Ré Soupault - Nur das Geistige zählt

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© 2018 Nachlass Ré Soupault/VG Bild-Kunst, Bonn © 2018 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ( durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren ) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Titelabbildung: Ré Soupault, Basel 1950 Gestaltung & Satz: Leonard Keidel Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße ISBN: 978-3-88423-588-1


RĂŠ Soupault

Nur das Geistige zählt Vom Bauhaus in die Welt. Erinnerungen Herausgegeben von Manfred Metzner

Wunderhorn



Vorwort des Herausgebers*

Ré Soupault verfasste einen Teil ihrer Erinnerungen in den 1970er Jahren als Briefe an ihre Nichte. Dieser erste Teil reicht bis 1949. Nachdem wir Ré und Philippe Soupault 1981 kennengelernt hatten und die deutschen Verleger von Philippe Soupault geworden waren, zeigte sie mir diese Briefe und wir überlegten, wie sie diese zu einem umfassenderen biographischen Text gestalten könnte. Sie arbeitete daraufhin Textstellen um, überprüfte sie mit ihren Tagebüchern, ergänzte den Text mit ihr wichtigen Stellen aus diesen. Ihre Tagebücher schrieb sie bis Anfang der 1990er Jahre zum Teil auf einer Remington und einer Olivetti Lettera 22, abwechselnd in Deutsch und Französisch, oder von Hand (z.B. ihre Aufzeichnungen der Vorlesungen, die sie von 1951–1954 bei Karl Jaspers in Basel besuchte), oder sie notierte Tagesabläufe, Besuche, Korrespondenzen in kleine Jahreskalender. Auch schrieb sie umfangreiche Reisetagebücher. Ab 1948 arbeitete sie in Basel und ab 1955 in Paris als Übersetzerin, Radio-Essayistin, Schriftstellerin und Herausgeberin von Märchen-Sammlungen. Bis kurz vor ihrem Tod 1996 beschäftigte sie sich mit der Fortschreibung ihrer Erinnerungen. Im Personenregister habe ich zu Personen, deren Tätigkeit oder deren Umfeld nicht aus dem Text hervorgeht, Kurzinformationen hinzugefügt.

* Manfred Metzner lebt als Verleger in Heidelberg. Er ist Nachlassverwalter und Herausgeber des Werks von Ré Soupault. Zuletzt: Ré Soupault, Katakomben der Seele. Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem 1950 (2016).

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Selbstporträt, Buenos Aires, 31. Januar 1944, im Hintergrund Gisèle Freund und Jacques Rémy (s. Seite 131).


Pommern

Es gibt zwei Wege im Leben: der eine führt nach außen: Karriere, Geltung, Besitz… der andere nach innen: Arbeit, aber ohne Rücksicht auf äußeren Erfolg, schöpferische Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst findet. Der Gedanke richtet sich auf die geistigen Errungenschaften des Menschen, dem Forschen nach dem Sinn des Lebens. Beispiele dafür sind die Philosophen der Antike, vor allem die Griechen. Es gehören dazu auch die sogenannten Religionsgründer wie Jesus und Buddha. Eine solche Lebenshaltung bestimmt zugleich den Umgang mit anderen Menschen: niemandem die eigene Erkenntnis aufdrängen, die Persönlichkeit des anderen anerkennen, ihm mit Toleranz und Sympathie begegnen. Es gibt kein anderes Glück für den Menschen als das, was er in sich selbst findet. Der Schriftsteller Nicolas Chamfort, der sich 1794 (während des Terrors) das Leben nahm, hat es richtig gesagt: »Le bonheur n’est pas chose aisée: il est très difficile de le trouver en nous, et impossible de le trouver ailleurs«. (»Das Glück ist kein leichtes Ding: sehr schwer, es in uns zu finden, und unmöglich, es anderswo zu finden.«) Dieses Wort stellt Schopenhauer seinen »Aphorismen zur Lebensweisheit« voran. Die anderen Menschen ändern zu wollen, ist vergebliche Mühe. Uns selbst aber können wir bis zu einem gewissen Grade ändern. Dabei hilft das Unterscheidenlernen zwischen vergänglichen und unvergänglichen Dingen. Spinoza begann ein Philosoph zu werden, als er erkannte, daß es sich nicht lohne, vergängliches Gut zu erwerben. »Ich suchte nach dem unvergänglichen Gut«, schrieb er. Aber genug von allgemeinen Betrachtungen. Ich glaube, ich hörte zum ersten Mal von Schopenhauer durch Walter Ebach. Meine Zeichenlehrerin – sie hieß Fräulein Wimmer – am Kolberger 7


