ZEIT für Unternehmer 2/25

Page 1


DIGITALE SOUVERÄNITÄT

Wie man sich von amerikanischer Software unabhängiger machen kann

Der Anti-Musk

Der Tesla-Chef hat die Abrissbirne durch Washington geschwungen, während der Gemeinwohl-Unternehmer Philipp von der Wippel in Berlin aufs Gegenteil setzt: Mit Verbündeten in Behörden und Politik baut er den Staat von unten neu auf

Das E-Klasse T-Modell für Geschäftskunden.

Das neue E 200 d T-Modell mit MBUX der neuesten Generation lernt Ihre Vorlieben und erstelltpersonalisierte Routinen, die Sie im Alltag unterstützen Egal, ob esIhr Lieblingssong auf dem Weg zur Arbeit ist oderein beheizter Fahrersitz im Winter:

Das E-Klasse T-Modell weiß,was Sie wollen

Mehr zu unserem Geschäftskundenprogramm aufmercedes-benz.de/geschaeftskunden .

Jetzt mehr erfahren

Mercedes-Benz E 200 d T-Modell | Energieverbrauch kombiniert: 5,6‒4,9 l/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: 146‒129 g/km; CO₂-Klassen: E–D1

¹Die angegebenen Werte wurden nach dem vorgeschriebenen Messverfahren WLTP (Worldwide harmonised Light-duty vehicles Test Procedures) ermittelt Der Energieverbrauch und der CO₂-Ausstoß eines Pkw sind nicht nur von der effizienten Ausnutzung des Kraftstoffs bzw des jeweiligen Energieträgers durch den Pkw, sondern auch vom Fahrstil und anderen nichttechnischen Faktoren abhängig Abbildung enthält Sonderausstattungen

Kennen Sie schon unseren Newsletter?

Abonnieren Sie ihn hier:

Über diese Ausgabe

Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Heft geht es darum, wie sich die deutsche Stagnation überwinden lässt. Wir beschreiben innovative Unternehmen, die nachhaltig bauen und produzieren – einfach weil sie das für ihre Zukunft halten. Wir berichten von unternehmerischen Geistern in Zivilgesellschaft und Bürokratie, die den Staat neu gestalten. Und unsere aktuelle Umfrage zeigt: Die Wirtschaft glaubt an den neuen Digitalminister, einen gelernten Topmanager. Alle zusammen holen uns aus dem Stillstand. Viel Spaß beim Lesen. Ihr Team von ZEIT für Unternehmer

www.zeitfuerx.de/unternehmer

TITELTHEMA

Staatsreform geht nicht nur von oben, aus Berlin. Unternehmer, Beamte und Bürgermeister zeigen, wie man kleine Lösungen groß macht 6

MITTELSTANDSSTUDIE

Trotz Wirtschaftskrise setzen sich viele Firmenlenker für gesellschaftliche Belange ein. Ihr Engagement hängt aber von einigen Faktoren ab 12

DIGITALE SOUVERÄNITÄT

Mail, Cloud, Videocalls: Wie man sich von US-Internetdiensten unabhängiger macht 16

KI-KOLUMNE

Wer sich ein Meinungsbild machen will, kann bald digitale Klone echter Menschen befragen 20

SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT

Klimaschutz steht gerade nicht sehr hoch im Kurs. Trotzdem halten viele Firmennachfolger daran fest –nicht nur aus Überzeugung 22

Ist es schon nachhaltig, wenn ein Modeunternehmen in Deutschland produziert, oder reicht das nicht? Zwei Generationen, zwei Meinungen 28

Das Lieferkettengesetz soll wieder abgeschafft werden. Aber ergibt das auch Sinn? 30

FOTOSTORY

Zu Besuch in einer der größten Gärtnereien Europas, wo Hightech auf zarte Pflänzchen trifft 34

GRÜNDER

Die Keimzelle einer neuen Digitalwirtschaft soll jetzt in Essen entstehen. Kann das klappen? 40

DIENENDE FÜHRUNG

Was passiert, wenn die Chefin eines Hotels statt ihrer Gäste die Mitarbeiter auf den Thron hebt 42

SOZIALE NETZWERKE

Ein Bäcker zeigt, wie man auf TikTok viral geht 46

KLIMACHECK

Ganz schön problematisch, wenn auf einmal die Kunden der Kunden mehr Nachhaltigkeit wollen 50

GESCHICHTE

Selbst 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollen nur wenige Mittelständler wissen, welche Rolle ihr Betrieb in der Nazizeit spielte 52

ARBEITSWELT

Ein Fensterbauer hat den Betrieb automatisiert. Nicht, um Menschen loszuwerden. Er will sie halten 56

DIE ERFINDUNG MEINES LEBENS

Eisenklumpen, die Wasserstoff speichern 60

EIN TAG MIT ...

der Notarin Sarah Nietner, die Firmen von der Gründung bis zur Liquidation begleitet 62

TO-DO-LISTE & IMPRESSUM 66

»Klimaschutz hat nichts mit Gutmenschentum zu tun« ANNIKA ROTH, SEITE 25

ließ diesen Unternehmer umdenken S. 22 Mit diesen und anderen Pflanzen macht eine Gärtnerei Millionenumsätze S. 34

Von Emsbüren bis Sebnitz

Wo die Firmen ihren Sitz haben, die in dieser Ausgabe vorkommen

Keine Safety ohne Security! DieIndustrie befindet sich im Wa ndel. Neben Safet ya ls funktionale Sicherheit für Mensch und Maschine ist Industrial Security zum Schutz vor Cyberangri ff en oder Manipulatio n unverzichtbar.M itarbeiter sollen sicher arbeiten können –und die Produktivität von Maschinen und Anlagen muss gewährleistet bleiben. Deshalbdenken wirbei Pilz ganzheitlich, von der Beratung bis zum Produkt. Füreine sichereAutomation IhrerProduktions-und Industrieanlagen.

Jetzt mehr erfahren!

Revolution von unten

Muss die Bürokratie sterben, damit der Staat leben kann?

Zu

Besuch bei Bürgermeistern, Beamten und Unternehmern, die Deutschland reformieren

Will man zur Keimzelle der Staatsreform gelangen, entsteigt man der U-Bahn am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte. Dort sind Zitate der großen Sozialistin in die Straße eingelassen wie »Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark«. Vorbei an der Volksbühne, kommt man zum KarlLiebknecht-Haus, benannt nach Luxemburgs Mitstreiter bis in den Tod anno 1919. Darin sitzt heute Die Linke. Ein paar Meter weiter geht es über die sechsspurige KarlLiebknecht-Straße direkt zu einem hässlich schlichten Bürohaus. Vorbei am Sicherheitsmann, ein paar Etagen mit dem Fahrstuhl, und man steht auf dem Flur von Project Together.

So urlinks die Gegend, so unideologisch die Organisation. Im Gemeinschaftsraum mit großer Küche sind drei Dutzend Leute in angeregte Gespräche vertieft – sie gehören zum Migrationsprojekt, das die gemeinnützige GmbH gerade mit dem Bundesinnenministerium vorantreibt. Sie haben selbst unterschiedliche Hautfarben und arbeiten für den Staat oder in der Gesellschaft daran, Migranten schneller und besser aufzunehmen, zu integrieren, in Jobs zu bringen.

Solche Lösungen sind gerade gesucht, da das stagnierende Deutschland einfallslos, träge und ineffizient wirkt. Die Bundesregierung hat sich deswegen »eine echte Staatsreform« vorgenommen und will »staatliche

WEntscheidungen, Prozesse und Strukturen modernisieren«. Dabei soll ein Unternehmer helfen: Karsten Wildberger (CDU), der frühere Chef des Handelskonzerns Ceconomy, ist nun Deutschlands erster Bundesminister für Digitales und Staatsmodernisierung. In der Wirtschaft selbst kommt das gut an: Acht von zehn Lesern dieses Magazins halten das Ministerium für eine gute Idee, ebenso viele sehen in Wildberger die richtige Person. Aber Staatsreform geht nicht nur von oben aus Berlin. Vielleicht geht sie sogar am besten von unten, aus der Mitte des Landes. Der Co-Chef und Erfinder von Project Together kommt mit seinem gewinnenden Lächeln den Flur hinunter: Philipp von der Wippel, 29, zwei Drittel Macher, ein Drittel Denker, ist ein zivilge sell schaftliches Gegenstück zu den Hightechgründern, die schon im Kinderzimmer an die Arbeit gehen.

Im Jahr 2012 brachte er als Austauschschüler in Großbritannien eine Gemeinschaftsinitiative für syrische Flüchtlinge auf den Weg. Zurück im heimischen München, gründete er mit Freunden Project Together. Später studierte er Politik und Wirtschaft in Oxford, arbeitete kurz in einer deutschen Stiftung und einem Ministerium, um sich dann der eigenen Organisation zu widmen, die heute etwa beim World Economic Forum weltweite Beachtung findet.

Philipp von der Wippel, 29,

Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung kostet die Bürokratie in Deutschland laut einer ifo-Studie jedes Jahr

Im Besprechungsraum versucht er Re:Form zu erklären, das Projekt für die Staatsreform, in dem Verwaltungsmodernisierer aus über 150 Kommunen, Ländern und dem Bund versammelt sind: »Der Staat funktioniert nicht mehr, wenn Versprechen von Politikern nicht oder nur mit großer Verzögerung eingelöst werden. Er sollte Ergebnisse schaffen, die die meisten Menschen insgesamt als gerecht empfinden.« Doch derzeit, fährt von der Wippel fort, gebe es zu viele Gesetze mit zu vielen Detailregelungen. »Daraus erwachsen Klagerechte – bis alles zum Erliegen kommt.«

Die Bürokratiekosten der Unternehmen verteilen sich so auf verschiedene Regulierungsbereiche:

Versicherungen und Finanzen Arbeitsmarkt und Soziales

Verbraucherschutz

Sonstiges

49 Prozent

beträgt die Staatsquote in Deutschland. Sie gibt das Verhältnis der Staatsausgaben zum BIP wieder. Deutschland liegt damit in der EU im Mittelfeld

Demnach sind nicht die Bürokraten das Problem, sondern die Paragrafen. »Bürokratie ist eigentlich eine Errungenschaft«, sagt der Sozialunternehmer. »Man muss eher Gesetze ändern oder abschaffen als Bürokraten. Sonst kommt es nur zu Chaos und neuer Unzufriedenheit.« Aus dieser Sicht ist der Tesla-Chef und Trump-Freund Elon Musk, der die Abrissbirne durch den USStaat schwingt, auf dem falschen Weg. Zerstört man wie er den Staat, entsteht ein Vakuum, Bürgerrechte werden nicht mehr durchgesetzt, und die Demokratiegegner erhalten Zulauf.

Das heißt nicht, dass eine echte Staatsreform nur nett ist. Mehr Wirkung und Ergebnisorientierung? Unbedingt. Mehr Ausprobieren von Lösungen und schnelle Anpassung? Na klar. Mehr Konzentration auf das Kernproblem und Bereitschaft zum kalkulierten Risiko? Absolut. Vorgehensweisen aus der Privatwirtschaft sind erwünscht. Aber auch die Erkenntnis, dass der Staat und seine Reformer eben nicht wie private Unternehmen sein können. Firmen optimierten im Wettbewerb die Lösungen für ganz spezielle Probleme, sagt Philipp von der Wippel, während beim Gemeinwesen kollektives Handeln mit anderen gefragt sei. »Wir brauchen einen Staat, der breite Allianzen aus allen Teilen der Gesellschaft schmieden kann, um gemeinsam ehrgeizige Ziele zu erreichen. Auf diese Weise machen wir neue Dinge vor und entwickeln Methoden, die sich dann durchsetzen.« Was so allgemein daherkommt, wird schnell konkret, wenn Bürger, Unternehmer und Bürokraten ihre Erfahrungen zusam-

menbringen. Bei der Einwanderung von Fachkräften etwa, so berichtet es von der Wippel. Das Ziel, die Leute binnen drei Monaten im Job zu haben, sei gut und schön gewesen – aber dann dürfe es für den ersten Job nicht zwei Prüfungen geben, eine im Jobcenter und eine in der örtlichen Verwaltung. Oder das Versprechen der Ampelregierung, dass 400.000 neue Wohnungen im Jahr entstehen sollten. »Der veraltete Staat hat mit komplizierten Vergabe- und Planverfahren hantiert, und die Fördermittel wurden nicht abgerufen.« Am besten teste man mögliche Lösungen vorab kurz in einzelnen Kommunen. Dann könne man auch sehen, welche Regeln man wirklich abschaffen kann – so wie, um noch ein Beispiel zu nennen, Denkmalschutzprüfungen bei der Installation von Solardächern.

Das Vorgehen ist Design-Thinking für den öffentlichen Raum. Gemeint ist der Austausch mit Kunden, Bürgerinnen, Unternehmern, um deren Probleme erst zu verstehen, Lösungen zu finden, diese als Prototypen zu testen und dann weiterzuentwickeln. Mitten in der Hamburger Bürokratie, dort, wo man es wirklich nicht erwarten würde, sind sie längst auf dem Weg.

Die Kasse Hamburg liegt unauffällig in einem modernen Bürogebäude im Stadtteil Bahrenfeld inmitten anderer moderner Bürogebäude. Eine Mitarbeiterin am Empfang hält den Hausausweis bereit und heißt den Besucher willkommen. Sie kommt wie einige Kollegen von den Elbe-Werkstätten, die Bildung und Arbeit für Menschen mit Behinderung bereitstellen. Auch ukrainische Kriegsflüchtlinge wurden nach kurzem Auswahlprozess flugs eingestellt. Tempo ist ein großes Thema in Bahrenfeld, auch wenn es zunächst nicht so wirkt.

Der Kassenleiter Jan Schönrock wartet mit seinem Stellvertreter und dem Digitalkoordinator zurückgelehnt im Besprechungszimmer. Den Kaffee haben die mittelalten Beamten heute selbst gebraut, die Kekse auf den Tisch gestellt, die Küchenkräfte sind heute im Workshop. Kein Mensch käme auf die Idee, dass hier Revolutionäre am Werk sind.

»Wir sind die langweiligste Einheit der Stadt«, sagt Jan Schönrock mit leichtem

Lächeln. Geld einnehmen, Geld auszahlen, das klingt simpel genug. Aber schon im Jahr 2012 haben sie hier ein digitales System für die Kasse gebaut. Also bekamen sie neben dem Zahlungsverkehr weitere städtische Aufgaben wie die Buchhaltung hinzu. Sie führten die doppelte Buchführung flächendeckend ein, damit jederzeit ersichtlich ist, welche finanziellen Mittel wohin fließen oder noch einsetzbar sind. Sie vereinten digitale und papierne Vorgänge, indem sie Briefe und Bescheide systematisch scannen und elektronisch aufnehmen ließen.

Was vielleicht wichtiger war: Die Experten von der Kasse entwickelten einen Prozess für Digitalisierungen. Immer arbeiten dabei Leute aus der jeweiligen Fachabteilung und die hauseigene »Digitalfabrik« zusammen, bis die fragliche Verwaltungsaufgabe von allen verstanden wird. Mithilfe externer Programmierer wird ein einfacher Prototyp entwickelt, getestet und verfeinert. Dieser Designprozess schweißt die Beteiligten zusammen und erlaubt ihnen, jenseits von Perfektionsansprüchen »erst mal fünf gerade sein zu lassen«, wie man hier sagt. »Dadurch können wir sehr schnell sein«, erklärt der Chef und greift zu seiner Kaffeetasse.

So wie nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, als auch diejenigen Haushalte Heizhilfen erhalten sollten, die ihre Energie nicht über Leitungen beziehen, sondern etwa Öl, Kohle oder Holzpellets in den Keller geliefert bekommen. Die Hamburger entwickelten schon Ende 2022 eine Lösung, bei der die Menschen den Zuschuss auch online beantragen konnten und schnell erhielten. 13 Bundesländer schlossen sich an, und für die fünf Nordländer übernahmen die Hamburger Pioniere sogar die Sachbearbeitung. Die drei Männer kennen das schon aus der Pandemie: In der Not geht viel. Sonst aber kann es für sie sehr schwer werden, etwas zu verändern.

Deshalb ist an diesem Maitag mindestens so viel von systematischen Hürden die Rede wie von digitalen Systemen. In vielen Ämtern gilt man immer noch am meisten, wenn man eine Menge Leute unter sich hat, seinen Machtbereich schützt und sich hinter Regeln verschanzt. Da wirkt es wie ein Angriff, wenn Reformer von Agilität spre­

chen und unter dem Motto »Einfach mal machen!« den Beamten mehr Freiheiten geben wollen. »Obwohl ja hier keiner rausfliegt, schafft das erst mal große Sorgen«, hat Jan Schönrock auch von seinen Leuten erfahren. So sei etwa der Widerstand gegen das Abschaffen von Papier riesig gewesen. Erst als die Mitarbeiter merkten, dass dadurch vieles schneller ging und sie nun mehr Zeit für die Sachfragen hatten, sei das Meckern in Begeisterung umgeschlagen. Der Kulturwandel ist auf dem Weg. Doch die schwierigsten Probleme entstehen ohnehin weiter oben in der Entscheidungspyramide. Aus Sicht von Schönrock und seinem Team kommen vom Bund zu viele Regeln, die dann in Ländern und Kommunen auch noch unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt werden. Warum etwa, so fragen sie sich, ist es immer noch nicht erlaubt, bei einer Zwangsvollstreckung alle Anträge und Aufträge digital zu erledigen? Oder das: Warum machen zwei Bundesländer bei der technischen Lösung zu Bezahlkarten für Asylbewerber nicht mit, und andere legen die gemeinsamen Prinzipien unterschiedlich aus? Mehr Zentralisierung ist demnach so wichtig wie weniger Gesetze, damit die Neuerung nicht immer wieder ausgebremst wird. »Die Technik ist nie das Problem«, sagt Schönrock. »Eine digitale Lösung gibt es immer. Sie sollte aber einheitlich sein und nicht unterschiedlich in 16 Ländern.«

Es ist nicht anders als in Unternehmen: Schaltet ein Amt auf Veränderung um, entdecken seine Beamten überall Ineffizienzen. Karsten Wildberger sollte vermutlich auf einen Kaffee und Kekse in HamburgBahrenfeld vorbeischauen. Bei seiner kurzen Antrittsrede im Bundestag forderte der neue Minister unter anderem weniger Verwaltung. Doch von den Kassenleuten nimmt man mit: Mindestens so wichtig, wie Bürokratie abzubauen, ist es, all ihren kenntnisreichen Mitarbeitern Anreize für schnelles Handeln, Ausprobieren, Evaluieren zu geben – und ihnen gezielt die größten Hürden aus dem Weg zu räumen.

Dafür braucht auch die Spitze der staatlichen Pyramide einen neuen Prozess. Traditionell geht das Gesetzgeben nämlich so: Das zuständige Ministerium gibt Eckpunkte

»Es braucht eine Verwaltung, die den Bürgern sowie den Unternehmen schnelleren, einfacheren Service und bessere Dienstleistungen anbieten kann«

Karsten Wildberger Der Minister für Digitales und Staatsmodernisierung forderte in seiner Antrittsrede im Deutschen Bundestag weniger Verwaltung 25 %

weniger Bürokratiekosten für die Wirtschaft will die neue Bundesregierung erreichen

Im Jahr 2024 bewerteten

Familienunternehmer die bürokratische Belastung durch Vorgaben der EU so:

gesunken Gesunken

geblieben Gestiegen

gestiegen Weiß nicht

»Viele

Dinge dauern zu lange«

Ulf Kämpfer

Der Kieler Oberbürgermeister meint, dass Kommunen zu viele Vorschriften befolgen und zu viele Voraussetzungen erfüllen müssten.

In der Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein hat er deswegen einen pragmatischen Ansatz gewählt, um schnelle Lösungen für Probleme zu finden: eine Einheit, die überall zu Hilfe kommen kann

vor, die ein Referent in einen Entwurf verwandelt. Der wird dann in Koalitionen und Parlamenten verhandelt, verändert, verabschiedet – und geht ohne Testung im Land oft an der Realität vorbei. Ein neues Medikament dürfe niemand einfach auf den Markt schmeißen, ohne es zu testen, sagt Philipp von der Wippel in Berlin, warum dann ein Gesetz? Sonst sei es wie beim Mikado. »Man berührt was – und weiß nicht, was alles mit runterfällt.«

Von der Wippel hat zwei Jahre Vorsprung auf Wildberger. Im Sommer 2023 hat seine Organisation mit Re:form begonnen. Ministerialbeamte aus Berlin sind dabei, Landesministerinnen, Fachreferenten. Und Städte wie Kiel mit seinem Oberbürgermeister Ulf Kämpfer. Mitte Mai sitzt der SPD­Politiker an einem Tisch in seinem großen, holzvertäfelten Büro und blickt fürs Videogespräch in die Kamera.

Elf Jahre macht er den Job jetzt und hat einiges vorzuweisen. Zum Beispiel die »FlexUnit«, die kommt, wenn es irgendwo in der Verwaltung eng wird, weil neue Gesetze umzusetzen sind, der Strom der Flüchtlinge anschwillt oder eine Pandemie wütet. Bis zu 50 Stellen hat Kiel dafür umgewidmet, Teammitglieder eilen dann für ein Vierteljahr oder länger den Fachkollegen zu Hilfe. Die Unit weckt so viel Interesse, dass ihr Leiter sie im Juni auf dem Creative Bureaucracy Festival in Berlin­Kreuzberg vorstellt.

Im Prozess »Kiel einfach machen« hat die Stadt 6.000 Beschäftigte befragt, was sie hemmt und welche Vorgaben, Verfahren, Vorschriften vereinfacht werden können. 200 Einsendungen wurden von Beamten und Politikerinnen ausgewertet, die besten prämiert. Jetzt geht es damit zu den Betroffenen – Bürgerinnen und Bauinvestoren, Sport­ und Schützenvereinen.

In der Not hat Kiel den Charme der Flexibilität entdeckt. Um mit dem Fachkräftemangel fertigzuwerden, holt die Küstenstadt systematisch Quereinsteiger in die Verwaltung. Eine ehemalige Optikerin ist jetzt Chefin des Bürgeramts, wie Ulf Kämpfer stolz berichtet. Und ein langjähriger Redakteur der Kieler Nachrichten leitet das Referat für Wirtschaft. Doch der Bürgermeister redet auch von Frust, »weil viele

Dinge zu lange dauern«. Kommunen müssten zu viele Vorschriften befolgen und zu viele Voraussetzungen erfüllen – vom Bund, von der EU und oft vom eigenen Land. Lange habe er mit Schleswig­Holstein gerungen, damit seine Stadt keine Anrainergebühren mehr für den Straßenbau erheben muss. Für ihn war das einfach eine KostenNutzen­Frage. Nur 1,5 Millionen Euro seien dadurch jährlich in die Kasse gekommen, ein Klacks, gemessen am gesamten Budget von über einer Milliarde Euro. Dafür habe es aber Ärger mit aufgebrachten Bürgern gegeben, die sich laut beklagten und gegen die Stadt vor Gericht zogen. Heute sei da Ruhe, und die sechs Leute von der Gebührenstelle erfüllten andere Aufgaben.

Ulf Kämpfer hat eine Theorie. Demnach glauben viele Bürger, dass die Stadt und insgesamt der Staat es nicht mehr schafft, die Probleme in ihrem Alltag zu lösen. Also muss man ihnen das Gegenteil wieder und wieder beweisen. Seine Partei, die SPD, gewinnt laut Kämpfer gegen Populisten, wenn sie effizient regiert und das Vertrauen in die Politik stärkt – »wie in RheinlandPfalz, Niedersachsen oder Hamburg«. Das heißt, den Staat zu reduzieren, wo er wenig ausrichtet, und ihn stark zu machen, wo er viel für die Menschen bewegen kann. Dann, sagt Kämpfer, könne man diese auch mit in die Verantwortung nehmen. Sie seien nämlich »Mitverursacher dieser saturierten VetoGesellschaft, in der alle blocken und das Gemeinwohl abnimmt«.

Im Jahr 2026 ist für Ulf Kämpfer Schluss. Der Oberbürgermeister will Spitzenkandidat der SPD für die Landtagswahl 2027 werden. Als Ministerpräsident könnte er beweisen, dass er es ernst meint mit der Stärkung der Kommunen, und seinem Land dann selbst so manche Kompetenz entziehen. Weil ein anderer Staat nötig ist: Er folgt nicht den Bedürfnissen des öffentlichen Betriebs, sondern den Lebenslagen im Land. Er gehorcht nicht der Absicherungslogik, dass so viele Paragrafen geschrieben werden, bis man jedem denkbaren Einzelfall gerecht wird. Effizienter sind oft Pauschalregeln, bei denen vielleicht mal ein Mensch erfolgreich schummelt. Egal. Am Ende zählt der gesellschaftliche Nettonutzen. Punkt.

Mittelstand statt Stillstand!

