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Gespieltes Zeug“ Die Baukästen des Ateliers

Paul-Reza Klein

Der „Phantasus“-Baukasten von 1919–1925 (WV D-3) und der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ von 1936/37 (WV D-5) sind die einzigen bekannten Spielzeugentwürfe Franz Singers. Auch wenn die beiden Baukästen nur einen kleinen Ausschnitt aus seinem Schaffen darstellen, so vereinen sie doch viele Aspekte des weiten Feldes seiner künstlerischen und vor allem architektonischen Arbeiten. Sie stehen auch in besonderer Verbindung zur gemeinsamen Arbeit mit Friedl Dicker, zeigen Anklänge von Dickers Arbeit am Theater, greifen ihr spielerisches, auf Wandelbarkeit ausgelegtes gestalterisches Werk auf und stellen eine materialisierte Form ihrer intensiven Beschäftigung mit den Fragen der Kunstvermittlung dar. In der Literatur wird das „Möbelspiel“, wie der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ meist genannt wird, als Weiterentwicklung des „Phantasus“-Baukastens beschrieben.1 Diese Beobachtung stimmt aber nur insoweit, als einige Merkmale und Grundideen des „Phantasus“-Baukastens wieder aufgegriffen wurden. In seiner Ausrichtung verfolgt das zeitlich spätere Baukastensystem Singers gänzlich andere Ziele und zeigt Singers persönliche Entwicklung vom Maler hin zum Architekten. Steht beim „Phantasus“-Baukasten im Vordergrund, die Aufmerksamkeit des Kindes auf das „Wesentliche der Tierform“2 zu lenken, geht es beim „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“, wie der Name schon sagt, darum, Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Möbel und Spielgeräte zu erstellen und nach Belieben umzugestalten. Zu den Anfängen des „Phantasus“-Tierbaukastens war bisher wenig bekannt. Er dürfte bereits im Wintersemester 1919 am Bauhaus entstanden sein und nicht, wie bisher angenommen, erst 1923 in den Werkstätten bildender Kunst in Berlin, die Singer gemeinsam mit Dicker und anderen ehemaligen Studierenden des Bauhauses nach ihrem dortigen Austritt gegründet hatte. Darauf deutet ein Dokument zur GebrauchsmusterAnmeldung aus dem Nachlass Franz Scalas im BauhausArchiv Berlin hin. Dieses nennt sowohl Singer als auch Scala – der zur gleichen Zeit am Bauhaus studierte – als Erfinder des „Phantasus“-Baukastens.3 Das besagte Dokument „Holzbaukasten zum Bauen von Tieren Entwurf und Ausführung Singer-Scala 1919“ rückt den Baukasten noch näher an die programmatischen Anfänge des Bauhauses und die anderen in dessen Umfeld entwickelten Spielzeuge und zeigt ihn damit in einem neuen Licht.

Bauhaus und Spielzeug

Spielzeugentwürfe gehören nicht zu den allerersten Assoziationen, die das Bauhaus hervorruft. Dabei gehörten Spielzeuge zu den ersten Produkten des Bauhauses. Noch im Jahr der Gründung 1919 wurden für den Weimarer Weihnachtsmarkt verschiedene Spielsachen hergestellt und dort verkauft. In einer „Dada Bude“, so berichtet Gunta Stölzl, selbst Bauhaus-Schülerin der ersten Stunde und spätere Leiterin der Weberei am Bauhaus, „verkauften die Bauhäusler Puppen und Puppengeschirr, Stofftiere, Papier und Holzspielzeug. [...] Besonders attraktiv waren Tiere aus Wurzelholz, ein wenig mit dem Messer bearbeitet und sehr bunt bemalt [...]. So zeigten wir uns der Öffentlichkeit von Weimar zum ersten Mal auf heitere Weise und der Erfolg war groß.“4 Die Idee dazu kam von Johannes Itten, der kurz zuvor von Walter Gropius an das gerade erst gegründete Bauhaus berufen worden war. Die Aufgabe, Spielzeug für den Weihnachtsmarkt herzustellen, dürfte eine der ersten praktischen Aufgabenstellungen Ittens an seine Schülerinnen und Schüler gewesen sein, schrieb er doch bereits Anfang November an seine enge Freundin Anna Höllering:

Alma Siedhoff-Buscher, „Bauspiel: ein Schiff“, Holz, lackiert, 1923, BHA

„[...] An der Schule machen wir seit acht Tagen nur noch Spielzeug. [...] Ich möchte, dass auch nach Weihnachten noch immer ‚Spielzeug‘, das heißt ‚gespieltes Zeug‘ gemacht würde.“5 Schon bei diesem ersten Projekt zeigten sich Ittens reformistischer Zugang zum Kunstunterricht und seine Haltung zur klassischen Ausbildung an Kunstakademien. Dem programmatischen Anspruch des frühen Bauhauses, Handwerk als Grundlage künstlerischen Schaffens zu sehen, schien diese Aufgabe auf „spielerische“ Weise gerecht werden zu wollen. Itten nutzte die Gelegenheit aber nicht nur, um seine pädagogischen Vorstellungen am Bauhaus umzusetzen, sondern auch um seinen Führungsanspruch gegenüber den anderen Lehrenden geltend zu machen: „Ich habe ‚reine‘ gemacht. Ich habe das ganze Bauhaus unter mir, weil ich angeregt, dass wir Spielzeug machen [...]. So packte ich mit einem kräftigen Schlage die alte akademische Tradition des Akt- und Naturzeichnens und führe alle schöpferische Tätigkeit zur Wurzel zurück, zum Spiel. Wer hier versagen wird, ist für mich als Künstler, als Schüler abgetan.“6 Itten betonte, welche Bedeutung diese Übung für die Beurteilung seiner Studierenden hatte. Er dürfte auch selbst Spielzeug gefertigt haben, wie aus einem der Briefe an Anna Höllering hervorgeht: „Einige Schüler fangen überhaupt erst jetzt an ‚richtig‘ zu arbeiten. Ich habe auch einiges gemacht.“7 Allerdings ist keine der von ihm gefertigten Spielzeugarbeiten erhalten geblieben. Itten war jedoch nicht der einzige Lehrende am Bauhaus, der sich an Spielzeugentwürfen versuchte. So entwarf Paul Klee für seinen Sohn Felix eine Reihe von Handpuppen. Die erste dieser Puppen fertigte Klee bereits 1916 an, also lange vor seiner Berufung als Meister ans Bauhaus. Auch Oskar Schlemmer baute für seine Tochter eine bewegliche Puppe.8 Ittens Wunsch, auch noch nach Weihnachten 1919 mit den Studierenden Spielzeug herzustellen, wurde zumindest indirekt erfüllt. So sieht man an den Arbeiten mehrerer Schülerinnen und Schüler des Bauhauses, wie diese erste Aufgabe über das Jahr 1919 hinauswirkte. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang Alma Siedhoff-Buscher, Ludwig Hirschfeld-Mack und Milan Morgenstern. Siedhoff-Buschers Arbeiten „Bauspiel: ein Schiff“ und ihr Kinderspielschrank zeigen zahlreiche Parallelen zu den beiden Baukästen Singers. Ihr „Bauspiel: ein Schiff“ von 1923 ist neben dem „Phantasus“-Baukasten