Lyzeum, nahm bei ihm Privatstunden in Philosophie. Aber damals kannte ich ihn noch nicht persönlich. Fräulein Wimmer war vielleicht die einzige vernünftige Person unter allen Professoren der Schule. Auch hieß es, sie sei Sozialistin, was man damals nicht laut sagen durfte. Wir lebten in einer Zeit (zwischen 1918 und 1920 hat sich dies alles zugetragen), wo es den Begriff »Kommunismus« noch gar nicht gab. Der Sozialismus war noch der Bürgerschreck. Also mit Fräulein Wimmer ließ es sich gut reden. Sie gab Privatstunden im Zeichnen und da ich immer eine Eins im Zeichnen hatte, beteiligte ich mich an ihren Privatstunden. Wir bildeten eine kleine Gruppe. Es ging mir weniger ums Zeichnen, als um Gespräche mit einer vernünftigen Person. Wir zeichneten am Hafen oder draußen in der Natur. Jeder hatte seinen kleinen Klappschemel und diese Stunden waren Lichtblicke in einer sehr düsteren Welt. Denn es war das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Blockade, Mangel an allem. Wenigstens hatte mit der Niederlage das tägliche Morden aufgehört. Aber wie sah die Zukunft aus? Mein Ziel war damals – denn ein Ziel mußte man ja haben – Lyzeumslehrerin zu werden. Nachdem 1917 mein Bruder Werner gefallen war, kam meine Schwester für einige Zeit nach Kolberg, »damit ich nicht allein war«. Sie wohnte in einer Familienpension, deren Besitzerin ein Fräulein Röpke (oder so ähnlich) war. Diese Pension lag am Viktoriaplatz und ich wohnte nahe davon, Viktoriastraße 9. Meine »Pensionsmutter« hieß Frau Dietz. Sie war die Witwe eines sehr wohlhabenden Kaufmanns, mußte aber jetzt Zimmer an Lyzeumsschülerinnen vermieten, weil sie offenbar ganz verarmt war. Es hieß, daß ein ungeratener Sohn, der in Südafrika das Weite gesucht hatte, an dem Ruin der Familie Schuld hatte. Aber Frau Dietz hatte auch eine Tochter, die der Mutter in rührender Weise beistand. Fräulein Dietz – sie war unsympathisch und unschön, aber der Schein trügt manchmal – arbeitete in einem Lazarett, und zwar in leitender Stellung. So half sie ihrer Mutter mit Lebensmitteln, die das große Problem (neben Kleidung und Heizung) jener Zeit wa8


