewisses nachhaltiges Verhalten ger mit dem Auto, nehmen seltener ein Taxi im Einklang mit ihrer Identität und ihren und fahren dafür öfter mit Bus und Bahn.« Einstellungen steht.« Nudges lassen sich Verteilt werden die Coins über eine digi­ auch mit offenen Erklärungen versehen, tale Plattform. »Die Belohnung ist hoch­ die von Mitarbeitenden wahrgenommen gradig automatisiert«, sagt Greil. Das heißt: werden. Viele vorab definierte Handlungen in dem

System lösen von selbst eine Belohnung aus. Informationen über Reisen mit der Bahn laufen etwa automatisch über die Reise­ kosten­abrechnung ein. Rund 500 Hand­ lungen werden jeden Monat belohnt, auf der Plattform registriert sind etwa 5000 der weltweit gut 7500 Mitarbeitenden. Ausgeben können sie ihre Coins für Gut­ scheine bei örtlichen Händlern, oder sie tauschen sie gegen Bier aus der hauseigenen Brauerei oder einen Zuschuss zum Kinder­ gartenbeitrag ein. Laut Greil ist das System so konzipiert, dass die Empfänger trotzdem keine höheren Steuern zahlen müssen und im Unternehmen keine zusätzlichen Sozial­ versicherungskosten anfallen. Der finanzielle Aspekt spielt also eine wichtige Rolle bei Lindner. Doch wenn ein Bonus allein Anreiz genug ist, dann treten die eigenen Werte und Gemeinwohlziele in den Hintergrund. Viele Experimente haben das gezeigt: Die Belegschaft wird sich in dem Fall vor allem ökologisch und sozial verhalten, wenn sie mit einer Belohnung rechnet – und seltener, weil sie sich mit der Nachhaltigkeitsagenda ihrer Firma identifi­ ziert und der eigenen Moral folgt. Sobald es dann einmal keine Belohnung gibt, droht das Engagement der Leute abzuebben. Günther Greil hat davor keine Angst. Im Gegenteil: »Die Zufriedenheit in der Beleg­ schaft ist gestiegen, seit wir LinCoins einge­ führt haben.« Das jedenfalls sei sein Ein­ druck. Die Zahl der belohnten Actions und der ausgegebenen LinCoins steige von Jahr zu Jahr. Auch deshalb hat sich Lindner ent­ schieden, anderen Unternehmen das System anzubieten. Dafür wurde eigens ein Start-up namens tibe.io gegründet, dort heißen die Bonuspunkte einfach Bonos. Drei Unter­ nehmen setzten die Bonos bereits ein, drei weitere planten gerade die Einführung. Offenbar ist Engagement ansteckend. Beim IT-Unternehmen Prior1 glaubt man das auch. Am Ende der Pflanzaktion wässert die Expertin die Setzlinge, eine Mitarbeite­ rin fegt die Erde neben dem Beet zusammen und sammelt die Gartengeräte ein. »Aus der Aktion könnte man ein Konzept für andere Unternehmen machen«, sagt sie und atmet einmal tief durch, »das macht ja Bombe Spaß, verdammte Hacke!«


NACHHALTIGKEIT IN ZAHLEN

Was die Verbraucher wollen

58 % der Verbraucher in Deutschland würden lieber keine Produkte von Firmen kaufen, die aus ihrer Sicht nicht nachhaltig sind

17 %

der Verbraucher verzichten bereits auf Produkte dieser Firmen und geben bei ihnen ...

45 % 50 % 55 %

23 %

An der Wahl der Stromtarife zeigt sich, wie viel Wert Deutschlands Verbraucher auf Umweltschutz legen. Kurz nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 entschieden sich beim Vergleichsportal Verivox acht von zehn Nutzern dafür, Strom aus regenerativen Quellen zu beziehen. In den Jahren danach schwand das Interesse, seit 2019 steigt es wieder deutlich; aktuell wählen sieben von zehn Stromwechslern einen Ökotarif. Die Karte zeigt die Quote derer, die schon Ökostrom beziehen, im Vergleich der Bundesländer

weniger Geld aus als früher. Nicht nachhaltige Unternehmen in Deutschland haben deswegen bereits ...

3,8 %

ihres potenziellen Umsatzes eingebüßt, rechnet die Beratung Capgemini vor

56 % der Verbraucher in Deutschland finden, dass die Verpackung eines Produkts ein wichtiger Aspekt von Nachhaltigkeit ist. Fast genauso hoch ist der Anteil derer, die Tierwohl und fairen Handel bedeutsam finden

43 % der über 50-Jährigen meinen, dass die Unternehmen stärker in die Verantwortung genommen werden müssten

26 %

der 16- bis 29-Jährigen boykottieren eine Marke oder ein Geschäft aufgrund mangelnder Nachhaltigkeit

... und was manche Verbraucher vermuten

20 %

der Verbraucher glauben laut einer Studie von Statista, dass Firmen den Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit ausnutzen, um Produkte teurer zu verkaufen

15 %

der Verbraucher in Deutschland sind laut der Studie der Ansicht, dass Nachhaltigkeit nur ein Modewort ist, das an Bedeutung verlieren wird

10 %

der Verbraucher bezweifeln, dass es den Klimawandel gibt


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Was der Mittelstand unternimmt

53 %

der deutschen Mittelständler haben laut einer Umfrage der Commerzbank in den vergangenen zwei Jahren verstärkt in Nachhaltigkeit investiert, nur zwei Prozent ihre Ausgaben reduziert

38 %

der Unternehmen haben bereits eine Nachhaltigkeitsstrategie; weitere 30 Prozent planen eine

14.710

Fast 73 Milliarden Euro sind im Jahr 2018 nach

Angaben des Statistischen Bundesamts in den Umweltschutz geflossen. Mit 48 Milliarden Euro haben Unternehmen mehr als die Hälfte davon beigesteuert, ihre Ausgaben sind innerhalb von fünf Jahren um 62 Prozent gestiegen. Der größte Teil sind laufende Kosten; knapp 20 Prozent fließen in Investitionen in mehr Umweltschutz. Die Entwicklung der Ausgaben im Zeitverlauf:

40 Mrd.

49 %

6892

Windkraft-Firmen produzieren hierzulande Energie; der Anteil der Familienbetriebe liegt bei 96 Prozent. Viele sind innovativ. Max Bögl Wind aus Sengenthal etwa hält 20 Patente

30 Mrd.

3192

20 Mrd.

lassen ihre Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit trotz der Corona-Pandemie unverändert, und ...

8%

Fotovoltaik-Firmen gibt es in Deutschland, 92 Prozent davon sind Familienunternehmen. Zu den international erfolgreichen gehört SMA Solar Technology aus Niestetal, dessen Gründer Günther Cramer 2012 den Deutschen Umweltpreis erhielt

10 Mrd.

2013

bauen sie sogar aus

0 2014 2015 2016 2017 2018 Private Haushalte Staat Unternehmen

deutsche BiotechnologieBetriebe gibt es, 74 Prozent sind Familienfirmen. Zu den größten gehört mit mehr als 10.000 Mitarbeitern der Pharmazulieferer Sartorius aus Göttingen

... und welche Bedenken Mittelständler haben

50 %

der befragten Firmen finden es schwierig, Aufwand und Ertrag von Nachhaltigkeitsmaßnahmen einzuschätzen

49 %

finden die Förderprogramme unübersichtlich, fast genauso viele halten die gesetzlichen Rahmenbedingungen für unsicher

30 %

haben Zweifel daran, dass ihre Nachhaltigkeitsmaßnahmen wie gewünscht wirken


FOTOSTORY BIONTECH

Werk der Hoffnung Mit dem neuen Pharma-Werk in Marburg versorgt BioNTech die Welt mit Impfstoff. Ein exklusiver Einblick in eine heikle Produktion  VON IN G O MALCHER UND R AFAEL HEYG ST ER ( FOTOS)

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1 Die Fabrik in Marburg hat BioNTech im Oktober 2020 Novartis abgekauft. Seit April dieses Jahres wird dort in 50.000 Arbeitsschritten Corona-Impfstoff hergestellt 2 In dem Gebäude produzieren Bioreaktoren wie dieser hier die mRNA her, den Wirkstoff der Vakzine. Die Beschäftigten müssen Schutzkleidung tragen

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FOTOSTORY BIONTECH

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3 Impfstoffproduktion ist Handarbeit: Jede Flüssigkeit muss in der exakten Menge zugegeben werden 4 Die fertigen Vakzinen werden aus dem Marburger Industriepark in alle Welt transportiert 5 Dieses Impfzentrum in Marburg erhält bloß einen kleinen Teil 6 Hier werden seit Monaten Tag für Tag Menschen aufgeklärt und gegen das Coronavirus geimpft 7 Eine Ampulle ergibt sechs, manchmal sieben Dosen Impfstoff


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ÖZLEM TÜRECI UND UĞUR ŞAHIN

Fotos: Rafael Heygster (5); Martin Lengemann/Ullstein (r.)

Die Medizin zum Patienten bringen Schon einmal wurde an diesem Ort die Welt gerettet – und schon einmal steckte dahinter ein Forscher, der zum Unternehmer wurde. Daran erinnert vor dem Haupteingang zum Industriepark im Marburger Stadtteil Marbach eine Skulptur. Sie zeigt ein Pferd. Es war im Jahr 1904, als der Marburger Universitätsprofessor Emil von Behring das Geld aus seinem Nobelpreis in eine Produktionsanlage in seiner Stadt investierte. Er hatte zuvor einen Schutz gegen Diphtherie entwickelt, eine neuartige Impfung gegen Infektionskrankheiten. Das Immunserum dafür gewann er aus Pferdeblut. Um es herzustellen, eröffnete der Wissenschaftler damals in Marbach die Behringwerke. Seit 1997 gibt es das Unternehmen nicht mehr, aber in den ehemaligen Behringwerken sitzen heute die Pharmakonzerne Glaxo­Smith­K line, Siemens Healthineers, CSL Behring – und seit Kurzem auch der Impfstoffhersteller BioNTech. Weil die Anlage in der Zentrale in Mainz zu klein war, übernahm BioNTech im Oktober 2020 das Marburger Werk des Schweizer Pharmakonzerns Novartis, um die Impfstoffproduktion voranzutreiben. Dank der Fabrik ist BioNTech nun in der Lage, in diesem Jahr 2,5 Milliarden Impfstoffdosen zu produzieren – genug, um ein Sechstel der Weltbevölkerung zu immunisieren. Von Marburg aus beliefert das Unternehmen die ganze Welt. BioNTech hat eine beinahe unglaubliche Entwicklung hinter sich. Gegründet wurde das Unternehmen im Jahr 2008 von dem Mediziner-Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin (Bild oben). Şahin ist Professor an der Universität Mainz, Türeci ist dort Privatdozentin. Sie sind beide bekannt für ihre Forschung zur Krebsimmuntherapie.

Zu Unternehmern wurden die beiden, weil sie die Medizin zum Patienten bringen wollen. So schilderte es Türeci einmal im Gespräch mit der ZEIT. Bei ihrer Arbeit in der Forschung habe sie festgestellt, »dass die Wissenschaft nicht immer am Patientenbett ankommt«, sagt sie. Wer neue Therapieformen entwickeln wolle, brauche ein Unternehmen, damit die Stoffe am Ende auch hergestellt werden. »Sonst war es am Ende nur ein weiteres Paper«, eine weitere wissenschaftliche Publi­ kation also. Türeci und Şahin wollten die wissenschaft­ lichen Innovationen schneller verfügbar machen. Es ist nicht das erste Unternehmen der beiden Mediziner. 2001 gründeten sie Ganymed Pharmaceuticals, das der japanische Pharmakonzern Astellas im Jahr 2016 für 1,4 Mil­liar­den Dollar übernahm. Bei BioNTech forschen sie zu Immuntherapieansätzen. Ein Feld ist dabei die Boten-RNA (mRNA), ein natürlicher Botenstoff, der dem Organismus Bauanleitungen für Proteine liefert. Sie können dann eine Vielzahl von Krankheiten bekämpfen, Virusinfektionen ebenso wie Tumoren – und lassen sich auch für Impfungen gegen Covid-19 nutzen. Gespritzt wird die Bauanleitung, der Geimpfte stellt den eigentlichen Impfstoff dann selbst im Körper her. Als Şahin im Januar 2020 in dem Fachjournal The Lancet einen Artikel über das Coronavirus in Wuhan las, wusste er: Das wird eine Pandemie. Binnen weniger Tage beschloss BioNTech, mit allem, was möglich ist, einen Impfstoff gegen das Virus zu entwickeln. Es war ein irrwitziges Vorhaben – doch im Dezember 2020 war der BioNTech-Stoff der erste, der nach einer kompletten Phase-III-Studie zugelassen wurde. Heute kennt ihn die ganze Welt.



