X-Rockz Magazin - Ausgabe 09 | Oktober 2013

Page 55

Literatur

Typisch Mensch Eine kurze Geschichte darüber, wie das Prinzip Liebe unsere Chance ist, wenn die Menschlichkeit abhanden kommt. Darüber, wie eine Zugfahrt von Wien nach Graz klar machte, dass ich sie sehr vermisse und wie ein Hamburger Pfarrer mir neue Hoffnung gab. Und als ich die erste Träne spürte, schaute ich aus dem Fenster des fahrenden Zuges. Vielleicht, weil ich mich schämte, dass ich weinte. Mit Sicherheit aber, weil ich weinte, da ich mich schämte und draußen nach Antworten Ausschau hielt, die im Zug nicht zu finden waren. Mir war die Menschlichkeit abhanden gekommen, wie vielen – zu vielen – anderen auch. Den Erste-Welt-Menschen, den Westeuropäern im Speziellen und den EU-Bürgern im Besonderen. Ich kann da nicht anders. Wenn so ein derart starkes Gefühl mein kleines Herz in seine übergroßen Hände nimmt, rührt mich diese Berührung zu Tränen. Diesmal waren es Scham und Bedauern und Hilflosigkeit und Ohnmacht und Wut, ausgelöst durch einen Artikel von Evelyn Finger in Die Zeit. Ich glaube es war an folgender Stelle, als mein Verstand meine Emotionen nicht mehr im Zaum halten konnte: [...] Warum er die Entscheidung traf, zu helfen, wo seit 2011, seit der Landung dieser Kriegsopfer an der Küste unseres Kontinents, niemand geholfen hatte, das erzählt er nicht als dramatische Geschichte. Es habe halt angefangen zu regnen. „Da habe ich ihnen die Tür aufgeschlossen, und dann kamen schon Nachbarn und brachten Decken.“[...] Beim Weiterlesen verzogen sich meine Mundwinkel, Gesichtsmuskeln begannen ganz leicht zu

zittern, ich spürte es, versuchte es zu verbergen, kämpfte dagegen an, doch die Augen kniffen sich selbsttätig zusammen und füllten sich mit Tränen, ohne dass ich es verhindern konnte. Dann stand dort: „[...]Zivilcourage erfordert anscheinend gar nicht viel Mut. Und Mitleid ist ansteckend, wenn sich erst mal einer traut [...]“ Und die Dämme meiner Lider brachen. Warum nur trauten sich nur so wenige? Warum bin ich nicht einer von ihnen, sondern einer von den anderen? Selbstzweifel übermannten mich – irgendwo zwischen Wien und Graz. Ich blickte aus dem Fenster; wieso nur ist die Masse so abgestumpft, erkennt das Leid und Unrecht nicht, selbst wenn sie mit der Nase darauf gestoßen wird1? Doch nicht, damit Menschen wie Pfarrer Siegfried Wilm, der im Artikel zitiert wird, aus ihr herausstechen. In diesem Moment liebte ich diesen Mann. Ihn, der seine Kirche in der Hamburger Gemeinde Sankt Pauli für lybische Flüchtlinge öffnete, die in der Hansestadt gestrandet waren. 80 westafrikanische Gastarbeiter, die nach dem Umsturz in Lybien wegen ihrer schwarzen Hautfarbe automatisch für Gaddafis Söldner gehalten wurden, verfolgt wurden und flüchten mussten. Pastor Wilm gab ihnen Obdach und schenkte ihnen Hoffnung und mir ein Vorbild. Ich blickte also aus dem Fenster, auf meinen Wangen salzige Spuren der Enttäuschung über den Verlust der Menschlichkeit in unserer Gesellschaft; in der sich keiner vorstellen kann, wie das Gefühl ist, das die Autorin im Text als doppelte Ohnmachtserfahrung beschreibt: „Erst verfolgt zu werden und dann unerwünscht zu sein.“ Ich konnte es mir aber vorstellen. Ich danke Gott, dass ich wenigstens zum Fühlen fähig bin, wenngleich das Handeln zu wünschen übrig lässt. Denn: Jeder kann etwas tun, und wenn er nur Decken in eine Kirche bringt, in der Flüchtlinge Obdach gefunden haben. So war ich sehr traurig, als ich den Semmering überquerte; und als ich bei der Betrachtung der vorbeiziehenden Wälder auch keine Antworten fand, trocknete ich meine Tränen und schöpfte Hoffnung durch meinen Helden, Pastor Wilm, der sagt: „Wir handeln, ohne zu wissen, ob es gut ausgeht. Aber wir hoffen darauf. Das ist das Prinzip Liebe. Das ist typisch Mensch.“ Vielleicht bringt uns dieses Prinzip die Menschlichkeit zurück und die Nächstenliebe. Vielleicht vertreibt es die Scham, wegen derer ich weinte, zwischen Wien und Graz, wo es keine Antworten gibt. Anlehnung an „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Gottfried Keller 1)


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.