ren. Wir waren drei in einem Zimmer. Mit mir zusammen waren Käte Plack und Edith Engel. In der Pension Röpke waren viele Gäste. Jedenfalls erinnere ich mich an einen großen Eßtisch. Da war zum Beispiel ein Geschwisterpaar – vielleicht aus Berlin, aber ich bin nicht sicher – : Fräulein Jung und ihr Bruder, ein Biologe, glaube ich. Der Direktor des einzigen Warenhauses in Kolberg. Er hieß Seitz. In diesem Warenhaus war auch eine Schneiderwerkstatt, die »Haute couture« von Kolberg. Meine Schwester ließ sich dort ein sogenanntes »Schneiderkostüm« arbeiten. Ein großes Ereignis in solchen Mangelzeiten. Ich erinnere mich, daß es mausgrau war, mit enger Taille und – wie es damals Mode war – mit langem Rock. In dieser Pension wohnte auch der Studienassessor Walter Ebach. Vielleicht aß er auch nur dort, dessen bin ich nicht ganz sicher. Jedenfalls sah ich ihn hier zum ersten Mal, nachdem ich schon von ihm gehört hatte. Er galt als ungewöhnlich intelligent. Seine philosophischen Schlußfolgerungen waren immer von höchster Überzeugungskraft. Außerdem war er entschieden sozialistisch angehaucht, also seine Denkweise sehr fortschrittlich. Das Niveau der meisten Professoren – jedenfalls was das Lyzeum betraf – war katastrophal. Ich will hier nicht von meinem Englischlehrer sprechen – er hieß Tiemens – der sich durch einen anrüchigen Konformismus auszeichnete. Z. B. verlangte er von den Schülerinnen, daß er auf der Straße mit einem »Knicks« gegrüßt wurde. Heute ist sicher sogar die Erinnerung an solche vorsintflutlichen Vorschriften verschwunden. Die meisten von uns wichen dem »Knicks« aus (es ist richtig, daß nur Herr Tiemens ihn verlangte), indem sie die Straße überquerten oder sich umwandten, wenn dieser Englischlehrer auftauchte. Was der dann in der nächsten Stunde erwähnte. Wirklich ein großer Dummkopf. Er hatte feuchte Froschhände und bestand darauf, daß vor den Ferien jede ihm die Hand geben mußte. Der Direktor, Professor Roedtke, war der einzige Lichtblick in dieser Schule. Mit ihm konnte man reden. Er hatte Verständnis für junge Menschen, die in der allgemeinen Not ja nicht das geringste 9


Vergnügen kannten. Siegesfeiern, Vaterlandslieder, Klappern mit den Holzsandalen (lederne Schuhe gab es schon längst nicht mehr), ungeheizte Zimmer, Schlange stehen nach ein paar Bonbons, die sofort an die Front geschickt wurden: das waren die Zerstreuungen damals. Allerdings gab es den »Wandervogel«1. Unsere Turnlehrerin, namens Katherin, war die Führerin. Ob man wollte oder nicht: jeder mußte dem »Wandervogel« beitreten. Ich wollte übrigens gern, wenn nur nicht die weiten Märsche am Sonntag gewesen wären. Katherin war sehr groß und mager und hatte lange Beine; ihr Tempo war dem entsprechend. Mit Rucksack, Kochtopf und Gitarre ging es bei Morgengrauen los. Man atmete auf, wenn das Wetter manchmal diese Sonntagsmärsche verhinderte. Aber an einen sehr schönen Ausflug erinnere ich mich. Es war Sommer und die Sonne schien. Auf den Dünen von Horst – einem kleinen Fischerdorf an der Ostsee – machten wir Rast und die Arbeit für die Kocherei wurde eingeteilt: die einen machten Feuer, die andern sammelten Holz; einige suchten nach etwas Essbarem. Meistens waren es Kartoffeln, vielleicht, wenn wir Glück hatten, rückten die Bäuerinnen ein Stückchen Speck und ein paar Eier heraus. Meistens ging es mit Kartoffeln. Und dann wurde gesungen mit Gitarrebegleitung. Aber wenn man abends nach Hause kam, fiel man vor Müdigkeit um. Katherin übertrieb: sie wollte uns abhärten. Einmal fragte mich Fräulein Wimmer, was ich nach dem Reifezeugnis machen wollte. Ich sagte ihr, vielleicht ohne besondere Begeisterung, daß ich wohl Lehrerin werden würde. Sie fand, das sei keine sehr gute Idee. Ob ich nicht lieber meine Zeichenbegabung ausbilden wollte? In Wirklichkeit war es mir gleich, was ich machen würde, nur frei wollte ich sein. In der Hoffnungslosigkeit dieses Kriegsendes war alles grau: nirgends ein Lichtblick. Da zeigte mir Fräulein Wimmer das Manifest von Gropius. Das Bauhaus. Da war eine Idee, mehr noch ein Ideal: keinen Unterschied mehr zwischen Handwerkern und Künstlern. Alle zusammen, in einer neuen Gemeinschaft, wollten die »Kathedrale« der Zukunft bauen. Da wollte ich mitmachen. 10


