Die Zeit der Mörder

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Dieses Buch erschien erstmalig 1945 im Verlag Éditions de la Maison Française in New York. © Éditions Gallimard, Paris 2015 © der deutschen Übersetzung: Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2017 Rohrbacherstrasse 18, D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Foto Ré Soupault: Philippe Soupault in Tunesien, 1940 © 2017 VG Bild-Kunst Bonn/Manfred Metzner Gestaltung: Leonard Keidel Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt / Weinstrasse ISBN 978-3-88423-570-6


Philippe Soupault

Die Zeit der Mörder aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

WUNDERHORN



Es mag vielleicht seltsam und sogar ziemlich unangebracht erscheinen, 1945 ein Buch mit Erinnerungen an einen sechsmonatigen Gefängnisaufenthalt zu veröffentlichen. Außerdem scheint ein halbes Jahr in Haft (vor allem für diejenigen, die nie in einem Gefängnis eingesperrt waren) eine kurz Erfahrung zu sein, wo doch Millionen von Männern und Frauen seit mehreren Jahren in Gefangenschaft gelebt haben (und noch leben) und Millionen von Menschen hinter den Stacheldrahtzäunen der Konzentrationslager gelitten haben und umgekommen sind. Doch gerade weil Millionen von Menschen aus allen Ländern zu Gefangenen geworden sind und es selbst nach ihrer Befreiung ihr ganzes Leben lang bleiben werden, habe ich gedacht, dass diese Erinnerungen an eine Inhaftierung veröffentlicht gehören. Man scheint das Problem der Häftlingsgeneration, wenn auch nicht zu vergessen (ich weiß durchaus, dass es „Hilfswerke“ gibt, Unternehmen, die mit Wohltätigkeitsvereinen vergleichbar sind und die sich um Kriegsgefangene oder politische Gefangene kümmern, aber aus Mildtätigkeit, was ich in diesem Fall empörend finde), so doch zu verharmlosen. Ein sehr großer Teil der europäischen Jugend, ein Teil der besten jungen Leute Nordamerikas hat mehrere Monate oder mehrere Jahre lang die Prüfungen der Gefangenschaft ertragen müssen. Diese Gefangenen sind ungeheuren Belastungen unterworfen, die niemand ermessen kann, der sie nicht selbst erlebt hat. Die Jahre, die sie unter solchen anormalen Bedingungen (das ist das Mindeste, was man sagen kann) verbracht haben, hinterlassen tiefe Spuren. Wer aus den Gefängnissen oder aus den Lagern kommt, wird ein anderer Mensch sein als der, den man einen freien Menschen nennt. Meines Erachtens ist es durchaus gerechtfertigt zu sagen, dass man diese Menschen verkennt, sollte man sie nicht etwa ganz vergessen haben. Man spricht immer wieder von der Rückkehr der Gefangenen, erklärt, dass man ihnen einen „Platz“ bereithält, wenn sie zurückkommen, aber 5


man will nicht zur Kenntnis nehmen, in welchem Zustand sie zurückkommen werden. Man glaubt ganz und gar zu Unrecht, sie könnten eines Tages, eines schönen Tages, dem ihrer Befreiung, „ihren Platz“ wieder einnehmen unter den Menschen, die nie in Ketten gelegt waren, unter denjenigen, die man völlig unzutreffend ihresgleichen nennt. Ein Gefangener ist nicht nur ein Mensch, den man eingesperrt hat. Man hat ihm – und daran erinnert er sich unaufhörlich – mehrere Monate oder mehrere Jahre seines Lebens geraubt, man hat ihm nicht nur seine Unabhängigkeit, sondern auch seine Freiheit genommen. Man hat ihn nicht nur ausgeschlossen, man hat ihn gezwungen, nur noch an seine Flucht zu denken. Eine Gefangenschaft ist kein Rückzug, man kann dabei seine Gedanken nicht lenken, wie man will, es ist vor allem eine Schule der Revolte. Wer im Gefängnis lebt, denkt und träumt nicht, weil ihm das gefällt, sondern weil man ihn zwingt, nachzudenken und zu träumen. Er ist verwandelt. Der Mensch, der aus dem Gefängnis kommt, ist ein vollkommen anderer, als der, der einige Zeit zuvor in den Kerker oder in ein Lager kam. Das kann man gar nicht oft genug sagen. Diese Männer und Frauen, all die Männer und Frauen, die einmal jung waren, werden zurückkommen. Man wird sie bedauern, sie – ich habe keine Zweifel daran – mit offenen Armen aufnehmen, dann wird man vergessen, dass sie besondere Wesen sind, man wird ihnen ihr Benehmen „verzeihen“, das „seltsam“ erscheinen wird. Ich muss mich nur an das Schicksal der Kriegsgefangenen von 1914-1918 erinnern, dann weiß ich, wie man mit denen von 1939-1945 umgehen wird. Ich muss mich nur daran erinnern, wie ich nach meiner Freilassung aus dem Gefängnis aufgenommen wurde und wie ich darauf reagiert habe. Anscheinend kümmert man sich viel und mit mehr oder weniger Hellsichtigkeit um das Problem der Klassen, der Arbeit und des Kapitals, weil daran weiter gearbeitet werden muss, man interessiert sich auch ein wenig für das Generationenproblem, das Problem der Gefangenen fasst man jedoch nur sehr selten oder eigentlich so gut wie nie ins Auge. 6