Milan Morgenstern, „Threading Toy“, Schichtholz, lackiert, Metall, um 1960, V&A

der einzige bekannte Baukasten aus dem Umfeld des Bauhauses. Im Unterschied zu Bauteilen anderer Baukästen fallen die Bausteine durch ihre teilweise filigrane Form auf. Richtig sortiert, lassen sich die Teile zu einem größeren länglichen Quader zusammenfügen, der die dazugehörige Schachtel vollständig ausfüllt. So werden die Verpackung und der Vorgang des Ein- und Auspackens selbst Teil des Spiels. Der zusammengesetzte Block vermittelt auf eindrückliche Weise die Zusammengehörigkeit und Verwandtschaft der verwendeten Formen. Der ebenfalls 1923 entstandene „Kinderspielschrank“ ist, ähnlich den von Singer und Dicker für den Kindergarten im Goethehof entwickelten Möbeln, auf Wandelbarkeit und Mehrfachnutzung angelegt und zeigt viele der Überlegungen, die Singer später im „Möbelspiel“ perfektionieren sollte. Mit den beiden Bauhaus-Kollegen Hirschfeld-Mack und Morgenstern verbindet Singer, dass alle drei nach ihrer Emigration und Flucht nach England für die Spielzeugfirma Abbatt Toys arbeiteten. Hirschfeld-Macks „Farbkreisel“ von 1923 verfolgte wie das „Phantasus“Spiel das Ziel, Kindern durch ein Spielzeug künstlerische Grundlagen zu vermitteln. Durch die Drehung des mit unterschiedlichen Farbkarten belegbaren Kreisels wurden die einzelnen Farbflächen für den Betrachter sozusagen optisch gemischt – eines der wenigen gelungenen Beispiele, wie Spiel mit Physik und Kunst in einem Objekt in Einklang gebracht werden kann. Morgenstern, der nach seinem Austritt aus dem Bauhaus vor allem im Bereich der Heilpädagogik tätig war, entwarf für die englische Spielzeugfirma Abbatt Toys in den 1930er Jahren eine Reihe von Spielzeugen, die allerdings erst in den 1960er Jahren unter der Bezeichnung „Abbatt Developmental Toys for Assessment & Training“9 auf den Markt gebracht wurden. Sie gehörten zu den ersten kommerziell produzierten Spielzeugen, die sich an körperlich oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche richteten.

Phantasus

Der „Phantasus“-Baukasten dürfte in den stark auf das Spiel und das Spielzeug ausgerichteten ersten Monaten des Bauhauses als ein gemeinschaftlicher Entwurf der beiden Kollegen Franz Singer und Franz Scala entstanden sein. Damit wäre der Baukasten einer der ersten dokumentierten Produktentwürfe des Bauhauses. Scala war wie Naum Slutzky und Anny Wottitz Teil der Wiener Gruppe, die Itten aus seiner Kunstschule ans Bauhaus folgte. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bauhaus 1923 sollten sie alle in den von Franz Singer und Friedl Dicker gegründeten Werkstätten bildender Kunst in Berlin (WV 10) mitarbeiten.10 Er scheint aber in den gesamten weiteren Quellen zum „Phantasus“Baukasten nicht auf, auch nicht in der GebrauchsmusterAnmeldung, die Singer mit Unterstützung Hans Mollers (Anny Wottitz’ Ehemann) 1924 in Österreich im Namen der Werkstätten einreichte. Aus welchem Grund Scala in die weitere Entwicklung des Baukastens und in die intensiven Bemühungen Singers, diesen zu produzieren, nicht involviert war, bleibt ungewiss. Für eine direkte Beteiligung Friedl Dickers an der Entwicklung des Baukastens finden sich in den derzeit bekannten Quellen keine Hinweise, allerdings ist aufgrund der sehr engen Zusammenarbeit von Singer und Dicker in dieser Phase ihres Lebens anzunehmen, dass Dicker zumindest um den „Baukasten“ wusste.