Aber Fräulein Wimmer war vielleicht ein wenig erschrocken über meine Begeisterung, denn sie sagte, sie hätte das Bauhaus in Weimar besucht und ihr schien, daß die Idee von Gropius eine Utopie sei. Sie fand, eine Kunstschule in Berlin wäre geeigneter. Außerdem wäre in Weimar nur Platz für höchstens 100 Schüler und es würde sicher schwer sein, aufgenommen zu werden. Nun, ich versuchte es trotzdem. Man mußte Arbeiten einreichen und einige Fragen beantworten. Und dann kam die Antwort. Sie war positiv. Mir lag mehr an der neuen Gemeinschaft als an der Ausbildung meines Maltalentes. Aber meine Eltern sahen sicher nur die Aussicht auf eine Karriere als Malerin. Im Frühjahr, zum Sommersemester 1921, brachte meine Mutter mich nach Weimar. Ich weiß nicht, woher sie die Adresse des Martha-und Marien-Heimes2 hatte, wo sie mich einmietete. Aber ich muß noch einmal auf Kolberg zurückkommen. Während der Sommerferien – ich erinnere mich nicht mehr, welches Jahr es war – starb die unglückliche Frau Dietz und ihr folgte in kurzem Abstand die Tochter. Ich kam in eine andere Pension, an die ich keine gute Erinnerung habe. Mutter und Tochter, die in kleinen Verhältnissen lebten, wirtschafteten dort. Das Haus lag Roonstraße 7, ein ganz hübsches Villenviertel. Ich erinnere mich an den Winter mit Kältegraden, die bis zu 20 bis 30 Grad unter Null lagen. Und keine Heizung. Da bekam ich eine Angina, lag im Bett mit Fieber und die einzige Wärme war meine Körperwärme. Die Schluckbeschwerden waren so schlimm, daß ich vor jedem Schlucken meinen ganzen Mut zusammennehmen mußte. Es fehlte an jeder Pflege. Aber ans Sterben dachte ich nicht, obwohl ich damals sicher sehr nahe am Tode vorbeigegangen bin. Es war dieser Winter, als die Ostsee bis zum Horizont zugefroren war, als die Grippe anfing zu wüten und 800.000 Kinder in Deutschland starben. Weil sie physisch ohne Widerstand waren. Als ich die Angina überstanden hatte und in die Schule zurückkam, waren zwei von meinen Klassenkameradinnen gestorben. Besonders um eine trauerte ich, denn ich traf sie immer auf dem Schulweg und ich mochte sie. Sie 11