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FAMILIENUNTERNEHMEN INTERVIEW

»Ich bin jeden Tag froh, dass ich sie habe«

Fotos: Paula Winkler für ZEIT für Unternehmer; Forever Clean (r.)

Die Schwestern Aynur Boldaz und Asme Kal führen von Berlin und Ankara aus ­gemeinsam ein außergewöhnliches Unternehmen. Ein Gespräch  VO N JENS TÖNNES MAN N Der Werdegang von Aynur Boldaz mag für manche wie ein modernes Märchen klingen, doch er ist vor allem Ergebnis harter Arbeit und unternehmerischen Mutes. 1968 wurde Boldaz in einem ostanatolischen Dorf geboren, als eines von 13 Kindern eines Ziegenhirten. Mit 18 zog sie nach Berlin und arbeitete als Putzkraft, bevor sie im Jahr 2000 selbst eine Reinigungsfirma gründete. Heute beschäftigt For­ever Clean über 120 Menschen, darunter viele mit Handicap; und Aynur Boldaz wurde schon von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeladen, um über Frauen in Führungspositionen zu diskutieren. 2009 hat Boldaz in der Türkei eine Tochterfirma gegründet, die ihre Schwester Asme Kal leitet. Nun haben sie sich per Videocall zu ihrem ersten gemeinsamen Interview zusammengeschaltet. Hinter Boldaz sind die deutsche und die türkische Flagge zu sehen; Kal sitzt vor einem Porträt Kemal Atatürks – die Schwestern stellen gleich zu Beginn des Gesprächs klar, dass sie Anhängerinnen des Gründers der modernen Türkei sind.

sulate arbeiten, also sehr zuverlässige Auf­ traggeber haben, die uns auch weiter bezah­ len, wenn es bei ihnen mal weniger zu tun gibt. So können wir auch unsere Beschäftig­ ten weiterhin bezahlen. Aber wir haben in­ zwischen 250 Mitarbeiter in 36 türkischen Städten und mancherorts sehr wenig zu tun. Das belastet uns auf Dauer sehr. Boldaz: Ich empfinde es als besonders he­ rausfordernd, manchen unserer Mitarbeiter zur Seite zu stehen. Wir sind seit vielen Jah­ ren ein Inklusionsbetrieb, jeder dritte unse­ rer mehr als 120 Beschäftigten in Deutsch­ land hat eine körperliche oder geistige Be­ hinderung. Ihnen bietet der Job besonderen Halt. Deswegen versuche ich, eine gewisse Normalität zu ermöglichen und diese Mit­ arbeiter nicht in Kurzarbeit zu schicken, auch wenn das nicht leicht ist. Wie halten Sie durch? Kal: Wir sprechen täglich miteinander, das hilft sehr. Und es zahlt sich aus, dass wir uns so gut ergänzen.

Frau Boldaz, Frau Kal, Deutschland steckt in der dritten Corona-Welle, in der Türkei gibt es einen strikten Lockdown. Wie belastet die Pandemie Ihr Geschäft? Aynur Boldaz: Wir haben weniger Auf­ träge, weil viele Büros leer stehen und die Menschen im Homeoffice arbeiten. Manche Unternehmen bestellen zwar unsere Intensiv­ reinigungen, die wir seit Beginn der Pande­ mie anbieten. Aber das gleicht die Lücke nicht aus. Wir machen weniger Umsatz. Es sind schwere Zeiten. Asme Kal: Wir haben das Glück, dass wir in der Türkei für viele Botschaften und Kon­

Die Schwestern Asme Kal, 47, und Aynur Boldaz (großes Bild), 52, telefonieren täglich miteinander

Inwiefern? Kal: Aynur war schon als Kind etwas chefig und hat viele Aufgaben delegiert, das kann sie heute noch gut. Aber sie ist auch sehr hilfsbereit und investiert all ihre Kraft ins Unternehmen. Boldaz: Ich entscheide schnell und lasse mich dabei manchmal von meinen Gefüh­ len leiten, Asme dagegen ist sehr rational und hat die Zahlen im Blick. Sie war schon als Kind unvorstellbar diszipliniert. Kal: Manchmal muss ich Aynur bremsen und daran erinnern, dass es Regeln gibt ... Boldaz: ... und dann kritisierst du mich, weil ich zu großzügig bin. Dabei haue ich auch manchmal auf den Tisch, während du eher ruhig bleibst. Kal: Vor allem merke ich in dieser Krise, wie viel Erfahrung du in all den Jahren ge­ sammelt hast. Boldaz: Ich bin Krisen gewohnt; in meinem Leben habe ich schon viele schwere Zeiten durchgehalten. Die Corona-Krise ist anders, weil sie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesundheitlich bedrohlich ist. Aber wir werden auch diese Zeit packen. Ich habe dieses Unternehmen gegen viele Widerstände aufgebaut, und ich mache weiter. Immer weiter, immer weiter. Sie sind in dem Dorf Turnayolu Köyü aufgewachsen, im Osten der Türkei. Wie haben Sie Ihre Kindheit in Erinnerung? Boldaz: Wir waren 13 Geschwister, hatten viele Ziegen, aus deren Milch wir Käse her­ gestellt haben. Ich musste oft früh aufste­ hen und mich um die Tiere kümmern. Aber ich habe diese Zeit geliebt, als Kind wollte ich nie dort weg. Ich war wie eine


FAMILIENUNTERNEHMEN INTERVIEW

ostanatolische Heidi und erinnere mich noch, wie sehr ich mein Dorf vermisst habe, als ich für zwei Jahre ein Internat besuchen musste, weil es zu Hause keine weiterführende Schule gab. Als Sie volljährig waren, haben Sie Ihre Heimat dennoch verlassen. Warum? Boldaz: Der Sohn einer befreundeten Fa­ milie lebte damals bereits in Berlin. Er kam Mitte der Achtzigerjahre zu Besuch, und weil unsere Familien ein­an­der sehr gemocht haben und wir beide uns nett fanden, haben wir geheiratet. 1987 bin ich ihm nach Deutschland gefolgt. Was empfanden Sie, als Sie in Berlin aus dem Flugzeug stiegen? Boldaz: Das war ein Schock. Ich wusste bis dahin weder, wo Deutschland liegt, noch kannte ich die Sprache. Also saß ich erst mal zu Hause, habe eine Tochter bekommen und mich um den Haushalt gekümmert. Wie sind Sie zur Unternehmerin ge­ worden? Boldaz: Ich habe schnell gemerkt, dass das Dasein als Hausfrau nicht das Leben war, das ich mir vorgestellt hatte. Also habe ich angefangen, Deutsch zu lernen. Dann habe ich eine Arbeitserlaubnis beantragt, mir­ einen Job gesucht und begonnen zu putzen, vor allem in Krankenhäusern. So habe ich mich von meinem Mann entfremdet, und als ich 26 war, haben wir uns getrennt. Das war schmerzhaft, aber wir sind freund­ schaftlich aus­ein­an­der­ge­gan­gen. Kal: Wie mutig du warst! Boldaz: Jeder Schritt hat mich ermutigt, diesen Weg weiterzugehen. Ich habe Freunde gefunden und mich langsam in Deutschland verliebt. Ich wurde Vorarbeiterin und habe gemerkt, dass es mir Spaß macht, andere zu führen und zu motivieren. Nachdem ich ein Seminar für Gründer besucht hatte, war klar: Ich starte ein eigenes Unternehmen. Welche Hindernisse mussten Sie über­ winden? Boldaz: Es war von Anfang an sehr an­ strengend, ich war ja alleinerziehend. Als meine Tochter zwölf war, bin ich nachts oft rausgefahren, um mitzuarbeiten; Reinigungs­ dienste arbeiten häufig dann, wenn andere Menschen schon oder noch schlafen. Meine Tochter dachte, ich würde ausgehen – bis

ich sie einmal mitgenommen habe. Außer­ dem sind mir oft Vorurteile begegnet. Was für Vorurteile waren das? Boldaz: Ich habe oft zu hören bekommen, dass ich das nicht schaffe – mit meinem Dialekt, ohne fehlende kaufmännische Aus­ bildung, als alleinerziehende Mutter. Und es war sehr schwer, Startkapital zu bekommen. Aber ich habe es mit Humor genommen. Als mir ein Banker sagte, er könne mir zwar keinen Kredit geben, aber wir Türken wür­ den uns doch immer un­ter­ein­an­der helfen, habe ich im Spaß gesagt, dass mein Vater in Ostanatolien mit seinen Ziegen natürlich

773.000

Unternehmerinnen und Unternehmer mit Migrationshintergrund gab es 2018 in Deutschland – 206.000 mehr als 2005

20 %

der im Ausland geborenen Gründer scheitern laut dem Migrant Founders Monitor hierzulande bei der Suche nach privaten Wagniskapitalgebern. Zum Vergleich: Unter allen Gründern gehen nur neun Prozent leer aus

für mich bürge. Am Ende habe ich dann einen Gründerkredit von der Investitions­ bank Berlin bekommen, es konnte losgehen. Frau Kal, wie haben Sie das Leben Ihrer Schwester aus der Ferne verfolgt? Kal: Aynur war die Einzige aus unserer Fa­ milie, die aus der Türkei weggezogen ist, und es war schwer vorstellbar für mich, was sie in Berlin erlebt. Boldaz: Ich habe schnell verstanden, dass ich in Berlin ein Netzwerk aufbauen muss. Also bin ich früh in die CDU eingetreten, weil ich davon ausgegangen bin, dass ich dort am ehesten andere Unternehmer treffe – aber auch, um mich zu engagieren und mich weniger fremd zu fühlen.

Frau Kal, war es für Sie damals schon vorstellbar, Unternehmerin zu werden? Kal: Als sich Aynur in Berlin selbstständig gemacht hat, war ich gerade nach Ankara gezogen, hatte geheiratet und ein Studium in Verwaltungsrecht begonnen. Unternehmerin zu werden – daran habe ich nicht gedacht. Während dieser Zeit ist das Unternehmen in Berlin gewachsen. Was hat Sie am meisten gestresst, als es einmal lief? Boldaz: Das Geld. Mir hat es nie an Auf­ trägen oder Mitarbeitern gefehlt, aber ich musste immer wieder Kredite aufnehmen, um das Wachstum der Firma zu finanzieren. 2016 nahmen Sie einen Millionenkredit auf, den Sie seitdem abzahlen. Boldaz: Mit dem Kredit haben wir mehrere Investitionen getätigt, etwa in einen neuen Firmensitz. Nach fast 20 Jahren Wachstum brauchten wir dringend ein größeres Ge­ bäude. Inzwischen sind unsere Finanzen professionell aufgestellt, auch dank meiner Schwester. Hätte ich Asme nicht, wäre For­ ever Clean nicht das, was es heute ist. Wie haben Sie Ihre Schwester überzeugt, in die Firma einzusteigen? Boldaz: Sie war anfangs vorsichtig, aber ich habe ihr klargemacht, dass sie nicht privat ins Risiko geht, wenn sie sich beteiligt. Sie hat sich überzeugen lassen, 2009 haben wir ein Büro in Ankara angemietet und dort eine Tochterfirma meiner Berliner Firma gegründet. Seitdem führt Asme die Ge­ schäfte in der Türkei. In der Türkei gründen Frauen noch selte­ ner als in Deutschland. Wie war es für Sie, Unternehmerin zu werden, Frau Kal? Kal: Nicht immer leicht. Wir leben in der Türkei in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Doch mich hat das eher ange­ spornt. Bei Forever Clean beschäftigen wir vor allem Frauen, auch in der Führungs­ ebene. Viele unserer Mitarbeiterinnen haben sich von ihren Ehemännern getrennt. Für sie ist es besonders wichtig, auf eigenen Beinen zu stehen. Wie haben Sie sich durchgesetzt? Kal: Ich habe nicht viel Aufhebens um meine Person gemacht, sondern gründlich gearbeitet. Viele Reinigungsleistungen in der Türkei werden ausgeschrieben. Meist bewerben sich auf diese Aufträge außer uns


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nur Unternehmen, die von Männern geführt werden. Mein Eindruck ist: Die geben sich oft wenig Mühe. Wenn ich ein Angebot ausarbeite, investiere ich viel Zeit und ma­ che eine sehr detaillierte und genaue Kalku­ lation – und ich glaube, deswegen be­ kommen wir häufig den Zuschlag. Frau Boldaz, Sie haben mit Forever Clean einen Mittelstandspreis und einen Inklusionspreis gewonnen. Fühlen Sie sich in Deutschland angekommen? Boldaz: Auf jeden Fall. Inzwischen habe ich ja sogar ein Enkelkind hier. Allerdings habe ich immer noch keinen deutschen Pass be­ kommen – obwohl ich seit 30 Jahren hier lebe. Es ist schon eine Schande, dass ich in Deutschland Hunderte Menschen beschäf­ tige, aber nicht wählen darf. 2017 hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Sie geehrt, der nicht nur in Deutschland sehr umstritten ist. Hat Sie das nicht abgeschreckt?