Nach vorne schauen. #DasIstMirWichtig

Ob weltbekannte MarkeoderHiddenChampion. Der deutsche Mittelstand steht fürEigenschaften, dieden Unterschied machen. Sei es Denken in Generationen, Bestehen auf internationalerBühne oderAusbildung auf Top-Niveau. Höchste Ansprüche an einen Bankpar tnerzustellen,gehör tauch dazu. Deshalb sehen wirdie hohe Bereitschaf t, unsweiterzuempfehlen als Qualitätssiegel, das unsstolz macht und ein Ansporn für die Zukunf tist.

HeinerDettmer CEO DettmerGroup

Kur tZech CEO ZECH Group
Christopher Mennekes
CEOM ENNEKE SG rupp e

Am »Social Day« streifen auch Programmierer Handschuhe über

Meine Stadt soll schöner werden

Unsere große Mittelstandsstudie zeigt: Trotz Krise engagieren sich viele Unternehmer für die Zivilgesellschaft. Was versprechen sie sich davon?

VON JENS TÖNNESMANN

Manager dafür bezahlen, dass sie Hochbeete aufbauen und Blumenzwiebeln einbuddeln? Programmiererinnen dafür freigeben, dass sie Sitzbänke anstreichen? Anfang Juli soll in München genau das passieren: 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Softwareunternehmens Collaboration Factory aus der Stadtmitte wollen sich auf den Weg machen in die Hochhaussiedlung Neuperlach am Stadtrand. Genauer zum Hanns-SeidelPlatz, der »an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist«, wie es die Süddeutsche Zeitung formuliert. Das Team der Soft warefirma soll dort das Projekt »Neuperland« unterstützen, um den Platz zu einem lebenswerten Ort zu machen. »Da werden unsere Leute auch Dinge tun, die sie sonst ihr ganzes Leben nicht gemacht haben«, sagt Rupert Stuffer, »und sie werden wieder merken, wie viel Spaß es macht, anderen zu helfen.«

Stuffer, 62, ist der Gründer der Collaboration Factory und Chef von mehr als 170 Beschäftigten. 2018 hat er von der Initiative »Des mach ma« gehört, die Jahr für Jahr einen »Social Day« für die Münchner Wirtschaft organisiert. Unternehmen stellen an diesem Tag Mitarbeiter frei, die dann in ihrer Arbeitszeit sozialen Einrichtungen helfen. Einmal bauten Stuffers IT-Leute Spielgeräte

Mfür geflüchtete Kinder auf, ein anderes Mal renovierten sie den Eingangsbereich eines therapeutischen Mädchenheims. »Ich will nicht überhöhen, was wir machen«, sagt der Unternehmer. Aber er ist sicher, dass es der Belegschaft guttue, sich zu engagieren. »Und ich fühle mich dann besser«, sagt Stuffer. Rupert Stuffer ist nicht allein. Das zeigt die große Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung In guter Gesellschaft, deren Ergebnisse wir zum Teil im März präsentiert haben (siehe ZEIT für Unternehmer Nr. 1/25) und in dieser und den folgenden Ausgaben als Teil unserer Initiative »Deutschland gestalten« vorstellen. An der Befragung haben mehr als 1.000 Unternehmerinnen und Unternehmer teilgenommen. Die Hälfte gab an, sie unterstütze ihre Leute

dabei, sich ehrenamtlich zu engagieren. Dieser Anteil ist trotz knapper Arbeits- und Fachkräfte stabil: In einer ersten Umfrage vor drei Jahren lag er in etwa gleich hoch. In der Collaboration Factory beschränkt sich der Impuls nicht auf den Social Day: Laut der Personalchefin Anke Spichale bekommen Mitarbeiter auch mal einen Tag frei, wenn sie etwa als Betreuer ein Pfadfinderlager begleiten.

Aber die Wirtschaftskrise hinterlässt Spuren. Der Anteil jener Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich nach eigenen Angaben zugunsten des Allgemeinwohls Umsätze entgehen lassen, ist signifikant gesunken. Das Ausmaß des Engagements scheint mit dem eigenen Einkommen zusammenzuhängen (siehe Grafiken auf Seite 14) und noch etwas stärker mit dem Familienstand. So engagieren sich Befragte mit ein oder zwei minderjährigen Kindern häufiger als jene ohne Kinder. Wer allerdings drei oder mehr Kinder hat, kann oder will sich für Engagement offenbar nicht so viel Zeit nehmen.

Besonders gaben die Befragten an, dass sie sich geradezu verpflichtet fühlen, in ihrer jeweiligen Region aktiv zu werden. So wie Christoph Wöhlke. Der 47-Jährige leitet in vierter Generation die Drogeriekette Budni mit mehr als 180 Filialen, die meisten davon

Foto: Getty Images

in und rund um Hamburg. »Es gibt sicher Unternehmer, die sehen ihren Beitrag zur Gesellschaft damit erfüllt, dass sie Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen«, sagt Wöhlke. Ihm reiche das nicht: »Wenn ich sehe, dass etwas in meiner Umgebung nicht in Ordnung ist, dann überlege ich, welche Ressourcen ich beisteuern kann, um das zu ändern.« Hamburg sei eine reiche Stadt, in der allerdings viele Kinder chancenarm seien.

Um das zu ändern, hat die Drogeriekette 1997 die Organisation Budnianer Hilfe ins Leben gerufen, die seitdem nach eigenen Angaben 6.000 Projekte mit rund sieben Millionen Euro unterstützt hat, vor allem um benachteiligte Kinder und Jugendliche zu fördern. Den größten Teil des Geldes spenden die Kundinnen und Kunden, die am »Budni-Patentag« an den Kassen ihre Rechnung aufrunden können. Im Mai kamen auf diese Weise 112.676 Euro zusammen, laut Budni ein Rekord. Der wesentliche

ANZEIGE

Beitrag des Unternehmens besteht darin, die Organisation zu finanzieren, also etwa die Gehälter und die Verwaltungskosten. So sei gewährleistet, dass 100 Prozent der Spenden bei den Projekten ankämen. Wöhlke glaubt, dass diese Art zu spenden vielen Menschen heute entgegenkomme, weil die sich nicht mehr dauerhaft an Initiativen binden, sondern spontan spenden wollten.

Natürlich drängt sich in Gesprächen mit Unternehmern eine Frage auf: Engagieren Sie sich womöglich auch aus einem wirtschaftlichen Interesse? Die Collaboration Factory aus München will ihr Engagement zwar nicht als »Marketingschnickschnack« verstanden wissen, aber bestimmt trage es zur Firmenkultur bei und erhöhe die Attraktivität als Arbeitgeber. Christoph Wöhlke sagt, es helfe sicher bei der Suche nach Mitarbeitern, das eigene Engagement etwa durch Posts auf dem Karriereportal LinkedIn zu präsentieren. »Aber ob wir deswegen selbst

mehr Geld einnehmen, bezweifle ich«, sagt der Unternehmer, die Menschen würden vor allem dort einkaufen, wo sie nicht lange anstehen müssen, die Mitarbeiter freundlich sind und Preis und Leistung stimmen. Einen gewissen Eigennutz seines Engagements sieht er aber doch: »Ich möchte in einer Stadt leben und dass meine Kinder in einer Stadt aufwachsen, der es langfristig gut geht«, sagt Wöhlke, »wenn Sie so wollen, ist das das egoistische Motiv dahinter.«

Hinweis: Die Mittelstandsstudie ist eine gemeinsame Initiative von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung In guter Gesellschaft. Sie unterstützt die Durchführung der Befragung sowie die wissenschaftliche Auswertung durch das Analyse- und Beratungsunternehmen Aserto finanziell. Die Ergebnisse werden der Redaktion in anonymisierter Form unentgeltlich bereitgestellt, auf ihre Veröffentlichung hat die Stiftung keinerlei Einfluss.

ZEIT ISTGELD, ICHSPARMIR BEIDES.

DieBusinessPlatinumCardmit GetMyInvoices automatisier tdie Belegsuche undspart Zeit –fürmehrFokus im Business

JetztTop -Angebot sichern.

Wie Unternehmer in Krisenzeiten

Prioritäten setzen

Anteil der Unternehmer, die nach eigenen Angaben auf Umsätze verzichtet oder Projekte ausgeschlagen haben, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen

Worauf Unternehmer verzichten

... auf Umsätze zugunsten der Gesellschaft (2022: 54 %)

Wie das Einkommen mit dem Engagement zusammenhängt

Die Grafik zeigt die Zustimmung zu den folgenden beiden Aussagen in Abhängigkeit vom monatlichen Haushaltsnettoeinkommen:

Ich investiere regelmäßig Geld, um meine Mitarbeiter zufriedener zu machen

Ich habe bereits auf Umsätze verzichtet oder Projekte ausgeschlagen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen

Wie sich Unternehmer engagieren

Als Unternehmer fühle ich mich verpflichtet, mich in meiner Region zu engagieren

Der Erhalt unserer Demokratie ist ein Grund für mein Engagement

Als Unternehmen engagieren wir uns für die Gesellschaft Gesellschaftliches Engagement ist für mich ein wichtiger Ausgleich

Ich unterstütze Mitarbeiter, sich ehrenamtlich zu engagieren

Ich bringe mich in letzter Zeit stärker in die Gesellschaft ein

Wie der Familien-

stand das Engagement beeinflusst

Als Unternehmer fühle ich mich verpflichtet, mich in meiner Region für die Gesellschaft zu engagieren

Mit unserem Unternehmen engagieren wir uns für die Gesellschaft, etwa indem wir Vereine unterstützen

Ich bringe mich in letzter Zeit stärker in die Gesellschaft ein, etwa mit ehrenamtlichem Engagement

Quelle Grafiken: Mittelstandsstudien 2022 und 2025 von ZEIT für Unternehmer/In guter Gesellschaft

In den Datenwolken des Internets kann man sich leicht verhaken

Dagegen ist keine Cloud gewachsen, oder?

Fast alle deutschen Unternehmen hängen von amerikanischen Internetdiensten ab –und somit auch von Donald Trump. Aber langsam nabelt man sich ab

DDie Schatzkammer der Firma Stackit ist minimalistisch eingerichtet und maximal gesichert. Herzstück ist ein Raum mit grauen Wänden und PVC-Boden. Darin stehen im Abstand von je etwa einem Meter lange Schrankreihen. Die Schatztruhen: Tausende Server, die Tag und Nacht Daten verarbeiten. Es gibt keine Fenster, keine Bilder, keine Teppiche. Nichts, was Staub oder Flusen verursachen und die Geräte stören könnte. Die Rechner sind durch eine Stickstoff-Löschanlage geschützt und an mehrere Stromnetze angeschlossen. Polleranlagen, Kameras, Securityleute und biometrische Zugangskontrollen sichern das Gebäude.

Christian Müller ist für die Serverfarm verantwortlich. Er arbeitet nicht für Amazon, Google oder Microsoft, also einen der US-Konzerne, die man typischerweise mit großen Rechenzentren verbindet. Müller arbeitet für ein deutsches Unternehmen.

Der 48-Jährige ist Co-CEO von Schwarz Digits, jener Firma, zu der Stackit gehört. Schwarz Digits wiederum ist die IT- und Digitalsparte der Schwarz Gruppe, bekannt für Lidl und Kaufland. Das Unternehmen habe vor rund zehn Jahren angefangen, Rechenzentren und eine eigene Cloud aufzubauen, erzählt er. Der Vorstand habe sensible Daten nicht an außereuropäische Anbieter herausgeben wollen. »Heute sind wir beim Thema souveräne, deutsche Cloud mit Stackit zu 100 Prozent unabhängig«, sagt Müller. Damit kämpft die Firma inzwischen auch um Kunden außerhalb der Schwarz Gruppe: »Ihre Daten werden ausschließlich in Deutschland gehostet«, wirbt sie im Netz, »so behalten Sie stets die volle Kontrolle.«

Die meisten deutschen Unternehmen sind von digitaler Souveränität weit entfernt. Laut einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom aus dem Januar im-

portieren 87 Prozent der Firmen digitale Technologien und Services aus den USA. Das galt lange nicht als großes Problem. Viele Firmen verließen sich auf das gute transatlantische Verhältnis. Mittlerweile, das zeigen Gespräche mit Marktbeobachtern, sehen sie die Abhängigkeiten bei Halbleitern und 5G-Komponenten, KI-Anwendungen, IT-Sicherheitstechnologien und Cloud-Diensten aber zunehmend kritisch. Jedes zweite Unternehmen gab in der Umfrage an, seine digitalen Lieferketten angesichts der sprunghaften Politik von US-Präsident Donald Trump anpassen zu wollen. Dabei spielen wohl nicht nur Datenschutzbedenken eine Rolle. Denn wenn Unternehmen bei geschäftskritischen Produkten und Softwares nur auf amerikanische Handelspartner setzen, können diese viel leichter Preise und Angebote vorgeben oder, davor warnen Experten, sogar Zugänge

sperren. Das muss nicht heißen, dass deutsche Firmen auf amerikanische Produkte komplett verzichten sollten. Aber damit die digitale Souveränität nicht reines Wunschdenken bleibt, brauche es Wahlfreiheit und Verhandlungsspielraum, rät der Bitkom.

Aus Sicht von Gregor Schumacher ist mehr Souveränität eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Schumacher hat in Berlin den Thinktank Cloud Ahead gegründet, sein Team berät öffentliche und private Organisationen zu digitaler Unabhängigkeit. Welt weit gebe es rund zwölf Millionen relevante Softwareprogramme, von denen ein Großteil aus den USA stamme und teuer sei, sagt der 46­Jährige. Viel US­Software laufe außerdem von Endnutzern unbemerkt im Hintergrund, etwa in Rechenzentren oder als Teil anderer Softwaredienste. Sich als Mittelständler davon zu lösen, sei schwierig bis unmöglich. »Dafür braucht es politische Maßnahmen vonseiten der Bundesregierung«, sagt er. Die will zwar für mehr digitale Souveränität sorgen. Trotzdem sollten sich Unternehmer fragen, was auch sie selbst dafür tun können, sagt Schumacher und rät: »Am besten beginnen Geschäftsinhaber und Vorstände mit einer Bestandsaufnahme ihrer IT sowie damit, die von ihnen gefürchteten Risikoszenarien konkret durchzuspielen.«

E ­Mail­Dienste. Werde ein Mailingdienst zwar in Deutschland gehostet, basiere aber auf einer amerikanischen Cloud, könne es passieren, dass beim Abrufen von E ­Mails von einem Endgerät eines US ­Herstellers –etwa einem iPhone – ein amerikanischer Server zwischengeschaltet werde. Die Mails bekämen so ein paar Bits und Bytes amerikanischen Code mit, sagt Müller, unter Umständen genug, dass für Maildaten

81 Prozent

der deutschen Unternehmen sehen sich laut einer BitkomUmfrage abhängig vom Import digitaler Technologien und Dienstleistungen aus den USA

»neue digitale Zusicherungen für Europa«. Der US ­Konzern erklärte, er wolle eine europäische Cloud bauen und verpflichte sich, »Europa beim Navigieren durch die derzeit unklare Situation in der Geopolitik und im Welthandel zu helfen«. Auch wenn manche Experten die Versprechen für nicht ausreichend halten, zeigt es doch, wie kostbar der europäische Markt für Tech­Konzerne und wie hart der Wettbewerb ist.

So startete auch die Schwarz Gruppe. Der Vorstand habe vor dem Start von Stackit die eigene Firma durchleuchtet, erzählt Christian Müller. Welche Daten gibt es im Unternehmen? Wo gilt es, digitale Abhängigkeiten zu vermeiden? Die Nutzung amerikanischer Cloud­Anbieter sei schnell als Sicherheitsrisiko aufgefallen, sagt Müller. »Das Problem ist, dass amerikanische Anbieter verschiedenen Rechtssystemen unterliegen.« In der EU gilt für sie die Datenschutz­ Grundverordnung. Nach amerikanischem Recht aber hat die US ­Regierung in besonderen Fällen Zugriff auf Daten, die von US ­Firmen gespeichert sind, auch wenn sie auf Servern außerhalb der USA liegen. So steht es im amerikanischen Cloud Act. Auf welche Daten sich die US ­Regierung potenziell Zugriff verschaffen kann, sei oft schwer ersichtlich, sagt Müller. Denn die Wege der Daten um die Welt seien komplex. Als Beispiel nennt er cloudbasierte

84 Prozent

der Unternehmen sind der Ansicht, die Bundesregierung sollte die Stärkung der digitalen Souveränität ganz oben auf ihre Agenda setzen

amerikanisches Recht gelte. »Dass firmen interne Daten nicht komplett sicher sind, passiert also schneller, als man denkt«, folgert er. »Uns ist daher wichtig, dass Daten nicht nur in der EU gespeichert, sondern auch komplett dort prozessiert werden.«

Schwarz Digits betreibt vier eigene Cloud­Rechenzentren in Deutschland und Österreich. Ein fünftes wird im brandenburgischen Lübbenau gebaut. Die Schwarz Gruppe kämpft damit gegen die drei großen US ­Anbieter um Marktanteile. Und die reagieren bereits auf die Sorgen deutscher Firmen: Ende April verkündete Microsoft

Manche Firmen schalten ja schon um. Commerz Real setzt nun auf zwei Anbieter, auch wegen neuer europäischer Vorgaben. »Wir wollen ein Standbein in Europa haben, um digital souveräner zu werden«, sagt der IT­Leiter Nikolaus Schmidt. Der Vermögensverwalter der Commerzbank hat einen Vertrag mit dem französischen Anbieter OVH Cloud abgeschlossen. Sensible Kunden­ und Finanzdaten könnten dadurch nun in der EU verarbeitet werden, sagt Schmidt. Zudem seien zentrale Softwareprogramme, die die Firma in der Cloud nutze, besser vor Einsicht und Einflussnahme aus dem außereuropäischen Ausland geschützt. »Überraschend attraktiv fand ich die Preise europäischer Anbieter«, sagt Schmidt. Er habe erwartet, dass sein Unternehmen für das Mehr an Absicherung draufzahlen müsse. Allein schon, weil die US­Anbieter so groß sind und Skalenvorteile haben. Aber europäische CloudAnbieter seien tendenziell günstiger gewesen, sagt Schmidt. »Wir sparen nun also und profitieren gleich doppelt.«

Wo möglich und nötig, sollten Unternehmen auf mehrere IT­Anbieter setzen, raten die Experten des Bitkom. Natürlich könne das mehr Aufwand bedeuten. Aber bei anderen, physischen Produkten wie Rohstoffen oder Bauteilen machten Unternehmen das schließlich auch. Was es brauche, sei eine bewusste Produktauswahl und eine kluge Kombination verschiedener Angebote. Das gilt nicht nur für die Cloud, sondern etwa auch für den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Dort stehen oft die großen Sprachmodelle amerikanischer Anbieter im Fokus: Gemini von Google, Llama von Meta oder GPT von OpenAI. Doch es gibt mittlerweile europäische Alternativen, etwa das Start­up Mistral aus Paris. Dessen Sprachmodelle können inzwischen mit den

kleineren Modellen amerikanischer Anbieter recht gut mithalten. »Für viele unternehmensrelevante Einsatzzwecke, gerade im Mittelstand, reicht das meist völlig«, sagt Gregor Schumacher von Cloud Ahead.

Mehr KI made in Europe oder noch besser made by Schwarz: Darauf hofft Christian Müller, Co-Chef von Schwarz Digits. Genau wie bei der Nutzung amerikanischer Clouds gebe es auch bei amerikanischer KI das Risiko, dass sensible Daten von der US-Regierung eingezogen würden, warnt er. Außerdem machten sich deutsche Unternehmen von amerikanischen und chinesischen KIAnbietern erpressbar, wenn sie einseitig auf deren Produkte setzen. Die Unternehmen der Schwarz Gruppe haben sich daher am deutschen KI-Start-up Aleph Alpha beteiligt und mit der Deutschen Bahn eine KI-Plattform gegründet. Natürlich bräuchten solche Initiativen Zeit zu wachsen, sagt Müller. »Aber souverän zu werden, bedeutet auch,

Angebote in Europa zu fördern und nicht blind bei den Hyperscalern einzukaufen, weil es dort vermeintlich eh alles gibt.« Großen Unternehmen fällt das deutlich leichter als kleineren. Diese müssen in der Regel nehmen, was der Markt hergibt. »Und wenn das beste Angebot von einem US-Anbieter kommt, ist es aus unternehmerischer Sicht häufig sinnvoll, das zu nutzen«, sagt der Cloud-Ahead-Gründer Schumacher. Er rät Firmen, sich zumindest Alternativen anzuschauen und in besonders sensiblen Bereichen Ausfallsicherheit vor Topleistung, Komfort und Gesamtkosten zu stellen. Um digital unabhängiger zu werden, könne man außerdem Open-Source-Software nutzen –also Programme, deren Quellcode einsehbar und frei einsetzbar ist. Die gebe es mittlerweile auch für Datenbanksysteme, KI-Modelle und Kommunikationstools. »Und oft können diese Angebote technologisch sehr gut mithalten.«

Die Vorteile liegen auf der Hand. Niemand kann einem eine solche Software wegnehmen, den Zugang sperren oder unerwünschte Updates durchführen. Auf der anderen Seite benötige man aber auch größere Ressourcen, um Open-Source-Anwendungen zu nutzen, gibt Nikolaus Schmidt von Commerz Real zu bedenken. Sein Unternehmen nutzt Open-Source-Lösungen im Bereich der IT-Infrastruktur, aber nicht etwa bei KI-Anwendungen. Open-SourceSoftware muss an firmenspezifische Bedürfnisse angepasst, gewartet und weiterentwickelt werden. »Wir sind rund 80 Leute in der IT. Würden wir alles Open Source machen, bräuchten wir mindestens doppelt so viele Mitarbeiter«, schätzt Schmidt.

Das zeigt: Eine Pauschallösung für digitale Souveränität gibt es nicht – aber viele Stellschrauben. Was Sinn ergibt, müssen Unternehmen individuell abwägen. So wie ja eigentlich immer.

Mehr HR-Budget: So überzeugen Sieden CEO

Siewollenmit IhrerPersonalarbeitwirklich etwasbewegen, aber wissen nicht, wieSie dasManagementüberzeugen?

Im neuenLeitfaden vonPersoniolernenSie, wieSie überzeugende Reportserstellen,die an derUnternehmensstrategie ausgerichtetsind –und basierendauf IhrenDaten maßgeschneiderte Botschaften entwickeln,umCEO,CFO &Co. ins Boot zu holen.

Jetztkostenlosenherunterladen personio.de

ANZEIGE

Schau mal, meine KI ...

... mag dein Produkt

Künstliche Intelligenz (KI), die Menschen ersetzt, hat zu Recht nicht den besten Ruf. Aber man vergisst dabei vielleicht, dass es durchaus Dinge gibt, die man gerne an die Maschinen auslagern würde. Von Unternehmen nach seiner Meinung zu Produkten gefragt zu werden, zum Beispiel.

Insofern muss man keine Angst vor der KI haben, die Nader Fadl und Tobias Klinke bauen, obwohl sie Menschen nicht nur ersetzt, sondern sogar kopiert. Natürlich nicht komplett, kopiert wird nicht ihr Aussehen oder ihre Fähigkeit, komplizierte Tabellen zu verstehen – sondern ihre Meinung. So sollen Unternehmen herausfinden können, was die Zielgruppe möchte, ohne echte Menschen befragen zu müssen.

Fadl und Klinke haben 2022 in Wuppertal das Start-up experial gegründet, vor Kurzem haben sie zwei Millionen Euro von Investoren eingesammelt. Für Kunden wie Fressnapf beantwortet ihre KI schon jetzt Fragen zu Produkten. Eine könnte sein: »Was sind die größten Bedenken bei der Nutzung von Online-Tierarzt-Services?«

Man könnte die Frage auch bei ChatGPT eingeben, allerdings dürfte das wenig erfolgversprechend sein. Chatbots neigen dazu, in der Bewertung von Dingen zur Mitte zu konvergieren oder ihren Nutzern zu sagen, was sie hören wollen. »Echte Marktforschung braucht aber die ganze Bandbreite an verschiedenen Meinungen«, sagt Klinke.

Sein Unternehmen erzeugt deshalb sogenannte digitale Zwillinge. Dafür werden echte Menschen von einer KI-Stimme interviewt, die ihre Antworten aufzeichnet und nachhakt. Auf Basis der Antworten entsteht eine Kopie. Oder genauer: ein KI-Modell, das so antwortet, wie die zuvor interviewte Person antworten würde, jedenfalls in Bezug auf eine Produktkategorie. In Wirklichkeit hat die Person Fragen zu, sagen wir, Katzenfutter beantwortet, morgen kann man sie –virtuell – zu Hundefutter befragen.

KTatsächlich geht es den Kunden von experial nicht darum, einzelne Personen zu befragen, sondern größere Gruppen, in der Fachsprache: Panels. Das größte Panel, das sie bisher gebaut haben, bestand aus 1.000 digitalen Zwillingen. Die einzelnen KIMeinungen werden dann ausgewertet und zusammengefasst. So kann der Kunde sehen, ob für das Panel etwa bei einem Tierarztbesuch die Diagnosegenauigkeit oder der mögliche Stress für die Tiere wichtiger ist.