hieß, wie ich, Erna, Erna Kutschera (vielleicht ist der Name nicht richtig geschrieben, aber so wurde er ausgesprochen). Es gelang mir, die Pension zu wechseln. Von den Schwestern Firus, Ziegelschanze 1, wurde nur gut gesprochen. Und hier fand ich bei »Tante Liesbeth und Tante Martha« wirklich ein Heim. Tante Martha gab Klavierunterricht – bis dahin war ich Schülerin bei Fräulein Kummerow, hinter dem Dom, gewesen und jetzt wurde mit Tante Martha musiziert. Meine Zimmergenossin sang und ich begleitete. Am schönsten aber war es, wenn Tante Liesbeth mir ihre Photos aus China zeigte, wo eine ihrer Schwestern mit einem Konsul verheiratet gewesen war. Bei dieser Schwester hatte sie viele Jahre verbracht. Sie war also weit gereist und man merkte es ihr an. Sie machte mir zwei Geschenke: einen Mondstein und einen Pfirsichkern, in den ein chinesischer Künstler einen Buddhatempel geschnitzt hatte. Aber in meinem späteren sehr bewegten Leben sind mir diese kostbaren kleinen Geschenke verloren gegangen. Ich bewahre Tante Liesbeth und Tante Martha große Dankbarkeit. Leider hatten wir nicht Gelegenheit, uns wiederzusehen, und ich weiß nicht, wie das Ende ihres Lebens war. Am Ende ihres Aufenthaltes in der Pension Röpke sagte mir meine Schwester, daß sie mit Walter Ebach heimlich verlobt wäre. Ich erinnere mich nur sehr dunkel an ihre Hochzeit, wo auch Freunde von Dr. Ebach eingeladen waren. Einer dieser Freunde, Hanns Grütters, hatte mich sehr beeindruckt, durch seine Intelligenz und Weltoffenheit. Für mich begann nun die erste Etappe meines Lebens in der Freiheit. Hinzufügen möchte ich hier aber noch ein kurzes Porträt von Walter Ebach. Je näher man ihn kannte, desto mehr faszinierte er durch seine Intelligenz, die sich nicht nur in seiner gründlichen Kenntnis der Philosophie vom Altertum bis zur Neuzeit äußerte, sondern vor allem durch eigenes Denken. Er war antimilitaristisch und antiimperialistisch. Zugleich war er ein genialer Pianist. Er spielte Beethoven, Mozart, Chopin und andere wie ein Virtuose. Das konnte ich ganz gut beurteilen, da ich selbst von Kind auf Kla12


vierstunden hatte und zu jener Zeit eine Mozart- oder BeethovenSonate einigermaßen zustande brachte. Aber ich konnte nie auswendig spielen. Dagegen las ich leicht vom Blatt. Was mich nun bei Walter erstaunte, war die Tatsache, daß er alles – und das Repertoire war sehr reich – auswendig spielte. Wir haben ausführlich darüber gesprochen. Wie arbeitete sein Gedächtnis? War es rein musikalisch oder beruhte es auf einem optischen Erinnerungsvermögen? Nun, es war optisch bedingt. Er hat es mir erklärt. Er las eine Partitur, und die Seiten prägten sich seinem »inneren Blick« so genau ein, daß er quasi die Noten las ohne sie zu sehen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich eine solche Fähigkeit bewunderte. Einmal, in Claras Höhe während der Sommerferien, kam ich über den Hof, der sehr groß war und hörte durch die offenen Fenster Klavierspielen: es waren die »Spanischen Tänze« von Moritz Mosz­ kowski. Die Erinnerung an diesen Sommertag und an die Musik ist so präzise in meiner Erinnerung lebendig, daß ich nur die Augen zu schließen brauche und ich höre die Melodien. Ich weiß, man hat Walter vorgeworfen, daß er seine großen Begabungen nicht ausgenutzt hätte. Ich glaube, daß er einerseits zu sehr Philosoph war, um sich auf den »Jahrmarkt der Eitelkeiten« zu begeben; andererseits vermute ich, daß seine Arbeit als Studienrat ihn zu sehr beanspruchte. Der Durchschnitt der Schüler hatte ein ziemlich niedriges Niveau und das muß ihn sehr angestrengt haben. Ich verdanke ihm viel. Dabei darf ich nicht das Schachspiel vergessen. Auch darin war er genial. Ich habe ihn gesehen, wie er simultan gegen zwanzig und mehr Partner spielte und gewann. Mit einem Blick erfaßte er die Lage der Partie und zog entsprechend. Von ihm habe ich Schachspielen gelernt, was mir heute zur Entspannung nach den Mühen des Tages dient. Unter normalen – oder relativ normalen – Lebensbedingungen (denn es war schon die Nazizeit) sah ich Walter zum letzten Mal in Schneidemühl3, wo ich auf einer Durchreise Station machte. Er hatte in seinem Zimmer eine Menge Aquarien, sammelte Fische aus allen Ländern der Welt. Darunter waren seltene Arten, wun13