Boldaz: Das war bei einem Kongress seiner Partei, bei dem es darum ging, Frauen in der Türkei mehr am Geschäftsleben zu beteili­ gen. Ich wurde danach dafür kritisiert, dass ich einen Preis von Herrn Erdoğan ange­ nommen habe. Was entgegnen Sie? Boldaz: Ich habe das vor allem getan, weil mich beeindruckende andere Frauen dafür vorgeschlagen haben und ich nicht nur mit Präsident Erdoğan, sondern mit einer Reihe anderer Unternehmerinnen auf der Bühne stand. Ich finde es wichtig, anderen Frauen Mut zum Unternehmertum zu machen – gerade in der Türkei. Frauen brauchen Frei­ heiten, und sie brauchen Chancen, zu arbei­ ten und sich selbstständig zu machen. Kal: Ich war sehr stolz auf dich, Aynur! Haben Sie es je bereut, wie Ihre Schwester Unternehmerin geworden zu sein? Kal: Nein. Es gibt so viele Momente, die mich motivieren. Neulich ist eine unserer

ersten Mitarbeiterinnen nach zehn Jahren in Rente gegangen und hat mir zum Dank Blumen mitgebracht. Und ein Kunde aus Antalya hat uns ein Paket mit Äpfeln ge­ schickt. So etwas trägt durch die Pandemie. Boldaz: Während wir uns hier am Bild­ schirm unterhalten haben, sind zwei Mails von Kunden hereingekommen, die wegen des Lockdowns ihre Aufträge abgesagt ha­ ben. Im Moment ist der Druck wirklich riesig – und ich bin jeden Tag dankbar, dass ich Asme habe. Was glauben Sie, wann sehen Sie sich wieder? Boldaz: 2020 ist Forever Clean 20 Jahre alt geworden, das wollten wir eigentlich zu­ sammen mit unseren Mitarbeitern in Berlin feiern. Sobald es geht, holen wir das nach. Kal: Aynur, ich hoffe sehr, dass wir uns bald wieder umarmen können. Mitarbeit: Süleyman Bayer

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Das Werk produziert Zement – und viele Daten. Werksleiter Torsten Krohn (oben rechts) will die besser nutzen


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DIGITALISIERUNG HOLCIM

»Mein Ofen, mein Baby«

Fotos: Matthias Oertel für ZEIT für Unternehmer

Nach 50 Jahren ohne größere Innovationen ist ein Zementwerk im norddeutschen Lägerdorf ins digitale Zeitalter gestartet – und könnte Unternehmern aus anderen Branchen als Vorbild dienen. Eine Fallstudie in acht Lektionen  VO N KRI ST I NA L ÄS KER Der Ofen muckt. Irgendwann in der Nachtschicht ist das 65 Meter lange Ofenlängsrohr aus dem normalen Lauf gerutscht. Es fährt nicht mehr so dynamisch vor und zurück wie sonst, es hakt. Florian Trela war das in der Früh aufgefallen. Nicht weil der Produktionschef der Zementfabrik über das Gelände zum Ofen marschiert wäre und das Problem bemerkt hätte. Der 41-Jährige hatte bloß seinen Laptop geöffnet, um die Abläufe im Werk zu checken. Rot hatte die Fehlermeldung aufgeleuchtet und gezeigt, dass etwas nicht in Ordnung ist. »Der Ofen ist mein big point des Tages«, sagt Trela, seine Hauptsorge. Denn ohne den Ofen geht nichts in der Fabrik, ohne ihn wird aus Kreide und Sand kein Zement. Gut 50 Kilometer nördlich von Hamburg steht im kleinen Ort Lägerdorf eines der größten Zementwerke Europas. 1862 wurde es als Fewer & Co. Patent-PortlandCement-Fabrik gegründet und war über Jahrzehnte in Familienbesitz. Heute gehört das Werk zur Schweizer Holcim AG, dem größten Baustoffhersteller der Welt, der bis vor Kurzem noch Lafarge-Holcim hieß. Das Firmengelände neben der A 23 umfasst eine Kreidegrube, Förderbänder, Hallen, Silos und Bürogebäude. Vieles ist mit Staub überzogen, über allem scheint der Muff von Schwerindustrie zu schweben. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn das Werk ist seit knapp dreieinhalb Jahren dabei,

Prozesse zu digitalisieren, unterstützt von der Beratung Etventure aus Berlin. Ein Ergebnis ist die App auf dem Laptop von­ Florian Trela, die viele Produktionsschritte überwacht. Parallel arbeitet der Werksleiter Torsten Krohn an einer anderen Kultur. Er will Mitarbeiter viel stärker einbeziehen und überträgt ihnen Verantwortung für Kosten und Ziele. Digitalisierung und Kulturwandel, das ist eine wichtige Erkenntnis bei­ einem Besuch des Werks, bedingen einander. Es mag nach Trippelschritten klingen, doch es ist ein Sprung für eine Branche, in der sich jahrzehntelang wenig verändert hat. Seit je wird Zement hergestellt, indem­ verschiedene Gesteine gemahlen, vermischt und unter glühender Hitze miteinander verschmolzen werden. Es gibt mehr als 50 Zementwerke in Deutschland und 21 Hersteller. Viele schauen jetzt nach Lägerdorf, auch aus anderen Branchen. Denn das Werk könnte zum Vorbild dafür werden, wie eine Industrie im digitalen Zeitalter ankommt und dabei die eigene Belegschaft mitnimmt. Trotz mancher Widerstände. Denn Menschen in stark digitalisierten Betrieben müssen anders arbeiten als bisher. Es ist halb neun. Produktionsleiter Trela sitzt im Verwaltungstrakt vor dem Computer und beginnt die morgendliche Videokonferenz. Auf dem Bildschirm leuchtet eine Tabelle mit Zahlen. Rechts daneben die Köpfe von gut 20 Abteilungsleitern. Trela

ruft die Kollegen der Reihe nach auf und fragt nach Problemen der letzten 24 Stunden. Nicht nur der Ofen muckt, der Zylinder einer Presse ist undicht, die Temperatur im Kühlturm war zu niedrig, nachts um elf hat sich Mühle 2 abgeschaltet. Ein Zementwerk scheint – bei aller Grobheit der Materie – ein Sensibelchen zu sein. Lektion 1: Verantwortung übertragen Früher saßen die Abteilungsleiter noch an einem Tisch und berichteten, was mit dem Sensibelchen wieder los war. Der Verfahrenstechniker Trela warf Excel-Tabellen an die Wand, einige der Mitarbeiter hatten handgeschriebene Notizen dabei. Kaum jemand hatte hinterher das große Ganze begriffen – es war zu verwirrend. Die Veranstaltung fraß inklusive Vorbereitung mehr als eine Stunde Zeit. So ging es über Jahrzehnte: Produktionsleiter führten die Fabrik vor allem mit Erfahrung und weniger mit Daten. Das sei jetzt anders, sagt Trela und schwärmt: Die datengetriebene Problemanalyse sei ein »Zeitensprung«. Trela ist Schwabe, er schafft gerne etwas weg. Sein Rekord für die kürzeste Frühbesprechung liegt bei zwölf Minuten. Darauf ist er stolz. Möglich wird das durch eine Software, die »Performance and Collaboration Tool« heißt, kurz Pact. »Sie führt dazu, dass Kol­ legen mehr Verantwortung übernehmen«,


DIGITALISIERUNG HOLCIM

sagt Trela. Früher habe die Runde morgens herumgeeiert und wenig entschieden. Jetzt legt sie fest, wer ein Problem lösen und wer helfen muss. Das schafft Klarheit, wie etwa die, dass der Ofenmeister einen harten Tag vor sich haben dürfte. Weil er das Längsrohr schnell in Ordnung bringen muss. »Mein Ofen, mein Baby, meine Verantwortung«, sagt Trela. So geht das jetzt in Lägerdorf. Lektion 2: Erfolg macht träge Holcim betreibt 269 Zement- und Mahlwerke weltweit. Die Software wurde für den Standort in Lägerdorf entwickelt, sie wird nun in mehr als 130 Werken genutzt. Irgendwann, so träumen sie in der Konzernzentrale in Rapperswil-Jona am Zürichsee, sollen die meisten Werke von Holcim sie einsetzen. Dann wären die Leistungen überall vergleichbar. In Deutschland könnten sie

aus Fehlern in Kanada lernen, in Brasilien Ideen aus Australien abschauen. Hätte, könnte, würde. Zementwerke arbeiteten wie Königreiche, lästern sie intern. Abgeschottet, regiert nach Gutdünken, veränderungsunwillig. Das Phänomen gibt es in vielen Branchen: Wenn Betriebe lange erfolgreich sind, ohne sich anstrengen zu müssen, verkrusten sie leichter. Kreativität und Innovationsgeist gehen verloren. In der Zementbranche war das möglich, weil diese ein regionales Geschäft ist. Zement wird oft nur 200 bis 300 Kilometer weit geliefert, der aus Lägerdorf steckt in vielen norddeutschen Bauten wie der Elbphilharmonie oder dem Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven. Thomas Schändel arbeitet seit 35 Jahren bei Holcim. Wie schon sein Vater. Wie einige seiner Neffen. »Zu Spitzenzeiten waren wir acht Familienmitglieder im Werk«, sagt der 55-Jährige. Einmal Zement, immer Ze-

ment. So ist das öfter in dieser Gegend, in der die Fabrik im flachen Umland auch optisch hervorsticht. Holcim ist einer der beiden großen Arbeitgeber in der Re­ gion. Schändel arbeitet als Systemadministrator für Lägerdorf und andere Werke. Er betreut das Computer- und Informationssystem. Er hat viele gute Zeiten erlebt. Zuletzt aber musste er aushalten, dass Lägerdorf auf der internen Rangfolge der Holcim-Werke weiter abrutschte, zu schwach war der Output. Viele Kollegen hätten resigniert, sagt er. Lektion 3: Daten klüger nutzen Die Branche gilt als behäbig: Es hat zwar Automatisierungen gegeben. Doch es liegt mehr als 50 Jahre zurück, dass Prozesse groß umgestellt wurden. Dabei gibt es in Werken wie Lägerdorf Tausende Sensoren. Sie messen die Temperatur im Ofen, die Abgase oder

Foto: Matthias Oertel für ZEIT für Unternehmer

Hier wurde Kreide für die Zementproduktion abgebaut


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die Qualität des Zements. Doch diese vielen Daten werden nur selten aufbereitet, analy­ siert und systematisch genutzt. Zementfabri­ ken sind trotz der Sensoren weit davon ent­ fernt, smart zu sein. So fehlt die Basis für den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Das ist nicht nur in der Zementindustrie so, auch Maschinenbauer und andere Mittel­ ständler wissen oft nicht, wie sie ihre Daten­ schätze heben könnten. Deshalb können ihre Maschinen auch nicht lernen und Pro­ gno­sen abgeben. Ausgerüstet mit Helm, Hoodie und Warnjacke, steht Thomas Schändel, der Holcim-Veteran, unter dem fast fünf Meter breiten Ofenrohr aus Stahl. Im Inneren herrschen etwa 1450 Grad, die Hitze strahlt viele Meter durch die eisige Luft herab. Zehn Öfen habe es in dem Werk schon ge­ geben, sagt Schändel. »Nummer elf kann mehr als alle anderen zusammen.« Lektion 4: Fragen stellen und zuhören In Lägerdorf wird dafür Kreide aus der na­ hen Grube mit Sand und Eisenoxid ver­ mengt, im Ofen verschmilzt das Gemisch bei extremer Hitze zu Zementklinker. Schändel zeigt auf das Ofenrohr. Es ist über seine gesamte Länge leicht abwärts geneigt. Weil es sich ständig dreht und hin und her fährt, fällt das Gemisch drinnen stetig weiter herunter zum Ofenauslauf. »Hinten kom­ men Stücke raus, so groß wie Wachteleier«, sagt Schändel. Diese Klumpen heißen Klinker und werden in der Mühle zu Zement zermahlen. Zement ist ein Bindemittel, er bildet die Grundlage für einen der wichtigs­ ten Baustoffe der Erde: Gemischt mit Sand, Wasser und Kies, wird er zu Beton. Dass die Zementindustrie so behäbig ist, liegt auch an ihrem Erfolg. Beton boomt. Und ohne Zement gibt es keinen Beton für Häuser, Autobahnen, Flughäfen. Jahr für Jahr werden weltweit 4,6 Mil­liar­den Tonnen