„Die Teile des Spiels“, Entwurf für den „Phantasus“-Baukasten, 1919–1925, Aquarell, Tusche auf Papier, 17×21,1 cm, AGS

„Phantasus“-Baukasten, Prototyp, 1919–1924, Metall, 16,7×27×4 cm, AGS Bauanleitung für den „Phantasus“-Baukasten, um 1924, Aquarell und Tusche auf Papier, 17,3×21,3 cm, AGS

„Phantasus“-Tierbaukasten, wie der Baukasten von Singer während der Produktionsbestrebungen genannt wurde, ist der letzte aus einer Reihe von Namen, die der Baukasten im Lauf seiner Entwicklung von 1919 bis 1925 erhielt. Darunter finden sich die eher trockene Bezeichnung „Bau-Zoo“ und der programmatische Name „Quadreikrei der Tierbaukasten“ – „dieser Name entsteht durch die Zusammenziehung der Wörter: Quadrat, Dreieck, Kreis, aus welchen geometrischen Grundformen die Teile des Spiels sich zusammensetzen“11, wie Singer die Wortschöpfung in einem der Manuskripte zur Gebrauchsmuster-Anmeldung erklärte. Die Bezeichnung „Phantasus“ geht möglicherweise auf den gleichnamigen antiken Traumgott zurück, der sich in alles verwandeln kann, was keine Seele hat (Ovid, Metamorphosen 11, 643), und spielt auf die durch den Baukasten angeregte Fantasie an. Die auf einem mit „Die Teile des Spiels“12 bezeichneten Blatt dargestellten Bausteine wurden zwar in ihrer Ausführung (Material, Maße, Farbe und Lochung) über die Zeit variiert, aber in ihrer grundsätzlichen Form und Zusammenstellung nicht verändert. So gibt es zumindest zwei gesicherte Größen des Baukastens, die Singer in Auftrag gab. Grundsätzlich war der Baukasten als Holzbaukasten konzipiert, aber es dürfte auch zu Experimenten mit anderen Materialien gekommen sein. Für die Bausteine war Hartholz, für die Verbindungsstäbe Weichholz vorgesehen. Die Bohrungen in den Bausteinen sollten einen etwas größeren Durchmesser haben als die der Weichholzstäbe und so zusammengesteckt gegeneinander beweglich sein. Zusammengehalten wurden die Konstruktionen von kleinen Hartholzringen, die, mit einer kleineren Bohrung versehen, auf die Verbindungsstangen aufgepresst wurden. Der „Phantasus“-Baukasten zeigt auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten mit dem Holzbaukastensystem „Matador“13, und tatsächlich besteht durch die Größe der Bohrungen und deren Abstand zueinander eine gewisse Kompatibilität der Teile. Ob diese von Singer bewusst geplant wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, bei aller Ähnlichkeit sind es aber vor allem die Unterschiede, die den „Phantasus“-Baukasten einzigartig machen. So finden sich, anders als bei „Matador“, keine Bohrungen an den Stirnseiten der Bausteine, und die Teile lassen sich nur in Schichten zusammenfügen. Es gibt keinen einzigen Baustein, der auf jeder Fläche eine Bohrung besitzt, das Bauen von räumlichen Strukturen ist damit deutlich erschwert. Diese Einschränkung ist von Singer aber wohl überlegt, denn damit zwingt er den Spielenden ins Zweidimensionale. Die dritte Dimension schleicht sich über die Hintertür in das System: Durch die Materialstärke der Bausteine und deren Schichtung entsteht Räumlichkeit, und die Figurinen erwachen zum Leben. Die Bausteine werden so zu Farbflächen, die zueinander in Bezug stehen. Beinahe hat es den Anschein, als hätten Scala und Singer den Baukasten als gezeichnete Flächen entworfen, die erst durch ihre materielle Umsetzung Körperlichkeit erlangen. Das einzige Element, das diese Logik der Fläche bricht, ist die Kiste, die über zwei Bohrungen an der Unterkante sowohl als Baustein als auch als Verpackung der restlichen Teile dient. Das Prinzip der Schichtung und die Flächigkeit der Bausteine haben aber vor allem den Zweck, die Aufmerksamkeit mehr auf die Form der Bausteine sowie den Bau organischer Formen zu lenken statt auf deren technische Funktion. Hier liegt der größte Unterschied zu anderen, meist auf Technologie-Vermittlung ausgelegten Baukästen wie „Matador“, was Singer in einem Manuskript zur Gebrauchsmuster-Anmeldung hervorhebt: „Im Gegensatz zu anderen Baukästen, die hauptsächlich das Interesse des Kindes für mechanische u. technische Formen u. Gegenstände erregen, und dieses Interesse damit allzu frühzeitig einseitig beeinflussen, wendet sich dieser Baukasten an das natürliche instinktive Gefühl des Zusammenhangs mit der Natur und eines ihrer hauptsächlichsten Gebiete (der Tierwelt), ohne das Interesse des Kindes für die mechanische Welt zu vergessen. Er stärkt dieses Gefühl des Zusammenhangs, lenkt die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Wesentliche der Tierform, die es aus einfachen geometrischen Körpern zusammenstellt, entspricht dadurch aber auch den auf das Wesentliche der Ausdrucksformen (als auf die wesentliche Form des Ausdrucks eines Gegenstandes) gerichteten Tendenzen moderner Kunstanschauung und bildet dadurch für das heranwachsende Kind die Brücke zum Verständnis dieser modernen Kunst.“14 Anders als zur Formensprache und zu den Steckverbindungen, gibt es zur Farbgestaltung keine Erläuterungen Singers. Wie aus den Anleitungskarten ersichtlich, wählte Singer starke Kontraste und keine für Tiere natürlichen Farbtöne. Ihm ging es also wohl auch bei der Farbgebung darum, den Blick der Kinder auf die Gestalt von Tieren, auf das Wesentliche der Tierfiguren zu lenken.

