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Das moderne Wohnprinzip“ Möbeldesign von Friedl Dicker und Franz Singer

Katharina Hövelmann

In Form einer schwebenden Rauminstallation zeigte 1966 die von Hans Hollein gestaltete Ausstellung Selection 66 des Möbelherstellers Svoboda im MAK den zur Bauhaus-Ikone gewordenen Stahlclubsessel des Bauhaus-Designers Marcel Breuer in Korrespondenz mit zeitgenössischem Möbeldesign und rief den innovativen Entwurf aus Stahlrohr in Erinnerung, den Hollein als „architektonisches Manifest“1 verstanden wissen wollte. Bis die Möbel der Wiener Bauhaus-Absolventen Friedl Dicker und Franz Singer wiederentdeckt und öffentlich präsentiert wurden, vergingen noch mehr als zwei Jahrzehnte.2 In ihrer Formensprache und Farbigkeit wirken Dickers und Singers Einrichtungen und Möbel im Wien der Zwischenkriegszeit außergewöhnlich, zeigen sie doch einen offensichtlichen Bezug zum Bauhaus, an dem beide von 1919 bis 1923 studierten. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als wären sie in der österreichischen Architektur- und Designszene Einzelgänger gewesen. Dieser Eindruck verstärkt sich etwa durch den Umstand, dass Singer die Einladung zur Einrichtung eines Hauses in der 1932 eröffneten Wiener Werkbundsiedlung ablehnte.3 Vermutlich hätte er gerne ein Haus samt Einrichtung für die neue Siedlung entworfen, denn Singer hielt das Zusammenspiel von Außen- und Innenarchitektur für essenziell.4 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass die Ateliergemeinschaft trotz entsprechender Einladungen weder an der in verschiedenen deutschen Städten gezeigten Wanderausstellung Der Stuhl 1928/29 noch an der vom Österreichischen Werkbund organisierten Ausstellung Der gute billige Gegenstand 1931/32 teilnahm.5 Die multifunktionalen Möbel wurden jedoch auf der Kunstschau 1927 und der Ausstellung Wiener Raumkünstler 1929/30 präsentiert, die sich primär an eine wohlhabende, bürgerliche Käuferschicht richteten. Dennoch zeigt die rege Publikationstätigkeit den Wunsch nach internationaler Sichtbarkeit. Neue Projekte wurden in der Regel von professionellen Fotograf*innen dokumentiert, womit umfassendes Bildmaterial für Veröffentlichungen vorhanden war – angesichts des beträchtlichen finanziellen Aufwands war dies für ein relativ kleines Atelier zu dieser Zeit keineswegs selbstverständlich.6 Dass Dicker und Singer durchaus in der Wiener Architekturszene beheimatet und bestens vernetzt waren,

Hans Hollein, Ausstellung Selection 66, MAK 1966, MAK/Az W

Entwurfszeichnung, Möblierung mit Klappbett, westliches Zimmer, erstes Obergeschoß, Haus Moller, um 1928, Bleistift auf Transparentpapier, 61,1×54,2 cm, Albertina, Wien Klappbett, Wohnung Wottitz-Moller, 1925/26, Foto auf Karton, BHA

beweist beispielsweise ihr Engagement bei der Einrichtung des von Adolf Loos entworfenen Hauses Moller (WV 41 und 98).7 Darüber hinaus war Singer Mitglied im 1929 gegründeten Österreichischen Verband für Wohnungsreform, der unter der Leitung von Ernst Lichtblau 1930 die Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene – BEST im Karl-Marx-Hof einrichtete. Die BEST beriet bei der Anschaffung von Einrichtungen, präsentierte Mustereinrichtungen und organisierte Vorträge. Auch Friedl Dicker hielt dort 1931 einen Vortrag über den Zweck der Farbe, bei dem sie die Farbe als „ein Element des Gesamtaufbaues des Einrichtungsplanes“ charakterisierte, das „bisweilen ordnend“ wirke und „als ein Teil der Innenarchitektur“8 gelte. Dem Anspruch einer solchen Einrichtungsberatung folgend, veröffentlichte Franz Singer 1931 im Kölner Tageblatt den programmatischen Text: „Das moderne Wohnprinzip: Ökonomie der Zeit, des Raumes, des Geldes und der Nerven“9. Darin wird gefordert, dem Bewohner eines Hauses „Möbel zur Verfügung zu stellen, die dafür zweckmäßig sind, und ihn anzuweisen, wie er sich damit einzurichten hat“, da es nicht genüge „ein Haus mit vielen kleinen Zellen wie für Bienen herzustellen und nun den Bewohner seinem Schicksal zu überlassen, ihn mit seinen zu vielen altmodischen, raumfressenden, in jeder Richtung unrationellen Möbeln einziehen zu lassen“10 . Als Lösung werden multifunktionale Möbel präsentiert, die es erlauben sollen, unterschiedliche Wohnfunktionen (Arbeiten, Kochen, Essen, Schlafen) in beschränkten Wohnverhältnissen miteinander zu kombinieren.