Zement verbaut. Monat für Monat entsteht eine Stadt in der Größe von New York. Da war es lange ziemlich egal, ob die Hersteller viel, wenig oder gar nicht modernisieren. In Lägerdorf änderte sich das erst 2018. »In dem Jahr wurde alles durchgerüttelt«, sagt Thomas Schändel. Damals kamen neue Chefs. Torsten Krohn führt das Werk betriebswirtschaftlich, Florian Trela leitet die Produktion. Die Neuen trieben die Di­ gitalisierung und den Kulturwandel voran: Sie ließen Tapetenbahnen an die Wände der Kantine hängen. Die Kollegen konnten mit Edding draufschreiben, was ihnen missfällt. Baggerfahrer, Wachmann, Köchin. Anonym. Ohne Sanktionen. In der Schweizer Firmenzentrale hatte der Umbruch schon früher eingesetzt. 2015 schlossen sich die Schweizer Holcim AG und der französische Hersteller La­farge zu­ sammen, bei der Fusion knirschte es ge­ waltig. Im Herbst 2017 kam Jan Jenisch an die Spitze des Konzerns, um den Koloss zu sanieren. Der Manager mutete seinen Leu­ ten viel zu. Er trennte sich von Führungs­ kräften, baute Tausende Stellen ab und verlangte eine Leistungskultur. Kunden­ nah, nachhaltig, kostengünstig – so sieht Jenisch den Bauzulieferer von morgen. Lektion 5: Die Kultur ist entscheidend Doch die Holcim AG hat ein gewaltiges Problem. Die Zementbranche ist extrem umweltschädlich, die Fabriken stoßen enor­ me Mengen an Kohlendioxid aus. Weltweit ist die Industrie für bis zu sieben Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich, dreimal so viel wie durch den gesamten Flugverkehr. Um das zu ändern, brauchen die Hersteller Innovationen. Dafür müssen sie so arbeiten, wie es anderswo längst Alltag ist: agil, mit Start-ups und Unis kooperierend, mit digi­ talen Technologien, vernetzten Fabriken und einer datenzentrierten Produktion.

Unter Führung des neuen Chefs hat Holcim eine Digitaleinheit namens Maqer gegründet. Das virtuelle Team soll den Wandel der Gruppe vorantreiben und ist an den digitalen Projekten in Lägerdorf beteiligt. Maqer kooperiert intensiv mit der Digitalberatung Etventure, die vor Ort aktiv ist. So lernte auch Silas Bübel die Zement­ branche kennen. »Vor der Schwerindustrie hatte ich Ehrfurcht«, sagt der 33-Jährige. Bübel arbeitet als Produktmanager bei­ Etventure in Berlin, die Firma gehört zur Wirtschaftsprüfung EY. Sie arbeitet seit Dezember 2017 für Holcim. »Wir helfen Unternehmen, digitale Geschäftsmodelle und Produkte zu entwickeln«, sagt Bübel. So wie die App für die Morgenkonferenz. Lektion 6: Schnell scheitern und verbessern An diesem Dienstag ist Bübel nach Lä­ gerdorf gereist, um mit Führungskräften zu sprechen. Normalerweise braucht der Be­ triebswirt mit dem Dreitagebart nur einen Laptop zum Arbeiten. An Tagen im Werk aber muss er einen Helm tragen und schwere Stiefel mit Stahlkappen, die Menschen wie ihm später Fußschmerzen bescheren. Anfangs hörten die Etventure-Berater erst einmal viel zu. In einem der Interviews befragte Bübel auch Produktionsleiter Tre­ la: Was musst du in der Frühbesprechung erfahren? Welche Zahlen sind wichtig? Was ist unnötig? »Wir suchen nach Schmerz­ punkten«, sagt Bübel. Also danach, was wesentlich ist. Er duzt die Zementleute, auch das hat Methode: Etventure will seinen Kunden so nah wie möglich kommen. Nach ersten Gesprächen programmierte Etventure zügig eine Rohversion der neuen Software. Sie war simpel und robust, sie war auf Zahlen fixiert – so wie die Ingenieure im Werk. »Es ist nicht die allerschönste App, aber sie passt genau«, sagt Bübel.

»Hier wurde alles durchgerüttelt« Thomas Schändel, Systemadministrator


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DIGITALISIERUNG HOLCIM

Lektion 7: Erfolgreiche Konzepte schnell ausrollen Was für Holcim das Wichtigste war: Das Pionierprojekt in Lägerdorf ist übertragbar auf andere Werke des Unternehmens. Seit August 2018 wendet Holcim das Programm auch an weiteren Standorten an. Jede Fabrik kann für die Morgenkonferenz der Produktionsleitung zwischen 100 bis 150 Kennziffern auswählen, die in einer Übersicht angezeigt werden. Die Grundlage ist eine Datenplattform, die Etventure gebaut hat. In sie fließen Daten aus vielen Systemen ein. Gerade arbeitet die Beratung daran, auch das Schichtbuch in Lägerdorf zu digitalisieren. In ihm wird alles vermerkt, was für die Übergabe von einer Schicht an

Nachdem er 2018 die Tapeten aufhängen ließ, analysierte er genau, was die Mitarbeiter so alles kritisierten: Er habe sich erschrocken, als wie groß die Beschäftigten die Kluft zu ihren Vorgesetzten empfanden, sagt Krohn. »Die Leute fühlten sich nicht informiert.« Mehr Gespräche, mehr Klarheit, mehr Lob: Das waren ihre größten Wünsche. Lektion 8: Ziele herunterbrechen und überprüfen Für die Fabrik gab Krohn damals drei Ziele aus: Der Ofen soll seltener ungeplant stillstehen. Die Fixkosten pro Tonne Zement sollen sinken. Das Werk soll weniger Ersatzteile lagern. Um mehr Transparenz zu schaffen, machte Krohn genaue Vorgaben und brach sie herunter bis zum Meister. Seither gibt es wöchentlich kurze Besprechungen zu den Zielen. Ohne die DatenProduktionsleiter Florian Trela (links) aufbereitung durch Etventure wäre das und Werkschef Torsten Krohn kaum möglich gewesen, sagt der Fabrikchef. »Die neue Software Pact hilft uns dabei, das die andere nötig ist. Etwa, dass der Ofen alles zu visualisieren.« – dieses zickige Ding – an diesem Tag noch Krohn will auch Wertschätzung vor­ hakt, als die Frühschicht an die Spätschicht leben und Vertrauen schaffen. Als der Ofen übergibt. im ersten Jahr nach seinem Antritt weniger Auch in das digitale Schichtbuch sollen oft ausfiel, schenkte er allen Mitarbeitern Zahlen aus der Datenplattform fließen. einen dicken Hoodie mit dem Firmenlogo. Die Plattform könnte künftig das Herz­ Es sollte ein Lob sein, das man sehen und einer smarten Fabrik werden, die dieses fühlen kann. Prädikat auch verdient hat. Die Umweltprobleme der Branche Werksleiter Krohn sitzt in der Kantine – Krohn nennt sie die »dicken Brocken« – vor einem Teller Schaschlik mit Pommes sind durch Digitalisierung allein nicht lösund erzählt vom Kulturwandel. Der bar. Das weiß auch der Werksleiter. Aber 55-jährige Verfahrensingenieur ist seit 1990 der Einsatz digitaler Technologien sei ein bei Holcim, damals gab es etwa 700 Mit- Schritt in die richtige Richtung. arbeiter in Lägerdorf. Ungelernte Arbeiter Mit dem Werk gehe es nun weiter bergschleppten noch 50-Kilo-Säcke auf dem auf, glaubt Krohn. Für diesen Optimismus Rücken. Heute ist die Belegschaft auf 300 braucht er keine Daten. Er merkt es daran, Leute geschrumpft, und Gabelstapler trans- dass Mitarbeiter ihn beherzter und offener portieren die Zementsäcke. Auch durch die kritisieren. Statt sich wie vorher resigniert Digitalisierung werde die Arbeit »körper- zurückzuziehen: »Die Leute meckern wielich leichter und intellektuell schwieriger«, der.« Für ihn als Chef klingt das ganz sagt Krohn. wunderbar.

»Körperlich leichter, intellektuell schwieriger« Werkschef Torsten Krohn darüber, wie sich die Digitalisierung auf die Arbeit auswirkt

Foto: Matthias Oertel für ZEIT für Unternehmer

Zeitweise arbeiteten bis zu 20 EtventureLeute mit ihm an dem Projekt. Einmal durften auch die Programmierer nach Lägerdorf reisen. Thomas Schändel führte sie unter den Ofen Nummer elf und erklärte, dass Zement und Beton nicht das Gleiche sind. Damit sie das bloß nicht verwechseln. Bübel holte sich derweil Feedback zu der ersten Softwareversion. Fail fast, fail cheap – lieber zügig und billig scheitern als zu lange über dem Falschen brüten, lautet die Devise der Berater. »Wir wollen das Risiko klein halten und nicht an den Wünschen vorbei entwickeln«, sagt Bübel. Etventure hat auch schon Firmen wie den Werkstoffproduzenten Covestro, den Betonpumpenhersteller Putzmeister oder den Maschinenbauer SMS dabei beraten, wie sie den Sprung in die digitale Ära schaffen können. Die Beratung empfiehlt Mittelständlern gerne, für die digitale Transformation »ein siebenstelliges Budget zu reservieren«. Damit sei sichergestellt, dass genügend Geld vorgesehen sei, um Projekte nach der Beratung weiterzuent­ wickeln, auf andere Firmenteile auszuweiten, zu vermarkten und intern zu betreuen.


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Zukunftsweisend

Foto: © Mike Hall/ Cardiff University

Weltweit erster Verbindungshalbleiter-Cluster in Wales Halbleiter sind bereits ein wesentlicher Bestandteil der digitalen und vernetzten Welt, und sind heutzutage in vielen Bereichen unerlässlich geworden. Sie kommen in Kommunikationssystemen zum Einsatz, bei Hochgeschwindigkeits-Datenübertragung, in der Robotik, der Photonik und Sensorik – und längst fährt kein Auto mehr ohne sie. Seit Jahren nimmt Wales eine führende Position in Industrie und Forschung im Bereich der Halbleitertechnologie ein. Die walisische Regierung hat jetzt, zusammen mit einigen Partnern, über 600 Millionen britische Pfund in die Förderung neuer, frei zugänglicher Infrastrukturprojekte und Einrichtungen investiert, darunter auch in CSconnected, den ersten Verbindungshalbleiter-Cluster weltweit. CSconnected in Newport, Südwales, ist damit gleichzeitig auch der fünfte Halbleiter-Cluster in Europa. Der Schwerpunkt von CSconnected liegt auf der Forschung, Entwicklung und Herstellung neuester Verbindungshalbleiter-Technologien mit ultraschnellen Leitungs- und Sensorfähigkeiten. So werden in Wales neue Halbleitermaterialien hergestellt, deren verbesserte Eigenschaften deutliche Leistungssteigerungen gegenüber Silizium bieten. Zu den wichtigsten Partnern von CSconnected zählen das Institute for Compound Semiconductors, der Future Compound Semiconductor Manufacturing Hub (CS Hub) sowie das Compound Semiconductor Applications Catapult, die von der walisischen und der britischen Regierung und von der Industrie finanziert werden.

Mitbegründer des Clusters ist IQE plc mit Sitz in Südwales, das weltweit führende Unternehmen für hochentwickelte Wafer- und Materiallösungen für schnelle, hocheffiziente und drahtlose Kommunikation in Mobilfunk- und WLANNetzwerken. Mit einem Weltmarktanteil von 55% steckt auch ein kleines Stückchen Wales in vielen Smartphones von heute. DankCSconnected,mitseinerVielzahlanhochspezialisierten Unternehmen, offeriert Wales ein breites technologisches Angebot – vom Konzeptdesign, über Forschungswissen bis hin zu hochmodernen Produktionsstätten. Wales verbindet.