Produktionsgeschichte

Im Spätsommer 1924 begann das intensive Ringen Franz Singers um die Produktion des „Phantasus“-Baukastens, ein Prozess, der mehr als ein Jahr in Anspruch nehmen sollte. In dieser Zeit bemühte sich Singer nicht

„Baukasten für Kindermöbel und -spiele“, Entwurfszeichnung, 1936/37, Bleistift und Tusche auf Transparentpapier, 49×49,4 cm, AGS

„Baukasten für Kindermöbel und -spiele“, Entwurfszeichnung, 1936/37, Bleistift und Tusche auf Transparentpapier, 49×49,4 cm, AGS

nur um den Schutz der Erfindung durch die Anmeldung zum Patent und Gebrauchsmuster in Deutschland und Österreich, sondern baute zu einer Vielzahl an potenziellen Produzenten Kontakte auf, überarbeitete mehrmals die Entwürfe des Baukastens und suchte nach möglichen Vertriebspartnern, um zumindest eine kleine Serie herstellen lassen zu können. Dabei kam es mit einigen Produzenten zu weitreichenden Vereinbarungen, die aber allesamt an der meist schlechten Qualität der gelieferten Probeexemplare oder dem Ausbleiben von Lieferungen scheiterten. Eine der größten Herausforderungen in der Produktion des „Phantasus“-Spiels waren Anzahl und Ausführung der Bohrungen der Bausteine. Sie machten den Baukasten in der Herstellung anspruchsvoll, zeitaufwendig und teuer. Im Oktober 1925 verebbte die dazu erhaltene Korrespondenz. Es finden sich keine Hinweise darauf, ob und in welcher Form Singer die Verwirklichung des Baukastens weiterverfolgte.