Aber entspricht das, was die KI-Klone mögen, dem, was ihre realen Vorbilder sagen würden? Um das zu testen, geben Fadl und Klinke derzeit viele Fragen in ein menschliches und ein virtuelles Panel ein und vergleichen die Antworten. »Bei manchen Fragen ist die Überlappung ähnlich der, die man erwarten würde, wenn man zwei menschliche Panels vergleichen würde«, sagt Fadl. Bei spezifischen Themen, etwa bestimmten Marken, ist die Abweichung noch größer.

Nicht alles, wo KI draufsteht oder drinsteckt, bringt Sie weiter. Manches aber sehr.

Und das schaut sich unser Kolumnist Jakob von Lindern aus dem Digitalressort von ZEIT ONLINE in jeder Ausgabe an.

Wenn Sie ihm erzählen wollen, was Ihre KI so kann, schreiben Sie ihm an jakob.vonlindern@zeit.de

Derzeit nutzen ihre Software vor allem Produktentwicklungs- und Marketing-Verantwortliche, um erste Eindrücke zu neuen Ideen zu sammeln. Um die Idee vor dem Vorstand zu präsentieren, setzen viele dann aber doch noch auf menschliche Befragungen. »Obwohl es auch in menschlichen Panels viele Fehler und Verzerrungen gibt, ist das Vertrauen darin natürlich noch größer als in synthetische«, sagt Fadl.

In Zukunft könnte sich das ändern, wenn sich die KI-Umfragen als zuverlässig erweisen. Neben den digitalen Zwillingen arbeiten sie auch an komplett synthetischen Panels, für die es keine Interviews mehr braucht. Der Vorteil ist klar: Die Maschinen werden nie müde und stehen immer bereit. Oder wie Klinke es formuliert: »Menschen sind nicht so unendlich motiviert, regelmäßig an Umfragen teilzunehmen. Der digitale Zwilling antwortet immer gerne.« Schade nur, dass er die Produkte, die er toll findet, nicht auch selbst kaufen kann.

Illustration: Pia Bublies für ZEIT für Unternehmer

Scannen Sieden QR-Code und melden Siesich jetzt an!

Vonder Forschung zumMarktvor teil –wie KI undRobotik den Mittelstand stärken

scher An ernehmen

Der Mittelstand istdas Rückgrat der deutschen Wirtschaft –doch zwischen Forschung und praktischerAnwendung vergehtoft wertvolle Zeit.Dabei ist dasPotenzial längst vorhanden.Wie könnenMittelstandsunternehmen voneinander lernen?Und waspassiert, wenn Wissenschaft undWirtschaft ihreStärken bündeln? Wie entfalten Schlüsseltechnologien wieKIund Robotikihr Leistungsvermögen?

RETHINK.MIT TELSTAND am 21. Oktober 2025 auf dem TUMCampus Heilbronn zeigt, wieneues Wissen in Wertschöpfung übersetzt wird. MitErfolgsgeschichten, Praxisbeispielen und Einblicken in einen europäischen Zukunftshub: das AI-ValleyHeilbronn.

Seien Siedabei und diskutieren Siemit: Wasbrauchtder Mittelstand jetzt?

WWer sich auf den Weg nach Regensburg in die Firmenzentrale von Sebastian Schels macht, merkt schnell: Hier ist ein Überzeugungstäter am Werk. Man läuft vorbei an zwei Teslas an der Ladesäule, einer Eidechsenburg aus Wassersteinen und Totholz, einer Wildblumenwiese mit Nisthilfen für Bienen aus Holz und lehmigem Sand. Hinter der Eingangstür bleibt der Blick an einem Spruch auf der Wand hängen. Dort steht unübersehbar über eine Breite von vier Metern: »Die Ökobau­Pioniere für C2C­Märkte«. Und für alle, die mit dem Begriff C2C nicht direkt etwas anfangen können, steht auch die Erklärung darunter: »Cradle­toCradle ist das Prinzip einer klimapositiven Kreislaufwirtschaft mit gesunden Materialien.« Und genau darum dreht sich der Arbeitsalltag von Sebastian Schels.

Schels, 44, ist der geschäftsführende Gesellschafter von Ratisbona Handelsimmobilien. Das Unternehmen baut Supermärkte in Europa. Aldi, Lidl, Netto, Edeka, Rewe – in Deutschland bedient Schels alle großen Ketten und ist Marktführer. Vor fünf Jahren hat er sich mit seiner Firma der Nachhaltigkeit verschrieben. Zuvor baute

2021 spendete Sebastian Schels 250.000 Euro an die Grünen. Heute will er selbst den Wandel vorantreiben

Ein Gebot der Vernunft

In Zeiten der multiplen Krisen rückt die Nachhaltigkeit in den Hintergrund. Doch es gibt Unternehmer, die der Meinung sind: Wer nicht darauf setzt, wird langfristig nicht überleben

VON NELE JUSTUS; FOTOS: FELIX SCHMITT

er, wie die meisten anderen auch, auf herkömmliche Art und Weise mit viel Stahl und Beton. »Die waren billig und verfügbar«, sagt er. Umweltfreundlich waren sie nicht. Dann schwenkte Schels um. Nun lautet sein Ziel: eine neue Kultur des Bauens zu etablieren und die nachhaltigsten Supermärkte der Welt zu bauen.

Die Baubranche hat den Wandel nötig. Als größter Umweltverschmutzer überhaupt ist sie für bis zu 40 Prozent des weltweiten CO₂-Ausstoßes und für 60 Prozent des globalen Mülls verantwortlich. Nur ein Prozent der verbauten Materialien wird bisher wiederverwendet. »Die Baubranche ist rückständig«, sagt Schels. Bau, das sei eine Abkürzung für business as usual. Aber er wolle zeigen, dass es anders geht und die Kreislaufwirtschaft bereits heute wirtschaftlich möglich sei. Supermärkte seien prädestiniert dafür, genau das zu zeigen, allein schon wegen ihres relativ kurzen Lebenszyklus. »Nach etwa 15 Jahren werden sie normalerweise erneuert. Oder gleich abgerissen«, sagt Schels. Dabei würden Ressourcen verschwendet und weggeworfen. Wirtschaftlich gedacht sei das nicht. Gerade als Bauunternehmer müsse man sich doch überlegen: Wo stehen wir in zehn Jahren, und wie sichere ich mir die Materialien, die ich in Zukunft brauchen werde? »Die Player, die sich jetzt nicht auf den Weg machen, werden ein Problem haben, ausreichend Materialien zu bekommen«, sagt Schels. Deswegen setzt er nun auf das Lego-Prinzip: die Materialien so verbinden, dass man sie hinterher wieder trennen kann. Das Gebäude wird selbst zum Materialdepot.

Sebastian Schels war nicht immer ein Überzeugungstäter. Das Leben mit all seinen Tücken hat ihn dazu gemacht. 2019 erhielt seine Frau eine Krebsdiagnose, seine Tochter erkrankte an Meningitis, sein Vater starb: Rudolf Schels, gerade einmal 70, Gründer der Netto-Discounter, viele Jahre Vizepräsident beim FC Bayern München. Einen Monat zuvor hatte er noch den ersten Supermarkt in Holzbauweise eingeweiht. Den hatten sie nicht etwa aus ökologischen Motiven so gebaut, sondern wegen des Fachkräftemangels. »Es wurde immer schwieriger, Leute für die Arbeit auf den

des weltweiten Abfalls werden von der Baubranche verursacht. Der Klimawandel wird also auch auf der Baustelle entschieden

Zellulose, die man wiederverwenden kann, statt Steinwolle, die bei der Produktion auf 1.500 Grad erhitzt werden muss, damit sich die Fäden bilden, und die hinterher als Sondermüll entsorgt werden muss. Mittlerweile ist er von Seegras überzeugt. »Das hat einen natürlichen Brandschutz.«

Schels wollte aber noch weiter gehen. Nicht nur Schadensminimierung betreiben, sondern einen »positiven Impact« schaffen. Auch die Natur um den Markt sollte profitieren. Deshalb baut Ratisbona nun Parkplätze, die wasserdurchlässig sind und die Umgebung kühlen, legt Außenanlagen mit Insektenhotels, Eidechsenburgen und Pflanzen an, die Feinstaub binden. »Bei unserem ersten Projekt haben wir mit allen gesprochen – außer dem Facility-Manager«, erzählt Schels, »der hat nach dem Sommer, als die Blüten braun wurden, alles abgesenst. Da mussten wir wieder von vorne anfangen.«

konventionellen Baustellen zu finden«, sagt Sebastian Schels. Draußen bei Wind und Wetter im Dreck zu schuften, das sei nicht sehr beliebt. Außerdem gehe die Verfügbarkeit von Arbeitern aus osteuropäischen Ländern zurück. Immer weniger wollen auf Montage fahren, weil es auch bedeutet, lange von der Familie fort zu sein.

»Es war ein forderndes Jahr«, sagt Schels. Er nahm sich eine Auszeit und fing an, Fragen zu stellen, für die man sich sonst nur selten die Zeit nimmt: Was treibt mich an? Was ist mein Wofür? Und: Was willst du deinen vier Kindern antworten, wenn sie später wissen wollen: »Was hast du in deinem Leben erreicht?« Er wollte ihnen nicht sagen müssen: Ich habe Europa zubetoniert.

Also fing er an, Ratisbona neu auszurichten und konsequent auf Nachhaltigkeit zu drehen. Erst setzte er auf Holz als tragende Konstruktion und Hauptbaustoff statt auf Beton, Stahl und Ziegel. Dann suchte er neue Materialien zum Dämmen. Nutzte

Der nächste Schritt: nur noch gesunde Materialien verbauen, giftige Bestandteile verbannen und so produzieren, dass die Menschen, die in den Supermärkten arbeiten oder einkaufen, sich besser fühlen, wenn sie den Markt verlassen. »Bei Materialien gilt keine Volldeklarationspflicht. Da fehlt es an Transparenz. Manche Hersteller wissen nicht, was alles an Chemie hinzugefügt wurde, andere wollen die Infos nicht rausgeben«, sagt Schels. Oft finde man Weichmacher oder sogenannte PFAS, polyfluorierte Alkylsubstanzen, die wegen ihrer wasser- und fettabweisenden Eigenschaften weitverbreitet sind. Beide können gesundheitsschädlich sein. »Wir arbeiten jetzt mit Organisationen und Laboren zusammen, die für uns Baustoffe testen, und setzen nur noch auf diejenigen, bei denen wir zu 100 Prozent wissen, was drin ist«, sagt Schels. Alles schön und gut. Aber was kostet einen das? »Nicht mehr, sondern weniger«, sagt Schels. Konkret spare man bei seiner Ökobauweise fünf bis sieben Prozent. Bei einem Projektvolumen von zwei bis zweieinhalb Millionen Euro pro Markt ergibt das einen Unterschied von 100.000 bis 175.000 Euro. Das würde sich lohnen, macht aber erst mal viele seiner Kunden stutzig, manche sogar etwas misstrauisch. »Es entzieht sich unserer Logik, dass nach-

Quelle: Rat für Nachhaltige Entwicklung

»Im Studium habe ich gelernt, nichts als gegeben anzusehen, sondern alles zu hinterfragen«

Für 2025 hat die Geschäftsführerin der Blechwarenfabrik in Limburg in ihrem Unternehmen das Motto »aus der Reihe tanzen« ausgerufen

haltiges und schönes Bauen billiger sein kann«, sagt Schels. »Wir haben alle gelernt, dass es einen Ökoaufschlag gibt und wir für das, was nachhaltig oder bio ist, erst mal tiefer in die Tasche greifen müssen.«

Und doch geht es. Wie kriegt er das hin?

»Wir bauen jetzt schneller, materialeffizienter, mit weniger Gewerken und weniger Arbeitsschritten«, sagt Schels. Die Holzkonstruktionen könnten in der Werkhalle vormontiert werden. Beim Fundament gebe es nun drei statt wie vorher über 50 Bauteiltypen. Statt 45 Tonnen Stahl verbauten sie pro Markt jetzt nur noch 15 Tonnen. Die Masse an Stahlbeton konnten sie um 40 Prozent reduzieren. Das rechne sich eben.

Auch fürs Klima. In der Herstellungsphase hätten sie die Hälfte an CO₂ eingespart, im Betrieb der Gebäude seien es 60 Prozent. Die Recyclingquote liege derzeit bei 58 Prozent. Bei den Vorzeigeprojekten, den Loop­Märkten, wie er sie getauft hat, ist sie sogar deutlich höher. Gerade entsteht einer

davon in Haimhausen in Oberbayern. Es ist der erste Supermarkt, der das Prinzip des zirkulären Bauens voll umsetzt. Es ist ein Projekt, bei dem Michael Braungart beraten hat. Der Chemiker ist Professor für Cradle to Cradle und Öko ­Effektivität an der Lüneburger Leuphana Universität. »Dieser Markt kann zu fast 100 Prozent recycelt werden«, sagt Schels. Oder besser gesagt: Man könnte ihn an anderer Stelle gleich wieder aufbauen. Aber der Markt, fügt er noch hinzu, sei deutlich teurer als die Standard­ Ökovariante. Dafür müsse man einen siebenstelligen Betrag in die Hand nehmen. »Das ist wie bei der Formel 1«, sagt Schels. Die Innovationen, die dort für viel Geld entwickelt werden, werden später in der Autoindustrie in Serienfahrzeugen eingesetzt und damit in die Breite getragen. Sebastian Schels will eine Bewegung lostreten. Eine, die verstanden hat, dass Nachhaltigkeit nicht mit Verzicht und Bürde, mit weniger Gewinn und Umsatz einhergeht, sondern dass sie sich für alle auszahlt. Die Unternehmer, die Verbraucher, die Umwelt. Das Problem ist nur: Die Nachhaltigkeit steht derzeit nicht gerade hoch im Kurs. Die USA haben unter Donald Trump das Pariser Klimaabkommen verlassen. Und im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2024 haben Politiker das Thema weiträumig umschifft, um sich nicht unbeliebt zu machen. Auch Unternehmer haben es wegen der vielen Krisen der vergangenen Jahre auf der Prioritätenliste runtergestuft. In der großen Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer (siehe Seite 12) vor drei Jahren stand die Sorge um die Klimakrise noch auf Platz eins. In diesem Jahr stehen Krieg, die Gefährdung der Demokratie und der Rechtsruck ganz oben. Immerhin sagen aber 67 Prozent der über 1.000 Befragten, dass wirtschaftliches Wachstum und Klima schutz kein Widerspruch sind.

Eine, die sich mit Schels auf den Weg macht, um die Bewegung zu befeuern,

heißt Annika Roth. Die 33-Jährige ist Vorständin des Verbands der KlimaschutzUnternehmen und arbeitet für eine Firma, die man auf der Liste der Pioniere nicht unbedingt erwartet hätte. Zusammen mit ihrem Bruder leitet sie die Limburger Blechwarenfabrik mit 500 Mitarbeitern. Dort entstehen Behälter und Dosen für Farben, Lacke und Lasuren. Ihr Unternehmen sei der älteste Metallverpackungshersteller Europas, sagt sie, und auch der modernste.

Wenn man die 20.000 Quadratmeter große Fabrikhalle im Gewerbegebiet von Limburg betritt, glaubt man ihr das sofort. Da rattert und surrt es überall. Autonome Transportfahrzeuge, für die eine simple KI die schnellsten Routen berechnet, fahren durch die Gänge und versorgen die Linienverantwortlichen und ihre automatisierten Anlagen. Rund 24.000 Tonnen Weißblech laufen hier jedes Jahr übers Band. Mit dieser Menge Stahl könnte man vier Eiffeltürme bauen. »Alle Prozesse der Blechwarenfabrik sind automatisiert und digitalisiert. Die Materialflüsse genauso wie das Energiemanagement des Gebäudes«, sagt sie. »Das spart Material und Energie.«

Als Annika Roth 2014 in den familiengeführten Betrieb einstieg, war ihr Vater noch Geschäftsführer, und das Unternehmen befand sich an seinem alten Standort in der Innenstadt, mitten in einem Wohngebiet. Jeden Montagmorgen zog Annika Roth in dem vierstöckigen Gebäude von Raum zu Raum, um die 50 Zähler für Strom, Gas und Wasser abzulesen und hinterher in eine Excel-Tabelle einzutragen. Effizient war das nicht, und Wachstum war an diesem Standort kaum noch möglich. An vielen Stellen wurde noch per Hand gestapelt, für Robotertechnik reichten die Höhen nicht. Ein neues Werk sollte her. Und das sollte so modern, effizient und klima freundlich wie möglich werden.

Annika Roth hatte sich schon während des Studiums mit Nachhaltigkeit auseinandergesetzt. An der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft habe sie »Wirtschaft neu denken« gelernt. Da ging es neben Betriebswirtschaft auch um Klimaschutz, Philosophie und Ethik. Im Unternehmen kümmerte sie sich deshalb um Umwelt-,

»Als Mittelständler hat man nur begrenzte Ressourcen, die muss man bedacht einsetzen«
Annika Roth Auch deswegen setzt die Unternehmerin so stark auf Energieeffizienz

Annika Roth ist sich sicher: Klimaschutz hat das Überleben des Unternehmens gesichert. »Anders wären wir nicht wettbewerbsfähig gewesen, hätten die Energiekrise nicht überlebt. Und den harten Preiskampf, der gerade stattfindet, könnten wir auch nicht mitgehen.« Bei Verpackungen gehe es den Abnehmern nicht um Nachhaltigkeit, sondern schlichtweg um den Preis.

»Für mich ist Klimaschutz keine Bedrohung. Es ist ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft«, sagt Roth deshalb. »Das hat auch nichts mit Ideologie oder Gutmenschentum zu tun. Wir sind Unternehmer. Wir schauen immer auf die Zahlen.« Gerade als Mittelständler habe man nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung. Die müsse man eben bedachter einsetzen: »Wer sich heute nicht mit dem Thema auseinandersetzt, den wird es morgen nicht mehr geben.«

Energie- und Projektmanagement – und damit auch um den Neubau. Rund 30 Millionen Euro, verteilt über drei Jahre, hat das Unternehmen investiert. Eine Menge Geld angesichts eines Umsatzes von rund 60 Millionen Euro im Jahr 2015. Zwei Jahre sortierte ein Team alle Prozesse und teilte sie in 160 Kleinprojekte ein, die Energie und Ressourcen sparen sollten. Das Ergebnis: Sie haben sich gegen eine Heizung entschieden und nutzen stattdessen die Abwärme der Lackieranlagen zum Heizen und Kühlen. Das spart 40 Prozent des bisherigen Gasverbauchs. Aufs Dach kam eine Photovoltaikanlage, mit der sie heute 1,4 Megawatt Strom erzeugen können. Das deckt 40 Prozent des Stroms für die Produktion. Es wurde kein einziger Lichtschalter verbaut, dafür aber die Lichtsteuerung an die Produktionsanlagen angeschlossen. Wenn die nicht laufen, ist auch die Beleuchtung aus. Früher hatten sie in der Endfertigung viele Öfen, die mit Gas betrieben wurden. Heute setzen sie auf Induktion: Jetzt springen die Öfen nur an, wenn ein Teil durchläuft. Roths Mitarbeiter entwickelten auch neue Stanzen und reduzierten den Materialverbrauch dadurch um 43 Prozent. Und sie überdachten die Entsorgung: Nun fallen Stanzteile in unterirdische Rinnen, die sie direkt zur Schrottpresse transportieren, um sie dem Kreislauf wieder zuzuführen. Blech ist einer der Rohstoffe, die zu fast 100 Prozent recycelt werden können und dabei nicht die Qualität verlieren. Was das gebracht hat? Im Vergleich zum alten Standort spare das Unternehmen jedes Jahr sechs Gigawattstunden Strom und Gas und 100 Tonnen Weißblech, rechnet Roth vor. So blieben in etwa eine halbe Million Euro mehr pro Jahr hängen. Und der Umwelt würden 2.600 Tonnen CO₂ erspart. Dafür erhielten Roth und ihr Bruder im Jahr 2020 den Deutschen Umweltpreis, der mit 250.000 Euro dotiert war. In der Laudatio hieß es: »Die Geschwister zeigen, was heute alles möglich ist, wenn Nachhaltigkeit in die Firmen-DNA aufgenommen wird.« Roth und ihr Bruder denken aber schon weiter. Sie wollen zwei Windkraftanlagen in der Nähe kaufen, einen Elektrolyseur einbauen und auf Wasserstoff umsteigen. »Damit könnten wir uns völlig vom Gas entkoppeln, müssten keinen Strom mehr einkaufen und wären autark.«

GEMEINSAM KRAFT

Leistu ng sf äh ig keit bedeutet fü ru ns, Herausforderunge ni nC hancen zu verwandeln .

DasjapanischeHandwerkKintsugiverbindet Bruchs tückemit Gold und schafft so etwasEinzigartiges und Besseres. Dies ist füruns In spiration: Gemein sammit un seren Kunden entwickeln wirindividuelleLösungen, diezukunft ssichere Strukturen ermö glichen. Er fahren Sie, wiewir Leis tung sfähigkeit sichern unter firmenkunden.dzbank.de

Stoffwechsel

Was bedeutet es für ein Unternehmen genau, nachhaltig zu sein? Besuch bei einer Firma, in der Vater und Tochter das zwischen Overalls und Arbeitshosen ausdiskutieren

SSchon klar, dass Kinder oft anders ticken als ihre Eltern. Aber es ist schon ungewöhnlich, dass sie einander deutlich widersprechen, wenn sie gemeinsam ein Unternehmen führen und ihnen ein Journalist zuhört. So wie an diesem Frühlingstag im unterfränkischen Alzenau. Zwischen Hosen und Schürzen für Köche, Overalls für Monteurinnen, Kitteln für Ärzte sitzen hier zwei Generationen der Firma Weitblick zusammen. 45 Millionen Euro Umsatz, 160 Beschäftigte. Weitblick verkauft Arbeitskleidung, die Textilien sind auf Kleiderstangen ausgestellt.

Am Tisch sitzen: Claus Schmidt, 67 Jahre alt, der Enkel des Firmengründers, die dritte Generation. Er hat die Firma lange geleitet. Ihm gegenüber: Isabelle Ilori-King, 30 Jahre alt, die vierte Generation. Es geht um die Frage, wie ein traditionsreiches Unternehmen nachhaltig wird. Geht das über Nacht? Wer treibt den Wandel voran? Und verstehen alle das Gleiche darunter?

»Wir waren schon immer nachhaltig«, sagt der Vater. Die Tochter sieht das anders, und das macht sie im Gespräch auch sehr

deutlich. Ja, man sei auch früher »vor der Zeit« gewesen, sagt Isabelle Ilori-King. Aber erst seit einigen Jahren gehe man es »extrem professionell, systematisch und gezielt« an. Nachhaltigkeit aus dem Bauch versus Nachhaltigkeit mit der Excel-Tabelle.

Damit ist man mittendrin in einer Diskussion, die viel aussagt darüber, wie verschieden der Begriff »nachhaltig« verstanden wird und wie die Generation der Unternehmensnachfolger über ihn denkt. 76 Prozent der next gens gaben in einer Studie der Stiftung Familienunternehmen im Jahr 2023 an, Nachhaltigkeit sei für sie strategisch wichtig und stehe mehr im Fokus, als neue Geschäftsmodelle zu entwickeln oder internationale Märkte zu erschließen.

Um zu verstehen, warum der Vater Claus Schmidt seine Firma Weitblick schon immer nachhaltig fand und seine Tochter die Fortschritte und die Systematisierung der letzten Jahre entscheidend findet, muss man einmal im Schnelldurchlauf fast 100 Jahre Firmengeschichte abspulen. Alles beginnt Ende der 1920er-Jahre, als ein Mann namens Gott-

fried Schmidt anfängt, aus seiner Frankfurter Wohnung heraus Berufs- und Zunftbekleidung zu verkaufen. 1931 eröffnet er ein Ladengeschäft: »Gottfr. Schmidt OHG« lautet die Aufschrift auf dem Firmenschild. Die Bierkutscher, Zimmermänner und Ärzte kaufen ihre Arbeitskleidung schlicht bei »Kittel-Schmidt«.

Die Kriegsjahre sind hart, aber im Boom der 1950er-Jahre ziehen die Verkäufe wieder an, und 1983 steigt Claus Schmidt ins Geschäft ein. Der Enkel lässt das Unternehmen beträchtlich wachsen, denn er setzt auf Geschäfte mit Dienstleistern. Firmen also, die dafür sorgen, dass für jede Supermarktverkäuferin und jede Pflegekraft zu Schichtbeginn ein frisch gewaschener Kittel bereitliegt. Das bringt Geld, denn anders als Handwerksbetriebe kaufen die Dienstleister gleich mehrere Garnituren pro Beschäftigtem.

Heute erzielt Weitblick 85 Prozent seines Umsatzes mit solchen Dienstleistern. Und die waschen und trocknen sehr heiß, kontrollieren jedes Teil genau, erzählt Schmidt. Allein deswegen seien die Textilien von

Weitblick schon immer extrem auf Langlebigkeit optimiert worden, also nachhaltig gewesen. Schmidt sagt, man habe auch die Mitarbeitenden in der Produktion immer fair behandelt und »nie Gewebe aus Standorten bezogen, wo hinter den Fabriken die Farbe in den Acker rinnt«. Schon 1994 habe man eine »voll kompostierbare Ökokollektion« angeboten, an der es aber kaum Interesse gab, sagt Schmidt, »sehr schade!«.