CSCONNECTED Erster VerbindungshalbleiterCluster weltweit Newport, Südwales CSconnected.com

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LEBEN UNTERNEHMERPAARE

Manchmal denkt Béa Beste darüber nach, was gewesen wäre, wenn sie ihren Mann Oliver einfach aus dem Unternehmen ge­ worfen hätte. Damals, als es noch möglich war. »Vielleicht wäre ich noch auf eine neue Zielgruppe gestoßen oder auf einen günsti­ geren Werbekanal«, erzählt Beste, »und vielleicht wäre es mir gelungen, das Ruder noch einmal rumzureißen.« Vielleicht. Sicher ist: 2015 mussten Béa und Oliver Beste mit ihrer Idee Tollabox aufgeben und mit ihrer Firma Insolvenz anmelden. Die hatte Pakete mit Bas­tel­ideen für Kinder ent­ wickelt, Eltern sollten sie abonnieren und dann jeden Monat neues Material per Post bekommen – und zahlen. Geldgeber hatten 2,5 Millionen Euro investiert, eine halbe Million hatte das Paar selbst beigesteuert. All das war nun: unwiederbringlich verloren. Für viele Paare wäre das Ende der ge­ meinsamen Firma wohl auch das Ende ihrer Beziehung. »Damals habe ich jedenfalls verstanden, warum manche Menschen ihren Partner schlagen«, erzählt Béa Beste, »ich hatte wirklich das Bedürfnis, mich abzu­ reagieren.« Dann muss Beste lachen. Gerächt hat sie sich letztlich ganz anders. Wenn Paare gemeinsam ein Unterneh­ men führen, ist das eine besondere Konstel­ lation: Sie kennen sich so gut wie kaum ein gewöhnliches Geschäftsführer-Duo. Sie wis­ sen um die Stärken, aber auch um die Schwächen des anderen. Sie teilen nicht nur die Verantwortung für das Unternehmen, sondern üblicherweise auch Tisch und Bett. Was heißt es also für die Beziehung, wenn es im Unternehmen nicht läuft? Und wie kön­ nen Unternehmerpaare in guten Zeiten Re­ geln für mögliche schlechte Zeiten aufstellen? Béa und Oliver Beste hatten genau das getan, zumindest in der Theorie. Ein Jahr lang hatte Béa an der Idee zu Tollabox ge­ arbeitet, bevor das Produkt auf den Markt kam. Als Oliver 2012 als Geschäftsführer mit einstieg und sie zwei weitere Gründungs­ mitglieder an Bord holten, war klar: Die Ideengeberin Béa kriegt die meisten Anteile. Kommt es zwischen Béa und Oliver zu un­ lösbaren Konflikten, verlässt Oliver die Fir­ ma. Alternativ hat Béa das Recht, ihn raus­ zuwerfen. So hatten sie es mündlich mit ihren Gründungspartnern besprochen.

Dann mach ich di Paare, die gemeinsam ein Unternehmen leiten, kennen Das kann ein Vorteil sein. Kommt es zur Trennung, leidet VON CATAL I N A

Oliver Beste an der Westküste von Teneriffa, von wo aus er und ...


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ch zu Löwenfutter!

sich so gut wie kaum ein anderes Geschäftsführer-Duo. darunter aber auch schnell die Firma. Das muss nicht sein

Fotos: Rubén Plasencia für ZEIT für Unternehmer

S CH R Ö D E R

... Béa Beste während des Lockdowns in Deutschland arbeiten

Inhaltlich ergänzten sie sich prima: Béa hatte die kreativen ­Ideen, Oliver die Erfahrung mit Zahlen. Damals war er gerade dabei, seinen Online-Spielzeugshop MyToys zu verkaufen. »Natürlich hatten wir immer eine Meinung zu den ­Ideen des anderen, aber weil wir so unterschiedliche Kompetenzen mitbrachten, sind wir uns nie wirklich in die Quere gekommen«, erzählt Béa Beste. Auch finanziell gesehen lief es für die Tollabox zu Beginn nicht schlecht: Bei einem Crowdfunding warb das Ehepaar rund 600.000 Euro ein, auch private Investoren, also Business-Angel, interessierten sich für ihr Geschäftsmodell, einer steuerte 400.000 Euro bei. Viele der ersten Kunden kündigten ihr Abo erst nach mehr als einem Jahr. »Wir hatten mit einer Verweildauer von anderthalb Jahren kalkuliert«, erzählt Oliver Beste. »Für den Anfang war das also nicht schlecht.« Doch unter den ersten Abonnenten waren viele Freunde des Paares gewesen. Als andere Kunden dazukamen, sank die AboDauer auf durchschnittlich sieben Monate. »Das rechnete sich für uns nicht«, sagt Oliver Beste. »Die Leute hätten entweder länger bleiben müssen, oder wir hätten pro Neukunde deutlich weniger Geld in Werbung investieren müssen.« 35.000 Abonnenten hätten sie gebraucht, um in die Gewinnzone zu kommen, doch sie hatten nur rund 5000. Anfang 2014, zwei Jahre nach der Gründung, äußerte Oliver Beste seine Zweifel zum ersten Mal ganz deutlich. »Aber Béa wollte davon nichts wissen«, sagt er, »die Tollabox war ihr Baby.« Trotz dieser Meinungsverschiedenheit hat das Paar die kritische Phase ihrer gemeinsamen Firma nicht nur in schlechter Erinnerung behalten: »Obwohl wir damals schon zehn Jahre zusammen waren, habe ich Béa noch einmal viel besser kennen­ gelernt«, sagt Oliver Beste. Sie habe einen unerschütterlichen Optimismus. »Das habe ich bewundert, und gleichzeitig hat es mich in den Wahnsinn getrieben, ihr dabei zuzusehen, wie sie immer mehr Geld von Investoren annahm. Ich fand das unverantwortlich.« Er lud einen Mediator ein, der zwischen den vier Gründern vermitteln sollte. »Ich werfe Oliver bis heute vor, dass es sich dabei um einen Freund von uns handelte«, erzählt


LEBEN UNTERNEHMERPAARE

»Ich glaube, es ist besser, wenn jeder sein Ding macht« Béa Beste, Unternehmerin

Béa Beste. Kurz darauf warb Béa erneut­ einen Investor an, »doch der wollte nur einsteigen, wenn Oliver weiter mitmacht, weil er ihn für den erfahreneren Geschäftsmann hielt«. Oliver weigerte sich. Béas C ­ hance, die Firma zu retten, war vertan. »Wenn man so will, war ich der TollaboxMörder«, sagt Oliver, halb ernsthaft, halb im Scherz. »Unsere Beziehung stand nicht wirklich auf der Kippe, aber hätte ich nicht parallel MyToys verkauft, wäre es auch finanziell erst mal ganz schön eng für uns geworden«, sagt Oliver Beste. »Und natürlich ist das eine schwierige Situation für ein Paar.« Was folgte, so erzählen es beide, waren viele schlaflose Nächte, Tränen und frustrierende Gespräche mit ihren zehn Mitarbeitern, die sie entlassen mussten. »Zum Glück ist es aber nie so weit gekommen, dass Oliver und ich nicht mehr mit­ein­an­der gesprochen haben«, erzählt Béa Beste. »Wir haben zwar heftig gestritten, aber ich empfinde es als ganz großen Wert in unserer Beziehung, dass wir nie in Schweigsamkeit verfallen oder uns stundenlang anschreien.« Sybill Offergeld erlebt das häufig ganz anders. Offergeld ist Fachanwältin für Familienrecht und Fachanwältin für Erbrecht bei der Kanzlei Rose & Partner in Berlin. Sie hat schon unzählige Scheidungen begleitet. »Wenn ein Unternehmen im Spiel ist, wird eine Scheidung beziehungsweise die Aus­ein­ an­der­set­zung um das Vermögen komplizierter«, sagt Offergeld. Sie rät Unternehmern dazu, sich möglichst schon vor der Heirat über einen Ehevertrag Gedanken zu machen. Wer ohne Ehevertrag heiratet, lebt im gesetzlichen Güterstand, der sogenannten Zugewinngemeinschaft. Das bedeutet: Jeder bleibt während der Ehe Inhaber und Eigentümer dessen, was er bereits vorher besaß und während der Ehe hinzuerwirbt. Man lebt gemeinsam, wirtschaftet aber in erster Linie für sich.

Wenn die Ehe endet – also auch bei einer Scheidung –, sieht das Gesetz allerdings einen Ausgleich vor. Um ihn festzulegen, wird der Zugewinn jedes Partners errechnet. Dabei wird das Unternehmen genauso berücksichtigt wie das Vermögen, das jemand während einer Karriere aufbauen konnte. Derjenige von beiden, der weniger oder gar keinen Zugewinn erzielt hat – etwa, weil er vor allem die Kinder betreut –, erhält vom anderen einen Ausgleich. In der Praxis könne das zu Problemen führen, erklärt Offergeld. Zum einen sei es oft schwer, den Zugewinn zu bewerten. »Nehmen wir ein Start-up, das auf einen Exit hinarbeitet: Wenn man den erhofften Marktwert ansetzt, kommt man zu hohen Summen, die aber vielleicht gar nicht realisiert werden können.« Problematisch ist zum anderen auch, dass der Zugewinnausgleich in Geld geschuldet wird. Wenn ein Unternehmen viel wert ist, kann es durchaus sein, dass sein Eigentümer nicht ausreichend liquide ist. »Sprich: Oft ist es kaum möglich, den Zugewinnausgleich zu zahlen, weil die Werte eben nur auf dem Papier stehen«, erklärt Offergeld. Man könne sich zwar auf eine Ratenzahlung einigen. »Im Extremfall können solche Forderungen einen Unternehmer aber auch zur Liquidierung zwingen.« Ratsam sei daher oft, die Firma aus dem Zugewinn auszuklammern. Dabei dürfe die Absicherung des schwächeren Partners aber nicht aus dem Blick geraten, es sollte in der Regel ein finanzieller Ausgleich geschaffen werden. Das gelte insbesondere dann, wenn quasi das gesamte Vermögen im Unternehmen stecke. »Aber jeder Fall ist auch ein bisschen anders«, sagt Offergeld, »man sollte in einem Gespräch ausloten, wie eine gerechte Gestaltung gefunden werden kann.« Auch wenn beide Partner gleich viele Anteile am Unternehmen besitzen, rät die

Anwältin dazu, mit einem Ehevertrag zu klären, wie es bei einer Scheidung weitergeht. »Andernfalls verlagert sich der Streit oft auf die Ebene des Gesellschaftsrechts, dann macht man sich dort das Leben schwer, indem man zum Beispiel Entscheidungen des jeweils anderen blockiert.« Der Konflikt werde dann auch auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen – und könne noch stärker eskalieren. Ein Ehevertrag wird von einem Anwalt oder einem Notar aufgesetzt und muss notariell beurkundet werden. Die Kosten richten sich nach dem Wert dessen, was vertraglich geregelt wird. Mündliche Absprachen, wie Béa und Oliver Beste sie damals getroffen hatten, bringen im Streitfall vor Gericht übrigens nichts, auch wenn Zeugen sie bestätigen. »Sie können höchstens an das Gewissen Ihres Ex-Partners appellieren«, erklärt Sybill Offergeld. »Aber ob das bei einem zerstrittenen Paar noch hilft?« Lara Daniel und Christoph Kastenholz sind da vielleicht etwas leichtsinnig: Sie glauben, dass sie auch bei einer Trennung weiter gemeinsam einvernehmlich entscheiden könnten. Allerdings zeigt ihr Beispiel auch, wie viel ein Unternehmen gewinnen kann, wenn Paare sich ohne festgeschriebene Klauseln gut ergänzen und verstehen. Daniel und Kastenholz kennen ein­an­der noch aus der Schulzeit und sind seit mehr als acht Jahren ein Paar. 2013, gleich nach dem Ende ihres Studiums, haben sie aus ihren Elternhäusern in Bonn ein Label für Strandmode gestartet. »Wir haben uns perfekt ergänzt«, erzählt Kastenholz: »Lara hat die Kleider entworfen und selbst genäht, und ich saß den ganzen Tag am Telefon und habe versucht, sie zu verkaufen.« Für Werbung hatte das Gründerpaar kein Geld. Deshalb fing es an, mit Influencern zusammenzuarbeiten. Das brachte sie abends, bei einem Glas Wein, auf die


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nächste Geschäftsidee: P ­ ulse, eine Werbeagentur für Influencer-Marketing. »Schon nach vier Monaten haben wir sechsstellige Umsätze erwirtschaftet«, erzählt Daniel. Heute haben Daniel und Kastenholz gut 100 Mitarbeiter in Hamburg, New York, London und Mailand, 2020 erwirtschafteten sie einen Millionenumsatz. In ihrer Beziehung ist P ­ ulse dauerpräsent. »Manchmal hetzen wir tagsüber zwölf Stunden lang von einem Termin zum anderen, und für die richtig strategischen Gespräche und Gedanken haben wir erst Zeit, wenn wir abends zusammen essen«, erzählt Daniel. Ausgerechnet im Urlaub gehen sich die beiden aus dem Weg: Lara verreist gern für zwei bis drei Wochen mit einer Freundin, Christoph maximal für ein verlängertes Wochenende. Steckt in dieser Konstellation nicht erst recht Konfliktpotenzial? Zumal die beiden keinen Partnerschaftsvertrag haben, den sie auch ohne Ehe abschließen könnten?