Mit der Veröffentlichung dieser Erinnerungen eines Häftlings möchte ich, soweit es im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten liegt, die Aufmerksamkeit auf die geistige Verfassung der ungeheuren Masse von Gefangenen lenken. Ich habe mich bei diesem Buch bemüht, Gefangene auf die einfachste Weise darzustellen, die mir möglich ist. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus (man wird es auf den folgenden Seiten bemerken am sehr häufigen, am sicher zu häufigen Gebrauch von: „ich staunte“, „ich war fassungslos“ und ähnlichen Wendungen). Tatsächlich erinnere ich mich sehr gut, dass mich zu Beginn meines Gefängnisaufenthalts das Leben, das ich dort führte, gerade deshalb überraschte, weil es nichts Seltsames, Außergewöhnliches oder Unvorhersehbares hatte. Erst nachdem ich einige Zeit in meiner Zelle verbracht hatte, musste ich mir eingestehen, dass dieses Leben nicht nur außerordentlich war, sondern unvorhersehbar oder, besser gesagt, unannehmbar. Während der gesamten Dauer meiner Gefangenschaft hat mein Erstaunen darüber nie nachgelassen. Die ganze Zeit über konnte ich es nicht hinnehmen und mich damit abfinden; ich kann es noch immer nicht. Und meine Genossen und alle anderen Gefangenen dachten mehr oder weniger bewusst wie ich. Dieses fortwährende Staunen hat mich allerdings gelehrt, mich in acht zu nehmen. Trotz all meines guten Willens und meiner Beflissenheit bin noch nicht überzeugt davon, dass ich die Psychologie des Häftlings wirklich verstanden habe. Wie schon beim Schreiben des ersten Teils meiner Memoiren, Geschichte eines Weißen*, habe ich bei der Aufzeichnung dieser Erinnerungen versucht, ein unmittelbares und vollständiges Zeugnis abzulegen. Dieses Zeugnis sollte so aufrichtig sein wie es einem Menschen möglich ist – das war jedenfalls meine Absicht in Erinnerung an den Rat von Charles Péguy: „Die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit, schlichtweg die schlichte Wahrheit sagen, unangenehm die unangenehme Wahrheit, traurig die traurige Wahrheit.“ * Philippe Soupault, Geschichte eines Weißen, übers. v. Hans Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1990. 7