derschön und oft winzig klein. Er kannte alle ihre Namen. Diese Sammlerbegeisterung war sicher eine Art von Flucht vor den politischen Zuständen in Deutschland, die seine Arbeit im Gymnasium erheblich erschwert haben müssen. Aber der Flügel war noch da, nur erinnere ich mich nicht, ihn spielen gehört zu haben. Dann sah ich ihn nach dem Zusammenbruch 1947 in Berlin. Er war auf der Insel Rügen, wo er, glaube ich, ein Internat leitete. Wir trafen uns in Berlin, wo ich ihn mit einer jungen Amerikanerin – Barbara Johnson – bekannt machte. Barbara war in Uniform. Ich kannte sie vom Swarthmore-College, USA, wo sie im letzten Kriegsjahr Philippes Schülerin gewesen war. Jetzt gehörte sie zu der amerikanischen Organisation, die die Deutschen zu »Demokraten« nach amerikanischem Muster »umerziehen« sollten. Sie und ihre Kollegen hielten sich für sehr wichtig, und ich muß sagen, daß ich erstaunt war über so viel Naivität. Sieger spielen meistens eine sehr undankbare Rolle in der Geschichte. Sie werden später nicht gern an ihr Verhalten den Besiegten gegenüber erinnert. Nun, da war gerade ein Meeting von diesen »Erziehern zur Demokratie«, und ich machte Walter mit Barbara bekannt, die ihm vorschlug, bei diesem Meeting zu sprechen. Er tat es und sprach über »Freiheit«. Es herrschte totale Stille in dem Raum, wo sich Amerikaner, Deutsche und sicher auch eine Anzahl von russischen Spionen befanden. In seinen Ausführungen über Freiheit übertraf Walter sich selbst und gab in sehr treffenden Andeutungen den Amerikanern sowie allen Anwesenden eine Lehre, die jedem hätte nützen können, und vielleicht auch manch einen zum Nachdenken angeregt hat. Zum letzten Mal sah ich Walter in Wittlich bei Trier. Er, Oma Leni und Peter waren aus der Ostzone geflüchtet, längere Zeit im Auffanglager zurückgehalten – durch diese Lager mußte jeder Flüchtling gehen, was gewiss ein schwerer seelischer Schock war. Endlich hatte man in Wittlich, da er ja geborener Rheinländer war, einen Platz für ihn gefunden. Ich glaube, er unterrichtete Geschichte am dortigen Gymnasium. Sie hausten in einer ungeheizten Wohnung des kleinen Ortes, spärlich möbliert. Die bitteren 14


Erlebnisse der letzten Jahre hatten ihn schwer mitgenommen. Da war kein Flügel mehr, also auch keine Musik, und die beginnende Krankheit machte ihm zu schaffen. Ich selbst hatte schwere Jahre, ohne festen Wohnsitz, war ich heute hier, morgen da, wo ich Arbeit fand. So hatten wir uns aus den Augen verloren und ich erhielt die Nachricht von seinem Tode eine ganze Zeitlang später. Anmerkungen des Herausgebers: 1 Wandervogel, Jugendbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts am Gymnasium Steglitz entstanden war und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erhebliche Impulse in der Reformpädagogik und Lebensreformbewegung setzte. 2 Martha-und Marien-Heim, heute das Hotel Amalienhof, Amalienstraße 2 in Weimar. 3 Schneidemühl: heute Pila (Polen)

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