Kastenholz verneint das. »Mittlerweile hängen daran ja nicht nur wir beide, sondern auch viele Mitarbeiter«, sagt der Unternehmer, »und allein aus der Verantwortung ihnen gegenüber kann ich mir nicht vorstellen, dass wir uns einmal so zerstreiten, dass wir keine einvernehmlichen Entscheidungen mehr fürs Unternehmen treffen können.« Gemeinsam zu gründen, das würden beide jederzeit wieder tun. »Das ist sogar leichter, als wenn nur einer ein Unternehmen führt und bei seinem Partner immer um Verständnis dafür werben muss, dass er dort so viel Zeit investiert«, sagt Daniel. Béa und Oliver Beste sehen das inzwischen anders. »Oliver hat gerade eine Geschäftsidee, und wenn daraus etwas wird, berate ich ihn gerne, aber ich glaube, es ist besser, wenn jeder sein Ding macht«, sagt Béa Beste. Als die Insolvenz ihrer Firma damals unausweichlich wurde, war in Deutschland

gerade Winter, das Paar flog nach Sansibar. »Ein Tapetenwechsel ist in schwierigen­ Momenten für mich oft eine große Hilfe«, sagt Béa. »Da musste meine Frau mit mir dann auch ein Zimmer teilen, weil alles andere zu teuer geworden wäre«, scherzt Oliver. Aus der Sonne heraus regelten sie alles Wichtige mit dem Insolvenzverwalter. »Als ich eine unserer Investorinnen anrief, um ihr zu sagen, dass ihr Geld weg ist, sagte die nur: ›Tut mir leid für dich, aber dann hast du ja jetzt Zeit. Kannst du nächste Woche ein Marktforschungsprojekt in Marokko für mich übernehmen?‹«, erzählt Béa Beste. Und genau das tat sie dann auch. An ihrem Mann Oliver, der es hasst, wenn sie ihn Oli nennt, hat Béa Beste sich trotzdem auf ihre ganz eigene Art gerächt: Nach der Insolvenz brachte sie ein Kinderbuch auf den Markt. Die Geschichte eines Mädchens, das seinen Freund den Löwen zum Fraß vorwirft. Titel: Oli Löwenfutter.

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FUHRPARK ELEKTRO-TRANSPORTER

Warten auf die Stromer Transporter und Lastkraftwagen mit Elektroantrieb sind selten im Einsatz, jetzt wächst die Auswahl. Was taugen die neuen Modelle?  VON SARAH SOMMER

uf dem Papier ist Roland Schüren Bäckermeister, in vierter Generation, und manche seiner Backwaren backen er und sein Team so, wie es schon sein Urgroßvater Robert, Opa Max und Vater Reiner getan haben. Doch wer mit Roland Schüren spricht, merkt schnell: Der Unternehmer aus Hilden bei Düsseldorf ist, bei aller Tradition, ein Pionier. Und nicht nur Bäcker, sondern auch: Stromerzeuger. Seit 2010 arbeitet Roland Schüren daran, seinen Betrieb CO₂-neutral aufzustellen – eine Kette mit inzwischen 20 Filialen wohlgemerkt. Er hat eine Solaranlage, nutzt die Wärme seiner Backöfen, um das Wasser zu erhitzen, setzt auf Wärmerückgewinnung. Alles Teile eines ausgefeilten Energiekonzepts. Es bewirkt, dass er inzwischen so viel Strom selbst erzeugt, dass er damit seine ganze Flotte betanken kann: 31 Elektrofahrzeuge, mit denen Schürens Leute kleinere Lieferungen an die 18 eigenen Filialen ausfahren. Roland Schüren, der Chef von 250 Mitarbeitern, arbeitet seit Jahren auf einen vollelektrischen Fuhrpark hin – und er hat das Ziel fast erreicht. Aber es gibt fünf Fahrzeuge in seinem Fuhrpark, die wäre Schüren wirklich gern los: fünf große Kastenwagen von Mercedes, die er für größere Transporte braucht. »Die Sprinter fahren mit Erdgas«, sagt Schüren, »sie sind unsere letzten Fahrzeuge, die noch fossile Energie verbrennen«. Das Problem: Roland Schüren findet derzeit keinen Ersatz für die großen Transporter. Jedenfalls keinen, der nicht mit Diesel fährt. E-Nutzfahrzeuge ab der Sprinter-Klasse, also Kleinlaster, Pritschenwagen und ausgewachsene Lastkraftwagen, hatten die großen Autohersteller bislang nur höchst selten im Angebot – sie schrieben dem Markt kein großes Potenzial zu. »Nutzfahrzeuge sind

Foto: Zara Pfeifer

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Arbeitstiere«, sagt Max Nastold. »Sie müs­ sen, noch viel mehr als private Pkw, absolut verlässlich sein.« Nastold ist Berater beim Leasingunter­ nehmen Kazenmaier in Karlsruhe, das auf Elektrofahrzeuge spezialisiert ist. Dass Elek­ trotransporter den Alltagstest bei Hand­ werkern, Spediteuren, Industrieunternehmen zuverlässig bestehen – daran glaubten viele Unternehmer bislang nicht. »Und die Auto­ hersteller haben sich auch nicht eben große Mühe gegeben, die Vorbehalte mit über­ zeugenden Angeboten zu widerlegen«, sagt Nastold. Offenkundig waren E-Nutzfahr­ zeuge ein wenig lukrativer Nischenmarkt – jedenfalls so lange, bis die lauter werdenden Debatten über Dieselfahrverbote, City-Maut und CO₂-Steuer Unternehmer und Auto­ hersteller aufschreckten. »Seither steigt der Druck auf die Hersteller, ihren Unterneh­ menskunden echte Alternativen zum Diesel anzubieten«, sagt Nastold. ANZEIGE

Und tatsächlich: Seit einigen Monaten kommt ein Elektrotransporter nach dem anderen auf den Markt. Dabei setzen die Hersteller vor allem auf E-Modelle im Be­ reich der Nutzfahrzeuge bis 3,5 Tonnen. Für Händler, Handwerker, Bauunternehmer, Logistiker und viele Dienstleister sind sie unverzichtbar. Etwa 2,1 Millionen solcher Nutzfahr­ zeuge wurden zuletzt jährlich in Europa neu zugelassen. In Zukunft wohl immer häufiger als Stromer: So hat etwa Mercedes seit dem Sommer 2020 einen E-Sprinter im Angebot. Der chinesische Hersteller Saic bietet bereits seit einigen Monaten den Elektrotransporter Maxus an. Opel kam im Sommer 2020 mit dem Modell e-Vivaro auf den Markt, 2021 sollen zwei weitere E-Transporter-Modelle folgen. Auch von Peugeot und Citroën sind gerade zwei Kastenwagen neu auf den Markt gekommen, der E-Expert und der E-Jumpy. Nissan hat seinen E-Kleintransporter E-NV

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Finanzielle Förderung und technischer Fortschritt haben nachhaltige Mobilität in den vergangenen Jahren attraktiver gemacht – auch für Unternehmen. Der Umstieg spart nicht nur CO2-Emissionen auf der Straße, sondern auch richtig Geld.

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Wie sich E-Mobilität für Unternehmen auszahlt

zu einer XL-Variante in Sprinter-Größe um­ gebaut, um mithalten zu können, und Fiat bietet seit März dieses Jahres den e-Ducato an. Volkswagen will seinen E-Bulli, den ID.Buzz, zum Aushängeschild für seine neuen Elektromodelle machen und hat den Preis für seinen Großtransporter E-Crafter deutlich gesenkt. Ford ist eher spät dran, will im Frühjahr 2022 aber einen E-Transit auf den Markt bringen. Die Preise für die E-Transporter liegen zwischen 25.000 und 80.000 Euro, die Reichweiten bei rund 150 bis 330 Kilometer – das passt zu den An­ sprüchen vieler Unternehmer an ein alltags­ taugliches Nutzfahrzeug. Zwar lägen die Preise der Elektromodelle oft noch über denen konventioneller Ver­ brenner. Allerdings fallen weniger War­ tungskosten an. Ergebnis: »In unseren Bei­ spielrechnungen kommen wir auf Betriebs­ kosten, die bei den E-Modellen rund fünf Euro pro 100 Kilometer niedriger sind«,

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Klimazuschuss bei Finanzierung der Investitionskosten mit KfW-Förderung aus der Klimaschutzoffensive für den Mittelstand (kfw.de/293)

Staatliche Förderungen Unternehmen, die den Umstieg wagen, profitieren derzeit von staatlichen Förderungen. Im Rahmen der Klimaschutzoffensive für den Mittelstand der KfW erhalten Sie einen zinsgünstigen Investitionskredit und einen Klimazuschuss von derzeit 6 % des Kreditbetrages. Finanzielle Unterstützung bei Kauf Rund zwei Drittel der Zulassungen und Leasing bietet der Umweltbonus von Fahrzeugen mit alternativen des BAFA. Bei einem Nettolistenpreis Antrieben ging laut Kraftfahrt-Bun- bis zu 40.000 Euro gibt es für rein elekdesamt 2020 in den gewerblichen trische Fahrzeuge 6.000 Euro und Bereich. „Wer als Unternehmer heute für Plug-In-Hybride 4.500 Euro. Liegt keine Investitionen in die Elektro- der Nettolistenpreis darüber, reduziert mobilität vornimmt, wird sich in den sich der Umweltbonus auf 5.000 Euro nächsten Jahren schwarz ärgern“, beziehungsweise 3.750 Euro. sagt Markus Emmert, Vorstand im Bundesverband eMobilität (BEM). Wissenswertes für Unternehmen, die auf alternative Antriebe Und das nicht nur weil das aktuelle umsteigen wollen, gibt es unter: Fördergeld nicht genutzt werde. www.kfw.de/nachhaltig-mobil Für den Experten ist es natürlich, dass Fahrzeuge immer besser würden. Ein Grund zum Warten sei das aber nicht. „Dann haben Sie als Unternehmer das Investment verpasst und fahren die Gewinne erst später ein.“


402.771 Nutzfahrzeuge wurden 2020 in Deutschland zugelassen, etwa 12 Prozent weniger als 2019

»Die meisten neuen Modelle sind nur elektrifizierte Verbrenner« Roland Schüren (Bild), Bäckermeister

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E-Transporter-Modelle von acht Herstellern zählt der ADAC

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Euro kostet das teuerste Modell, 24.151 Euro das günstigste