Gerade die Wahrhaftigkeit des Zeugen rechtfertigt, daran zweifle ich nicht, die Veröffentlichung dieses Buches, sie vermag ihm einigen Wert zu geben. Es gibt etliche, wenngleich viel zu wenige Werke von unbestreitbarer Aufrichtigkeit, die von Häftlingen geschrieben worden sind und in denen sie von ihren Leiden und ihren Abenteuern erzählen. Ich bedaure, dass man diesen Berichten im Allgemeinen nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sie verdienten. Diese Bücher hätten eigentlich alle, die das Glück haben, frei zu sein, zutiefst aufwühlen müssen. Ich glaube, ich weiß den Grund für die Gleichgültigkeit zu vieler Menschen, eine Gleichgültigkeit, die zu erschüttern ich mir – leider – nicht einbilden kann. Die Berichte von entflohenen Häftlingen, die man veröffentlicht hat, waren von Männern in bester Absicht geschrieben worden, doch sie waren keine Schriftsteller. Diese Amateure, die unter dem Eindruck des Erlebten schreiben, um sich in gewisser Weise von ihren Erinnerungen zu befreien, und die die Gelegenheit „nützen“, die man ihnen bietet, machen Literatur, wie Monsieur Jourdain einst Prosa, im Glauben, beim Schreiben müsse man eloquent, pittoresk, tragisch, bewegend sein. Um keine Literatur zu machen, scheint es mir wichtig, zu wissen, was Literatur ist und sie zu verabscheuen, wie ein Schriftsteller, der dieser Bezeichnung würdig ist, sie hassen kann. Da ich schon viel (viel zu viel) geschrieben habe, weiß ich, welcher Aufmerksamkeit, welcher Sorgfalt, welcher Wachsamkeit es bedarf, um einfache und wahre Dinge aufrichtig und einfach auszudrücken. Die schönen Sätze, die Schleifen, die großen Worte dienen dazu, das Unvermögen oder auch nur die Unbeholfenheit zu verbergen. In der Hoffnung, auf diese Weise allen beizuspringen, die ihre Erinnerungen an ihre Gefangenschaft veröffentlicht haben, habe ich mich um das bemüht, was man Wahrheit nennt, ohne Literatur zu machen, nicht einmal unbeabsichtigt. Auf keinem Gebiet, dessen bin ich mir sicher, ist „die Literatur“ so hassenswert wie auf dem des Leidens. Mit welchem Zähneknirschen, mit welcher Verärgerung werden alle, die tatsächlich gelitten haben, die unter dem Terror der Nazis, der 8


Faschisten oder des Vichy-Regimes gelebt haben, Bücher von der Art eines Kriminalromans lesen, Bücher, die, das will ich gerne glauben, mit den besten Absichten der Welt geschrieben worden sind, nämlich um ihre Kämpfe, ihr Martyrium darzustellen*. Man kann die Menschen, die so viele Jahre gelitten haben, nur dadurch ehren, dass man die Wahrheit vollkommen ungeschminkt, ich würde sogar sagen, ganz und gar roh wiedergibt. „Literatur“ zu machen, „Romane“ zu schreiben über Menschen, die gefoltert, langsam umgebracht, getötet wurden, ist eine Schmähung, die man einfach anprangern muss. Wer wäre nicht empört bei dem Gedanken, dass einige Geschäftemacher Bücher über die Résistance, den „underground“, verkauft haben, in ihrem Auftrag verfasst von Autoren, die man in den Vereinigten Staaten ghostwriter, in Frankreich Neger nennt. Dieser unerhörte Schwindel hat unweigerlich zu einem Unbehagen geführt und Zweifel an den authentischen Berichten gesät. Dennoch ist es unerlässlich, ist es wichtig, Zeugnisse in großer Zahl zu veröffentlichen. Millionen von Menschen erleiden noch immer die schlimmsten Qualen, und schon vergisst man die Henker. Ich will nur ein Beispiel herausgreifen, das einzige, das ich wirklich gut kenne, von dem ich unmittelbar zeugen kann, das Beispiel der Vichy-Regierung. Von Juni 1940 bis November 1942 habe ich die Anhänger der „Nationalen Revolution“, wie man sie vollmundig nannte, am Werk erlebt. Nichts fasst meine Erinnerungen an diese Zeit besser zusammen als dieser Vers von Victor Hugo: „Zeiten wie unsere bilden die Kloake der Geschichte.“ Ich habe Menschen gesehen, denen es eine Freude war, das Denken ersticken zu können, ich habe den Triumph von Erbärmlichkeit und Niedertracht erlebt. Das ist keine Übertreibung! – Marschall Pétain und seine Komplizen, über deren weitere Verantwortung die Geschichte richten wird, forderten ruchlose Männer auf, * Dieselbe Bemerkung könnte man zu Filmen über die Verbrechen der Nazis und über die Widerstandskämpfer in allen besetzten Länder machen. 9


