Von der Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte

Page 1

®


Titelabbildung: Heiliger Hieronymus niederländisch, ca. 1530, Privatbesitz © 2019 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18, D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gestaltung & Satz: Leonard Keidel Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße ISBN: 978-3-88423-619-2


Klaus Zimmermann

Von der Welt, wie sie ist und wie sie sein kรถnnte Eine Verteidigung des Menschen



Vorwort 7 Einleitung 9 Zur Welt, in der wir leben Erscheinungsformen Ideologien Wirkungen Verlust und Gegenwehr Strukturen des Gegebenen – Kategorien des Möglichen Zur Freiheit Zur Gleichheit Zur Emanzipation Zur Moral Zu Einheit und Identität Zu Subjektivität und Individualität Zur Philosophie Zur Religion Zur Möglichkeit Zur Wahrheit Zu Fortschritt und Utopie Zu Kritik, Orientierung, Werte Zur Kultur Zur Stadt Zu Recht und Eigentum Zur Demokratie

17 24 34 44

63 70 81 87 105 112 118 124 128 131 133 139 149 153 156 159

Zum Leben 169 Schluss 189



Par l’espace, l’univers me comprend et m’engloutit comme un point; par la pensée, je le comprends. Pascal, Pensées Durch den Raum erfasst und verschlingt mich das Weltall wie einen Punkt; durch das Denken erfasse ich es.

Vorwort Was ist das – das Leben? Ins Allgemeine gestellt verlangt die Frage zu viel und zu wenig zugleich: zu viel, weil ihr Gehalt sich auflöst unter der Weite des Begriffs; zu wenig, weil sie der Frage nach dem konkreten Leben in einer konkreten Welt keine Kontur gibt. Die Frage kann ganz im Allgemeinen bleiben, die Antwort kann es nicht. Es ist naheliegend, nach Bestimmungsgründen zu suchen, die in den Zwischenzonen liegen zwischen dem einzelnen konkreten Leben und den allgemeinen Strukturen und Kategorien, die es erlauben könnten, das Konkrete mit dem Allgemeinen in Beziehung zu setzen. Nur methodisch ist die Trennung zwischen der Bemühung, sich das einzelne Leben, so gut es geht, verständlich zu machen, und derjenigen, die Welt im Ganzen 7


zu erfassen. Tatsächlich zwingt das Bedürfnis, das von der Erfahrung des einzelnen eigenen Lebens ausgeht, zur gleichzeitigen Wahrnehmung der Welt. Es ist ein praktisches und theoretisches Interesse, eines, das vom Konkreten ins Allgemeine fortschreitet und vom Allgemeinen zum Konkreten zurückkehrt, und so in einem fort. Der Versuch, dabei zwischen dem freien Spiel der Begriffe und den konkreten Phänomenen der Alltagswelt zu vermitteln, muss notwendig scheitern, wenn man das Ausbleiben einer eindeutigen Antwort als Scheitern versteht. Jenem Wechselgang angemessen ist in weiten Teilen diejenige Form, die das Unabgeschlossene, Uneindeutige, Unfertige, das Bruchstückhafte, Widersprüchliche, auch Paradoxe, widerspiegelt, das in der Sache liegt: die Form des Aphorismus, begleitet von Sentenzen. Wiederholungen sind dabei unvermeidlich und erwünscht: sie sollen den Begriff im jeweils veränderten Umfeld in ein anderes Licht tauchen, um ihm Kontur zu verleihen, ein Verständnis oder doch ein Nachempfinden zu ermöglichen. Meist will der Aphorismus mehr sagen, als er sagen kann. So ist er auf den Leser verwiesen, der es gut mit ihm meint, der die nur leicht geordnete Unordnung der Gedankenfolge hinnimmt, ihm die Überschneidungen, Wiederholungen oder Brüche nachsieht, der den Text mit eigenen Erwägungen ergänzt, korrigiert, ihn – und sei es nur in kleinen Teilen – sich aneignet oder verwirft.