Doch heute spielt Nachhaltigkeit eine größere Rolle, nicht nur als Synonym für Umweltschutz: 2013 stürzte die Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch ein, über 1.000 Menschen starben. »Das war ein einschneidendes und katastrophales Erlebnis für die gesamte Branche«, sagt Ilori­King. »Und es hat mir gezeigt, wie wichtig gute Arbeitsbedingungen und richtiges Hinschauen sind.« Drei Jahre später werden Isabelle IloriKing und Bruder Felix Schmidt Gesellschafter und steigen ins Unternehmen ein.

Im Besprechungsraum der Firma sieht man, dass Weitblick tatsächlich genauer hinsieht – und sich das von außen bestätigen lässt: Die Jacken und Schürzen und Hemden tragen bekannte Nachhaltigkeitssiegel wie Oeko­Tex, Grüner Knopf und Maxtex. Hergestellt werden die Kleidungsstücke auf dem Balkan, die verwendeten Stoffe in der EU. Dieses Jahr wird die letzte von sechs Fertigungsstätten nach dem OekoTex­StePSiegel zertifiziert, das die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, die Sicherheit und etwaige Umweltbelastungen bewertet.

Jan­Marten Krebs ist Gründer und Chef der Nachhaltigkeitsberatung Sustainable. »Auch für die jetzt langsam ausscheidende Generation von Unternehmerinnen und Unternehmern war Nachhaltigkeit bereits Thema«, sagt Krebs. So hätten Unternehmer auch früher schon auf Qualität geachtet oder Lieferanten gut behandelt, um sie zu halten. »Aber es ist typisch, dass ein Generationenwechsel zu einem ganzheitlicheren und methodischeren Ansatz führt.«

Als Claus Schmidt 2016 die Mehrheit der Anteile an Weitblick an seine Kinder übertrug, fing die Führungsriege der Firma an, über die Neuausrichtung des Unternehmens nachzudenken, das da noch nach dem Gründer benannt war. Der Fokus auf Um­

Isabelle Ilori-King, 30, gehören 30 Prozent der Anteile an Weitblick –genau wie ihrem Bruder

Claus Schmidt, 67, hat das Unternehmen lange geleitet und hält 40 Prozent der Anteile

weltschutz und faire Arbeitsbedingungen sollte sich auch im Namen niederschlagen –da schien »Weitblick« eine gute Wahl.

Heute erzeugt Weitblick seinen Strom an den beiden deutschen Standorten zum größten Teil durch Solaranlagen selbst. Zugekauft wird nur Ökostrom. Die Fahrzeugflotte wird auf Elektroantrieb umgestellt.

An Endkunden versendet Weitblick klimaneutral und in nahezu plastikfreier Verpackung. Noch in Arbeit: eine transparente Lieferkette und eine detaillierte CO₂­Bilanz für die gesamte Wertschöpfungskette.

Lohnt sich der Aufwand? »Nachhaltigkeit ist oft ein Kriterium für die Auftragsvergabe, zumindest offiziell«, sagt Claus Schmidt. »Aber wenn der Preis dadurch auch nur um zwei oder drei Prozent steigt, ist man schnell aus dem Rennen, weil dann doch der Preis das wichtigste Kriterium ist.«

Der Berater Jan­Marten Krebs bestätigt das.

Aus seiner Sicht könne es helfen, dann zumindest langfristige Abnahmegarantien zu vereinbaren, damit sich die Investitionen in den Klimaschutz besser planen lassen.

Weitblick ist also ein typischer Fall: ein Familienunternehmen, das die viel beschworene »Enkelfähigkeit« leben will. Bei dem dennoch ein Generationenwechsel nötig war, um das Ziel systematisch anzugehen.

Da ist zum Beispiel das Lager, in dem vollautomatisiert die Ware in langen Regalkorridoren ein­, aus­ und umgeladen wird. Die Lagersoftware lerne selbstständig, welche Produkte wie lange am Lager liegen, sagt Ilori­King. »Das spart auf Dauer natürlich Energie, weil die Software die Schnelldreher gleich vorne einsortiert und die seltener bestellten Artikel weiter hinten.«

Und als Weitblick sein neues Lager plante, mahnten Naturschützer, dass Zauneidechsen durch den Bau ihr Habitat verlieren würden. »Seitdem haben wir auf unserem Grundstück neben dem Logistik­Zentrum gewissermaßen ein geschütztes EidechsenParadies errichtet«, erzählt Ilori­King. Mag sein, dass der Gründer Gottfried Schmidt einst hoffte, seine Urenkel würden sein Unternehmen einmal weiterführen. Dass er dabei auch schon an Zauneidechsen und an effiziente, sich selbst organisierende Regale gedacht hat? Unwahrscheinlich.

Geliefert und zurückgeschickt

Schafe bei der Arbeit
Das Lieferkettengesetz ist enorm umstritten. Nun will Bundeskanzler Friedrich Merz es abschaffen. Viele Unternehmer begrüßen das – aber nicht alle
VON KARIN FINKENZELLER

Das große Los trägt eine Nummer mit der Endziffer 8. Als das Schreiben mit der Ziffernfolge Mitte 2024 bei der BWF Group eingeht, freut sich dort aber niemand. Im Gegenteil: Der Absender ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, kurz Bafa. Dort wird die Einhaltung des deutschen Lieferkettengesetzes überwacht. »Eröffnung des Prüfverfahrens – Auskunftsersuchen« steht in der Betreffzeile des ersten Schreibens. Das Familienunternehmen aus dem bayerischen Offingen ist in eine Stichprobe geraten. Die führt das Bafa regelmäßig durch, seit Inkrafttreten nach eigenen Angaben schon fast 1.500-mal. Einfach so.

Das Gesetz, das in Offingen für Unruhe sorgt, gibt es seit 2021. Damals hat es die Regierung aus Union und SPD durch den Bundestag gebracht, größtenteils trat es 2023 in Kraft. Seitdem entzweit das Gesetz das Land: Es bringe »keine bessere Welt, sondern nur Bürokratie«, wetterte zum Beispiel der FDP-Politiker Johannes Vogel im Dezember 2024 im Bundestag. Die LinkenVorsitzende Janine Wissler hielt dagegen: »Wer das Lieferkettengesetz abschaffen will, der nimmt Kinderarbeit billigend in Kauf.«

Nun scheinen die Tage des Gesetzes gezählt: Die neue Bundesregierung aus Union und SPD hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, es abzuschaffen und durch eine Regelung zu ersetzen, die die Europäische Lieferkettenrichtlinie »bürokratiearm und vollzugsfreundlich« umsetzt. Im Mai bekräftigte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) diesen Plan. Und natürlich gibt es auch daran wieder Kritik. Was also bringt das Gesetz aus Sicht deutscher Unternehmer? BWF ist von dem Gesetz unmittelbar betroffen – als Lieferant und als Belieferter. Das Unternehmen fertigt Filze über den Globus verteilt an 16 Standorten. Luxushersteller nutzen seine Wollfilze etwa, um Kragen zu verstärken. Filze aus Synthetik stecken in

Schläuchen für die Zementindustrie, dienen als Brandschutz und Dämmmaterial. Trotzdem: »Global gesehen sind wir ein kleines Licht«, sagt Maximilian Offermann, 34, der Chef. Die BWF Group macht jährlich rund 300 Millionen Euro Umsatz und zählt weltweit etwa 1.800 Beschäftigte. Zunächst war sie wie alle Firmen mit weniger als 3.000 Mitarbeitern vom Gesetz ausgenommen. Seit Anfang 2024 muss aber auch sie Risikobewertungen für sämtliche Lieferanten erstellen, deren Vorkehrungen zum Schutz von Umwelt und Menschenrechten, für Arbeitssicherheit und gegen Korruption dokumentieren und sich gegebenenfalls um Verbesserung bemühen. Um dem gerecht zu werden, hat Offermann extra eine neue Stelle geschaffen, die des »Integrated Management and Safety Specialist«.

Vor dem Start fand der Chef die Idee grundsätzlich gut, Firmen auf einheitliche Menschenrechts- und Umweltstandards zu verpflichten, weil Kunden nicht nachvollziehen könnten, wer freiwillig mehr tue. In einem Gespräch im Herbst 2023 fürchtete er weniger den Arbeitsaufwand als den Widerstand seiner Lieferanten: »Wenn wir denen zu viel abverlangen, bedienen die irgendwann andere Abnehmer, die keine Forderungen stellen.« Das könne im Extremfall das Ende für das mehr als 130 Jahre alte Unternehmen bedeuten: »Ohne Rohmaterial müssten wir schließen.« Inzwischen hat sich diese Sorge als unbegründet erwiesen. Es kam anders, aber auch heftig.

Die Schafwolle für Naturfilze, jedes Jahr rund 700 Tonnen, kommt, zu riesigen Ballen gepresst, aus Australien und Neuseeland. Dort gebe es mehr Schafe als in Europa –und genug Wind, damit den Schafen längeres und dichteres Fell wächst. Offermann kennt seine Lieferanten aber nicht persönlich. Den Einkauf der Wolle an den Börsen übernimmt seit Jahren ein Großhändler, der

Ware von Schafherden garantiert, bei denen nicht die umstrittene Methode des »Mulesing« angewendet werde – eine schmerzhafte Entfernung eines Hautlappens, um den Befall mit Fliegenmaden zu vermeiden. »Dafür gibt es klare Richtlinien und Kontrollen, weil das Thema international bekannt ist. Aber darüber hinaus?« Offermann zuckt die Schultern. »Wir haben, ganz ehrlich, keinen Einblick, wer sich wann und wie um die Schafe kümmert, ob Arbeitszeiten eingehalten werden oder sogar Kinder mitarbeiten müssen«, räumt er ohne Umschweife ein.

Und dann sind da noch die synthetischen Fasern, von denen BWF 12.000 Tonnen pro Jahr benötigt. Die Herkunftslabel im Offinger Lager weisen meist China als Ursprungsland aus. »Da stößt man auf komplettes Unverständnis für das Lieferkettengesetz«, sagt Offermann.

Nun könnte man denken, das Bafa habe bei seiner Prüfung mehr über die Arbeitsbedingungen in China wissen wollen. Oder die Zulieferer in Australien. Doch der BafaPrüfer verlangt von dem Filzhersteller ganz andere Details. Darüber, wie das Unternehmen handeln würde, wenn sich jemand über ein Problem in seiner Lieferkette beschwert. Und darüber, wer im Betrieb die Lieferketten sauber hält und was derjenige darf, wenn er ein Problem sieht. Und so moniert der Prüfer, dass der Beschwerdekanal nur auf der Website zugänglich sei – statt auch per Mail, auf dem Postweg oder telefonisch. Er verlangt auch die Nennung aller Ansprechpartner und deren Erreichbarkeiten. Mehrmals dringt er in den folgenden Monaten überdies auf eine »angemessene Verfahrensordnung«, die mehrsprachig verfügbar sein und klare zeitliche Abläufe benennen müsse. »Das ist Bürokratie pur«, findet Offermann. Zu dem Zeitpunkt setzt BWF auf die Software des Start-ups Integrity Next – für eine Lizenzgebühr von 35.000 Euro jähr-

lich. Auf der Plattform des Münchner Jungunternehmens tragen Lieferanten ihre Angaben zu Ansprechpartnern und deren Erreichbarkeit ein, müssen vorgegebene Fragebögen zu Themen wie Menschen- und Arbeitsrechte, Umweltschutz, Arbeitssicherheit oder Korruptionsbekämpfung ausfüllen. Damit, so verspricht Integrity Next, sollen die belieferten Firmen die Anforderungen des Lieferkettengesetzes bewältigen und »die neu gewonnenen Ressourcen für ihre eigentliche strategische Arbeit nutzen«.

Während mehrere Übersetzungen der BWF-Verfahrensordnung in Arbeit sind, wird 200 Kilometer nördlich von Offingen mit Töpfen, Pasten, Pulvern und Rührgeräten hantiert. Der Versuchsraum in Heroldsberg bei Nürnberg erinnert an eine Großküche und gehört zu Schwan-Stabilo. Wenn Text auf Papier unterstrichen wird, dann oft mit Stiften mit Schwan-Logo. Zum Weltmarktführer avancierte die Unternehmerfamilie Schwanhäußer allerdings mit Stiften für die dekorative Kosmetik. Mehr als 600 Millionen davon produziert sie jährlich und nahm damit 373 Millionen Euro ein, das ist mehr als die Hälfte des Umsatzes.

Schwan verspricht, seine Produkte möglichst umweltschonend herzustellen. Seit Inkrafttreten des Lieferkettengesetzes ist es auch für den Schutz vor Kinderarbeit und für die Zahlung fairer Löhne verantwortlich. Unter anderem. Das ist bei Eyelinern, Lidschatten oder Lippenstiften nichts, was sich mal eben überschminken ließe.

Immer dabei, wenn es glänzen und schimmern soll, ist nämlich Mica. Ein Viertel des weltweit verbrauchten Stoffs

stammt aus den indischen Bundesstaaten Bihar und Jharkhand, den ärmsten Regionen des Landes. Vielfach bauen Familien die Mineralien auf eigene Faust und ohne Schutz in den Schächten geschlossener Minen ab. Hilfsorganisationen schlagen Alarm, dass Kinder nicht selten zwölf Stunden in Hitze und Staub arbeiten und immer wieder Menschen verschüttet werden.

Bevor Mica aber zu Pulver vermahlen und exportiert wird, passiert es mehrere Zwischenhändler und weiterverarbeitende Betriebe. »Eine Zeit lang haben wir gesagt, wir kaufen nicht mehr in Indien ein. Davon sind wir aber wieder abgekommen«, erzählt Hans Kühn. Er arbeitet seit 24 Jahren für Schwan Cosmetics und ist unter anderem für die Corporate Social Responsibility verantwortlich. Statt einer Abkehr von dem problematischen Markt habe man die Zusammenarbeit mit Lieferanten gewählt, die der Responsible Mica Initiative angehören, die seit 2017 weltweit gültige Standards für den Abbau der Glimmerpigmente erarbeitet. Zudem müssen die Lieferanten von Ecovadis zertifiziert sein, betont Kühn. Die 2007 in Frankreich gegründete Plattform verlangt einen umfangreichen Fragebogen und prüft Dokumente, bevor sie Nachhaltigkeitsbewertungen vergibt. Sie hat inzwischen mehr als 150.000 Einträge und wird von Einkäufern und Lieferanten weltweit genutzt.

Das Lieferkettengesetz ist nach Kühns Auffassung eher Chance als Übel, obwohl Schwan Cosmetics neben Mica bei einer ganzen Reihe weiterer Stoffe gefordert ist. Beim Holz etwa für die Stifte, in die Farbmasse gepresst wird, und bei der Zugabe

von Wachsen. Sie sind Derivate von Palmöl, für dessen Gewinnung Farmer an vielen Orten Regenwald zerstören und Menschen und Tiere vertreiben. »Anstatt Regularien nur zu ertragen, kann man auch fragen: Was bietet mir das? Ich bin sicher, dass es in absehbarer Zeit einen spürbaren Wettbewerbsvorteil für Transparenz geben wird«, sagt Kühn. »Mit Minimalanforderungen kann ich ein Unternehmen nicht von der Konkurrenz abheben.« Mit dem Gesetz könne er Ansprüche an Lieferanten besser begründen als zuvor und sagen: »Wenn ihr das nicht unterschreibt, haben wir ein Problem miteinander.« Das Hin und Her um das Gesetz findet er allerdings zweitrangig, »weil es eine Frage der Haltung ist, nicht mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, die Umwelt- oder Sozialstandards unterlaufen«. Maximilian Offermann hingegen begrüßt, »dass die neue Regierung den Ankündigungen, Bürokratie abzubauen, nun Taten folgen lässt«. Die EU müsse nun allerdings nachziehen. Denn alles in allem, rechnet Offermann vor, koste ihn das Lieferkettengesetz rund 100.000 Euro im Jahr, Softwarelizenzen, Zertifikate und Arbeitszeit inbegriffen. Sein Safety-Specialist beantwortet auch Fragen von Firmen, denen BWF selbst Waren liefert. Da die Fragebögen nicht standardisiert seien, dauere es stets vier bis fünf Wochen, alle Infos zusammenzustellen. Und das Bafa verlangte Anfang Februar weitere Nachbesserungen. Erst am 27. März kam die erlösende Nachricht: Das Prüfverfahren ist beendet. Es hat einen besorgten, aber verständnisvollen Kritiker zum überzeugten Gegner des Gesetzes gemacht. Das Material Mica steckt auch in Autolacken.

Deutschland ist der drittgrößte Abnehmer weltweit

Vermögen nachhaltig entwickeln Investitionen

Ganzheitlich: Unsere Entrepreneur &E nterprise Beratung betrachtet Sie und Ih rU nternehmen al sE inheit und erarbeitet Lösunge nf ür Ih rp rivates un du nternehmerisches Ve rmögen.

Für ein effizientes Management Ihres Gesamtvermögens ist die vollständige Betrachtung aller Vermögenswerteunerlässlich. Daher unterstützt Sie ein Team aus Vermögens- und Firmenkundenberatern objektiv,umfassend und lösungsorientiert. Vielfältige Finanzdienstleistungen aus beiden Bereichen stehen Ihnen zur Verfügung

Mehr erfahre nS ie au fb ethmannbank-unternehmen.de Echt. Nachhaltig.Privat.

Da blüht uns was

Bis zu 300 Millionen Pflanzen produziert Emsflower jedes Jahr – mit Hightech und Handarbeit. Ein Besuch bei einer der größten Gärtnereien Europas

VON NAVINA REUS; FOTOS: MARINA ROSA WEIGL

1 Das größte Gewächshaus von Emsflower ist einen Kilometer lang. Darin wachsen Hunderttausende Begonien und Geranien

2 Jede Pflanzenart braucht ihr eigenes Erdgemisch, das sich in Nährstoffgehalt, Durchlässigkeit und pH-Wert unterscheidet

3 Ohne Fahrrad ist man hier aufgeschmissen. Allein der Chef legt täglich 30 Kilometer zurück

4 Normalerweise setzt ein Roboter die Stecklinge in die Kästen, 2.500 schafft der pro Stunde. Nur wenn ihre Stiele abstehen und nicht flach auf dem Fließband liegen, hat er Schwierigkeiten. Dann hilft eine Mitarbeiterin nach 5 Wenn die Pflanzen gewachsen sind und Wurzeln geschlagen haben, geht es vollautomatisiert weiter: in der Topfmaschine, die je nach Sorte bis zu 650 Blumen pro Minute umpflanzen kann

6 90 Festangestellte und 400 Saisonkräfte aus Polen und der Ukraine beschäftigt Emsflower, um die Kunden – vor allem Discounter und Gartengroßhändler –pünktlich beliefern zu können

7 Denn die haben schon im Herbst das Frühjahrsblumen-Sortiment geordert. In der Gärtnerei müssen sie deswegen genau kalkulieren, welche Pflanze wie lange von der Aussaat bis zur Auslieferung braucht

8 Damit die Blumen frisch beim Kunden ankommen, ziehen fahrerlose Elektro-Karren die Pflanzenregale durch die Bewässerungsanlage. Die wird komplett aus Regenwasser gespeist

9 Danach fahren sie zurück in die Lagerhalle, wo die Blumen verladen werden. Von Emsbüren aus werden sie dann an Abnehmer in ganz Europa geliefert

KLIMA. MACHT. POLITIK.

GLOBALE ALLIANZE

FÜR KLIMASCHUTZ

BIODIVERSITÄT

MariaFurtwängler, Pressefoto ©Magnus Winter

Unter anderem auf der Bühne

Claudia Bühler / Maria Furtwängler / Jan Frensch / Thomas Fritz / Stefanie Hauer / Peter Jelinek / Andreas Sentker / Louisa Schneider / Kira Vinke / Katharina van Bronswijk / Klaus Wiegandt

PeterJelinek

11 FRAGEN AN DEN CHEF

Erst verkauft, dann gesät

Tom Kuipers, 41, fährt viel Rad, um von einer Ecke seiner fast 100 Hektar großen Gärtnerei Emsflower in die andere zu kommen. Er ist schon dreimal an der Fotografin vorbeigeradelt, dann nimmt er sich Zeit, um den Fragebogen von ZEIT für Unternehmer zu beantworten, der jede Fotostory begleitet.

Was macht Ihr Unternehmen?

Tom Kuipers: Wir produzieren Beet- und Balkonpflanzen – etwa Stiefmütterchen, Geranien, Chrysanthemen, im Sommer Fuchsien, im Herbst enden wir mit Weihnachtssternen. Und dazu gibt es Tomaten. Was ist die größte Herausforderung?

Der Klimawandel. Obwohl unsere Pflanzen unter Glas wachsen, sind wir dem Wetter ausgeliefert. Wenn es sehr kalt ist, können wir unsere Gewächshäuser zwar heizen. Aber wir können sie nicht kühlen, wenn es zu warm wird. Deswegen müssen wir immer öfter die Zeit verkürzen, in der die Pflanzen wachsen. Das macht uns zu schaffen, denn wir verkaufen eigentlich alle Pflanzen im Voraus und müssen sie auch zu einem bestimmten Termin liefern.

Ihre Gärtnerei wurde 1954 in den Niederlanden gegründet, 2004 wurde der Firmensitz nach Deutschland verlegt. Wieso?

In den Niederlanden konnten wir nicht expandieren. Der Bebauungsplan ließ keine weiteren Gewächshäuser mehr zu. Also haben wir uns nach Flächen in Deutschland umgeschaut, weil dort mit rund 80 Prozent ohnehin der Großteil unserer Kundschaft saß. In Emsbüren wurden wir fündig.

Woran wäre Ihre Firma fast gescheitert? 2005, kurz nach unserem Umzug, hatten wir einen Schneeschaden, der uns mehr als neun Millionen Euro gekostet hat. Ein Gewächshaus mit einem Konstruktionsfehler stürzte ein. Zum Glück passierte das frühmorgens, und es war noch niemand drin.

Mit seinem Bruder Bart leitet Tom Kuipers die Gärtnerei in dritter Generation

Was ist Ihre wichtigste Maschine?

Wir haben Aussaat-, Stecklings- und Pflanzroboter, außerdem Gieß- und Transportwagen – alle sind gleich wichtig und müssen einwandfrei funktionieren, damit von der Saat bis zum Versand des fertigen Blumentopfs alles ineinandergreift. Und Ihr wichtigster Algorithmus?

Stecklinge sehen immer anders aus, daher konnte man sie früher nicht maschinell einpflanzen. Aber dank künstlicher Intelligenz und deren guter Bilderkennung können wir heute Stecklingsroboter nutzen.

Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit für Ihr Unternehmen?

Blumen sind zwar Luxus, aber sie sind eben auch Naturprodukte. Und ich finde, dass man damit dem Klima nicht schaden darf. Wir benutzen daher nur Regenwasser zur Bewässerung, betreiben zwei Holzkraftwerke mit Baumschnitt und haben Solarpanels auf dem Dach. Wir produzieren mehr Energie, als wir verbrauchen. Auch im

Pflanzenschutz suchen wir umweltfreundliche Mittel. Und wir nutzen Töpfe aus recycelten Materialien und Stecklingskästen, die wiederverwendbar sind.

Wo gehen Sie Kompromisse ein? Der Abbau und Einsatz von Torf etwa ist ja sehr klimaschädlich.

Der Einsatz von 100 Prozent torffreier Erde wäre für uns nicht wirtschaftlich. Manche Pflanzen kommen mit Torfersatz gut zurecht. Andere vertragen das weniger gut. Ihr Unternehmen beschäftigt 400 Saisonkräfte aus dem Ausland. Wie stellen Sie faire Arbeitsbedingungen sicher?

Wir arbeiten nicht mit einem Dienstleister, sondern stellen alle Saison-Arbeitskräfte selbst ein. So können wir sicherstellen, dass sie fair für ihre Arbeit bezahlt werden. Außerdem versuchen wir, die Arbeitsbedingungen immer weiter zu verbessern, und lassen zum Beispiel schwere Arbeiten durch Roboter übernehmen. Und wir haben ein eigenes Hotel gebaut, in dem die Arbeitskräfte in Zweibettzimmern wohnen.

Was begrenzt Ihr Wachstum am meisten? Gerade erweitern wir ein Gewächshaus, und wir wollen in Zukunft noch weitere bauen. Das geht nur, wenn wir Land dazukaufen. Und uns limitiert das Kapital. Gewächshäuser sind in der Anschaffung sehr teuer und bringen dafür einen relativ geringen Umsatz. Da muss man gut rechnen. Blick in die Zukunft: Wie sieht Ihr Unternehmen in zehn Jahren aus?

