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Versorgungskrise trifft alle
Mit vielen offenen Fragen in den Herbst
Handel, Industrie und allgemeine Bevölkerung eint die Sorge vor einer weiteren Zuspitzung der Krise – die Politik wartet ab.
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••• Von Paul Hafner
Wie hört das auf, wie wird das weitergehen?“, ließ Wolfgang Ambros vor 45 Jahren den verzweifelten Protagonisten seines gleichnamigen Liedes fragen. Aktuell stellt sich die Frage gleichermaßen der gesamten Bevölkerung wie dem Handel und der Industrie. Der sorgenvolle Blick nach vorn ist zum Sinnbild der letzten Jahre geworden, statt einer mancherorts beschworenen Wiederauflage der „Roaring Twenties“ des vergangenen Jahrhunderts stehen die 2020erJahre im Zeichen einer multiplen Krise: Zweieinhalb Jahre nach dem Auftakt der Pandemie – fast pünktlich zum Beginn der neuen Dekade – ist eine nachhaltige Eindämmung dieser noch immer nicht absehbar, geschweige denn ihr Ende. Der nunmehr schon fast sechs Monate anhaltende Ukrainekrieg hat im Zusammenspiel mit der Pandemie (und den aus ihr resultierenden Lieferschwierigkeiten sowie der Rohstoffkrise) die Weltwirtschaft in eine veritable Krise gestürzt, die sich in der österreichischen Bevölkerung mit der höchsten Inflationsrate seit den 1970erJahren und einer Explosion der Energiekosten bemerkbar macht.
Laut einer aktuellen MindtakeUmfrage im Auftrag des Handelsverbands geben 97% der Österreicher an, die Auswirkung der Teuerung auf den eigenen Haushalt zu spüren; sieben von zehn haben darum ihre Ausgaben in den letzten Wo
chen eingeschränkt, fast jeder Vierte (23%) muss sich bereits auf den Kauf lebensnotwendiger Güter beschränken. Mit dem Ende der LockdownÄra und ihrer „verminderten Kauflaune“ standen die Zeichen nur ganz kurz auf Erholung – die Angst vor weiteren, einschneidenden Eindämmungsmaßnahmen (auf Bürger wie Unternehmensseite) ist, analog zum medialen Fokus, jener vor einer Energieversorgungskrise gewichen.
Ruf nach Systemreform
Anders als vor Covid19 gibt es für den Einzelnen vor den aktuellen und bevorstehenden Herausforderungen kein präventives häusliches „Verstecken“. Mit Blick auf die steigenden Energiekosten ist geradezu das Gegenteil der Fall – zumal Lockdowns und HomeofficeVerordnungen nicht zuletzt im Sinne des ausgerufenen Gebots zum Energiesparen im kommenden Herbst und Winter beinahe sicher auszuschließen sind.
Während das Ausmaß der Kostenbelastung für Privathaushalte angesichts diskutierter politischer Interventionen wie einer Deckelung bei der Stromrechnung, wie sie WifoChef Gabriel Felbermayr ins Spiel gebracht hat, aktuell nicht abschätzbar ist, belaufen sich die Preise im Großhandel für 2023 im EinJahresVergleich auf ein Vielfaches: Strom ist um 600%, Gas um 750% teurer als vor einem Jahr. „Diese Preise werden zeitverzögert bei Haushalten und Wirtschaft ankommen. Ohne rasche Systemreform wird es grimmig“, meint ExBundeskanzler Christian Kern, der von 2000 bis
2010 erst als Geschäftsführer und später als Vorstandsmitglied beim Verbund, Österreichs größtem Elektrizitätsunternehmen, tätig war. Sieger kennt die Versorgungskrise abseits der Energiekonzerne keine, weder im Handel noch in der Industrie – ein wesentlicher Aspekt, der die momentane Phase der Krise vom CoronaJahr 2020 unterscheidet, als bekanntlich insbesondere der LEH zum Krisengewinner avancierte.