1,2 % beträgt der Marktanteil rein elektrischer Nutzfahrzeuge

sagt der Experte Nastold. Je höher die Fahrleistung, desto größer die Ersparnis. Hinzu kommt: Noch diesen Sommer soll ein neues Förderprogramm mit Kaufanreizen speziell für E-Nutzfahrzeuge starten. Bäckermeister Schüren hilft all das noch nicht. »Den meisten Modellen, die jetzt auf den Markt kommen, merkt man an: Es sind letztlich nur umgebaute, elektrifizierte Verbrenner«, sagt der Unternehmer. Also keine vollständig auf Elektro-Antrieb ausgerichteten Karosserien, wie man es etwa von einem Tesla oder den ID-Modellen von VW kennt. Und: Während man bei klassischen Diesel-Nutzfahrzeugen zwischen verschiedenen Längen, Aufbau-Varianten und Spezialausstattungen wählen kann, gibt es bei den E-Modellen bislang nur wenige Standardmodelle zur Auswahl. Schüren aber braucht spezielle Niedrigflur-Aufbauten, um seine Brötchen abladen zu können. Die funktionieren bei den neuen Transportermodellen aber nicht. Die Batterie müsste dazu umgebaut und in den Laderaum verlegt werden, erklärt Schüren. »Dann hat man aber zu wenig Platz.« Eigentlich hatte Schüren gedacht, er habe dafür eine Lösung gefunden. Gemeinsam mit fast 200 anderen Unternehmern forderte er schon 2017 Autohersteller öffentlich auf, endlich ein passendes Fahrzeug für den Einsatz zu bauen. Tatsächlich fand sich ein Hersteller: Das Aachener Start-up Streetscooter hatte schon für die Deutsche Post elektrische Lieferfahrzeuge entwickelt, weil die ebenfalls keinen passenden Anbieter gefunden hatte. Insgesamt 75 Sonderanfertigungen des »Bakery Vehicle 1« bestellten die Unternehmer der Gruppe bei Streetscooter. Schüren selbst orderte drei Fahrzeuge für einen Testlauf. Seit gut drei Jahren sind diese nun im Einsatz und haben sich laut Schüren bewährt. Und eigentlich hätten in diesem Jahr die neuen Modelle kommen sollen, mit denen er dann die Gas-Transporter ablösen wollte. Doch nun hat sich die Post entschlossen, den Streetscooter nicht weiter zu produzieren. Ob ein neuer Investor die Produktion wiederbeleben kann, ist noch unklar. Vorerst steht Schüren wieder mit leeren Händen da. Aufgeben will er allerdings nicht; er

hofft, dass spätestens 2025 Modelle auf den Markt kommen, die ähnlich flexibel sein werden, wie es die Verbrenner waren. Derweil nimmt Schüren, wie er es gewohnt ist, die Dinge selbst in die Hand: Er hält die Erdgastransporter und die Streetscooter der ersten Generation in Schuss, solange es geht – und baut gleichzeitig einen der größten Ladeparks der Republik. Am Autobahnkreuz Hilden, in der Nähe des Unternehmensstammsitzes, hat er einen Ladepark mit 20 Schnellladern von Tesla und acht Ladepunkten des niederländischen Anbieters Fastned eröffnet. Der Strom stammt aus Solaranlagen und kleinen Windkraftanlagen. Damit will er dazu beitragen, auch die letzten Vorbehalte gegen den Einsatz von E-Fahrzeugen im Alltag abzubauen. Die Angst, wegen fehlender Lade­stationen ohne Strom liegen zu bleiben, sei ohnehin kaum gerechtfertigt. »Solche Parks an den Fernverkehrsstrecken sind­ eigentlich das Einzige, was derzeit noch für die E-Mobilität fehlt«, sagt Schüren. »Im Alltag lädt man meist ohnehin einfach zu Hause oder im Betrieb – und wenn man längere Strecken fährt, eben an Ladeparks wie unserem.« Die meisten E-Autos lassen sich an solchen Schnellladestationen in 15 bis 30 Minuten vollladen. Am Hildener Lade­park gibt es dann während der Wartezeit gleich auch eine Raststätte mit Biobackwaren aus eigener Produktion. Während Schüren zeigt, was heute in Firmenflotten schon möglich und alltagstauglich ist, dämpft Berater Nastold die Euphorie: Noch sind 90 Prozent der Transporter bis 3,5 Tonnen Dieselfahrzeuge. Rein elektrische Nutzfahrzeuge haben einen Marktanteil von gerade einmal 1,2 Prozent. »Viele Unternehmer werden bei Neuanschaffungen auf Elektromodelle setzen – aber die Diesel-Bestandsfahrzeuge bleiben noch lange im Einsatz«, sagt Nastold. »Bis ein signifikanter Anteil der Flotten ausgetauscht und elektrisch unterwegs ist, wird es noch einige Jahre dauern.« Zudem seien Händler und Werkstätten noch nicht in der Breite auf E-Fahrzeuge eingestellt. In den Umstellungsprozess komme zwar jetzt eine neue Dynamik, sagt Nastold, »er wird aber dennoch Zeit und Geduld brauchen.«

Foto: Ihr Bäcker Schüren

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FUHRPARK ELEKTRO-TRANSPORTER


ANZEIGE GRÜN UNTERWEGS: Mercedes-Benz Trucks will spätestens ab 2039 nur noch CO2-neutrale Fahrrzeuge auf den Markt bringen. Den Anfang macht der eActros – hier ein Prototyp, der noch dieses Jahr vorgestellt und verkau uft werden soll.

Das Lauteste ist der Blinker beiim neuen Truck von Merccedes-Benz »Ich lass mal den Motor an«, sagt Didier Dischkewitz. Er drückt auf die silbergraue Start-Taste und es passiert – nichts. Oder doch? Verschmitztes Lächeln. »Als wäre der Motor gar nicht an«, so leise schnurrt der 25-Tonner. Dischkewitz biegt ab, muss schon wieder lächeln: »Das Lauteste am eActros, das ist der Blinker.« Der eActros ist der Elektro-Lkw von Mercedes-Benz. Dieses STADTTAUGLICH: Der eActros wird vor allem für den Verteilerverkehr in Städten eingesetzt. Seine Reichweite liegt weit über 200 Kilometer – auch voll beladen und bei widrigem Wetter.

Jahr geht er in Serie und revolutioniert den Lieferverkehr auf der Straße. Dort werden 85 Prozent der Güter höchstens 150 Kilometer weit transportiert – diese Strecken schafft der eActros locker. WENIGER EMISSIONEN Klar ist: Je mehr E-Trucks unterwegs sind, desto besser für das Klima. Der eActros senkt neben CO2- auch Lärmemissionen: Er ist flüsterleise. So können etwa Supermärkte

auch nachts beliefert werden – die E-Trucks stören keinen noch so leichten Schlaf. SPEDITEURE NEHMEN ABSCHIED VOM DIESEL Damit Spediteure sich auf elektrisch angetriebene Trucks einlassen, müssen allerdings Zahlen und Infrastruktur stimmen. »Unsere Kunden wollen bei Alltagstauglichkeit, Tonnage und Reichweite ihrer Lkw keine Kompromisse eingehen«, sagt Martin Daum, CEO von Daimler Trucks. Aus diesem Grund wurde der eActros über zwei Jahre lang bei verschiedenen Unternehmen getestet – und Didier Dischkewitz für Schmitt Logistik zum Testpiloten. Das Feedback der Kunden hat

Mercedes-Benz Truckss auch genutzt, um zum Start der Serienproduktion des eActros passende e-spezifische digitale Dienste und ein umfassendes eConsulting anzubieten. Schon in wenigen Jahren könnte jeder dritte Lkw auf den eher kurzen Strecken mit Strom angetrieben werden. Und 2024 soll der eActros LongHaul mit einer Reichweite von 500 Kilometern auf den Markt kommen. Bei anspruchsvollen mehrtägigen Touren setzt Mercedes-Benz Trucks auf Antrieb per Brennstoffzelle, der GenH2 Truck schafft mehr als 1000 Kilometer. Das ist durchaus mehr als eine ferne Zukunftsvision: Erste Testpiloten für den GenH2 werden für 2024 gesucht.

Erfahren Sie, wie sich Mercedes-Benz Trucks vom Diesel verabschiedet: www.mercedes-benz-trucks.com


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UNTERWEGS MIT  ... OLIVER FIECHTER

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Die Feuertaufe

Oliver Fiechter hat sich ein Modell ausgedacht, die »Ökonomie 3.0«. Jetzt will er seine Theorie erstmals in der Praxis anwenden – mit FFP2-Masken

Foto: Katharina Lütscher

VO N JA NA LU C K

Als Oliver Fiechter an einem Dienstag Anfang März zum ersten Mal die Maschine sieht, die Atemschutzmasken produzieren und auf diese Weise sein theoretisches Modell in gelebte Praxis übersetzen soll, jene Maschine also, von der jetzt quasi alles für Fiechter abhängt, da funktioniert: nichts. »Herr Fiechter, möchten Sie auf den Startknopf drücken?«, fragt der Chef der Firma Xenon Automation, die Fiechters Maschine nach dessen ­Ideen hier in Dresden gebaut hat. Fiechter drückt, die Maschine läuft an; aber nur für ein paar Sekunden, dann leuchtet ein Licht rot auf, die Maschine stoppt Laufbänder, Walzen und Spulen. Männer beugen sich hinab, einer öffnet eine Tür, dann sehen es alle: Eine Schweißspule hat ein Loch in eine Maske gerissen. Man befinde sich noch in der Erprobung, sagt der Xenon-Chef und tänzelt nervös von einem Fuß auf den anderen. Oliver Fiechter lächelt, aus seinem Rucksack ragt ein Prototyp seiner FFP2-Maske mit der roten Ohrschlaufe, die sein Markenzeichen werden soll. Ganz leise sagt er: »Sehen Sie, die Maschine funktioniert wunderbar, man muss sie bloß eben alle 15 Sekunden anhalten.« Oliver Fiechter nennt sich selbst Wirtschaftsphilosoph. Bevor der 49-Jährige ins Maskengeschäft eingestiegen ist, hat er das ISG Institut in St. Gallen gegründet. Unternehmensberatungen vertrauen auf die Expertise seiner Denkfabrik, Fiechter schreibt intellektuelle Bücher über die Trans­for­ma­ tion der Wirtschaft. Er sagt mit Stolz, er sei noch nie in seinem Leben angestellt gewesen. Und wenn man ihn in diesen Zeiten begleitet, dann merkt man: Im Moment ist er mehr Unternehmer denn je. Er verfolgt ein

Vom Philosophen zum Produzenten: Oliver Fiechter, 49

Projekt, das geeignet ist, seine ­Ideen zu veredeln – oder scheitern zu lassen. Mit den Masken will Fiechter seine Theorie einer »Ökonomie 3.0« umsetzen, über die er ein theoretisches Buch namens Die Wirtschaft sind wir! geschrieben hat: Der Besitz eines Unternehmens soll dezentralisiert werden, Kunden und Mitarbeitende sollen Miteigentümer werden. Das Modell soll eine neue Gesellschaftsordnung möglich machen. Durch eine Wirtschaftsform, die auf mehr Teilhabe beruht, also sozialer, umweltverträglicher und gerechter sein soll. Die FFP2-Masken will Fiechter deswegen dezentral und vollautomatisch herstellen lassen. Und er will zeigen, dass man sie zu

fairen Preisen verkaufen und trotzdem daran verdienen kann. Fiechter will seiner abstrakten Idee eine konkrete Form geben. Dafür hat er sich bei Banken und Investoren einen zweistelligen Millionenbetrag besorgt, sagt er. Aus seinem Vermögen stecke er weitere 1,28 Millionen Euro in das Projekt. Wenn er beiläufig seine Ärmel hochschiebt, dann fallen seine Tattoos auf. Sie zeigen Kierkegaard und den Dichter Rimbaud, Liedzeilen von Bob ­Dylan und einige Worte eines Gedichts, das er selbst geschrieben hat. Fiechters Arme sagen: Ich bin in erster Line ein Philosoph. Im Frühjahr 2020 bietet sich dem Philosophen eine ­ Chance, anzupacken. Ein Freund lädt ihn in eine Chatgruppe ein, in der Händler aus aller Welt Geschäfte mit Masken vereinbaren und über Preise feilschen. Fiechter beteiligt sich, verdient als Zwischenhändler mit. Doch was er gesehen habe, habe ihn erschreckt, erzählt Fiechter heute: dass mit Produkten, die Leben retten können, spekuliert werde. Im Juli steigt er deshalb wieder aus. Was er verdient hat, steckt er nun in sein eigenes Maskenprojekt. Fiechter glaubt, dass er die Masken in Europa genauso gut und günstig produzieren kann wie die Firmen in ­Asien; vor allem weil sein Modell keine Zwischenhändler vorsieht. Die Rohstoffe sollen komplett aus Deutschland stammen. Und wer die Maschinen ordert, die Fiechter bei Xenon in Dresden exklusiv herstellen lässt, soll dann pro produzierter Maske zahlen – nicht für die Maschinen, Rohstoffe oder die Wartung. Die Masken sollen Unternehmen entweder selbst verwenden oder über einen gemein­ samen Vertriebsmann weiterverkaufen. So