die Methoden der Nazis nachzuahmen, und ermutigten sie dazu. Es gelang ihnen, und sie beglückwünschten sich deshalb. Während dieser langen, endlos langen Jahre rief der Chef, wie er sich selbst nannte, in seinen Reden, Ratschlägen und Befehlen seine Anhänger und Bewunderer zu Verhöhnung, Demütigung und Beleidigung auf. Anhänger und Bewunderer suhlten sich in Schweinereien, verfolgten mit einer schamlos zur Schau gestellten Lust alles, was sich ihren Verbrechen gegen den Geist widersetzte. Eine Liste ihrer Verbrechen aufzustellen ist unmöglich. Sie waren an der Tagesordnung. Zahlreicher, als man meinen könnte, imitierten viele dieser nationalen Revolutionäre mit großer Begeisterung und Treue die Nazis, deren Verhaltens- und Vorgehensweisen sie bewunderten. Bei ihrem niederträchtigen Verhalten halfen ihnen Leute, die man einfach nur Betrüger nennen kann. Letztere versuchten fortwährend, ein doppeltes Spiel zu spielen. Unter dem Vorwand, „die Kommandohebel“ in der Hand behalten zu wollen, behaupteten diese Heuchler, diese Jesuiten, dass sie nur zum Wohl des Landes handelten, aber in Wirklichkeit kümmerten sie sich um ihre Karriere, indem sie gute Miene zum bösen Spiel machten und einem schändlichen Regime dienten. Der größte Schurke unter diesen Betrügern, der Chef dieser Bande von falschen Fünfzigern war Admiral Estéva, der französische Generalresident in Tunesien. Um ihn und von ihm beschützt, zogen Anpasser, Arrivisten und Gauner Nutzen aus der „Nationalen Revolution“. Krokodilstränen über das französische Malheur vergießend, begünstigten sie die Nazifizierung des Landes und einigten sich darauf, alle Freiheiten eine nach der anderen zu ersticken. Unter ihrem Einfluss wurde die Atmosphäre für alle unerträglich, die sich, von Schändlichkeit umzingelt, diesem Regime der faulen Kompromisse und der üblen Machenschaften nicht unterwerfen konnten oder wollten. Diese verpestete Atmosphäre sorgte für die Ausbreitung der Mittelmäßigkeit. Alle gescheiterten Existenzen konnten Rache nehmen. Von überall krochen sie hervor. Sie versuchten, sich durch ihren Eifer und ihre Erbärmlichkeit hervorzutun. Man gliederte sie ein, damit sie Heere bildeten, um „die Ordnung 10


aufrechtzuerhalten“ und die hohen moralischen Qualitäten und das Genie des vertrottelten Marschalls und Staatschefs zu rühmen. Sie taugten allerdings höchstens zu Spionen und Polizeispitzeln. Man musste sie gar nicht erst dazu ermutigen, die Denunziation war ihre Lieblingsbeschäftigung. Ich habe die Anfänge des Faschismus in Italien erlebt, ich konnte zwölf Jahre lang die Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland verfolgen. Dieselben Kerle, denen man in Italien schwarze Hemden, in Deutschland braune Uniformen schenkte, erhielten in Frankreich Baskenmützen. Doch jene Männer, die durch die Straßen zogen und dabei „Vive le Maréchal!“ riefen oder behaupteten: „Pétain hat immer recht“, gehörten, wenn ich so sagen darf, zum selben Schlag Menschen, die ich „Heil Hitler“ oder „Mussolini a sempre ragione“ hatte brüllen hören. Darin konnte man sich nicht täuschen. Ich kann und ich will nicht vergessen, dass diese Legionäre, Mitglieder des „Service d’Ordre Légionnaire“ (S.O.L.), denen man den Gruß, die Haltung und das Benehmen der Faschisten oder der Nazis beigebracht hatte, sich durch Nichts von ihren deutschen, italienischen oder spanischen Vorgängern unterschieden. Es war nicht schwer, sie zu erkennen, durch meinen Abscheu entdeckte ich sie untrüglich. Zu meinem Hass gegen Nazis, Faschisten und Phalangisten kam noch die Demütigung hinzu, dass man mich eine Zeitlang für einen Landsmann dieser bösartigen und blutrünstigen Affen gehalten hat. Die Betrüger und Gauner, die eine Gefahr darin witterten, allzu unterwürfig die Nazis nachzuahmen, die sie dann doch für ein wenig zu kompromittierend hielten, versuchten, Verwirrung zu stiften, was ihnen teilweise auch gelang. „Der Marschall ist nicht Hitler“, sagten sie zu ihrer Entschuldigung. Um ihre Haut zu retten, sagen sie es auch jetzt noch, da die Stunde der Bestrafung gekommen ist. Aber ich vergesse nicht und will nicht vergessen, wie so viele Leute es versuchen, dass die Nationalrevolutionäre des Marschalls die Vettern und Brüder von Hitlers Nazis sind. Der Faschismus ist leider keine italienische Spezialität, der Nazismus keine deutsche. Der Nazismus ist ein Gift, das die Welt noch nicht 11