Die Gärtnerei ist größer, und wir bauen mehr Gemüse an. Weil das Wetter noch wechselhafter wird, haben wir viel vom Feld in Gewächshäuser verlagert. Dort lässt sich der Anbau besser automatisieren, und man braucht weniger Pflanzenschutzmittel. Außerdem ist Gemüse krisensicher, es wird immer gegessen. Kein Luxus, dafür lecker. Die Fragen stellte Navina Reus

Wie ein nachlässig abgestelltes Ufo steht mitten in Essen auf einer Freifläche etwas verloren ein Türmchen aus viel Glas. Christian Lüdtke ist der Kommandant dieses Ufos und hat dort seine Brücke im fünften Stock. Er ist der Hausherr, Gründer und CEO von Bryck. Wenn es nach ihm geht, entsteht hier die Keimzelle einer neuen Digitalwirtschaft für Essen und die Region. Bryck, das ist eine »Future Factory«, wie es auf der Unternehmensseite heißt. Laut einer Pressemitteilung soll sie »den Industriestandort von morgen« kreieren und setze dafür auf eine »bisher undenkbare Symbiose«. Was luftig klingt, wird im Gespräch mit Lüdtke klarer. »Wir sind ein Accelerator, der Start-ups aus ganz Deutschland offensteht«, sagt er. Bryck sucht gezielt Firmen, die sich an Geschäftskunden richten, aus den Bereichen Energie, Wasserstoff und Gesundheit. Diese fördert das Zentrum für eine begrenzte Zeit. Unter anderem durchlaufen die Gründerinnen und Gründer sogenannte BoosterProgramme mit Workshops dazu, wie das halt so geht: ein Start-up zum Erfolg führen.

Dass Bryck sich auf drei Bereiche fokussiert, finden die Gründerinnen und Gründer gut. »Als Gründer hat man oft gar nicht die Zeit, Förderprogramme gründlich zu analysieren«, erklärt Shabnam Fahimi-Weber, Gründerin von Dubidoc. Das Start-up bietet Arztpraxen ein Managementsystem, das unter anderem die Wartezeiten für Patienten reduziert und bereits in über 800 Praxen zum Einsatz kommt. Es sei hilfreich, wenn ein Accelerator einen klaren Fokus hat, sagt die Ärztin. Aber reicht der allein aus, um ein erfolgreiches Gründerzentrum aufzubauen, das sich von allen anderen abhebt?

Start-up-Inkubatoren und Acceleratoren poppen überall im Land auf. Laut dem Bundesverband Deutscher Innovations-, Technologie- und Gründerzentren gab es 2023 mehr als 350 solcher Zentren. Jede größere Kommune will junge Gründer anlocken und sie davon überzeugen, dass sie vor Ort die allerbesten Bedingungen vorfinden. Mal gibt es finanzielle Starthilfe, mal ein Netzwerk und hin und wieder auch Gebäude, in denen sich junge Unternehmer austauschen können. Nur in wenigen Fällen haben diese Initiativen aber wirklich gute

Dieser Turm soll eine Startrampe für Gründer werden

Zu

Bryck in die Zukunft?

Nahezu jede größere Kommune erklärt sich selbst zum Start-up-Zentrum. Viele scheitern.

In Essen wollen es zwei Gründer und eine Stiftung trotzdem probieren

VON LARS-THORBEN NIGGEHOFF

Foto:
Bryck

Ergebnisse erzielt. Die deutschen Start-upZentren sind seit Jahren weitestgehend die gleichen geblieben, es gibt sie vor allem in Metropolen wie Berlin und Städten mit starken Hochschulen wie Heidelberg, Aachen und Darmstadt. Acceleratoren spielen eher selten eine Rolle. Doch ein Beispiel sticht heraus und wird auch von Christian Lüdtke ganz offen als großes Vorbild benannt: München.

Dort gibt es das Gründerzentrum UnternehmerTUM, das die Financial Times im vergangenen Jahr zum besten Gründerzentrum in Europa kürte. Jedes Jahr werden hier mehr als 70 technologieorientierte Unternehmen gegründet. Die Idee dazu hatte vor 22 Jahren der heutige TU-MünchenProfessor Helmut Schönenberger, er war inspiriert vom Entrepreneurship Centre der Elite-Uni Stanford im Silicon Valley und finanziell großzügig unterstützt von der BMW-Erbin Susanne Klatten. Der inhaltliche Fokus liegt auf Hightech-Start-ups. Auch einen eigenen Wagniskapitalfonds hat UnternehmerTUM, um Start-ups zu fördern. Zu den Alumni des Programms zählen unter anderem Deutschlands wertvollstes Start-up, das Softwareunternehmen Celonis, und das Raumfahrtunternehmen Isar Aerospace. Nun plant Lüdtke, ein bisschen UnternehmerTUM nach Essen zu bringen. Doch welche Bedingungen braucht es?

Reint Gropp ist Präsident des LeibnizInstituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH). Die Jagd nach attraktiven Wirtschaftsclustern kennt er als langjähriger Beobachter der ostdeutschen Wirtschaft sehr gut. Er sagt: »Start-up-Cluster entstehen nur in urbanen Räumen mit attraktiven Hochschulen.« So sei es beispielsweise beim Silicon Valley, der Mutter aller Start-upHochburgen. Das Valley liegt in der Metropolregion San Francisco, in unmittelbarer Nähe der Stanford-Universität. Allein mit Steuergeldern lasse sich das Valley nicht reproduzieren, und Gründer ließen sich nicht mit Subventionen locken. »Das wollen die in der Regel gar nicht, Gründer wollen vor allem einen Raum, in dem sie sich mit anderen jungen Unternehmern austauschen können.« Und die finde man in der Regel eben an attraktiven Studienstandorten.

Urbanität, attraktive Hochschulen? Gibt es in Essen. Die Stadt liegt mitten in der Metropolregion Rhein-Ruhr mit etwa zehn Millionen Einwohnern. Die Uni Duisburg-Essen zählt mit über 40.000 Studierenden zu den größten des Landes. Mit insgesamt drei Hochschulen pflegt Bryck eine enge Kooperation.

»Dazu kommen große Industrieunternehmen, die hier sitzen und als Partner für Start-ups fungieren können«, sagt Christian Lüdtke. E.on, Evonik, RWE und Thyssenkrupp haben ihren Sitz in Essen. Genau diese Konzerne will Lüdtke durch das »Accelerator as a Service«-Programm ins Zen-

15 Projekte wollen »Startup Factory« werden

trum locken. Gemeinsam mit ihnen setzt Bryck dabei spezielle Programme auf, die Lösungen für die Probleme der Konzerne finden sollen. Seit Mai unterstützt Bryck 20 Start-ups, rund die Hälfte davon im Rahmen solcher Firmenkooperationen.

Und was hat Bryck davon? Das Zentrum lässt sich die Vermittlung und Organisation des Programms von den Konzernen bezahlen. Die andere Einnahmequelle: die Beteiligung an Start-ups, die die AcceleratorProgramme durchlaufen.

Während Bryck damit eher ein Frühphasen-Investor ist, investiert der Hauptgeldgeber im Bryck-Tower eigentlich eher in späteren Unternehmensphasen: die RAGStiftung. Sie ist aus dem deutschen Steinkohlebergbau hervorgegangen und finanziert dessen Ewigkeitsaufgaben. Was das genau bedeutet und wieso die Stiftung nun ausgerechnet in ein Gründungszentrum investiert, erklärt der Vorstandsvorsitzende Bernd Tönjes. Der 69-Jährige begann einst als technischer Angestellter unter Tage,

später war er Zechenleiter, saß schließlich in den Vorständen der Deutschen Steinkohle AG und der RAG. Der Standort liegt dem Ruhrpottler fraglos am Herzen, allerdings betont er, dass es ihm bei Bryck nicht nur um Sentimentalität geht. Zu den Ewigkeitsaufgaben gehören etwa die Grubenwasserhaltung und die Grundwasserreinigung. Das kostet 250 bis 300 Millionen Euro im Jahr. Dieses Geld erwirtschaftet die RAGStiftung über ihr Kapitalanlageportfolio. Bryck, so Tönjes, ist Teil dieses Portfolios: »Von unserem Engagement bei Bryck versprechen wir uns perspektivisch den Zugang zu interessanten Investments in Startups für unsere Kapitalanlage.«

Das Erfolgsmodell UnternehmerTUM wollen auch andere nachahmen. Noch unter Leitung von Robert Habeck hat das Bundeswirtschaftsministerium das Förderprogramm »Startup Factories« aufgelegt. Fünf bis zehn neue Gründerzentren sollen damit in Deutschland gefördert werden, mit bis zu zehn Millionen Euro pro Projekt und noch einmal so viel privatem Kapital. Eine starke Anbindung an eine Hochschule ist Voraussetzung, auch die Einbindung privater Geldgeber. Das soll bewirken, dass an Hochschulen mehr Firmen gegründet werden. Es geht also nicht darum, einen Cluster mit der Brechstange zu schaffen.

Auch Bryck will Startup-Factory werden. »Wir haben dazu unsere Zusammenarbeit mit den lokalen Unis deutlich intensiviert und eine gemeinsame Bewerbung gestartet«, sagt Christian Lüdtke. Im Juni wird eine Jury entscheiden. Immerhin hat Bryck zwei Jahre Vorsprung und kann erste erfolgreiche Firmen vorweisen. Das KI-Start-up Unigy etwa hilft Stadtwerken dabei, überschüssigen Strom an den Börsen zu verkaufen.

Ob an der Ruhr tatsächlich ein zweites UnternehmerTUM entsteht? »Ich denke, dass wir in fünf Jahren profitabel sein werden«, sagt Christian Lüdtke. Ob nun mit den zehn Millionen des Ministeriums oder ohne, spiele dabei keine Rolle. »Ich beschäftige mich gar nicht mit der Option, dass wir nicht zu den Top-Kandidaten gehören«, sagt er. Sein Counterpart Bernd Tönjes ist ohnehin überzeugt: »Wer gründen will, der gründet am besten im Ruhrgebiet.«

Wenn die Chefin den Diener macht

Im Hotel Europäischer Hof in Heidelberg soll nicht nur der Gast König sein, sondern auch jeder Beschäftigte. Eine radikale Idee? Die einzig richtige, meint die Inhaberin VON CELINE SCHÄFER

Caroline von Kretschmann hat Führung neu gedacht
Foto
[M]: Julia Steinigeweg

Eigentlich hat Caroline von Kretschmann gerade Besseres zu tun, als sich das Ohr wund zu telefonieren. Es ist Dienstagvormittag nach Ostern, Hochbetrieb in Heidelbergs einzigem Fünf-Sterne-Hotel. Die letzten Gäste haben gerade ihr Frühstück beendet, und das Mittagessen wird schon vorbereitet. Von Kretschmann, geschäftsführende Gesellschafterin des Hotels, hat heute noch Meetings, muss Kundenrezensionen beantworten, sich um Buchungsanfragen kümmern und einer Regionalzeitung ein Interview geben. Und doch versucht sie seit einer halben Stunde, für eine Mitarbeiterin aus dem Housekeeping einen Termin beim Facharzt zu organisieren. In schwarzem Jackett und weißer Bluse sitzt die 57-Jährige am Schreibtisch ihres Büros und wählt die nächste Nummer. »Guten Tag, Caroline von Kretschmann vom Europäischen Hof, ich rufe für eine Kollegin an, sie hat starke Schmerzen an der Leiste«, sagt sie. »Die Kollegin ist gesetzlich krankenversichert. Besteht dennoch die Möglichkeit eines Termins?« Ja, das gehe, lautet endlich die Antwort am anderen Ende, die Untersuchung müsse aber selbst bezahlt werden. Von Kretschmann bedankt sich, legt auf. »Geht doch«, sagt sie und grinst. Es gibt einen Grund, warum die Hotelchefin für ihre Mitarbeiterin zum Hörer gegriffen hat, obwohl ihr Arbeitstag auch so länger als zwölf Stunden dauern dürfte: Sie versteht unter Führung etwas anderes als viele Chefs und Chefinnen. Caroline von Kretschmann hat sich der Philosophie des »Servant Leadership« verschrieben, der »dienenden Führung«. Bei diesem Konzept steht das Wohl der Mitarbeiter im Mittelpunkt. Verantwortung und Verbundenheit zeigen sich »oft in den kleinen Momenten des Alltags, und genau dort müssen wir sie leben«, sagt von Kretschmann. Doch was bedeutet das konkret? Und wie lässt sich ihr Führungsstil in einer konservativ geprägten Branche wie der Hotellerie umsetzen?

Der Europäische Hof in Heidelberg ist ein altehrwürdiges Haus im Stil eines Grandhotels. An den Decken funkeln Kronleuchter, der Boden ist mit gemusterten Teppichen ausgelegt, beim Frühstück sitzen die Gäste auf Stühlen, deren rote

EBezüge aus der hauseigenen Polsterei stammen. Ein Einzelzimmer kostet mindestens 229 Euro pro Nacht, eine Suite ist ab 460 Euro zu haben. Im Penthouse mit Blick auf das Schloss übernachten Scheichs mit ihrem Gefolge, manchmal auch Popstars wie Ed Sheeran. Wer von Kretschmann bei ihrer Morgenrunde durchs Hotel begleitet, bekommt einen ersten Eindruck, wie sie Führung im Alltag lebt. Sie spricht nie von Mitarbeitern, sondern immer von Kollegen, weil sie jedem auf Augenhöhe begegnen will. Sie möchte, dass sich ihr Team gesehen fühlt. Also besucht sie die Personalerinnen, die Mitarbeiter der Wäscherei, die Leute aus dem Marketing, die Spüler in der Küche. Und fragt: »Ist gestern noch alles gut gelaufen?« Oder: »Sind Sie wieder gesund?« »Führung beginnt mit echtem Interesse«, sagt von Kretschmann. »Ich frage nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil ich wissen will, wie es meinen Kolleginnen und Kollegen wirklich geht.«

Als Begründer des Konzepts der »dienenden Führung« gilt der US-amerikanische Manager Robert K. Greenleaf. Es war sein Gegenentwurf zum autoritären Führungsstil. Als Ziel von Führung formulierte er, dass die »Bediensteten«, also die Angestellten, als Personen wachsen, gesünder, weiser, freier und autonomer werden. Eine Philosophie, die der von Kretschmanns entspricht.

Als sie das Hotel mit seinen rund 160 Beschäftigten übernahm, war sie in der Hotellerie ziemlich unerfahren. Sie hatte nie ein Praktikum im elterlichen Betrieb gemacht oder irgendwo groß reingeschnuppert. Sie entschied sich nach dem Abi für

eine Banklehre in Frankfurt, studierte und promovierte in BWL in St. Gallen in der Schweiz und absolvierte im Anschluss eine Coaching-Ausbildung. Dann gründete sie zwei Beratungsfirmen. 2010 kehrte sie trotzdem zum Europäischen Hof zurück. Nach langem Überlegen. Eigentlich hatte sie ihren Eltern schon abgesagt, aber es arbeitete über Monate in ihr weiter. Sie habe da eine Verantwortung gespürt, nicht den Eltern, sondern dem Hotel gegenüber, sagt sie. Seit 2012 führt sie es gemeinsam mit ihrer Mutter Sylvia, ihr Vater leitet nur noch die familieneigene Immobiliengesellschaft.

Caroline von Kretschmann ist eine Quereinsteigerin. Und dazu noch eine experimentierfreudige. »Als wir unsere Vision für das Hotel formulierten, war schnell klar: Wir wollen nicht das größte, nicht das luxuriöseste und auch nicht das profitabelste Fünf-Sterne-Hotel Deutschlands sein –sondern das herzlichste«, sagt sie. Und Herzlichkeit werde in einem Hotel vor allem von den Mitarbeitern geprägt. Nur wenn die sich wohlfühlen, könnten das auch die Gäste. »Unsere Kollegen, vom Spüler bis zur Gastronomieleiterin, sind das Herz unseres Hauses. Sie sind unser eigentliches Alleinstellungsmerkmal, unser Stolz und das Beste, was wir haben.«

Viele finden diesen Ansatz radikal. Besonders in einem Hotel. Das hört von Kretschmann immer wieder. Aber sie sieht eben die Vorteile: geringe Fluktuation und hohe Loyalität, Stammteams, eine Auswahl an Bewerbern. Und das in einer Branche, in der Fachkräftemängel herrscht und jede vierte Stelle nicht besetzt werden kann.

Die Vorzüge der dienenden Führung beobachtet auch Claudia Buengeler, Professorin für Personal und Organisation an der Universität zu Kiel. Sie hat bereits zu verschiedenen Führungsstilen geforscht und sagt: Die Angestellten fühlten sich dadurch besonders wertgeschätzt und in ihren Fähigkeiten bestärkt. »Das wiederum steht positiv mit dem Engagement in Zusammenhang. Den Mitarbeitenden ist es dann wichtig, einen positiven Beitrag im Unternehmen zu leisten.« Das bedeute allerdings nicht, dass dienende Chefs keine Ziele vorgeben sollten. Im Gegenteil: »Sie sollten ihren Mitarbeitenden

dabei helfen, die Ziele zu erreichen – nur eben nicht autokratisch«, sagt Buengeler.

Auch im Europäischen Hof können die Mitarbeiter nicht tun und lassen, was sie wollen. Nur wählt Caroline von Kretschmann keinen Befehlston, wenn sie mit ihnen spricht, sondern führt, wie sie sagt, »entwicklungsorientierte Gespräche«, auch wenn etwas schiefläuft. »Fehler sind Lernchancen«, sagt sie. Aber auch sie hat schon Leuten gekündigt, die sich nicht an die Regeln hielten. Von Kretschmann lässt sich siezen, kommt jeden Tag im Anzug zur Arbeit und trägt die Haare streng zurückgekämmt. Sie sagt, das Siezen schaffe bei aller Nähe zum Team »eine wertvolle Balance«, und die Anzüge seien eine »Uniform, in der ich mich wohlfühle«.

Nicht in allen Branchen funktioniere diese Art der Führung gleich gut, sagt die Forscherin Buengeler. »In Unternehmen, in denen Aufgaben mechanisch abgearbeitet werden müssen, haben dienende Führungskräfte möglicherweise einen schlechteren Stand, da sie ein Klima des Lernens und der Entwicklung anregen.« Doch in kreativen Berufen und in der Wissensarbeit – also etwa in der Forschung, im Schulwesen oder im Journalismus – ließen sich durch dienende Führung leichter Erfolge erzielen.

Ein Luxushotel fällt in keine dieser Kategorien. Allerdings hat sich Familie von

800.000

Euro muss von Kretschmann pro Jahr mindestens in ihr Hotel investieren, um den Status quo zu erhalten

Kretschmann ja mit der Herzlichkeit ein besonderes Ziel gesetzt. Und damit Gewinn nicht zur Maxime gemacht. »Wir verfolgen keinen nüchternen Zahlenfokus, sondern orientieren uns an einem tieferen Sinn. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem Menschen glückliche Momente erleben. Das ist unser Antrieb, nicht die Bilanz«, sagt von Kretschmann. »Hätten wir nach Renditemaximierung gehandelt, gäbe es dieses Haus in dieser Form schon lange nicht mehr.«

Luxushotellerie ist ein hochpreisiges und hochriskantes Geschäft. Ein Hotel wie der Europäische Hof braucht viel Personal und eine hochwertige Ausstattung. Es muss regelmäßig renoviert werden – wer mehrere Hundert Euro pro Nacht für ein Zimmer ausgibt, hat Ansprüche. Fast jeder politische Umbruch wirkt sich auf das Geschäft aus. Wenn im Nahen Osten Krieg herrscht, kommen weniger Geschäftsmänner aus der Region nach Heidelberg, und wenn die deutsche Regierung einen CO₂­Preis einführt, steigen die Heizkosten. »Leicht war es noch nie, und deshalb ist Demut eine unserer größten Stärken«, sagt Caroline von Kretschmann. Erst im November erreichten sie die Gewinnzone – in guten Jahren. Die vergangenen zwei Jahre zählten nicht dazu. Ihr Unternehmen habe mehrmals die Umsatzziele nicht erreicht. Trotzdem werde »jeder

frei verfügbare Euro« in den Betrieb gesteckt, es habe noch nie eine Ausschüttung an die Gesellschafter gegeben.

Vor wenigen Monaten haben Forscherinnen der Uni Bamberg eine Studie veröffentlicht, die zeigt: Dienende Führung kann Mitarbeitern helfen, mit Krisen besser umzugehen. Seit Caroline von Kretschmann den Europäischen Hof leitet, musste der schon einige Krisen durchstehen. In der Coronapandemie musste sie ihr Hotel schließen und die Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken. »Natürlich war das hart«, sagt von Kretschmann. Allerdings habe sie keine Auszubildenden entlassen und die Verträge jener verlängert, die während des Ausbruchs der Pandemie noch in Probezeit waren. »Wir hätten lieber privat einen Kredit aufgenommen, als jemanden fallen zu lassen«, sagt von Kretschmann. So was merken sich die Mitarbeiter. Ihre Zufriedenheit spiegelt sich in fast ausnahmslos positiven Berichten auf dem Arbeitgeberbewertungsportal Kununu. Caroline von Kretschmann glaubt: Sie werden bleiben. Selbst wenn eine der großen Hotelketten anruft und versucht, sie mit dem Versprechen auf mehr Geld abzuwerben. Aber wie heißt es doch: Mitarbeiter verlassen keine Unternehmen, sondern ihre Chefs. Da stehen ihre Karten also recht gut.

Foto: Europäischer Hof Heidelberg

Th e re :G ener at ion

WEI LKOMPENSAT ION ALL E IN NICH TR EICH T

Klimas chut zb edeutetmehrals CO ₂Komp ensation –e sgehtumRegeneration! Um unsere natürlichenLebensgrundlagen zu sichern, müssen wirzerstör te Ökos ys teme wiederherstellen.Dennnur eingesunderPlanet bietet dieRes sourcen, diewir heuteund in Zukunf tbrauchen.

Mituns eren re:GenerationFores ts kann Ihr Unternehmenaktiv zurWiederauf fors tung tropis cher Re genw älderb eitragen ,mes sbare Nachhaltigkeit sziele er füllen unddie eigene ESG-Strategiemit einemwirkungsvollenKlimaschutzprojek ts tärken.

IhrBeitrag ermöglicht dienachhaltige Aufforstung in Panama –für eins tabilesKlima,mehr Biodiversitätund eine lebens werteZukunft

„Was der Umwelt guttut, schafftauch bleibenden Wert für Unternehmen.“

BorisHesse

Ihr Ansprechpartner bei TheGeneration Forest bhesse@thegenerationforest.com

JetztWälderschaf fen! Mehr Informationenauf : unternehmen.thegenerationforest.com

Immer schön authentisch tun

Viele Chefs und Chefinnen stellen sich vor die Kamera und nehmen Clips für TikTok auf. Das kostet wenig und kann viel bringen – selbst wenn man nur ein Weißbrot zerrupft

Was, ja was nur ist in diesen Zeiten wohl das größte Problem eines Bäckers? Die gestiegenen Kosten? Die zögerlichen Kunden? Die fehlenden Fachkräfte und Azubis vielleicht? Mathias Elshoff, ein Bäckermeister und Unternehmer aus Nordwalde, beantwortet die Frage auf seine Weise. Er steht hinter der Theke seiner Bäckerei, vor ihm liegen Puddingbrezeln, Nussecken und Schweineohren. Dann schnappt er sich ein Plätzchen, beißt rein und sagt: »Dass es immer so viel Leckeres überall zu essen gibt.«

Nur so dahergesagt ist es im Fall von »Elshoffs Landbäckerei« nicht. Und das liegt daran, dass Mathias Elshoff seit fast einem Jahr täglich Videos auf TikTok postet; auch die Szene mit dem Plätzchen landet dort. Ein guter Spruch, und fertig ist der Clip. Kein Scheinwerfer, kein Teleprompter, keine Windmaschine. Was nach nicht viel aussieht, ist vielleicht die erfolgreichste Kampagne, die die Landbäckerei Elshoff je hatte. Und dafür braucht es nur einen Bäcker und ein Smartphone.

Anfangs war Elshoff ja skeptisch. »Was soll ich da erzählen?«, dachte der 57­Jährige, »das interessiert doch keine Sau.« Falsch gedacht. Ein vermeintlich banales Video, in dem Elshoff erklärt, warum er sein Brot nicht schneiden lassen würde, erhält 4,6 Millionen Aufrufe. Weitere 2,7 Millionen Aufrufe brachte ein Clip, in dem er Weißbrot zerrupft. Hunderttausende gucken zu, wenn er Brötchenteig knetet oder zeigt, wie man in einen Berliner beißt, ohne sich das Hemd mit Marmelade zu besudeln.

Unternehmen geben immer mehr für ihr Marketing in den sozialen Medien aus, zeigt der Dialogmarketingmonitor der Deutschen Post, der rund 1.500 Firmen zu ihren Werbetätigkeiten befragt. Hochgerechnet 1,9 Milliarden Euro im Jahr 2023 – ein Drittel mehr als noch 2020. Und obwohl über die Hälfte der Firmen Social­Media­Marketing nutzen, kostet es diese durchschnittlich nur 1.200 Euro jährlich. Die fließen vor allem in geschaltete Werbung.

Doch auch ohne bezahlte Werbung sind die Plattformen wertvoll. TikTok zählt allein in Deutschland über 20 Millionen Nutzer. Ihre Smartphones sind mobile Werbetafeln. Schön blöd, wer die nicht bespielt. Egal ob

WAccount, doch um das neue Brot ohne Hefe zu vermarkten, wollte der Chef TikTok zumindest einmal ausprobieren.