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UNTERWEGS MIT ... OLIVER FIECHTER

soll das Risiko für die Hersteller überschau­ bar bleiben, ihr Umsatz und ihre Kosten sollen im Gleichschritt wachsen. Zugleich sollen die Kunden faire Preise zahlen. Sechs Wochen nach dem Besuch in Dresden laufen die Maschinen. Fiechter landet auf dem Dortmunder Flughafen, er sucht jetzt Abnehmer für sie. Deswegen hat er einen Privatjet gechartert und in einem Dortmunder Hotel einen Konferenzraum angemietet, seine Termine im Ruhrgebiet will er nicht per Video abhalten. Fiechter sagt, er wolle die Menschen treffen, nur so könne man abtasten, ob die Grundeinstel­ lung passt: »Die Leute müssen a­ ligned sein, nicht nur extrinsisch motiviert.« Was so viel heißen soll wie: Es sollte ihnen nicht nur ums Geld gehen, sondern auch um seine Philosophie. Damit seine Idee den Durchbruch schafft, braucht Fiechter, der Denker, einen Anpacker. Ausgesucht hat er einen Mann, den er heute als Ersten in dem Hotel trifft, er heißt Jochen Richter. Richters Locken fallen bis in den Nacken, den oberen Hemdknopf hat er geöffnet, darunter ist ein Goldkettchen­ sichtbar. Wenn er spricht, schwingen seine Hände in großen Kreisen mit. Ein Gegenpol zum ruhigen Fiechter in Slippern und Kaschmirpullover. »Du gehörst noch zu de­ nen, die beim Verkauf über den Tisch an­ fangen zu weinen«, sagt der zu Richter. Der lacht und nickt, ja, er habe in seinem Leben alles verkauft, was man verkaufen kann. Zu­ letzt Versicherungen, Kredite, Immobilien. Jetzt also Masken. Richter soll dafür sor­ gen, dass sich deren Hersteller in Fiechters Modell nicht unterbieten; dazu soll er mit ihnen einheitliche Absprachen treffen. Für 2 bis 2,5 Cent pro Stück sollen sie die Masken produzieren und für 5 bis 7 Cent an seine Vertriebsfirma verkaufen. Die Masken will Fiechter dann ohne weiteren Zwischen­ händler für 45 bis 70 Cent an größere­ Kunden weiterverkaufen, an Krankenhäuser, Arztpraxen oder auch Malerbetriebe. Der Fachhandel soll seine Maske mit der roten Ohrschlaufe für rund 60 Cent einkaufen können, so sei ein Endverkaufspreis von un­ ter einem Euro in Apotheken oder Drogerien möglich. Ein Cent pro Maske soll an soziale Projekte fließen.

Fiechter hat also den Wettbewerb in sei­ nem Modell ausgeschaltet, damit es nicht an der Realität zerschellt. Er sagt: »Man darf nicht so sehr in seine eigene Theorie verliebt sein, dass man sie nicht anpassen kann.« Aber man darf sehr wohl so verliebt in sie sein, dass man ganz groß denken kann. Fiechter lehnt sich zurück und erzählt, dass er bis zum kommenden Herbst ein europä­ isches Versorgungsnetz mit 50 Maschinen aufbauen will. »Die fertigen bei einer Pro­

»Man darf nicht so sehr in die eigene Theorie verliebt sein« Oliver Fiechter

duktivität von 80 Prozent im Zweischicht­ betrieb 50 Millionen Masken pro Monat«, rechnet Fiechter vor. Dann lehnt er sich vor und lächelt. »Das ist eine Maskenmission, oder?«, fragt er Jochen Richter laut. »Ja­ wohl!«, sagt der und grinst zurück. Wie viel Geld ihm das Monat für Monat bringen würde, verrät Fiechter nicht. Jetzt muss er Partner auswählen. Er trifft sie alle im Dortmunder Hotel. Gegen 13.30 Uhr greift Fiechter eine FFP2-Maske und geht aus einem Konferenzraum hinüber in die Lobby. In einer Ecke sitzt ein Mann, der nicht namentlich genannt werden will. Er hat mal Kinderkleidung produziert, dann aber Insolvenz angemeldet, wie er erzählt. Jetzt will Fiechter ihn davon überzeugen, seine Maschinen zu bestellen und in die Maskenproduktion einzusteigen. Fiechter lässt sich in den Sessel gegen­ über fallen, fängt an zu erzählen, sagt Sätze wie: »Der Dialekt kommt aus der Schweiz, der Rest ist aus Deutschland.« Man merkt seinen Sätzen an, dass er sie schon hundert­ fach wiederholt hat. Als der potenzielle Kunde fragt: »Was ist, wenn alle geimpft sind und keiner mehr eine Maske braucht?«, antwortet Fiechter: »Das ist meine Lieblingsfrage!«

Fiechter lehnt sich vor, seine Stimme klingt jetzt wach: »Wir alle haben Maske gelernt. Sie ist salonfähig geworden und wird bleiben«, sagt er. »Ich bin sicher, dass es demnächst neue Anwendungsfelder geben wird. Für Pollenallergiker etwa.« Dann schwärmt er von der Größe des Markts allein in Europa. Ja, sagt sein Gegenüber, er habe Interesse: »Ihre Vision hat mir sehr gefallen.« Nach den Verhandlungen mit dem Un­ ternehmer braucht Fiechter eine Pause. Zeit für einen Spaziergang, Zeit für Reflexion. Im Wald hinter dem Hotel macht Fiechter klar, dass es ihm nicht nur um Masken geht. Er will sein Konzept übertra­ gen – dass Firmen an verschiedenen Orten auch andere Produkte mit seinen Maschinen und seinem Modell herstellen, Tampons und Kontaktlinsen etwa, »günstig, sozialund umweltverträglich«. Das gelinge aber nur, wenn er es schaffe, »unversehrt aus dem Maskenprojekt wieder rauszukommen«. Es ist 15.50 Uhr, als Fiechter wieder im Hotel eintrifft. Aufgeregte Mitarbeiter be­ grüßen ihn, man suche ihn bereits, der nächste Termin ist fast eine Stunde über­ fällig, der Gesprächspartner warte bereits. Fiechter bleibt ruhig: »Ich bin gelassen, glaub ich, aber sehr getrieben.« Der nächste potenzielle Kunde handelt bereits mit Masken. Jetzt überlegt er, sie auch selbst zu produzieren. Er beklagt, wie traurig es sei, dass die meisten Unternehmer immer nur reagierten, dabei müsse man in Europa Vordenker sein. Fiechter sitzt jetzt sehr gerade auf seinem Stuhl, hört aufmerk­ sam zu. Vordenker, das will er ja sein. »Dass wir mit den Maschinen sehr viel Geld ver­ dienen können, ist klar, das haben wir er­ rechnet«, sagt er wie beiläufig, »aber das ist nicht die Idee. Wir reden über Werte und Fairness. Das ist es, was mich beflügelt.« Es ist kurz vor 18 Uhr, gleich startet der Privatflieger nach St. Gallen, das Taxi wartet vor der Tür. Die Gespräche in Dortmund sind gut gelaufen, die Unternehmer wollen mitmachen. Morgen geht es nach Madrid, Fiechter reist durch Europa, trifft potenzielle Kunden, besucht Fabriken. Damit aus den großen Visionen des Denkers und der Ener­ gie des Anpackers mehr wird als ein großes Luftschloss. Sicher ist das noch nicht.


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DIE ERFINDUNG MEINES LEBENS

Daniel Hannemann (links), Simon Schandert und einer ihrer Energiespeicher

Die Powerjungs aus Wittenberg Zwei Gründer aus Sachsen-Anhalt haben Großbatterien entwickelt, die Energie effizienter speichern können VO N CA RO LYN B RAU N

Die Idee Seit 2002 beschäftigt sich Schandert mit Fotovoltaik. Damals bittet ihn sein Vater, sich mal einzulesen: ob diese Technik halte, was sie verspricht? Ja, recherchiert der damals 13-jährige Sohn. Nach einer Lehre zum Elektrotechniker studiert er Wirtschafts­ ingenieurwesen und konzentriert sich auf die erneuerbaren Energien. Genauer: ihre Speicherung. Denn Sonne und Wind erzeugen mal mehr, mal weniger Energie, als gerade gebraucht wird. Ohne gute Speicher müssen die Energieversorger die Lücken mit Strom aus Braunkohle oder Atomkraft füllen.

Die Marktlücke Doch mit den gängigen Verfahren gehen damals noch bis zu 50 Prozent der Energie verloren, wenn man sie wieder aus den Speichern ins Stromnetz speist. Für Schandert ein Irrsinn. Und die C ­ hance für eine bessere, klügere Speichertechnologie. Drei Jahre tüftelt er. Grob vereinfacht bestehen Batterien aus mehreren Zellen, jede mit unterschied­ lichem Ladestand. Um den auszugleichen, bauen Hersteller Widerstände ein, verbrennen also bewusst Energie, um alle auf die gleiche Spannung zu bringen. Schandert entwickelt eine Lösung aus Hard- und Soft­ ware, mit der die Zellen mit­ein­an­der kommunizieren und ihre Energie austauschen, bis alle gleich stark geladen sind. Laut Tesvolt liegt die Speichereffizienz der eigenen Batterien damit bei 98 Prozent und mehr, während die der Konkurrenz auch heute noch mindestens zehn Prozent Energie verbrennen. Zweifler und Förderer Simon Schandert ist Techniker und Wissenschaftler, ihm fehlt ein Unternehmer an seiner Seite. Also tut er sich mit Daniel Hannemann zusammen. Der hat schon eine Solar-

firma geführt, die beiden kennen sich aus Schultagen. 2014 gründen sie Tesvolt und gewinnen danach reihenweise Preise für ihre Speichersysteme, die so viel besser als die der Konkurrenz sein sollen. Im Jahr 2017 fragt der koreanische Elektronik-Hersteller Samsung an, um die Wittenberger mit vorgefertigten Batteriemodulen zu beliefern, aus denen Tesvolt mit Chips und Soft­ware intelligente Speicher macht. Das Land SachsenAnhalt steigt als Investor ein. Der Erfolg »Wir waren einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, sagt Schandert. Zu seinen Kunden zählen Firmen wie Siemens, aber auch der Deutsche Alpenverein, der eine Hütte mit den Speichersystemen versorgt. 2200 Projekte weltweit hat Tesvolt um­ gesetzt, der Umsatz sich von Jahr zu Jahr verdoppelt. Und die Firma mit ihren 87 Mitarbeitern bleibt unabhängig: »Unsere Intention war es nie, das Unternehmen zu verkaufen und uns dann auf die faule Haut zu legen«, sagt Schandert. Es gehe ihnen schließlich darum, die Energiewende voranzubringen. Schandert hat nämlich zwei kleine Kinder.

DIE NÄCHSTE AUSGABE VON ZEIT FÜR UNTERNEHMER ERSCHEINT AM 15. SEPTEMBER 2021

Foto: Dirk Bruniecki

Die Irritation Simon Schandert ist sechs Jahre alt, als er zum ersten Mal eine Steckdose abklemmt. Das gehört sich auch so, denn seine Eltern haben eine Elektro-Installationsfirma in Zahna-Elster in der Nähe von Wittenberg. Übrigens »die größte in der Region«, wie der Sohn heute noch stolz betont. Schandert ist inzwischen 32, selbst Unternehmer, seine Firma heißt Tesvolt – benannt nach Nikola Tesla und Alessandro Volta, den Pionieren des elektrischen Zeitalters. Das passt.


29. und 30. Juni 2021

15+ Vorträge

15+ Aussteller

8 Live Keynotes

#dwfdigital

digitales Networking

» Das virtuelle Networking-Event für den Mittelstand » Themenschwerpunkte: Unternehmertum, Digitalisierung und New Work » Hochkarätige Sprecher:innen aus Politik und Wirtschaft Die Wirtschaft befindet sich im Wandel und das in einem für manche Betrachter atemberaubenden Tempo. Corona sorgte für eine Rezession, Disruption sorgt für eine kürzere Haltbarkeit von Geschäftsmodellen, Verbraucher wollen nachhaltige Produkte, Mitarbeiter fordern neben einem guten Einkommen einen erkennbaren Sinn des Unternehmens. Auch in diesem Jahr findet das Deutsche Wirtschaftsforum digital am 29. und 30. Juni 2021 statt. Thematisch werden wieder die großen Themen von der Pandemie und ihren Auswirkungen über die Digitalisierung bis hin zu New Work und (nachhaltigem und verantwortungsvollen) Unternehmertum von erstklassigen Sprecher:innen abgedeckt. Außerdem gehören praktische Exkurse, Breakout-Sessions und die virtuellen Ausstellungsstände unserer Veranstaltungspartner zum Angebot des Deutschen Wirtschaftsforums digital.

Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.convent.de/dwfdigital Veranstalter:

Förderer: DEUTSCHE PRIVATE EOUITY

MINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT, VERKEHR, LANDWIRTSCHAFT UND WEINBAU

Stand: 8. Mai 2021


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