endgültig ausgerottet hat. Bei bestimmten Menschen, bei solchen, die wissen, dass sie gescheitert sind, solchen, die sich verkannt fühlen, bei allen Kleingeistern, die sich ihrer Beschränktheit mehr oder weniger bewusst sind, bei gewissen, nie zufriedenen krankhaft Eingebildeten und bei einigen Individuen, die gedemütigt wurden, gibt es einen so starken Wunsch nach Rache, dass sie sich danach sehnen, ungestraft beherrschen, quälen und erniedrigen zu dürfen. Wenn sich ein Mann zeigt, der „wie sie“ ist, der sich zu ihrem Führer erklärt, der ihnen Rache verspricht und ihnen ermöglicht, Rache zu üben, der ihrer Beschränktheit und ihrer Grausamkeit einen gewissen Glanz verleiht, tragen sie ihn zum Triumph. Zu dieser schon zahlreichen Bande gesellen sich dann die Scharen von Intriganten, Betrügern und Arrivisten, die sich stets von Mittelmäßigkeit und Niedertracht angezogen fühlen, da sie ihnen eine schnelle Karriere versprechen. Und bald, wenn die Macht des Führers zunimmt, wenn eine gute Propaganda seine Siege verherrlicht, schließt sich das Heer der Angsthasen und der Opportunisten der Phalanx des Führers an. Sobald sie ein wenig Macht haben, besteht ihre erste Sorge darin, die Freiheit zu ersticken unter dem Vorwand, die Ordnung, die Autorität, die Hierarchie wiederherzustellen. Auf allen Breitengraden, auf allen Kontinenten kann sich dasselbe Phänomen ereignen. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Man erstickt die Freiheit. Die Geschicktesten, denn diese Gescheiterten können mitunter sehr geschickt sein, handeln weniger brutal. Sie beginnen mit der Einschränkung der Freiheit! Doch die Freiheit lässt sich nicht einschränken, begrenzen, aufteilen, kontrollieren, einzwängen, bemessen, dros­seln, zähmen, kanalisieren. Da ich ein Gefangener war und davon als Zeuge auf den Seiten berichtet habe, die ich hier unter dem von Arthur Rimbaud diktierten Titel veröffentliche, den Gefangene, alle Gefangenen, instinktiv und schmerzlich auf Anhieb bestätigen werden, kann ich bezeugen, dass diejenigen, die die Freiheit verachten oder versuchen, sie zu ersticken oder einzuschränken, Mörder sind. Sie fangen damit an, den Geist 12


