permafrost

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Arne Rautenberg permafrost Gedichte

Wunderhorn



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wenn ich nicht mehr bin

wie ist es denn so wenn ich nicht mehr bin fragte mein sohn mich ich sagte es ihm es ist wie es war bevor du geboren du warst noch nicht da du hast nicht gefroren du hast nichts vermisst du hast nichts gesehen als du noch nicht sahst du hast nicht gelitten als du noch nicht warst so wirst du nichts sehen wenn du nicht mehr bist so wirst du nicht leiden wenn das was war ist


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auf höhe der schneeglöckchen

zwischen winter und frühling erweicht etwas zwischen adler und amsel kommt ein gesang in gang zwischen zerstören und zerstört werden liegt ein bewusstsein unter feinrippspannung auf der couch schau nur weiter in deine glotze die wettervorhersage enttäuscht während die schuhe trocknen der gedanke an den einkauf von sonnencreme irrt noch vergessen umher derweil du ins beet starrst und zählst die monate tage stunden bis die uhr zurückgestellt wird schneeglöckchen sind die igel der blumen unter den hasen der jahre: schon da und du bist es auch starrst auf den boden horchst in den himmel


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am januarstrand

heut sah ich keine blüte keine frucht heut ging ich am ausgeblichenen strand der dauernde tiefstand des lichts die sonne eisig im untergang schweigend folgte ich den buhnen verlor zeit und fluchtpunkt halb intakt lag eine riesige robbe am spülsaum das irre grinsen ihres skelettierten schädels die spitzen zähne besah ich mir genau wächter eines euphorisch aufgerissenen totenmauls lauter abdrücke von möwenfüßen drumherum auch meine spur sah ich und kehrte um


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das märchen vom nie irren

es waren einmal vier brüder die hießen matthäus markus lukas und johannes nein sie waren keine brüder und sie hießen auch anders sie hießen john paul george und ringo nein sie waren keine brüder doch sie verhielten sich wie brüder sie entstammten dem bilderbuch der ohren ihre frohe botschaft lautete: such dir ein paar unglaubliche worte lass dein herz oder ein schlagzeug dazu schlagen lege elektrische harmonien darüber schreie uh huuh und manövriere worte und musik durchs meer einer gierigen menge die noch etwas mehr vom leben will als du spalte sie in entzückte und verrückte die weitermachen wie bisher und ziehe wie ein öltanker durchs viel zu ewige meer der gleichgültigkeit welches alle wogen in nachgang des mainstreams wieder schließt es bleibt nur die idee vom schrei und ich denke an jesus und ich denke an elvis die das alles allein durchmachen mussten und ich denke an den verfall meiner westlichen welt des undankbaren alten europas welches ein menschenleben lang kriege ausgeblendet hielt dass es sich wieder danach zu sehnen beginnt es waren einmal vier brüder john paul george und ringo die sich im zweckfreien spiel am munde zugrunde richteten getragen vom vorteil des unbewussten: sie irrten sich nie


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einwegsam

mir aber wurden die finger kalt am fahrradlenker doch das war egal und weil egal so ein schönes wort war fror ich gern radelte weiter die eisstraße entlang während vereinsamt schneeflocken wie schuppen aus dem grau melierten himmel fielen auf die schulter der erde irgendwo waren lücken da oben ich beschloss stress vom gotteswerk zu nehmen die gefallenen linien der flocken die fahrradspur mit meiner im schlaf sprühenden leber zu schließen einen klirrenden nebel zu schaffen aus dem ein esel kommt der mir den weg weist in eine fremde verwesung


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