Für sein erstes Video an diesem Tag hat Elshoff eine Requisite vorbereitet: eine weiße Plastikschale, darin braune Teigmasse. Vor der Kamera pult er mit einem Finger darin herum. Die könne jeder mit einer Backmischung von ihm und ein wenig Wasser selbst zusammenmixen. Gut zwei Minuten lang erklärt er, wie man daraus Brot backt. Dann ist der Film fertig. Circa 30 solcher Clips dreht er heute.

kleine Betriebe oder Großkonzerne, alle versuchen das Potenzial der Plattformen auszuschöpfen, teils mit skurrilen Videos. Das Team der Glaserei Sturm singt Bauch Beine Po von Shirin David. Dina Reit, die Chefin der Firma SK­Laser, probiert, ob sich mit dem Laser auch Würstchen brutzeln lassen. Und beim »Öschberghof« tanzt das Personal in Dienstkleidung vor dem Hotel.

Einmal im Monat stellt sich Bäckermeister Elshoff mehrere Stunden lang vor die Linse. Heute wird in seiner Filiale in Altenwalde im Münsterland gedreht. Der Verkauf geht währenddessen ganz normal weiter. An einem Tisch in der Ecke der Bäckerei trinkt ein älteres Pärchen Kaffee, ab und zu kauft jemand ein paar Eier oder Schwarzbrot. »Ist das schlimm, wenn ihr mit drauf seid?«, ruft Elshoff den beiden jungen Verkäuferinnen zu. »Ungerne«, antwortet eine. Also das Stativ noch mal umstellen. Dann geht es los, er klipst sich ein Mikrofon ans Hemd und sagt: »Test, Test.«

Vor ein paar Jahren wären Werbeprofis vielleicht noch panisch durch die Backstube gerannt, hätten Tische verschoben, Lichter aufgebaut und die Mehlspuren vom Ofen gekratzt. Heute reicht dem Bäckermeister ein Stativ, auf das ein Handy geschraubt ist. Elshoff trägt ein weißes Polohemd mit dem Aufdruck: »... keine Hefe im Brot!« Damit hat überhaupt alles angefangen. Schon länger führte die Bäckerei einen Instagram­

Im nächsten deutet Elshoff auf ein Schwarz­Weiß­Bild an der Wand, es zeigt einen Mann mit Schiebermütze: Uropa Alex, den Gründer der Landbäckerei. Auch Elshoffs Großvater und seine Uroma sind zu sehen. Elshoffs Message: »Bei der Landbäckerei Elshoff backen wir mit Tradition.«

Damit Tradition und TikTok zusammenwirken, holt sich Elshoff Hilfe bei Erik Meininger. Der Social­Media­Berater fährt zu Unternehmen, nimmt in ein paar Stunden Dutzende Clips auf und schneidet sie. Allein ist Elshoff also nicht beim Dreh. Meininger betreut noch sechs weitere Kunden, darunter: ein Soldat, ein Fitnessstudio, ein Brauhaus, ein Versicherer. TikTok klappe für alle Branchen, sagt Meininger, aber besonders gut im Handwerk. Pro Kunden nimmt er rund 1.000 Euro im Monat. »Wer sagt, dass Erfolg immer harte Arbeit sein muss?«, findet er. Für den Erfolg auf TikTok brauche es nur ein Handy, ein bisschen Know­how und »die richtige Einstellung«. Die App ist kostenlos, Schnittprogramme sind meist leicht zu bedienen.

Zwar gibt es auch die Möglichkeit, sich Klicks und Abonnenten online zu kaufen. Doch Meininger hält nichts davon, er habe das noch nie gemacht, sagt er. »Ich will ja echte Kunden erreichen. Man braucht organischen Aufbau, sonst bringt das für den Algorithmus nichts.« Der funktioniert auf TikTok so, dass jedes Video viral gehen kann, egal wie viele Follower ein Account hat. »Es ist Gratis­Marketing«, sagt Meininger, »jeder kann damit anfangen.«

Tatsächlich hat Elshoff nicht mal einen Text vorbereitet, wenn er vor die Kamera tritt. Er und Meininger einigen sich nur

darauf, was grob passieren soll. Das Resultat: Wenn Elshoff spricht, verhaspelt er sich auch mal, stockt manchmal und äht ein wenig. Genau so soll es sein. »Heute gilt: Je authentischer, desto besser«, sagt Meininger. Dass Elshoff ein redseliger Typ ist, komme gut an. Wenn er vor die Kamera trete, wirke er ehrlich. Auf TikTok sei das sein Trumpf. Es zähle nicht der beste Werbespruch, sondern Authentizität.

»Parasoziale Beziehung« nennt das Swaran Sandhu im Gespräch mit ZEIT für Unternehmer. Er ist Professor für Unternehmenskommunikation an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Wenn jemand auf einer Plattform authentisch sei, habe der Zuschauer das Gefühl, diese Person zu kennen. Neue Medien böten so neue Wege, Kundenbindung aufzubauen.

Sabine Klingelhöfer versucht das zu nutzen, allerdings mithilfe eines anderen Kanals. Sie betreibt seit vier Jahren den Podcast Einfach natürlich gärtnern für die Neudorff GmbH, einen Hersteller für Dünger, Erde und Pflanzenschutzmittel aus Emmerthal, Niedersachsen. Alle zwei Wochen setzt sich Klingelhöfer vors Mikrofon und spricht übers Gärtnern: Wie kann ich Kletterpflanzen anbauen, in welchen Gärten fühlen sich Bienen wohl?

Auf die Idee zum Podcast kam sie, weil einfache Posts auf Social Media ihr zu oberflächlich waren. Viele ihrer Produkte seien »erklärungsbedürftig«, sagt Klingelhöfer, »aber die Leute wollten nicht mehr lesen«. Klingelhöfer ist gelernte Gartenbauingenieurin, sie kann stundenlang über Mehltau, Blattknollen und Obststräucher referieren. Das Format soll die Marke stärken. »Bei Marktumfragen fällt Leuten beim Thema Dünger und Erden nicht als Erstes Neudorff ein«, sagt sie. Ihre Hoffnung: Wer das nächste Mal durchs Gartencenter läuft, erkennt die Marke wieder, vertraut ihr und entscheidet sich für deren Blumenerde.

Dabei verwendet Klingelhöfer das Wort Neudorff in den Folgen selten explizit. »Wir haben mal eine Episode für ein Neuprodukt gemacht, das wir pushen wollten. Das war eine richtige Werbesendung.« Das Resultat: Die Leute hätten weggeklickt und seien genervt gewesen.

77 %

der Firmen im Land haben laut einer Bitkom-Umfrage mindestens einen Account in einem sozialen Netzwerk und sind im Schnitt bei vier Plattformen registriert

Doch auf Spotify, einer der beliebtesten Audio-Plattformen, ein Publikum zu finden, ist nicht leicht. Hörer müssen aktiv nach dem Podcast suchen, meist findet man ihn nicht mal unter dem Firmennamen. Die Konkurrenz ist gewaltig. Und anders als bei TikTok funktioniere laut Sandhu der »quick-and-dirty«-Ansatz nicht: »Die Audioqualität muss gut sein«, sagt er.

Unternehmen stecken deswegen mitunter viel Arbeit in ihre Podcasts, wie sie auf Nachfrage von ZEIT für Unternehmer bestätigen. Der Schraubenhersteller Würth betreibt ein eigenes Studio für Video und Audio und steckt ein bis zwei Tage Arbeit in eine Folge. Der Logistikkonzern Dachser bezahlt eine externe Agentur für seinen Podcast. Und beim Europapark Rust gibt es sogar zwei hausinterne Podcast-Producer.

Der Forscher Sandhu betont, dass Authentizität bei Podcasts wie bei TikTokVideos entscheidend sei. »Wir haben ein ganz feines Sensorium in der Sprache entwickelt, ob jemand glaubwürdig ist«, sagt er.

Ein Spagat. Denn natürlich wollen Unternehmen auf sich aufmerksam machen. Aber wer offensichtlich wirbt, verspielt die parasoziale Beziehung. Sandhu würde Firmen-Podcasts daher größtenteils nicht als Werbung bezeichnen: »Es geht ja seltener um den direkten Absatz von Produkten, sondern eher um die Darstellung der Organisation, den Blick hinter die Kulissen, die Nahbarkeit des Führungspersonals.«

Für Neudorff scheint das Konzept aufzugehen. Der Podcast erreicht 25.500 Hörerinnen und Hörer, zeigt Klingelhöfer in Screenshots. In den deutschen AppleCharts liegt der Podcast immerhin unter den Top 50 in der Kategorie »Freizeit«. Und es gibt inzwischen eine Vielzahl CorporatePodcasts: Bei Miele etwa hört man Mitarbeitern bei ihrem Arbeitsalltag zu. Im Kärcher-Podcast erzählt ein ehemaliger Radsportler, wie er sein Fahrrad mit einem Hochdruckreiniger säubert. Und der Biercast der Brauerei Weihenstephan erklärt, was der Hopfen eigentlich im Bier macht.

Die Klickzahlen verraten viele Firmen nicht, sie liegen aber häufig bei einer dreistelligen, manchmal niedrigen vierstelligen Hörerzahl pro Folge. Klingt nach nicht viel. Aber darum allein geht es vielen Firmen auch gar nicht. Der Gipshersteller Knauf etwa startete während der Coronapandemie einen Podcast, um seine Händler besser zu erreichen. Mieles Podcast Digital Talents sei anfangs zu Recruiting-Zwecken gedacht gewesen, teilt der Hausgerätekonzern mit. Der Chemiehersteller Evonik nutzt seinen Podcast vor allem für die interne Kommunikation: Führungskräfte erklären den Mitarbeitern strategische Entscheidungen. Der Erfolg dieser Ziele lässt sich schwerlich messen.

In der Backstube von Mathias Elshoff hat sich allerdings etwas getan. An seinem Rechner zeigt der Unternehmer den monatlichen Umsatz. Der ist angestiegen, seit Elshoff mit seinen TikTok-Videos begonnen hat. Auch im Hofladen kämen Kunden, »die ich noch nie gesehen habe, und kaufen den halben Laden leer«, habe ihm seine Frau Sabine Elshoff erzählt. Zudem seien die Bestellungen im Onlineshop angestiegen. Gerade habe sich außerdem eine Konditorin auf Jobsuche gemeldet. Und auf TikTok schreibt ein User: »Ich möchte eine Ausbildung machen.« Gut, keine besonders tolle Bewerbung. Aber Sorgen um fehlende Azubis muss sich Elshoff wohl erst mal nicht machen.

brand eins Peergroups

DiePeerg roup wi rd mi r Impu lsegeben.

TrauenSie sich insradik al steFormatf ür Führ ungskräf te?

Ex klus iv it ät : Au sgew ählter Krei svon ma x. 10 Führ ungs kr äf te naus ve rs ch.B ra nc he n

Ca se -S tu dy : Alle Te ilne hm en de nb ringen eine be ru flich eHer au sf orde rung mi t

Ne ue Per sp ek ti ve n: Führ ungs kr äf te spie ge ln sich ge ge ns ei tigr adik al ehrlichund scho nung slos off en

Ge sc hü tz te rRaum: 4x2Tageb ei br an de in sinHamburg üb er einJ ahrver te ilt

Je tz tbewerben!

br andeins.de/peerg roups

Die stehen unter Druck

Im Klimacheck nehmen wir in jeder Ausgabe ein Unternehmen unter die Lupe. In Folge 8 ist es eine Firma, mit deren Maschinen Markenhersteller weltweit Verpackungen bedrucken. Und diese Kunden fordern nun mehr Nachhaltigkeit VON KRISTINA LÄSKER

Das Unternehmen: Koenig & Bauer AG aus Würzburg

Direkter CO₂-Ausstoß, der sogenannte Scope 1: 6.712 Tonnen (0,265 Prozent)

Indirekter CO₂-Ausstoß aus eingekaufter Energie, (marktbasierter) Scope 2: 6.909 Tonnen (0,273 Prozent)

Indirekter CO₂-Ausstoß von Zulieferern, Dienstleistern und Kunden, Scope 3: 2.515.850 Tonnen (99,461 Prozent)

CO₂-Ausstoß insgesamt: 2.529.471 Tonnen

Quelle: Nichtfinanzieller Konzernbericht 2024

Klimaziele:

Bis 2025 will Koenig & Bauer die Emissionen in Scope 1 und 2 um 75 Prozent im Vergleich zu 2019 senken. 2030 sollen beide Bereiche klimaneutral sein, ohne Emissionen durch Zertifikate auszugleichen. Das Unternehmen ist zwar kein Pionier, aber engagiert sich mehr als andere.

Würzburg. Einer der ersten Kunden war die Londoner Tageszeitung »The Times«. Noch 2008 stammten zwei Drittel der Erlöse von Koenig & Bauer aus dem Geschäft mit Druckereien, die mit den Maschinen des Unternehmens Zeitungen, Kataloge und Zeitschriften druckten. Dann zwangen die Finanz- und die Medienkrise zum Umdenken. Heute erzielt Koenig & Bauer den größten Teil seines Umsatzes mit Kunden, die Banknoten und Verpackungen drucken. Ob Schachteln für Cornflakes, Chips-Packungen oder Tetrapaks für Milch: »Ein Großteil der Verpackungen ist über unsere Druckmaschinen gelaufen«, sagt der Vorstandsvorsitzende Andreas Pleßke. Seit 1920 ist Koenig & Bauer eine Aktiengesellschaft. Nachfahren der Gründer halten 16,7 Prozent der Aktien. In der Führung sitzt kein Familienmitglied mehr.

Für Scope 3 – der indirekte Ausstoß, der in der Bilanz besonders auffällt – hat sich das Unternehmen keine Ziele gesetzt. Das sei typisch für die Branche, sagt Bernd Heusinger, der Nachhaltigkeitsmanager des Unternehmens.

Eigentümer und Produkte:

Im August 1817 gründeten Friedrich Koenig und Andreas Bauer eine Schnellpressenfabrik in der Nähe von

Umsatz und Verlust:

Wegen der schwachen Wirtschaftslage ging die Nachfrage nach Druckmaschinen 2024 zurück. Koenig & Bauer machte 69,8 Millionen Euro Verlust und rea gierte mit Kürzungen, 300 Stellen wurden eingespart. Das gelang vor allem, indem Mitarbeiter die Arbeitszeit von 40 auf 35 Stunden reduzierten und auf Lohn verzichteten. Ende 2024 beschäftigte Koenig & Bauer etwa 5.600 Menschen. Der Umsatz schrumpfte auf 1,27 Milliarden Euro, ein Minus von knapp vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das verkleinert den Spielraum für Investitionen in mehr Klimaschutz.

Was war der Auslöser für mehr Klimaschutz?

Die Regulierung. Seit 2017 gilt in der Europäischen Union die Non-Fictional Reporting Directive: Börsennotierte Großunternehmen müssen nun »nichtfinanzielle Daten« ausweisen, etwa zum Klimaschutz. Koenig & Bauer erhebt seit 2017 die Scopes 1 und 2, 2021 kam Scope 3 dazu. Mit den schärferen Vorschriften

wuchs aber auch der Druck der Kunden. Markenhersteller wie Nestlé oder Coca-Cola fordern, dass Verpackungen nachhaltiger werden. Die Verpackungsfirmen geben den Druck an Hersteller von Druckmaschinen wie Koenig & Bauer weiter.

Scope-2-Ausstoß trotzdem um 11,4 Prozent gestiegen. Daran ist laut Heusinger der kältere Winter schuld: Koenig & Bauer hat mehr Fernwärme zum Heizen gebraucht

Wo sind die Grenzen?

Was schadet dem Klima am meisten?

Der direkte CO₂-Ausstoß und der indirekte Ausstoß aus eingekaufter Energie (Scope 1 und 2) machten im Vorjahr 13.621 Tonnen aus, ein halbes Prozent der Gesamtmenge. Der Rest entstand in Scope 3. Den größten Klimaschaden verursachte die Nutzung der Druckmaschinen durch Kunden: Das waren gut 93 Prozent aller Emissionen.

Was sind die wichtigsten Maßnahmen?

In Scope 1 sind die Emissionen im Vorjahr um 7,7 Prozent gesunken. Hauptgrund: Der Produktionsstandort Mödling in Österreich wurde von Erdgas auf grüne Fernwärme umgestellt. Gerne würde Koenig & Bauer an weiteren Standorten auf grüne Fernwärme umsteigen, doch das sei nicht immer möglich, sagt der Nachhaltigkeitsmanager Heusinger. Im Werk Radebeul bei Dresden scheiterte das am Versorger. Im Vorjahr wollte der für die Erzeugung der Fernwärme statt Kohle künftig Holzpellets verbrennen. Dann stiegen die Rohstoff-Preise, das Ganze wurde zu teuer. »Er hat das Angebot für die grüne Fernwärme wegen der höheren Kosten zurückgenommen«, sagt Heusinger. Schuld an den CO₂-Ausstößen in Scope 1 ist auch der Fuhrpark, Koenig & Bauer setzt nicht auf E-Autos. »Im Service brauchen die Mitarbeiter die Verbrenner noch, weil sie schnell und zuverlässig beim Kunden sein müssen«, sagt Heusinger

In Scope 2 spart der Konzern schon länger Emissionen, weil die zwei größten Fabriken in Würzburg und in Radebeul seit 2021 Ökostrom aus Wasserkraftwerken in Norwegen beziehen. Manche Standorte nutzen Grünstrom aus eigenen Photovoltaik-Anlagen, weitere sollen folgen. 2024 ist der

Im Bereich Scope 3 fallen 99,5 Prozent aller Emissionen an. Den größten Anteil machen die Kunden weltweit aus, die mit den Druckmaschinen arbeiten. Und das könne Koenig & Bauer nur bedingt beeinflussen, erklärt Firmenchef Pleßke. So bietet der Hersteller Trainings zum Energiesparen oder Software-Programme zur Optimierung an. Aber: »Wir haben es nicht in der Hand, wie jemand eine Maschine bedient, wartet oder wie oft er sie herauf- oder herunterfährt.« Unabhängig davon sollten Druckmaschinen aber künftig weniger Strom, Tinte oder Papier verbrauchen, sagt Pleßke: »Wir arbeiten daran, dass sie mit jeder neuen Generation absolut weniger CO₂ beim Drucken erzeugen.«

Was kostet es?

Investitionen: Die Gießerei in Würzburg ist der größte Stromfresser im Werk. Für sie wurden zwei Induktionsschmelzöfen gekauft, die etwa ein Drittel weniger Strom verbrauchen. Das hat laut Pleßke einen mittleren einstelligen Millionenbetrag gekostet.

Was bringt es?

Bürokratie: Durch die Berichtspflichten sei »eine überbordende Bürokratie entstanden«, sagt Pleßke. Koenig & Bauer müsse viele unnütze Zahlenberge erzeugen.

Kreativität: Nachwuchskräfte haben eine Software entwickelt, die Investitionen nach ihrem Energieverbrauch bewertet und zeigt, welches Vorhaben wie viel CO₂ einspart. »Das hilft uns beim Priorisieren enorm«, sagt Pleßke.

Arbeitgeber-Image: Der Einsatz für mehr Nachhaltigkeit helfe beim Rekrutieren, sagt Pleßke. »Das bringt uns Talente an Bord.«

Abgründe im Archiv

Nur acht Prozent der betroffenen Mittelständler haben ihre Geschichte zwischen 1933 und 1945 aufgearbeitet – dabei wären die Daten alle da. Aber auch 80 Jahre nach Ende des Krieges wollen nur wenige die eigene Vergangenheit kennen VON DANIEL ERK

Die SAG (heute: Coatinc) profitierte erheblich von der Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten. Das Bild zeigt eine Jubilarfeier in den 1930er-Jahren. Unter dem Porträt Adolf Hitlers sitzt der damalige Vorstand Werner Niederstein, dessen Nachfahren die dunkle Geschichte der Firma viele Jahre später aufarbeiten ließen

Foto: Archiv Niederstein

Auf dem Tisch liegt eine blaue Kladde mit vergilbten alten Papieren, 500 eng beschriebene Seiten. Manche sehen aus, als seien sie aus Marmor, so zersetzt von feinen Brüchen sind sie. »Da«, sagt Michael Bermejo-Wenzel, »schauen Sie« – er zeigt auf einen mit Schreibmaschine verfassten Brief, in dem ein Unternehmer auf die »Abstellung« der versprochenen Polen und Ukrainer drängt. »Die fordern Zwangsarbeiter an wie Waren.« Unter dem Brief steht: »Heil Hitler!« Hier, im Bundesarchiv, Dienststelle Berlin, sitzt Michael Bermejo-Wenzel, Historiker, Senior-Researcher bei der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte und Autor diverser Standardwerke zur Aufarbeitung des »Dritten Reichs«, an diesem Vormittag an einem Puzzle. Dieses Puzzle wirft seit über 80 Jahren Fragen auf – und die Kladde DY55/3613 ist nur ein Teilchen von Millionen. Irgendwo in den Listen, Briefen und Vermerken hofft Bermejo-Wenzel eine Antwort auf die Frage zu erhalten: Wie hat sich der deutsche Mittelstand, das oft besungene Rückgrat der deutschen Wirtschaft, im Nationalsozialismus im Wesentlichen verhalten? So anständig wie eben möglich? Opportunistisch? Oder aus Überzeugung faschistisch und judenfeindlich? Jedes Beweisstück muss gesichtet werden. Manchmal, flüstert Bermejo-Wenzel, komme er sich vor wie bei der Spurensicherung. Oft sucht er für eine Recherche in bis zu 30 Archiven, sichtet Hunderte Akten und liest Tausende Seiten.

Ja: Vielen dürfte bekannt sein, dass Volkswagen auf persönlichen Wunsch Adolf Hitlers gegründet wurde. Dass die Familie Quandt, der heute ein Großteil des Auto-

Akonzerns BMW gehört, durch Enteignungen jüdischer Unternehmer und die Arbeitsdienste von KZ-Insassen reich wurde. Oder dass die Chemiekonzerne Agfa, BASF, Bayer und Hoechst als I.G. Farben in der NS-Zeit das erste privat finanzierte Konzentrationslager errichteten und die SS mit Zyklon B belieferten. Mit jenem Giftgas also, das für die Massenermordung der europäischen Juden eingesetzt wurde.

Die Rolle des Mittelstands in der NSZeit ist aber bis heute nur wenigen bewusst. 80 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes sind die Verstrickungen der Unternehmen in die Verbrechen der Nationalsozialisten kaum beleuchtet.

Und das, obwohl die alten Akten im Bundesarchiv öffentlich zugänglich sind. Und obwohl in den vergangenen Jahren durchaus Bücher erschienen sind, die oft zum ersten Mal ernsthaft die Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus beleuchten. Sie zeigen, dass man genau herausfinden kann, wie und vor allem mit welchen Motiven ein Unternehmen während der NS-Herrschaft gehandelt hat.

Manchmal bedarf es aber erst eines Shitstorms, bis Unternehmerfamilien sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigen. Im Jahr 2019 etwa behauptete Verena Bahlsen, Erbin des gleichnamigen Keks-Imperiums, Bahlsen habe »Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen«, »gut behandelt« und sich »nichts zuschulden kommen lassen« – und verursachte damit einen Skandal. Bahlsen, damals 25, entschuldigte sich kurz danach und versprach, sich intensiver mit der Geschichte des Unternehmens zu beschäftigen.

Das Unternehmen aus Hannover ließ die Firmenhistorie anschließend von Historikern aufarbeiten. Ihre Recherchen zeigten, dass Bahlsen zwischen 1940 bis 1945 deutlich mehr Zwangsarbeiter beschäftigt hat als lange behauptet. »Unsere Vorfahren und die damals handelnden Akteure haben sich in der NS-Zeit das System zunutze gemacht. Ihr Hauptantrieb schien darin zu bestehen, die Firma auch im NS-Regime weiterzuführen, was schlimme Konsequenzen hatte«, räumte die Unternehmerfamilie 2024 ein.

Auch die Erben des Gütersloher Hausgeräteherstellers Miele haben sich erst viele Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Detail mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus befasst. Fragt man bei dem Unternehmen ein Interview zu dem Thema an, lehnt die Pressestelle ab und verweist auf das Buch Miele im Nationalsozialismus – Ein Familienunternehmen in der Rüstungs­ und Kriegswirtschaft, das Ende 2023 erschienen ist. Der Familienrat und die Geschäftsleitung hätten den Auftrag dazu gegeben, schreibt die Pressestelle im Namen der beiden Firmenerben Markus Miele und Reinhard Zinkann weiter, weil man »in Gesprächen mit Vorfahren und ehemaligen Beschäftigten über die Jahre den Eindruck gewonnen hatte, dass längst nicht alle Ereignisse bei Miele während der Jahre 1933 bis 1945 präzise überliefert sind«. Heute wisse man, dass man sich »zu lange auf die mündlichen Überlieferungen in den Familien und im Unternehmen verlassen« habe, »viele Details« hätten Miele und Zinkann »überrascht und sehr betroffen gemacht«, »vor allem, dass Miele in deutlich

größerem Umfang Munition unterschiedlichster Art produziert hat, als wir dies jahrzehntelang geglaubt haben«.