zu töten, der nur frei leben kann, dann fahren sie damit fort, indem sie jene einsperren, die dagegen aufbegehren, weil sie frei sein und frei denken wollen, und am Ende füsilieren sie diese Rebellen, diese Dissidenten. Die Erinnerungen, die ich veröffentliche, sind die einer Epoche, die zweifellos nicht sehr bekannt ist. Viele werden es vermeiden, darüber zu sprechen, sie werden vergessen, manche werden vergeben wollen, andere werden Gründe dafür haben, sich nicht zu erinnern. Und dennoch, es ist die Zeit der Mörder. Man vergisst schnell. Ich will nicht vergessen und will nicht, dass man vergisst. Die Mörder leben weiter. Es wird nie gelingen, sie ganz zu vernichten. Die einen verstecken sich, die anderen wechseln das Hemd, manche wollen sogar schon ihre Aktivitäten, unter anderem Namen und in einer anderen Uniform, wieder aufnehmen. Seit 1938 lebte ich in Tunis, wo ich bis zum Waffenstillstand 1940 den Presse- und Informationsdienst sowie den Radiosender von Tunesien leitete. Ich wohnte in einem arabischen Haus im Stadtzentrum der Einheimischen, in der sogenannten Medina. Seit Juni 1940 bildeten sich in diesem französischen Protektorat spontane Widerstandszentren. Schüchtern und unbeholfen versuchten alle, die Vichy nicht akzeptierten konnten (dieser Name vereint alle Feigheit, alle Dummheit, alle Verbrechen der sogenannten nationalen „Revolution“), sich zusammenzuschließen und zu handeln. Sie taten ihr Bestes. – Aber das ist eine andere Geschichte. Von 1941 bis 1942 versuchte die Polizei des Vichy-Regimes, diese Widerstandsbewegung niederzuschlagen und die Oppositionellen einzuschüchtern. Man erstellte eine Liste mit Verdächtigen. Zu meiner Ehre setzte man auch mich darauf. Im März 1942 begann man mit der Verfolgung der Verdächtigen. Ich wurde auf einen der ersten Karren geladen. Am 12. März erging der Befehl, mich zu verhaften.


I Als ich am Abend des 12. März 1942, einem Donnerstag, nach Hause zurückkehrte, dachte ich, was für ein trostloses Wunder dieser Frühling war, doch er würde einmal mehr ein Versprechen mit sich bringen. Ich schmiedete Pläne und hoffte, denn ich hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Man hatte mich schon gewarnt, dass ich beschattet würde, aber da mich ein „gut unterrichteter“ Mann jede Woche zur Vorsicht mahnte, und viele Leute mich finster ansahen, wenn sie mich auf der Straße erblickten, machte ich mir erst Sorgen, als ich bemerkte, dass man mir folgte und mein Haus überwachte. An jenem Tag hatte ich eine Freundin besucht, die sich tags darauf einem chirurgischen Eingriff unterziehen sollte, und als ich am Ende des Tages nach Hause zurückging, war ich überrascht, wie man es immer zu Beginn eines Frühjahrs ist, von dem zu milden Abend, dem heiteren und kecken Licht. Ich hatte es allerdings eilig, in meine vier Wände zu kommen, fernab von allem, um die Leute nicht mehr zu sehen, die stolz ihre Baskenmützen* trugen, und um nicht mehr an Plakaten vorbeizugehen, auf denen die Wohltaten der „Nationalen Revolution“ gerühmt wurden. Ich hatte schon den Schlüssel zur Eingangstür aus meiner Tasche geholt, als mich ein Individuum von der Eleganz eines Filmgangsters, flankiert von zwei Schattengestalten, seinen Knechten, fragte: „Sind Sie Monsieur Soupault?“ Dabei hob er das Revers seines Jacketts, um mir seine Polizeimarke zu zeigen. Misstrauisch und wütend, antwortete ich nur einsilbig. Ich hatte begriffen, dass der Tag gekommen war, vor dem ich mich gefürchtet und den ich erwartet hatte, der Tag, an dem ich in die Fänge von Polizisten des Vichy-Regimes geraten würde. * Die Kopfbedeckung der Legionäre des Marschalls, die in großer Zahl durch die Stadt marschierten, sich in alles einmischten: Polizei, Nachschub, Propaganda … 14