Baukasten für Kindermöbel und -spiele

Es sollte mehr als zehn Jahre dauern, bis sich Singer erneut einem Baukasten und dessen Serienfertigung widmete. Der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ wurde ab 1936 unter der Mitarbeit der Ateliermitarbeiterinnen Leopoldine Schrom und Jenny Pillat entwickelt. Das Spiel war für eine Kommission bei der holländischen Firma Metz & Co. vorgesehen, wurde aber vermutlich nicht in das Sortiment aufgenommen.15 Die Pläne (Abb. S. 66, 67, 413) zeigen detailliert ein ausdifferenziertes Baukastensystem und geben tiefen Einblick in die verschiedenen Nutzungs- und Kombinationsmöglichkeiten. Dabei reicht die Bandbreite von einem voll funktionsfähigen Kran über moderne Gebäude bis hin zu einem Wagen mit Kurbelantrieb und Anhänger. Auf einer Fotostrecke zum Prototypen des Baukastens im Bauhaus-Archiv findet sich ein Großteil der auf den Illustrationen gezeigten Teile wieder, wie sie von einem Mädchen und einem Buben im Vorschulalter erprobt werden. (Abb. S. 412) Die Grundbausteine des Systems bestehen aus vier unterschiedlich großen Kisten, die wie MatrjoschkaPuppen ineinanderpassen. So lassen sich alle Bestandteile des Baukastens in der größten Kiste unterbringen. Die Verpackung zugleich als einen Teil des Baukastensystems zu begreifen war eine zentrale Idee des „Phantasus“-Baukastens gewesen und wurde für das neue System wieder aufgegriffen. Das System der Kisten wurde durch zwei mit Tafelfarbe gestrichene Platten, die gleichzeitig als Abdeckung der Verpackung dienten, eine Lade und zwei von Singer als „Griffe“ bezeichnete Bretter ergänzt. Ein System aus Rädern, Achsen, Bolzen und Schnüren diente zur Erweiterung und Verbindung der Elemente. Die Kisten und Platten waren an mehreren Stellen gelocht und wurden je nach Verwendung einfach gestapelt und mit den Zubehörteilen aneinander fixiert. Das Konzept zeigt mit seiner Modularität und den genormten Schnittstellen zwar die Merkmale eines klassischen Modellbaukastensystems, allerdings sind die Strukturen, die mit dem System geschaffen werden können, keine Modelle von Architektur oder technischen Artefakten, sondern sind selbst Architektur, Möbel oder Gebrauchsgegenstand für Kinder. So ist der Zug auf den Fotos groß genug, dass in jedem der Abteile tatsächlich ein Kind Platz hat. Ein ganzer Spielplatz plus Kinderzimmer in einer Kiste von ca. 55 × 41 × 36 cm, der mit den Anforderungen des Kindes mitwächst, sich seinen Bedürfnissen anpasst und es in seiner Entwicklung begleitet.

„Phantasus“-Baukasten, Patentschrift, 1924, Österreichisches Patentamt

Damit wird das Kind zum Architekten und Gestalter seiner Umwelt. Der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ stellt eine klare Verbindung her zwischen der Idee eines Baukastens und der modularen Bauweise moderner Architektur und führt diese zurück ins Kinderzimmer. Er wirkt wie die Komprimierung aller gestalterischen Prinzipien der Ateliergemeinschaft, nämlich der Gestaltung von funktionalen, möglichst flexiblen, vielseitigen Lösungen, die überraschen und es nicht nur zulassen, einen Raum zu dehnen und zu komprimieren, sondern regelrecht dazu auffordern. Das Baukastensystem greift die Idee der Möbelentwürfe des Montessori-Kindergartens im Goethehof auf. Hier wurden die Möbel von der Ateliergemeinschaft so dimensioniert, dass es zumindest zweier Kinder bedurfte, um sie zu bewegen, mit dem Ziel, Zusammenarbeit und Solidarität unter den Kindern zu fördern.