Es fällt schon auf: Unternehmen, die ihre Geschichte zurzeit aufarbeiten, waren nicht bereit für ein Gespräch mit ZEIT für Unternehmer. Und ist die Aufarbeitung einmal dokumentiert, wächst die Bereitschaft nicht etwa. Im Gegenteil: Es gibt ja dann ein Buch, auf das man verweisen kann.

Eine Ausnahme ist Paul Niederstein, 50, Erbe und Chef der Coatinc Company. Das 1502 in Siegen gegründete Unternehmen ist auf Oberflächenveredelung von Stahl und Metall spezialisiert – und hat, damals noch als Siegener Aktiengesellschaft für Eisenkonstruktion, Brückenbau und Verzinkerei (SAG), in erheblichem Maße von der Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten profitiert.

Niederstein selbst hat im Jahr 2020 einen Historiker mit der genauen Aufarbeitung der Unternehmens­ und Familiengeschichte beauftragt. »Mir war schon vorher bewusst, dass unser Unternehmen während des Krieges Waffen für U­Boote und Materialien für den Schacht­ und Stollenausbau produziert hat – und dass wir Kriegsgefangene beschäftigt haben«, sagt Niederstein. »Das Unternehmen hat während des Krieges gut verdient und tatsächlich sogar noch bis in das Geschäftsjahr 1944/45 Umsatzsteigerungen, Mengensteigerungen und Ergebnissteigerungen erwirtschaftet.«

Ein Großonkel, erzählt Niederstein, sei schon im März 1933 in die NSDAP eingetreten – »dem konnte es gar nicht schnell genug gehen«. Aber auch sein eigener Großvater sei 1939 den Nationalsozialisten beigetreten. »Wenn ich dieses Kapitel unserer Geschichte einfach unter den Teppich kehre, dann widerspricht das allem, was ich meinen Kindern über Verantwortung und Haltung vermitteln will«, sagt Niederstein. »Natürlich kann das Auswirkungen auf die Reputation haben. Aber wenn man anfängt, Dinge zu verstecken, wird es gefährlich.«

Andrea Schneider­Braunberger hat eine ganze Reihe von Firmenerben wie Niederstein kennengelernt. Die 57­Jährige ist Historikerin und leitet die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte in Frankfurt, sie

»Wenn man anfängt, Dinge zu verstecken, wird es gefährlich«
Paul Niederstein, 50, Chef von Coatinc

ist die Chefin von Michael Bermejo­Wenzel. Quer über die Kreuzung hinter ihrem Schreibtisch befindet sich die orthodoxe Synagoge des Frankfurter Westends. Die Regale in Schneider­Braunbergers Büro sind voll mit ihren Büchern: Waffeningenieure im Zwielicht, eine Geschichte der Vorgängerfirmen von Heckler & Koch, das Buch über Miele, Das Bankhaus Metzler im Nationalsozialismus und, gemeinsam mit BermejoWenzel, Das goldene Netzwerk. Die Deutsche Gesellschaft für Goldschmiedekunst in der Zeit des Nationalsozialismus.

Schneider­Braunberger hat zu vielen Unternehmen recherchiert. »Wir wissen heute definitiv deutlich mehr als früher über das Verhalten von Unternehmern in der NS­Zeit«, sagt die Forscherin. »Früher war die Sichtweise oft sehr schwarz­weiß: für oder gegen die Nazis«, erzählt sie. Mittlerweile erkenne man durch die fortschreitende Forschung nicht bloß mehr Graustufen, das Gesamtbild werde geradezu bunt. »Wir sehen Akteure, die am Anfang große wirtschaftliche Hoffnungen auf die NSDAP legen, dann aber den diktatorischen Charakter deutlich erkennen. Aber auch andersherum, Menschen, die immer tiefer reingehen. Es gibt sogar Fälle, in denen Unternehmen jüdische Mitarbeiter retten – und später Zwangsarbeiter erschießen lassen.«

Vor allem die Bewertung des Mittelstandes habe sich grundlegend verändert: »Ganz früher dachte man, die Großindustrie sei tief verstrickt gewesen, aber die kleineren Unternehmen seien doch bloß Mitläufer gewesen. Doch das lässt sich so nicht halten.«

Insgesamt seien es im Kern immer vier Fragen, an denen sich die Unterstützung der NSDAP und die Verstrickungen in die Verbrechen Nazideutsch lands bemessen ließen: Hat das Unternehmen durch die Enteignung jüdischer Unternehmer profitiert? In welchem Maße hat das Unternehmen an der Kriegswirtschaft mitgewirkt? Wie war der Umgang mit Zwangsarbeitern, wurde in KZs produziert oder getestet? Und wie haben sich die Menschen in den Unternehmen mit ihrem Geld und ihrer Macht ideologisch zum NS ­Regime verhalten?

Foto (Ausschnitt): Marcus Simaitis/Laif

»Viele Unternehmen«, sagt SchneiderBraunberger, »wussten gar nicht mehr, wie tief sie in die Kriegswirtschaft eingebunden waren.« Oft seien die Verantwortlichen aus den NS-Jahren auch nach dem Krieg in entscheidenden Positionen gewesen und hätten keinen Anlass gesehen, sich mit ihrer eigenen und der Firmengeschichte zu befassen.

So hielt das große, bleierne Schweigen Einzug. Mit zum Teil absurden Effekten, erzählt Schneider-Braunberger: »Bei Miele etwa stellte sich heraus, dass sie ein Sechstel der gesamten Lufttorpedos im Reich produziert hatten – obwohl man glaubte, es seien insgesamt nur zwei Torpedos gewesen.« Überhaupt, sagt Schneider-Braunberger, hätten Unternehmen früher nur zurückgeblickt, wenn sie Festschriften verfasst hätten – »schön erzählte Unternehmensgeschichten, geschrieben von altgedienten Mitarbeitern oder PR-Abteilungen. Erst mit der NS-Aufarbeitung ab den Neunzigern kam der Anspruch auf, Geschichte wissenschaftlich fundiert zu untersuchen.«

Oft sei die Aufarbeitung auch eine Frage der Generation. Es gebe bis heute Familienunternehmen, da sei etwa der Vater strikt gegen die Aufarbeitung, die seine Kinder doch in Auftrag geben. »Ich hatte schon Fälle«, erzählt Schneider-Braunberger, »da mussten wir das Werk eilig über den Hinterausgang verlassen, wenn der Senior wieder Runden in der Firma drehte. Der sollte bloß nicht wissen, dass wir da waren.«

Spielt dabei auch die Sorge vor Entschädigungsansprüchen eine Rolle? »Die Frage nach möglichen Entschädigungszahlungen kommt gelegentlich auf«, sagt SchneiderBraunberger. »Wie immer kommt es auch hier auf den Einzelfall an.«

Grundsätzlich aber seien sowohl die Fälle ehemaliger Zwangsarbeiter als auch jüdischer Opfer der Arisierung seit den Fünfzigerjahren in vielen Fällen abgewickelt, Vergleiche geschlossen und Urteile gefällt worden. Auch die Einrichtung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (siehe auch Kasten) und zwischenstaatliche Verträge hätten weitgehende Rechtssicherheit geschaffen. »Rechtsansprüche sind heute nur noch unter be-

Wie viele Zwangsarbeiter gab es?

»Zwangsarbeit war eines der sichtbarsten Verbrechen des Nationalsozialismus – allgegenwärtig, systematisch und brutal«, sagt Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ). Die Spanne reichte vom Einsatz junger Osteuropäerinnen als Kindermädchen in Privathaushalten über den Einsatz am Fließband bis zur sogenannten Vernichtung durch Arbeit im Lagersystem der Nazis. Dort starb eine Vielzahl von Häftlingen bei schwerster körperlicher Arbeit – in Steinbrüchen, auf Baustellen oder bei Forschungsvorhaben wie in Dachau, wo Heinrich Himmler Insassen auf einer experimentellen Kräuterplantage verschliss.

Insgesamt wurden im damaligen Deutschen Reich mehr als 13 Millionen Menschen zur Arbeit gezwungen, darunter 4,6 Millionen Kriegsgefangene und 1,7 Millionen Häftlinge. 1944 machten die Zwangsarbeiter ein Viertel der Beschäftigten aus, in der Landwirtschaft fast die Hälfte. Hinzu kamen Millionen von Zwangsarbeitern in den besetzten Gebieten.

Nach dem Krieg erfuhren ehemalige Zwangsarbeiter zunächst kaum öffentliche Aufmerksamkeit, entschädigt wurden nur wenige. Erst in den 1990ern rückte das Thema auf die politische Agenda: Der öffentliche Druck war gestiegen, es drohten Sammelklagen aus den USA. Staat und Wirtschaft gründeten die Stiftung EVZ, die von 2001 bis 2007 noch knapp 1,7 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter entschädigte. Sie erhielten jeweils meist vierstellige Summen.

Anne-Sophie Lang

stimmten Umständen durchsetzbar«, sagt die Forscherin.

Die Aufarbeitung erschwere auch, dass die allermeisten Unternehmen ihre Archive nicht sonderlich pflegten. »Die wichtigste Person für uns im Unternehmen ist fast immer der Hausmeister«, sagt SchneiderBraunberger. »Wir brauchen auf jeden Fall einen Grundriss und jemanden, der den Generalschlüssel hat und uns alle Räume inklusive Keller und Dachböden öffnen kann. Wir haben auch schon Kisten mit Aktenordnern in vergessenen Kellern hinter dem Heizungsraum gefunden.«

Das größte Problem aber sei, dass viele gar nicht wissen wollten, was gewesen ist, und hofften, dass es keine Informationen gibt. Und wenn die sich dann doch fänden, dann wollten Unternehmer oft nicht wahrhaben, was war. Schneider-Braunberger erzählt, sie habe in Gutachten schon geschrieben: Familienmitglieder waren aktive Nationalsozialisten. Um dann Rückfragen zu bekommen, woran sie das festmache. »Weil mehr als nur ein Familienmitglied in die NSDAP eingetreten war oder ein Eintritt ohne Druck auch sehr früh stattfand!«

In vielen Familienfirmen gebe es aber bis heute die Überzeugung: Wer nicht in der SS war oder niemanden erschossen hat, kann kein Nationalsozialist gewesen sein. »Dabei war aktive Mitwirkung im Nationalsozialismus oft viel unspektakulärer – aber dennoch relevant«, sagt Schneider-Braunberger.

In einer exemplarischen Untersuchung aus dem vergangenen Jahr haben Andrea Schneider-Braunberger und Philipp Meyer von der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte zeigen können, dass gerade mal 96 der untersuchten 1.250 vor 1945 gegründeten Unternehmen »eine wissenschaftliche Untersuchung zu ihrer Geschichte während des Nationalsozialismus vorgelegt« haben – acht Prozent. Was auch bedeutet: 92 Prozent haben es nicht getan.

92 Prozent.

Es ist noch viel zu tun. Für Michael Bermejo-Wenzel. Für Andrea SchneiderBraunberger.

Vor allem aber für viele deutsche Unternehmer.

Auch relativ unauffällige Fenster können ziemlich schwer sein

Lichtblick für Kreuzgeplagte

Der Fensterbauer Florian Jehle hat seinen sächsischen Handwerksbetrieb weitestgehend automatisiert. Aber nicht etwa, um Stellen einzusparen – im Gegenteil

VON DOREEN REINHARD

Auf den ersten Blick könnte man meinen, das Werksgelände der Sebnitzer Fensterbau sei die wahr gewordene Dystopie: Eine Maschine misst die Fenster, dann werden die Modelle auf die gewünschten Größen zurechtgesägt und -gefräst. Schon geht es zur nächsten Station, wo Kunststoffrahmen bearbeitet werden. Laufbänder transportieren Fenster quer durch die Halle. Fast alle Arbeitsschritte laufen automatisiert ab, statt Menschen erledigen Maschinen die Arbeit. Nur noch an einigen Werkbänken stehen Arbeiter und führen kleinteilige Schritte von Hand aus: Sie montieren Beschläge von Fenstern oder fertigen Sondermaße wie dreieckige Fenster. Früher mussten sie dabei kreuz und quer laufen, nun können sie stehen bleiben, denn die Fenster kommen zu ihnen und fahren danach automatisch weiter.

Die Fabrik zu automatisieren, hat den Chef Florian Jehle nach eigenen Angaben

Aeine Dreiviertelmillion Euro gekostet. Aber er möchte mit dieser Investition nicht etwa langfristig Lohnkosten einsparen. Im Gegenteil. Jehle hatte Angst, seine Mitarbeiter zu verlieren. Vor dem Umbau mussten sie täglich zig Fenster und Türen schleppen, teilweise einige Hundert Kilogramm schwer.

»Wir hatten die Befürchtung, dass sich die älteren Mitarbeiter eine körperlich leichtere Arbeit suchen«, sagt Jehle. »Und dass sie uns als Wissensträger verloren gehen.«

Dabei gehört Sebnitzer Fensterbau zu den erfolgreichen Mittelständlern in Sachsen. Rund 27.000 Fenster und Türen produziert der Handwerksbetrieb jährlich für Baustellen in ganz Deutschland. 2024 hat das Unternehmen nach eigenen Angaben knapp zwölf Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet. Doch Jehle will nicht nur stabile Bilanzen, sondern auch etwas anderes erreichen: »Wir möchten der attraktivste Arbeitgeber im Ort sein.«

Sebnitz ist eine hübsche Kleinstadt, knapp 10.000 Einwohner, direkt an der Grenze zu Tschechien. Es ist das Tor zur Sächsischen Schweiz, einer Touristenregion. Gleichzeitig ist Sebnitz ein aufgewühlter Ort mit einer starken Rechten. Zuletzt er-

Foto: Getty Images

Wie souverän sind wir ?

Digitale Souveränität ist ein wesentlicher Er folgsfaktor für Sicherheit, Resilienz und Innovation Dennoch ist dies für europäische Unternehmen aktuell eine immense

Herausforderung. Dr. Elisabetta Castiglioni, CEO der

A 1 D i g i ta l , s i e h t j e d o ch e i n e g ro ß e w i r t s ch a f t l i ch e Chance für Unternehmen.

Digitale Souveränität istinallerMunde,aberwas bedeutet dasfür A1 Digital?

Elisab etta Castiglioni: Bereitsvor denaktuelle nEreignissenwar „DigitaleSouveränität“ fürA1Digital einzentrales Thema. Hierbe is ehen wi rS ou ve rä ni tä tkur zgefas st al sd ie Fähigkeitund dasBewus stsein vonUnternehmen selb stbestimmt entscheidenzukönnenund in einemselbstdefinier ten Rahmen unabhängig zu agieren. Im digitalenKontext sehen wirhierbei insbesonde re kritischedigitaleInfrastruktur alszentrales Elemen tinFormvon Cloud, IoTKonnektivität, privaten Netzwerken undCyberSecurity. Hierbe ihaben wirschon seit 2017 unse re souveräneeuropäische Clou d Exoscale aufgebau tund habe nsomit eine wichtige europäische Alternativegeschaffen.

Welche Risikenund Chancensehen Siebezüglich digitalerSouveränität?

Elisab etta Cast iglioni: We nn eu ro päis ch eUnternehmen keinegezielten Maßnahme nzur digitalenSouveränitätergreifen, könnten Risikenfür ihre wirtschaftlicheStabilität entstehen, da dieAbhängigkeitvon nicht-europäischen Te chnologieanbietern strategische Innovation undEntwicklungen eins chränkt. Mitder zunehmende nDigitalisie rung vo nWer ts ch öpfungsket te nste llt dies ee in Risi ko fü rd ie Wettb ewerbs fä higkei tu nd somi ta uchf ür de nWohlsta nd Europasdar.Daher müss en wirinEuropaunsereTalente und Wissen in Kerntechnologien derZukunft besser bündeln. Eine engere geographischeZusammenarbeitaus Forschung, Entwicklun gund Wirtschaft sehe nwir alsgroße Chance ,um digitale europäischeInnovationen undsomit Investitione n langfristigwir tschaf tlichererfolgreicher zu machen

Dr.Elisabetta Castiglion i CEO, A1 Digital

Wasbedeutetdie Vision IhresUnternehmens „Leading to ASovereign DigitalFuture– together“? Elisabetta Castiglioni: DieA1Digital istein verläs slicher Partnermit demZiel, unserenKundeneinen Wegzueiner souveränen digitalenZukunft zu zeigen undgemeinsam die Reisedor thin zu bestreiten.Mit unseremPor tfolio ermöglichen wirunseren Kunden,einen Großteil derKomplexität an unsabzugeben undgemeinsam eine digitale Infrastruktur fürInnovation aufzubauen.Für einRaffinerieUnternehmen in Deutschlandhaben wirals Partnergemeinsam eine digitale Lösung zurÜberwachung vonTeilender Produktionsanlag e entwickelt -angefangenvon dervollständigen IoTSystemlösung inklusiveKonnektivität bishin zurSof twareplattform aufunserer Exoscale Cloud. Zudemhat dasUnternehmen durchunserehoheKundennähe einVerständnis fürDigitalisierungentwickeltund somitdie Basisfür weiteresouveräne digitale Entwicklungeninder Zukunf t.

“LEADING TO ASOVEREIGN DIGITALFUTURE– TOGETHER”

A1 Digitalist eineuropäischerPar tner fürdigitaleInfrastrukturund Lösungen mitdem Ziel,Unternehmen gemeinsamineinesouveräne digitale Zukunf tzuführen.

Zu denAngeboten gehörenExoscale– eine europäische Cloud-Plattform, ManagedConnectivityinüber180 Ländern,ver tikale IoTBranchenlösungenmit Er fahrungvon über 1Million ausgelieferten Gerätenund skalierbare Netzwerklösungen,ergänzt durch24/7Managed Cyber Security Services aufTelco-Niveau.

www.a1.digital

langte er im Frühjahr bundesweite Aufmerksamkeit, weil ein Dachdecker eine rassistische Anzeige im Amtsblatt geschaltet hatte. Die Stadtverwaltung distanzierte sich, allerhand Menschen in Sebnitz waren entsetzt. Aber es gab auch eine rechtsextreme Unterstützerdemonstration für den Dachdecker, Hunderte liefen mit.

Die Stadt steht vor einer demografischen Herausforderung: Der Altersdurchschnitt ist hoch, 2022 lag er laut dem Statistischen Landesamt Sachsens bei 50 Jahren – und damit über dem des Bundeslands insgesamt. Auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter kommen 63, die über 65 Jahre alt sind. Und die Bevölkerung schrumpft. Ein Faktor, der sich auch auf mittelständische Betriebe wie den Sebnitzer Fensterbau auswirkt.

In den Werkshallen und Büros des Unternehmens arbeiten insgesamt 80 Menschen, damit ist es einer der größten Arbeitgeber im Ort. In der Kunststoffabteilung, einem wichtigen Bereich in der Produktion, ist ein Drittel der Beschäftigten über 60 Jahre alt. Viele von ihnen sind verwachsen mit dem Betrieb, der hier seit mehr als 100 Jahren Fenster baut: In der DDR hieß er VEB Holzbau und hatte in den besten Zeiten mehr als 400 Mitarbeiter. Mit dem Mauerfall kam der Beinah­Ruin, und der »volkseigene Betrieb«, dafür steht das Kürzel VEB, ging an die Treuhandanstalt, die sich um die Privatisierung kümmerte.

Anfang der 1990er erfuhr Siegfried Jehle, der Vater von Florian Jehle, dass in der Sächsischen Schweiz ein Betrieb zum Verkauf steht. Damals lebte die Familie noch in Baden­Württemberg. Siegfried Jehle wollte das Unternehmen trotzdem übernehmen, gemeinsam mit einem Geschäftspartner, der später wieder ausstieg. Die Bedingung der Treuhand lautete aber: Ein Eigentümer sollte vor Ort wohnen. Also zogen die Jehles nach Sebnitz und gründeten 1992 die neue Firma, anfangs mit nur 20 Mitarbeitern.

Dass die Mitarbeiter das wertvollste Fundament seines Unternehmens sind, hat Florian Jehle von seinem Vater gelernt. Der hat aus der Sebnitzer Fensterbau GmbH mit anfangs nur 20 Angestellten einen florierenden Handwerksbetrieb gemacht und diesen 2013 an seine beiden Söhne übergeben. Flo­

aller Krankheitstage im Handwerk entstanden 2024 aufgrund von Rückenschmerzen. Das sind vier Prozentpunkte weniger als noch vier Jahre zuvor

rian, der Wirtschaft studiert hatte, übernahm die Geschäftsleitung, sein Bruder Alexander, studierter Maschinenbauer, wurde Prokurist.

Einige Jahre hat der Vater noch mitgearbeitet, um beim Übergang zu helfen. »Mir wäre es lieb gewesen, wir hätten mit leichten Aufgaben angefangen«, sagt Florian Jehle. Sein Vater hatte da eine andere Idee. Er schlug vor, lieber gleich mit dem Komplizierten zu beginnen. »Und das schwierigste Thema in einem Unternehmen ist die Personalführung«, sagt Florian Jehle.

Mit 37 Jahren gehört er zu den Jüngsten in seinem Unternehmen. Die Hierarchien will er flach halten. Es gibt kein extraschickes Chefzimmer, in den Büros haben alle die gleichen Möbel. Wer will, kann den Chef mit Vornamen ansprechen. Und der nimmt sich Zeit und hört zu, wenn die Mitarbeiter ihm etwas zu sagen haben.

Viele klagten über Rückenschmerzen und gesundheitliche Probleme – in der Branche mehr als üblich. Jehle junior begann, sich damit auseinanderzusetzen, wie die ältere Belegschaft möglichst lange im Unternehmen bleiben könne, ohne ihrer Gesundheit zu schaden. Gemeinsam mit seinem Vater entwarf er erste Ideen, die sie auf dem Weg zu einer Messe auf eine Serviette kritzelten.

Es ging darum, Maschinen zu modernisieren, Handgriffe zu erleichtern, Wege in den Werkshallen zu verkürzen. Ursprünglich war eine fünfstellige Summe als Investition gedacht. Schließlich entschieden sie sich aber, die komplette Produktion auf eine automatisierte Anlage umzustellen, die

2020 installiert wurde. Und die kostete eben eine Dreiviertelmillion Euro.

An den Arbeitstischen liegen heute weiche Matten auf dem Boden, Spezialanfertigungen, die den Rücken schonen sollen. Die Mitarbeiter tragen die leichteren Arbeitsschuhe mit mehr Dämpfung, nicht mehr so schwere Stiefel wie früher, das soll gegen Muskelschmerzen helfen. Inzwischen bietet der Betrieb zweimal im Jahr Veranstaltungen mit Krankenkassen an, um über Gesundheitsthemen zu informieren.

Für die Mitarbeiter ist der Fortschritt eine Erleichterung, vor allem für die Älteren. Da ist zum Beispiel Jens Koßlitz, 56, seit mehr als zwölf Jahren in der Produktion beim Sebnitzer Fensterbau. »Ich bin ja eigent lich ein Patient, ich habe Rücken«, sagt er. Koßlitz mag seinen Job, aber er hatte bereits drei Bandscheibenvorfälle, einmal musste er operiert werden. »Als wir das Material noch tragen mussten, war das natürlich für das Kreuz nicht gerade gut«, sagt er. Nun steht er an einem Arbeitstisch, die Fenster kommen zu ihm. Die Automatisierung sei »eine große Erleichterung«. Sein Kollege Stefan Hartmann am Tisch nebenan lobt die Umstellung ebenfalls: »Das ist schon immens.« Er ist 59, seit mehr als 40 Jahren arbeitet er in dem Beruf. Auch er kenne Schmerzen: »am Rücken, den Schultern, die üblichen Geschichten«. Nun sei die Arbeit wesentlich leichter. »Früher waren viel mehr händische Sachen zu erledigen, Elemente ablegen, stapeln. Heute ist das mehr oder weniger ein Selbstläufer.«

Auch langwierige Krankheitsfälle unter den Mitarbeitern seien ein Grund gewesen, die Produktion umzustellen, sagt Florian Jehle. Früher habe es mehr Ausfälle gegeben, inzwischen sei die Zahl der Krankentage deutlich gesunken. Er hofft, dass die älteren Kollegen so lange wie möglich im Betrieb bleiben. Er braucht ihre Erfahrungen, »damit sie die Jungen anlernen können«. Ein Nachwuchsproblem habe Sebnitzer Fensterbau nicht. Jehle bekomme viele Bewerbungen, auch von Jungen: »Wir müssen nicht suchen.« Der Geschäftsführer glaubt, das liegt an dem Ruf, ein guter Arbeitgeber zu sein – und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der Automatisierung. 31 %

WILLKOMMENSBONUS

IN VESTIEREN MITD EM TESTSIEG ER

InvestierenSie mitunserer preisgekrönten Vermögensverwaltung einfachund kostengünstig in dieglobalenAktien- und Anleihenmärkte.Laut Stiftung Warentesteine„schlüssige Anlageidee“.

BONUSCODE:

Nureinlösbar über www.weltsparen.de/zt1000

VERMOEGEN1000

Nureinlösbar über www.weltsparen.de/zfu1000

Ein Angebotder Raisin Bank AG.Anlagen in WertpapiereunterliegenWertschwankungen.Bitte beachten Siedie Risikohinweise auf weltsparen.de/risikohinweise.Weitere Informationenzuden Teilnahmebedingungen findenSie aufunserer Website.