Ich trat ins Haus, gefolgt von den drei Individuen, die ihre Hü­te abnahmen. Der Chef nahm mein Schlafzimmer in Augenschein, wie es ein möglicher Mieter macht, während sich einer seiner Männer vor die Tür stellte, fest entschlossen, wie mir schien, mich nicht mehr hinausgehen zu lassen. Der dritte wartete, die Hände in den Taschen, auf Befehle und ließ mich nicht aus den Augen. Ich nehme an, dass man mich als eine gefährliche Person eingestuft hatte, denn die drei Polizisten waren offensichtlich auf der Hut und belauerten meine geringsten Bewegungen. Ich bat um eine Erklärung und der Inspektor zeigte mir den Durchsuchungsbefehl. Da die Nacht anbrach, diskutierte ich eine Weile wegen des Termins für diese Haussuchung. Ich meinte, mich zu erinnern, dass den Durchführungsbestimmungen zufolge Haussuchungen nach Sonnenuntergang unstatthaft seien. Der Polizist erwiderte, dass der Belagerungszustand fortbestehe und ich keine Einwände zu erheben hätte. Er begann mit der Durchsuchung und gab einem seiner Helfer ein Zeichen, der sogleich in mein Badezimmer stürzte, während der andere reglos stehenblieb, mit seinem Blick meinem Hin und Her folgte. Der Chef pflanzte sich vor meinem Schreibtisch auf und begann die Briefe zu lesen, die auf eine Antwort warteten. Er schien sich daran zu laben. Äußerst gereizt, bemühte ich mich ruhig zu bleiben. Ich nahm ein Buch, den dritten Band von Labiches Théâtre, was den einen Polizisten sehr zu beunruhigen schien. Von Zeit zu Zeit hob ich die Augen und sah die Polizisten meine Korrespondenz lesen in der Hoffnung, dort „etwas“ zu finden. Nachdem der Chef die Briefe geprüft hatte, stöberte er weiter und entdeckte das Manuskript des Romans, an dem ich damals schrieb. Kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, war er auch schon schwer enttäuscht. Das Manuskript umfasste mehr als siebenhundertfünfzig Seiten. Er zog die Nase hoch, ließ die Blätter durch seine Finger gleiten, machte bisweilen eine Stichprobe und legte es mit verächtlicher Miene auf einen Stuhl. – Er blätterte zerstreut in einem Notizheft, in dem ich meine Gedanken festgehalten hatte, da die ersten Seiten aber nur 15


Notizen zur Literatur enthielten, widmete er ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei hätte er einige ziemlich harte Urteile über seine Dienstherren von der Vichy-Regierung finden können. Da das Heft nicht versteckt war, sondern offen herumlag, war er überzeugt, dass es sich nur um bedeutungslose Schriften handelte. Das entsprach genau der Erfahrung, die Edgar Allen Poe in der Erzählung Der entwendete Brief  beschrieben hat. Dann prüfte er eines nach dem anderen die Bücher in meinem Bücherregal. Er klopfte gegen die Wände der Möbel, schaute unter die Matratzen und entdeckte schließlich einen kleinen Notizblock auf einem Tischchen neben meinem Bett. Er lächelte triumphierend. Ich hatte darauf Literaturangaben, Verse, Fragmente von Sätzen notiert. Er verstand nichts. Sein Lächeln verschwand. So einfach nahm er es nicht hin, mit leeren Händen dazustehen, und begann wütend, die Teppiche anzuheben, die Möbel zu verrücken und die Bilder abzuhängen. Ich las weiter in Labiches Komödie Alle lieben Célimare. Endlos lange, wie mir schien. Die „Haussuchung“ dauerte schon mehr als zwei Stunden, und ich fragte mich, ob ich bald ausgehen könnte, denn ich war an jenem Abend zum Essen bei Freunden eingeladen, die ziemlich weit weg wohnten. Der Inspektor, den ich seit zwei Stunden beobachtete, war einer jener Polizisten, die Detektiven, „Helden“ in Kriminalromanen gleichen wollen. Er trug einen ziemlich gut geschnittenen, ultramarinblauen Anzug, eine dunkelgraue Krawatte und ein weißes Hemd. Mit seinem glatt rasierten Gesicht erinnerte er an gewisse junge Kinohelden, nur dass er nicht aussah wie ein Dummkopf, sondern wie ein Halunke. Er war ein bisschen zu steif und ziemlich glattgebügelt, und er lächelte häufig auf eine Art, die er offenbar für raffiniert hielt. Vor allem aber überraschte es mich, dass er sich zu amüsieren schien. Bestimmt hielt er sich für sehr intelligent und stark. Sein Gehilfe, der Schreiber, gehörte zu jener Sorte von Menschen, die 16