Abbatt Ltd. und „Sunplay-House“

Für die Spielzeugfirma Abbatt Ltd. des Londoner Ehepaars Paul und Marjorie Abbatt, das intensive Forschung im Bereich der Kinderpädagogik betrieb, entwickelte Singer ein Kinderspielhaus. Noch stärker als der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ zeigt das „SunplayHouse“ (WV D-4) die Weiterentwicklung Singers als Architekt. Es wirkt wie eine verkleinerte Version des Gartenhauses Moller von 1931 (WV 76) oder des Gästehauses Auersperg-Hériot von 1933 (WV 115), die zum Teil in Zusammenarbeit mit Friedl Dicker gestaltet wurden. Das „Sunplay-House“ wurde von Singer in modularer Bauweise entwickelt und ließ sich nach Bedarf erweitern, in gewisser Weise ist es also Singers dritter Baukasten. Das „Sunplay-House“ wurde am Stand der Firma Abbatt Ltd. auf der Ideal Home Exhibition 1935 in London gezeigt und wurde äußerst positiv aufgenommen. Die australische Tageszeitung The Courier Mail schrieb unter dem Titel „Your Dream House and Garden“ darüber: „A circular window with a toy cupboard underneath it and a wide ledge to play on form together a hinged side of the house, which opens wide, like a flower, to admit sun and air. The curved shape, and the ease with which this side opens completely, unites the house with ‚Rosemary’s Garden‘, and forms the ideal healthy milieu for the growing child.“16 Auf das „Sunplay-House“ folgten mehrere Entwürfe für Kindertische und -stühle aus Sperrholz, die in Zusammenarbeit mit Hans Biel entstanden. Auch hier zeigt sich Singers fortwährendes Interesse für die Gestaltung von anspruchsvollen Alltagsgegenständen für Kinder, das ihn von seiner Zeit am Bauhaus ab 1919 bis nach England begleitete. Dabei steht besonders bei den drei Baukästen Singers ein selbstbestimmtes Erkennen und Gestalten der eigenen Umwelt im Vordergrund, das sich den Bedürfnissen von Kindern und ihrer Entwicklung spielend anpasst. Diese Herangehensweise verbindet Franz Singers und Friedl Dickers kunstpädagogische Arbeit über ihr gemeinsames architektonisches Werk hinaus.

1 Georg Schrom: Friedl Dicker, Franz Singer, in: Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Wien), Wien 1988, S. 8–14, hier S. 12. 2 Gebrauchsmuster-Anmeldung, AGS. 3 Vgl. Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln 2021, S. 101. 4 Klaus Weber: Kunstwerk – Geistwerk – Handwerk. Die Werkstätten in den ersten Jahren des Bauhauses, in: Rolf Bothe (Hg.): Das frühe Bauhaus und Johannes Itten (Ausstellungskatalog BauhausArchiv Berlin u. a.), Ostfildern-Ruit 1994, S. 215–237, hier S. 221. 5 Bothe 1994. Zit. n. Hövelmann (wie Anm. 3), S. 450. 6 Ebd., S. 450. 7 Ebd., S. 450. 8 Christine Mehring: Alma Buscher „Ship“ Building Toy, in: Bauhaus 1919–1933: Workshops for Modernity (Ausstellungskatalog Museum of Modern Art, New York), New York 2009, S. 156–161. 9 Alan Powers: Abbatt Toys. Modern Toys for modern Children, London 2021, S. 136. 10 Siehe Biografie Franz Scalas in diesem Band. 11 Manuskript Bau-Zoo, AGS. 12 Die Teile des Spiels, AGS. 13 Das „Matador“-Baukastensystem von dem Wiener Johann Korbuly wurde 1903 eingeführt und war in der Zwischenkriegszeit sehr erfolgreich. Ab 1923 war „Matador“ als offizielles Lehrmittel zugelassen. 14 Gebrauchsmuster-Anmeldung, AGS. 15 Hövelmann 2021 (wie Anm. 3), S. 284–285. 16 Sally Horner: Your Dream House and Garden, in: The Courier-Mail, Brisbane, 25.4.1935, S. 7.

Schlafzimmer in der Wohnung Karl Heller, Axonometrie, 1928, Bleistift und Deckfarbe auf Karton, 64×63 cm, BHA, Inv.-Nr. 2019/46

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