Wasserstoff in Eisen-Nuggets speichern und transportieren: Die Idee ist ein halbes Jahrhundert alt. Nun könnte sie die Energiewende vorantreiben. Ist endlich ihre Zeit gekommen?

Manche Erfinder sind ihrer Zeit voraus. Dann braucht es Menschen, die ihre Ideen wieder ausgraben. Etwa diese zwei: Matthias Rudloff, 57, und Uwe Pahl, 58, CEO und CTO von Ambartec in Dresden.

Seit vier Jahren arbeiten sie mit ihrem Unternehmen daran, eine Methode für den Transport von Wasserstoff marktfähig zu machen. Denn Wasserstoff ist ein Hoffnungsträger für die Energiewende. Das Gas lässt sich mithilfe von grüner Energie klimaschonend gewinnen und als Treibstoff, Heizmittel oder Ersatz von Erdgas etwa in Fabriken verwenden. Allerdings ist es eine Herausforderung, es von sonnenreichen Gebieten wie Namibia ins energiehungrige Deutschland zu transportieren – und es weiter bis zu den Unternehmen zu schaffen. Zwar baut Deutschland derzeit das sogenannte WasserstoffKernnetz auf, doch dieses Leitungssystem soll erst bis 2032 fertig werden.

Uwe Pahl ist vor Jahren zwei Wissenschaftlern begegnet, die Ende der 1960er-Jahre am Deutschen Brennstoff-Institut der DDR daran tüftelten, das Magdeburger Stadtgasnetz mit Wasserstoff zu versorgen. Ihre Lösung: Eisen-Nuggets. Ihr Prinzip: die Hydrogen-Kompaktspeicher-Technologie, die sich die Reduktion und Oxidation zunutze macht. Gibt man dem Eisenoxid Wasserstoff hinzu, entstehen Wasserdampf und Eisen. Führt man umgekehrt dem Eisen später Wasserdampf zu, ergibt das wieder Wasserstoff und Eisenoxid. So kann man die Nuggets mit Wasserstoff aufladen und wieder entladen – und den Wasserstoff speichern und transportieren. Zwei Jahre lang nutzte Magdeburg das Verfahren, 1972 schaffte die Stadt es ab. Es gab ja billiges Erdgas aus Russland.

Heute ist diese Idee aktueller denn je. Mit dieser Technologie ließe sich Wasserstoff über die Ozeane verschiffen oder per Lkw in Regionen transportieren, die Pipelines nicht erreichen. Ist die Technik einmal marktreif, hat sie vor allem zwei Vorteile gegenüber gasförmigem Wasserstoff: hohe Energiedichte und Sicherheit –denn im Gegensatz zum Gas sind die Eisen-Nuggets kein Gefahrgut.

Der Ingenieur Rudloff sagt, er habe sein Berufsleben »zwischen Stadtwerk und Start-up und meistens mit Erneuerbaren« verbracht. Im Jahr 2021 überzeugte ihn dann der Verfahrenstechniker Pahl, gemeinsam mit einem Wagniskapitalgeber Ambartec zu gründen. Vorher hatte er in seiner heimischen Fahrradwerkstatt mit den Nuggets experimentiert.

»Wir haben ganz klein angefangen«, erzählt Rudloff. Konkret: mit einem EinLiter-Topf. Schon länger gelingt die Speicherung von 100 Litern. Nun erproben sie die nächste Skalierungsstufe: 1.000 Liter. Das Ziel: Ambartec will einen Lkw mit zwei 20-Fuß-Standardcontainern beladen können, jeder gefüllt mit 600 Kilo Wasserstoff in Form von Eisen-Nuggets: »Damit könnten wir eine mittelständische Backfabrik eine Woche lang dezentral mit grüner Energie versorgen«, sagt Rudloff.

Um solche Kooperationspartner für den Praxischeck wirbt er derzeit. Und um Investoren. Zehn Millionen Euro bräuchten sie, um so weiterzuforschen und zu wachsen, dass sie den Break-even erreichen, sagt Rudloff. Aktuell stehen hinter den Gründern eine Handvoll Privatinvestoren, außerdem der Gas- und Ölproduzent Wintershall, Fördermittel für den Firmenaufbau gab es fast keine. Die Anlage, in der ihr Prototyp entsteht, liegt in Freiberg – auf demselben Gelände, auf dem die damaligen Erfinder ihre Idee vor einem halben Jahrhundert ausgebrütet haben.

Foto [M]: Ambartec
Diese dunklen Kiesel könnten zu Bausteinen einer modernen Energieversorgung werden

10.& 11.SEPT. 2025 |

Branch entreff

UNTERNEHMENSNACHFOLGE

Erleb en Sie,wie PrivateEquity, Fa mily Officesund Mittelsta nds-Entsch eide r dieZukunft de rNachfolge gestalten.ImFokus:M&A-Tre nds, in novative die Zukunftder Na chfolge gestalte n. Im Fokus: M&A-Tren ds, Na chfolge mo delle un dn eueKäuferstrate gie n. Profitieren Sie vomdirekte n olgem odelleund neue Käuf gien.Profitie re nSie Austausch mitUnternehm ernund Investore n. Sich ernSie sich jetztIhren Platz in diese rexklusiven Community. Wir sehe nuns in Be rlin!

Ayse Mese Geschäftsführerin

JDBHoldingGmbH

JETZT TICKETSFÜR 199€ SICHERN!

Bis zum bitteren Ende

Die Notarin Sarah Nietner ist Geburtshelferin für Unternehmen. Und ihre Bestatterin. Bald soll sie helfen, Firmen in 24 Stunden zu gründen

VON NELE JUSTUS

Jede Urkunde erhält das Siegel der Notarin – der Ehevertrag genauso wie die Gründungsurkunde der GmbH

Fotos
(Ausschnitte): Sophie Wolter

Taschentücher. Die dürfen nie fehlen. Eine schwarze Box davon steht stets auf den Konferenztischen des Notariats in der Hamburger Innenstadt. Und wann immer eine Träne fließt, ob vor Trauer oder Freude, zupft Sarah Nietner eines heraus und reicht es an ihre Mandanten weiter.

Bei ihrem ersten Termin an diesem Morgen bleibt die Box jedoch unberührt: Eine GmbH-Gründung für eine Vermögensverwaltung steht an. Der Gründer, ein Orthopäde, der in Immobilien investieren will, sitzt vor einer Tasse Kaffee, schwarz, als Sarah Nietner, 37, den Raum betritt. Ein fester Händedruck, dann nimmt sie am Kopf des Tisches Platz und beginnt diesen Termin wie so viele andere auch: Sie fängt mit klarer Stimme laut und flüssig an zu lesen. »Zur Errichtung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung ...« So geht das erst mal zehn Minuten.

Notare werden nur fürs Lesen bezahlt: Dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Viele empfinden den Besuch beim Notar deshalb als unnötig, reine Zeitverschwendung. Das könnte eine KI doch genauso gut erledigen, oder? Aber der Gesetzgeber verlangt den Besuch beim Notar. Und zwar immer dann, wenn Rechtsgeschäfte ordnungsgemäß abgeschlossen werden sollen. Denn Notare sind dafür da, dass keiner über den Tisch gezogen wird und alle Seiten wissen, was sie unterschreiben. Deswegen findet Nietner, das Vorlesen sei heute wichtiger denn je. »Wir sind es gewohnt, Nachrichten im Sekundentakt zu konsumieren und Podcasts in doppelter Geschwindigkeit zu hören.« Da biete das Vorlesen eine Gelegenheit zum Innehalten, bei der sich alle auf das konzentrieren, was da vor ihnen liegt.

Begleitet man die Notarin einen Tag zu Terminen mit gescheiterten Unternehmern, aufgeregten Gründern und glücklichen Investoren, dann merkt man, wie bedeutsam das ist. Notare sind Verbraucherschützer, Vertrauenspersonen, Dienstleister. Sie erklären das Juristendeutsch, warnen vor Risiken, sind Unparteiische, die doch beraten.

Der Orthopäde, der die Vermögensgesellschaft gründet, will wissen, was passiert, wenn ein zukünftiger Gesellschafter stirbt? »Muss ich mich dann mit seiner Ehefrau

Tauseinandersetzen?«, fragt er. Nietner erklärt ihm, dass er die Gesellschaft mit den Erben weiterführen könne, also etwa der Ehefrau. »Wenn Sie die aber nicht leiden können, könnten Sie die Geschäftsanteile auch einziehen. Dann steht der Ehefrau allerdings eine Abfindung zu.«

Nietner geht mit dem Mediziner jeden Paragrafen durch. Zum Schluss erklärt sie ihm, wie es weitergeht: Geschäftskonto eröffnen, die Anmeldung im Handelsregister abwarten und aufpassen, wenn die ersten Rechnungen eintrudeln. Gerade gebe es eine Betrugswelle mit gefälschten Handelsregisterrechnungen. »Wir kennen kaum jemanden, der keine bekommen hat«, sagt sie. Sie seien täuschend echt: mit Landeswappen, Geschäftszeichen, Behördendeutsch. Rund 400.000 solcher Fake-Rechnungen werden schätzungsweise jedes Jahr verschickt. Im November wurden in Detmold drei Männer verurteilt, die sich mit dieser Masche mehr als 2,5 Millionen Euro ergaunert hatten. »Schreiben sie uns im Zweifel lieber eine E-Mail«, sagt Nietner deshalb, bevor sie den Orthopäden zum Abschluss das Gründungsprotokoll, die Handelsregisteranmeldung und die Gesellschafterliste unterschreiben lässt. Damit ist die Gründung offiziell. Und Nietner verabschiedet den Mann mit einem Händedruck. Die nächsten Mandanten warten schon. Eine Erbausschlagung.

In Deutschland amtieren laut der Bundesnotarkammer 7.000 Notare, sie sitzen bei vielen wichtigen Lebensentscheidungen mit am Tisch. »Das empfinde ich als großes Privileg«, sagt Sarah Nietner. Sie ist dabei, wenn ein Paar ein Kind adoptieren oder ein

Zuhause kaufen will. Wenn ein Ehevertrag aufgesetzt wird, die Scheidungsvereinbarung unterschrieben oder ein Erbvertrag geschlossen wird. Manchmal wird sie an ein Sterbebett gerufen, um ein Testament zu verfassen; dann muss sie prüfen, ob ein Schwerkranker seinen letzten Willen noch klar äußern kann. Und genauso, wie sie die Menschen in allen Lebensphasen begleitet, tut sie das bei Unternehmen auch. Wer eine Firma gründet, Investoren an Bord holt oder die Firma an die folgende Generation übergibt, kommt nicht am Notar vorbei. Und auch wer seine Firma aufgibt, muss hin. Liquidation nennt sich das Ganze und ist nicht zu vergleichen mit der Insolvenz, bei der ein Insolvenzverwalter übernimmt und in erster Linie die Aufgabe hat, Gläubiger zu befriedigen, Forderungen einzutreiben und Gesellschafter auszuzahlen. Nietner ist Geburtshelferin für Unternehmen. Und sie hilft auch, sie zu bestatten.

11.30 Uhr, in Raum 2 sitzt ein Unternehmer, Mitte vierzig, der mit kleinen Leder waren und -accessoires keinen Schnitt machen konnte und seine Firma auflösen will. Das Glas mit Schokolade, das auf dem Tisch steht, hat er nicht angerührt. Er hält sich an einem stillen Wasser fest. Während Sarah Nietner bei Neugründungen immer nach der Geschäftsidee fragt und wissen will, was die Leute vorhaben, verkneift sie sich bei einer Liquidation jegliches Rumgeplänkel. Da liegen die Emotionen oft schon dicht unter der Oberfläche. Zehn Minuten dauert das Prozedere. »Viele möchten die Firmenbestattung so schnell wie möglich hinter sich bringen, das verstehe ich, aber die Fristen müssen eingehalten werden«, erklärt sie. Da ist das Sperrjahr, in dem sich Gläubiger melden können, die noch auf Geld warten. Das Finanzamt muss angehört werden, um zu sehen, ob Steuerschulden bestehen. Erst dann kann das Unternehmen endgültig gelöscht werden. Sie wendet sich an den Mandanten. »Haben Sie noch Fragen?« Kopfschütteln. »Dann bekomme ich noch eine Unterschrift, und das Ganze geht seinen Weg«, sagt sie.

Bis zu 20 Termine hat Sarah Nietner pro Tag. Nach einer Unterschriftenbeglaubigung steht schon die nächste Gründung an. Dieses

Mal online, auch das geht seit 2022. Das häufigste Problem dabei? »Viele kennen die PIN für ihren Personalausweis nicht«, sagt sie. Die braucht man, um sich im System zu verifizieren. Die Mandantin, die nun aus ihrem Wohnzimmer, dunkle Tapete, Dekokranz im Hintergrund, über den Bildschirm in Nietners Büro geschaltet wird, hatte damit keine Probleme. 19 Jahre lang hat sie in einer Designagentur gearbeitet, nun baut sie ihre eigene auf. Kontakt zu einigen potenziellen Kunden habe sie schon, ein paar dürfe sie aus ihrer alten Agentur mitnehmen, »aber die Aufregung ist trotzdem da, die kommt in Wellen«, sagt sie.

Vor Sarah Nietner sitzen täglich Menschen, deren Leben Umwege nimmt. Ihr eigenes verlief bisher ziemlich gerade. Sie hat an der Bucerius Law School in Hamburg und in Stanford in Kalifornien Jura studiert. Nach ihrem Referendariat »noch kurz eine Promotion eingeschoben«, wie sie sagt, bevor sie an der Columbia University in New York ihren Master gemacht hat. Als Andenken an diese Zeit hängen drei gerahmte Ausgaben des New Yorker in ihrem Büro. Danach hat sie sich für die dreijährige Ausbildung als Notar-Assessorin beworben. Die Plätze sind rar und sehr beliebt. Jedes Jahr werden in Hamburg nur acht Bewerber zur Auswahlrunde eingeladen. Die drei besten werden genommen. Nietner war eine davon.

Seit fünf Jahren ist sie Amtsträgerin, ernannt vom Landesjustizministerium, und Unternehmerin. Notare dürfen keine Werbung machen. Ihr Geschäft läuft über Weiterempfehlung. Sarah Nietner ist nur erfolgreich, wenn sie ihren Job gut macht. Deswegen muss sie eigentlich immer funktionieren, immer freundlich sein, dafür sorgen, dass sich alle wohl- und kompetent beraten fühlen. Nur dann kommen sie wieder.

40 Prozent ihrer Einnahmen erzielt sie mit Immobilienrecht, den Rest mit Fa milien-, Erb- und Gesellschaftsrecht. Ihr Geschäft sei alles in allem krisensicher, sagt Nietner. Manche ätzen, Notare hätten eine Gelddruckmaschine im Keller. Laut Statistischem Bundesamt verdienen Notare ohne Nebeneinkünfte 356.000 Euro pro Jahr. Damit zählen sie in Deutschland zu dem einen Prozent der Topverdiener. Wie viel

Umsatz sie macht? Bei der Antwort hält sich Nietner bedeckt. Es laufe ganz gut. Aber da sei auch ein Berg an Kosten: die Miete für das Büro über zwei Stockwerke, die 20 Angestellten, das Archiv in einer Nebenstraße: »Da kommt ganz schön was zusammen.«

Die Höhe der Notargebühren ist im Gerichts- und Notarkostengesetz festgelegt. Sie sind nicht verhandelbar, und es gibt keine Rabatte. Eine GmbH-Gründung mit nur einem Gesellschafter wie beim Orthopäden kostet rund 800 Euro. Die Kosten für die Liquidation einer UG, also einer MiniGmbH mit weniger Stammkapital, wie beim

Die Notariate sind schon
digitalisiert – die Behörden hängen noch hinterher

Termin um 11.30 Uhr betragen etwa 200 Euro. Bei Immobilienverkäufen fallen Gebühren in Höhe von etwa 1,5 Prozent des Kaufpreises an. Die Jahre, in denen die Zinsen niedrig und die Immobilienpreise hoch waren, haben sich auch für Nietner und ihre Kollegen ausgezahlt. Aber genauso bieten Notare Dienste an, die nicht kostendeckend sind. »Für die 23 Euro bei einer Erbausschlagung würde man einen Anwalt kaum bekommen«, sagt sie. Das sei das Gute am notariellen Kostenrecht: »Es ermöglicht, dass alle unabhängig von Einkommen oder sozialem Background eine Rechtsberatung auf hohem Niveau bekommen.«

Die schätzen auch Unternehmer, Serienund Erstgründer. Im »Praxischeck« des Bundesjustizministeriums, der im vergangenen Herbst veröffentlicht wurde, beschreiben sie die Leistungen der Notare als »kompetent, hilfreich, einfach und schnell«.

Sie wünschen sich, dass Notare in Zukunft eine größere Rolle einnehmen: als zentrale Servicedienstleister, die sie bei Gründungen unterstützen. Etwa bei der Gewerbeanmeldung, der Beantragung der Steuernummer oder der Betriebsnummer bei der Bundesagentur für Arbeit. Überall müssen Gründer die immer gleichen Daten und Papiere einreichen. Das dauert, ist kompliziert, kostet Nerven – und wäre mit einem Notar als One-Stop-Shop leicht zu erledigen.

»Für uns wäre das kein Problem«, sagt Nietner. Die Notariate sind schon lange digitalisiert. In den vergangenen Jahren hat die Bundesnotarkammer 300 IT-Mitarbeiter eingestellt und Serverfarmen errichtet, um die Digitalisierung der Notariate voranzutreiben. »Sobald die Behörden die Möglichkeiten schaffen, sind wir bereit«, sagt Nietner. Das Handelsregister ist zwar bereits digitalisiert. Aber die Finanz- und Gewerbeämter hängen hinterher. Die neue Bundesregierung will »notarielle Vorgänge vereinfachen und digitale Beurkundungsprozesse sowie den automatischen Datenaustausch zwischen Notariat, Finanzamt und Gewerbeamt ermöglichen«, so steht es im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Das Ziel: Eine Gründung soll in Zukunft in nur 24 Stunden möglich sein. Nun muss die neue Regierung ihren Plan nur noch umsetzen.

Der letzte Klient des Tages: ein Bauunternehmer, junger Typ, gerade 30 geworden. Sarah Nietner hatte ihn länger nicht gesehen. Die Baukrise hat hart zugeschlagen. Nun ist er schon den zweiten Tag in Folge da. Das Projekt, dessentwegen er hier ist: ein Mehrfamilienhaus mit elf Wohnungen, die 2026 fertig werden sollen. Eine davon wird heute verkauft. Deswegen sind auch der Makler und die Käuferin erschienen, die Stimmung ist fast festlich. Eine Stunde liest Sarah Nietner, beantwortet Fragen zum Umgang mit Mängeln und den zu zahlenden Teilbeträgen nach Baufortschritt. Dann, nach der Unterschrift unter dem Kaufvertrag, überreicht der Makler der Käuferin Blumen und Champagner. Und auch für Sarah Nietner ist Feierabend.

Ob es ein guter Tag war? Sie überlegt. »Ich denke schon«, sagt sie. Alle Taschentücher sind noch in der Box.

AusTradition komponiert.

Kuratiert mit 333 Jahren Erfahrung.

Drei Weine.DreiHandschriften.Ein Paketvoller Charakter. Dieses limitierte SetliefertIhnen eine erlesene Auswahl an Weinen,die für 333 JahreTradition,Handwerk und Exzellenzstehen:

Der Geldermann Jahrgangssekt Brut eröffnet das Paketmit feinerPerlage und eleganter Reife–ein Pres tige -S chaumwein,der Harmonie und Finesseinsich vereint .Kraftvoll gehtesweiter mit dem Glaetzer »Wallace« Shiraz Grenache aus dem BarossaValley: eine Cuvéemit Tiefe, Ausdruck und internationalem Renommee.Den Abschluss bildet die exklusiv für unser Jubiläum abgefüllteSondereditiondes »MühlheimSonnenberg« Rieslingsvom Weingut Metzger –klar, fruchtig undmit präziser Mineralität ,wie sie nur die Pfalz hervorbringt .DreiWeine, die nicht nur schmecken, sondern etwas erzählen: vonHerkunft ,Haltung und Handwerk .Kuratiertaus 333 Jahren Erfahrung

6 Flaschen im exklusiven und limitier tenProbierpaket für 79,90 €* statt 105,70 €

Entdecken Siedie limitierte Selektion auf lvk .de/zeit

Wie Sie jetzt weitermachen könnten

TUN

Wenn Sie die schlechten Nachrichten der letzten Monate satthaben, machen Sie es wie Philipp von der Wippel, der krempelt gerade den Staat um (S. 6). Sie können auch eine Nummer kleiner beginnen und sich erst mal ehrenamtlich engagieren (S. 12). Oder Sie setzen trotz der politischen Verschiebungen auf Nachhaltigkeit – es könnte sich lohnen (S. 22 und S. 28). Und wenn Sie dann noch Zeit haben, kümmern Sie sich um die digitale Souveränität Ihres Unternehmens. Wer will schon von der Willkür eines Menschen wie Donald Trump abhängig sein? (S. 16)

LASSEN

Auf manche Dinge können Sie in Zukunft getrost verzichten. Etwa Menschen nach ihrer Meinung befragen, wenn Sie ein neues Produkt entwickeln wollen. Die Antworten liefert Ihnen bald eine KI (S. 20). Auch stehen Chef-Attitüden nicht mehr hoch im Kurs. Ein neues Führungskonzept heißt jetzt Servant Leadership. Dabei sind die Mitarbeiter König (S. 42). Teure Werbeagenturen beauftragen, um den Umsatz zu erhöhen? Auch das geht heute anders. Ein Smartphone, ein Stativ und Authentizität – und schon können Clips auch mit kleinem Budget viral gehen (S. 46).

DELEGIEREN

Schleppen, heben, ziehen: Können doch die Maschinen machen. Das hält die Mitarbeiter gesund, und sie haben weniger Fehlzeiten auf der Uhr (S. 56). Oder treiben Sie eher Papierkram und Bürokratiewahnsinn um? Wenigstens bei einer Gründung können Sie den bald outsourcen (S. 62). Und wenn Sie sich bisher noch nicht mit der Vergangenheit Ihres Unternehmens im »Dritten Reich« auseinandergesetzt haben: Es gibt Rechercheure, die für Sie die Archive durchforsten können (S. 52). Mit den Ergebnissen müssen Sie sich natürlich selbst auseinandersetzen.

IMPRESSUM

Herausgeber: Dr. Uwe Jean Heuser Chefredakteur: Jens Tönnesmann Art-Direktion: Haika Hinze Redaktion: Nele Justus Autoren: Carolyn Braun, Daniel Erk, Karin Finkenzeller, Christoph Koch, Anne-Sophie Lang, Kristina Läsker, Jakob von Lindern, Lars-Thorben Niggehoff, Doreen Reinhard, Navina Reus, Celine Schäfer, Katja Scherer, Jens Többen Gestaltung: Christoph Lehner Bildredaktion: Amélie Schneider (verantwortlich), Navina Reus Redaktionsassistenz: Andrea Capita, Katrin Ullmann Chef vom Dienst: Dorothée Stöbener (verantwortlich), Imke Kromer, Mark Spörrle Textchef: Johannes Gernert (verantwortlich), Anant Agarwala, Anita Blasberg, Dr. Christof Siemes Infografik: Pia Bublies (frei) Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich), Oliver Voß (stv.)

Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich) CPO Magazines & New Business: Sandra Kreft Director Magazines: Malte Winter Vertrieb: Sarah Reinbacher Marketing: Elke Deleker Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen: Silvie Rundel Herstellung: Torsten Bastian (Ltg.), Oliver Nagel (stv.) Anzeigen: ZEIT Advise, www.advise.zeit.de Anzeigenpreise: Es gilt die Zeit-für-Unternehmer-Anzeigenpreisliste Nr. 3 vom 1. Januar 2025 Druck: Vogel Druck und Medienservice GmbH, Höchberg Anschrift Verlag und Redaktion: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: DieZeit@zeit.de Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: produktsicherheit@zeit.de

Illustration: Pia Bublies für ZEIT für Unternehmer

NACH HA LT IGKEI TI N JEDER FASE R

Energieeffizient. Ressourcenschonend. Emissionsarm.

Bei SteinbeisPapier istNachhaltigkeit nichtnur ein Versprechen, sondern steckt in jedem Blatt. AlsPionierfür Recyclingpapierefolgen wir ko nsequent dem Krei sl aufprinzip und setzen auf innova tive Produkte aus 100 Prozent Altpapier.S oschonen wirwer tvolle Ressourcen–effizient und verantwortungsvoll. Unser Beitragfür die Zukunf t.

WeitereInfos

Gibdeinen Spesen denPush!

Jetzt

50 % sparen !

Rechnungbezahlt,Belege gescannt undschon verbucht mitLexware Office.

LexwareO fficeerled ig tdeine Beleger fa ssu ng nach al lenRegel nder Buch ha ltungskuns t.

Au toma tisch. Undd u? Mach st deiner Kassen zettel -Wirtschaf tend lich einE nde! Mehr auf of fice.lexwa re.de

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.