zu nichts nutze und deshalb schließlich bei der Polizei gestrandet sind. Er durchwühlte alles ohne großen Ehrgeiz und gab sich keinerlei Mühe, eine Spur zu finden. Er wollte die Sache mindestens ebenso schnell hinter sich bringen wie ich. Recht armselig gekleidet im Stil der Mittelmeerregion, mit einem Anzug, den er als einen Sack betrachtete, in den man täglich schlüpft, drückte seine ganz und gar rundliche Figur mal Langeweile aus, mal die Lust loszulachen. Was den dritten Ordnungshüter anging, so verkörperte er den Trottel in seiner ganzen Dummheit. Für ihn war es ein Beruf wie jeder andere! Doch man ahnte, dass er zu seiner Zerstreuung gern brutal geworden wäre. Nach drei Stunden des Suchens, in denen ich den Eindruck ge­wann, sie hätten den unbedingten Befehl, irgendein „belastendes“ Dokument, ganz gleich was, bei mir zu finden*, schienen sie urplötzlich die Hoffnung zu verlieren. Sie sahen mich aufmerksam an und beschlossen dann, mich zu filzen, doch erst, nachdem sie sich entschuldigt hatten. Als der Inspektor meine Ausweistasche prüfte, wurde er plötzlich ganz unruhig, was sich darin zeigte, dass er einen Schritt zurücktrat. Er hatte gerade einen Waffenschein gefunden, aus dem hervorging, dass ich einen Revolver von ziemlich großem Kaliber besaß. „Tragen Sie Ihren Revolver bei sich?“ Er schien wirklich beunruhigt. „Nein“, erwiderte ich, „ich habe ihn vor kurzem verliehen.“ Beruhigt zählte er die wenigen Geldscheine, die ich bei mir hatte „Haben Sie etwas gefunden?“, fragte er seinen zweiten Helfer. „Nichts.“ Der zweite Helfer zeigte seine leeren Hände. Der Inspektor setzte sich an meinen Schreibtisch, zog aus einer Aktentasche, einer schmalen, schwarzen Mappe, ein Blatt mit dem Briefkopf der Polizei hervor, und begann ein Protokoll der Durch* Später erfuhr ich, dass dieser Eindruck stimmte. 17


suchung aufzusetzen, in dem er mit allerlei rechtlichen Formulierungen festhielt, dass er nichts gefunden hatte. Lustlos las er mir das Protokoll vor und bat mich um eine Unterschrift. Da die Polizisten nichts gefunden hatten, dachte ich zu diesem Zeitpunkt, ich würde sie bald los sein und könnte dann wieder meinen Beschäftigungen nachgehen. Der Detektiv hielt den Moment für gekommen, wo er mich „dran bekam“. „Da er alles gestanden hat“, erklärte er und sah mir dabei in die Augen, „war diese Durchsuchung eigentlich unnötig.“ Ich verlor nicht die Fassung, wie er gehofft hatte, denn ich verstand überhaupt nicht, was er damit meinte. Und das sagte ich ihm deutlich. „Sie verstehen nicht?“ „Nicht im Geringsten.“ „Sie sind sehr stark, aber es nützt Ihnen nichts. Wir wissen alles.“ Ich tat weiter so, als würde ich nicht verstehen. „Sie werden uns begleiten müssen“, fügte er hinzu. Die Ausdrucksweise erschien mir sonderbar, aber höflich. In dem Augenblick ging ein Kollege, der im selben Haus wohnte wie ich, über den Hof, und ich bat ihn, meine Frau zu verständigen, dass man beabsichtigte, mich zu verhaften, und sie zu bitten, sie möge einige meiner alten „Freunde“ darüber in Kenntnis setzen. Der Inspektor protestierte ein wenig, aber ich hatte zu Ende sprechen können, ohne dass er mich unterbrach. Allerdings untersagte er mir, einen Brief zu schreiben. Ich knipste das Licht aus und wir gingen hinaus in die Nacht. Die Gehilfen flankierten mich, während der Inspektor vor mir ging. An einem Platz wartete ein Wagen, und ich wurde gebeten einzusteigen. Man setzte mich auf die Rückbank und die beiden Hauptpolizisten, immer noch sehr wachsam, setzten sich zu beiden Seiten neben mich, während der Wachmann, treu und aufmerksam wie ein Hund, neben dem Fahrer Platz nahm. 18


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