Umsatzeinbruch im Juni
Gemäß Zahlen der Statistik Austria musste der heimische Einzelhandel im Juni 2022 einen inflationsbereinigten Umsatzrückgang von 5,5% hinnehmen, im NonFoodHandel liegt das Minus sogar bei 8,3%. Der preisbereinigte Halbjahresvergleich 2022 (im Vergleich zum 1. Halbjahr 2021) zeigt für den gesamten Einzelhandel ein minimales Umsatzplus von 0,2%.
Allerdings hatten die heimischen NonFoodHandelsbetriebe im ersten Halbjahr 2021 auch bis zu acht LockdownWochen geschlossen. Daher wird hier tatsächlich ein dickes Minus verzeichnet – und auch der von den Schließungen ausgenommene LEH verzeichnete hier ein deutliches Minus von 4,9%.
Billig statt Bio?
„Der Handel verzeichnete im ersten Halbjahr 2022 in fast allen Warengruppen deutliche Verluste aufgrund der multiplen Krisen, die eine eklatante Kaufkraftschwächung ausgelöst haben“, bilanziert HandelsverbandGeschäftsführer Rainer Will.
Das Minus im LEH untermauert, dass nun auch bei den Lebensmitteln gespart wird. Es bleibt abzuwarten, inwiefern die gemäß MindtakeUmfrage stark gestiegene Bereitschaft zum Kauf günstiger Lebensmittel und DiskontEigenmarken die Umsatzentwicklungen von Supermärkten und Diskontern, aber auch Bio und FairtradeLebensmitteln beeinflusst.
Der Appell von Nah&FrischGeschäftsführer Hannes Wuchterl Anfang des Jahres, „extrem wachsam“ zu sein und „genau auf die Kostenseite zu schauen und sich entsprechend auf andere Umsatzniveaus als 2020 und 2021 einzustellen“, hat sich im Lichte der sich seither beständig nach oben korrigierenden JahresInflationsPrognosen als hellsichtig erwiesen; längst sind Ökonomen davon abgekommen, die unmittelbare Wende zu prophezeien.
Höhenflug
Mit 9,2% hat die Inflation in Österreich im Juli ihren höchsten Wert seit über 47 Jahren (März 1975) erreicht.
Die Milchwirtschaft muss im Sinne der Versorgungssicherheit bei der Zuteilung von Gas im Krisenfall mit entsprechender Priorität behandelt werden.
Helmut Petschar
VÖM-Präsident Die Teuerungswelle hat sich, wie von uns prognostiziert, verfestigt. Den Peak der Inflation in Österreich erwarten wir erst gegen Jahresende.
Rainer Will
Handelsverband
7,8%
Prognose
Für 2022 geht das Wifo aktuell von einer Jahresinflationsrate von 7,8 Prozent aus. Für 2023 wird von einer schwächeren Teuerung von aktuell 5,3 Prozent ausgegangen.

Wir wollen nicht den generellen Strompreis begrenzen, sondern eine gewisse Strommenge für jeden Haushalt subventionieren.
Magnus Brunner Finanzminister
Die Energieversorger sollten einen Teil des Energieverbrauchs der Haushalte kostenfrei abgeben, für den Rest aber Marktpreise verrechnen.
Gabriel Felbermayr
Wifo-Chef
Euro-Raum in der Zwickmühle
Anders als in den USA, wo infolge des unerwartet deutlichen Rückgangs der Inflation von 9,1% auf 8,5% erste Experten den Höhepunkt der Teuerung für überschritten erklärt haben (und dafür viel Skepsis ernten), kletterte die Inflation im EuroRaum im Juli abermals auf 8,9% (+0,3%) – in Österreich dürfte sie sogar noch knapp darüber (9,2%, +0,8) liegen. Hauptverantwortlich dafür machen Volkswirte zum einen das zaghafte Agieren der Europäischen Zentralbank, die anders als ihr amerikanisches Pendant (Federal Reserve System, meist kurz „Fed“) zu lange mit der Anhebung des Leitzinses gezögert habe (was wiederum mit der heiklen Heterogenität der Volkswirtschaften der EuroLänder zusammenhängt), als auch die Abhängigkeit vom russischen Gas, die im EuroRaum wesentlich ausgeprägter ist als in den USA.