8


Einleitung

1

Nicht wie wir sein und werden sollen, um uns den Verhältnissen gemäß zu verhalten und einzurichten, ist unsere eigentliche Frage, sondern: wie die Verhältnisse sein und werden sollen, damit sie unseren Annahmen entsprechen – einem Bild von der Größe des Menschen und der möglichen Schönheit des Lebens. Wir wissen, in einer Zeit, die mit Science-Fiction und Cyborg umgeht, Maschinenmenschen und virtuellen Welten, klingt ein solcher Anfang eher merkwürdig; aber wenn die Welt voll ist mit Überlegungen, was aus dem Menschen gemacht werden könnte – technisch betrachtet –, ist die umgekehrte Fragestellung – was, normativ betrachtet, menschlichem Interesse gemäß aus der Welt gemacht werden könnte – umso naheliegender, natürlicher, notwendiger. 2

Es gibt Gründe zur Nachdenklichkeit: woher, wohin, welche Orientierungen, welche Bedingungen? Es ist vielleicht gefährlicher, sich keine Gedanken zu machen als falsche (aber korrigierbare) angesichts der offenbaren Ratlosigkeit der Gesellschaft.

9


Liberalismus, Globalisierung, moderne Technik, Auflösung der Orientierungen, wenn sie in eins fallen, verlangen nach Kritik und Besinnung. Eine Darstellung mit dem Bild einer klaren Ordnung ist nicht möglich. Es kann sich nur um die Darstellung der Brüche, Paradoxien, Widersprüche und Ungereimtheiten handeln. Wenn kein Entwurf ins Ganze möglich ist, bleibt doch die Benennung von Bruchstücken, die in einer möglichen zukünftigen Welt Verwendung finden könnten, von Elementen, die das andeuten, was sich noch mit Gründen hoffen, aus denen sich eine ungefähre Orientierung der Kritik an den gegebenen Verhältnissen ableiten lässt. Es kann nur eine – leicht geordnete – Unordnung sein, deshalb der apodiktische Charakter ohne Anspruch einer Abhandlung, deshalb nur der Versuch, zu bedenken zu geben und zu dieser und jener Besinnung anzuregen. Es sind Brocken, Fragmente, Aspekte, keine Gesamterklärungen, keine Behauptungen aus sicherem Wissen. Sie wollen etwas sagen von der Größe des Menschen und von den Bedingungen, die sie verlangt, von den Figuren und Strukturen, in denen das Leben sich vollzieht, von den Beschränkungen, in denen es als menschliches Leben steht. Es ist kein Versuch, Überzeugungen zu bewirken; es ist ein Versuch, zum Fragestellen und Infragestellen anzuregen, in einer Zeit, die dazu neigt, das Gegebene allzu leicht als das allein Mögliche zu nehmen. 3

Es geht auch um Begriffe. Viele von ihnen haben ihren Sinn verloren, sind – oft zu Unrecht oder entstellend – 10


für die Bezeichnung von Eigenheiten in Anspruch genommen worden, die ihrem ursprünglichen Gehalt gar nicht entsprachen. Erfolgte Verschiebungen in eine nicht angemessene Richtung können nicht dazu führen, solche Begriffe nicht mehr zu gebrauchen. Es gilt vielmehr, ihren möglichen anderen Gebrauch zu verteidigen. 4

Es geht nicht um die Darstellung idealer Forderungen, Werte, Begriffe, sondern um die Bedingungen, unter denen solche Begriffe bedeutsam sein können. So ist es nicht sinnvoll, von »Humanismus« zu reden, ohne auf die jeweilige Konstellation der materiellen und ideellen Phänomene und Interessen zu achten, in der der Begriff verwendet wird. Wer den Eindruck erweckt, es werde allein die Nennung des Begriffs schon zur Wirklichkeit machen, was mit ihm als Vorstellung verbunden ist, betreibt nicht Aufklärung, sondern Magie. 5

Eine Theorie kann ein Ganzes nicht erfassen – nicht einen Menschen, nicht eine Gesellschaft, nicht eine geschichtliche Epoche. Es bleibt die Bemühung um Elemente, die normativ einen Handlungsrahmen abstecken und sich zu einer ephemeren Einheit fügen können. 6

Es kann nicht darum gehen und es geht nicht darum, den Blick nach rückwärts zu richten. Es gibt keine Sehnsucht nach den alten Zeiten, in denen das Wün11


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.