Damoklesschwert „No Gas“
Apropos Gas: Wenngleich der neue Erste GroupChef Willi Czernko kürzlich gegenüber dem Standard erklärte, man sei „zutiefst überzeugt, dass das Szenario ‚No Gas from Russia‘ nicht eintritt“, und er von einer „Prolongation des Status quo“ ausgeht, schwebt die Gefahr eines kompletten GasLieferstopps aus Russland wie ein Damoklesschwert über Österreichs Lebensmittelindustrie – und insbesondere über der Milchwirtschaft: „Wir sind im Processing sehr Gaslastig. Sollte es hier zu Ausfällen kommen, haben wir ein Problem mit der Versorgung, dann steht der Betrieb still, inklusive der Abholung der Rohmilch bei allen Bauern“, malte NömVorstand Alfred Berger bereits vor dem Sommer ein dramatisches Bild. Klartext sprach in diesem Zusammenhang auch Helmut Petschar, Präsident der Vereinigung Österreichischer Milchverarbeiter und Geschäftsführer der Kärntnermilch, der für den Krisenfall offen eine Priorisierung der Milchwirtschaft bei der Gasversorgung einfordert und auf ihre „wesentliche Rolle bei der Lebensmittelversorgung“ pochte.
Preisbremse: Modell in Arbeit
Anders als in Deutschland hat sich in Österreich über den Sommer keine breite Debatte über eine Priorisierung einzelner Industriezweige ergeben; das letzte produktive Signal im Umgang mit der Teuerung seitens der Regierung war ein Bekenntnis von Finanzminister Magnus Brunner zur von Felbermayr angedachten Rechnungsdeckelung; Brunner kündigte an, bis Ende August ein Modell für eine Gasund Strompreisbremse vorlegen zu wollen, welches die Subventionierung gewisser (am Durchschnittsverbrauch orientierter Strommengen) vorsehe.
Wie es weitergehen wird
In Wien ist die Verteuerung von Fernwärme um 92% für Privathaushalte ab 1. September besiegelt, eine Gegenmaßnahme steht nicht im Raum. Für Strom und Gas hält Kern (aufgrund gleichbleibender Netzgebühren, Abgaben und Steuern) österreichweit eine „Verdrei bis Vervierfachung“ der Haushaltsrechnungen für plausibel – die Preisbremse wird also zur Zeitfrage, und jede Verzögerung wird negativ auf die Kaufkraft durchschlagen. Für Österreichs Unternehmen ist das aktuell zweitrangig: Der im Gasnotfallplan fixierte Umstieg von Gas auf Erdöl kommt nur für ein Zehntel der Betriebe infrage, das „No Gas“Damoklesschwert schwebt weiter über ihnen. Ob es fällt oder nicht – mit Insolvenzen wird in jedem Fall zu rechnen sein.
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Interview
Peter Hanke ist seit 2018 Stadtrat für Wirtschaft und Finanzen in Wien. Zuvor war er lange Jahre an der Spitze der Wien Holding tätig.
„Sinnvoll sparen statt Symbolik“
Stadtrat Peter Hanke: Nur die Weihnachtsbeleuchtung abzuschalten, wird zur Krisenbewältigung nicht reichen.
••• Von Alexander Haide
WIEN. Angesichts der Energiekrise, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Teuerungswelle und den Nach- und Nebenwirkungen der noch immer tobenden Pandemie stehen Kommunen vor großen Herausforderungen. Wiens Finanz- und Wirtschaftsstadtrat Peter Hanke skizziert die Wege zur Bewältigung – vorweg: Einfach werden die nächsten Monate für niemanden.
medianet: Wie sehr sorgen Sie sich ob der angespannten Energieversorgungslage – oder ist vieles davon ein herbeigeredetes Gespenst? Peter Hanke: Man muss zwischen der Ist-Situation und dem, was kommen könnte, unterscheiden. Nimmt man die Ist-Situation von heute her, dann sehen wir keine Mangellage. Aber wir sehen eine klare Teuerungslage, die immens ist, und es sind Kriegspreise, die derzeit zu bezahlen sind. Das ist natürlich für wirtschaftliche Systeme und bei sozialen Auswirkungen sehr, sehr schwierig.
Es gilt, die Zeitkomponente immer richtig einzuschätzen. Sollte es übermorgen eine andere Gaslieferstruktur, eine andere Logik aus diesem verrückten Krieg geben, dann muss man sich darauf einstellen und gerüstet sein. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Gasbevorratung vornehmen.
Wir haben mit der Wien Energie einen großen Schritt vorwärts gemacht und sind bereits bei einem Wert von 87 Prozent, also viel höher als die Bundesquote. Wir haben in den vergangenen Jahren immer auf erneuerbare Energie gesetzt, wie auf die Photovoltaikoffensive. Auch die Geothermie kommt jetzt neu hinzu, wie die Großwärmepumpe in Simmering, die über 110.000 Haushalte klimaneutral im Bereich der Wärme versorgen wird. Aber wir brauchen auch Milliardeninvestitionen in die Wärmedämmung.
medianet: Gibt es ein Patentrezept, wie die kommenden Monate in puncto Energiekosten und Inflation für Wirtschaft und Bewohner erträglich gemacht werden können? Hanke: Es ist ein intelligenter Mix und die Notwendigkeit, auf EU-Ebene das ‚Merit OrderPrinzip‘ zu bekämpfen. (Die teuerste Art der Stromerzeugung, zumeist durch Gas, bestimmt den Strompreis, Anm.)
Auf Landesebene wird es eine Unterstützung anhand unseres vier Säulen-Systems geben. Das sind 250 Millionen Euro, die wir aufbringen, um an sozial Benachteiligte und bis in den Mittelstand Förderungen ausbezahlen zu können. Das muss relativ unbürokratisch, schnell und klar erfolgen. Das ist unser Ziel in den kommenden Monaten.
medianet: Fehlen die 250 Millionen an Unterstützung anderswo im Stadtbudget? Hanke: Sie können nicht fehlen. Wir sind aufgefordert, gemeinsam eine Krise zu bewältigen, und hier ist jeder Euro, den wir in die Hand nehmen, gut investiert. Deshalb wird es uns auch in den Kernbereichen Soziales, Gesundheit und Bildung nicht fehlen.
medianet: Gibt es einen großen Posten, bei dem Wien Energie einsparen kann? Hanke: Wir haben in den vergangenen fünf Jahren intensiv an dieser Schraube gedreht und sind mit großem Abstand das energieeffizienteste Bundesland. Wir haben moderne Technologien, wie bei der Beleuchtung mit LED, bereits umgesetzt. Symbolisches Sparen kann da oder dort richtig sein, sollte aber nicht im Vordergrund stehen. Es gilt, sinnvolle Einsparungen vorzunehmen, und wir werden das Stück für Stück umsetzen.
medianet: Und wie sparen Sie selbst im privaten Bereich Energie? Hanke: Das Autofahren wird eingeschränkt, ich gehe zu Fuß, fahre mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn es möglich ist.
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Marketagent Der Vertriebsexperte und ehemalige Leistungssportler ist bei Marketagent seit dem Sommer als Sales Manager für die Vermarktung von innovativen und neuwertigen Marktforschungstools zuständig und unterstützt Firmen dabei, Antworten auf ihre Forschungsfragen zu finden.

Agency Log #43 Diego del Pozo, GF von Tunnel23, im ausführlichen Gespräch.
Networking Karin Strahners K.S. Circle 16 Wirtschaftsclub lud an den Wörthersee.
© Didi Wajand