Spurensuche Möbel

Heute sind nur wenige Möbel von Dicker und Singer erhalten. Zeichnungen, Fotos, Publikationen und Patente stellen daher eine wichtige Quelle dar und ermöglichen, sich auf Spurensuche ihres Möbeldesigns zu begeben. Das erste Projekt, das Dicker und Singer in ihrer 1925 gegründeten Ateliergemeinschaft ausführten, war die Wohnungseinrichtung für das befreundete Ehepaar Anny Wottitz-Moller und Hans Moller in der

Wasagasse 36 im 9. Wiener Gemeindebezirk. Für das Damen- und das Herrenzimmer wurden multifunktionale Möbel entworfen. Zur Einrichtung des Damenzimmers gehörten neben einer noch erhaltenen Sitzgarnitur ein Schrank, eine Wäschekommode, ein Wäscheschrank mit integriertem Toilettentisch und ein Klappbett. Auch im Herrenzimmer waren die Möbel auf Multifunktionalität angelegt: Die ausladenden Sessel konnten zu einer Liege aneinandergestellt werden und der Tisch enthielt ein separat aufstellbares Likörschränkchen (WV 11). 1927 wurden einige der Möbel auf der Kunstschau im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie präsentiert (WV 27). Für das Jahr 1928 führt Singer in seiner Werkliste den oben erwähnten „Entwurf für die Einrichtung des Hauses M. von Adolf Loos“ an.11 Erhaltene Möblierungspläne belegen, dass die Möbel aus der Wohnung im 9. Bezirk auch im neuen Wohnhaus verwendet wurden. Eine Zeichnung des westlichen Zimmers im ersten Obergeschoß zeigt einige der Schrankmöbel aus dem ehemaligen Damenzimmer von Anny WottitzMoller. Die dortige Verwendung des Klappbetts ist durch ein auf 1931 datiertes Foto von Anny Wottitz-Moller mit ihrer Tochter Judith dokumentiert. Die Sitzgarnitur aus der Wasagasse wurde in die Einrichtung von Annys Atelier im zweiten Obergeschoß integriert (WV 41). Die Konstruktion der Damenzimmer-Sessel aus geometrischen Grundformen wie halbkreisförmiger Lehne, runder Sitzfläche und säulenartigen Vorderbeinen wird durch Durchsichten zwischen den einzelnen Elementen hervorgehoben und verweist auf am Bauhaus entstandene Möbelentwürfe (Abb. S. 84). Ab 1922 hatte sich in der dortigen Tischlerei die Betonung der Konstruktion von Möbeln durchgesetzt, die auf den Einfluss Gerrit Rietvelds zurückzuführen war. Seine Möbel wirkten am Bauhaus inspirierend, nachdem Theo van Doesburg – der in den Rietveld-Möbeln die Stijl-Prinzipien vorbildlich umgesetzt sah – sie in seinem Weimarer Stijl-Kurs beworben hatte.12 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Franz Singer sogar für van Doesburgs Stijl-Kurs angemeldet war.13 Weitere Gestaltungsmerkmale am Bauhaus waren der Kubus als Formgrundlage, umlaufende, rahmende Bänder und eine farbliche Differenzierung der einzelnen Formelemente sowohl durch verschiedene Hölzer als auch durch unterschiedliche Lackierungen. Diese Charakteristika finden sich auch bei den Möbeln aus der Frühzeit des Ateliers von Dicker und Singer wieder. Die Multifunktionalität und damit einhergehende Beweglichkeit der Möbel kann auf den russischen Konstruktivismus zurückgeführt werden, hatte doch van Doesburg dem Bauhaus diese Bewegung mit der Organisation eines Konstruktivisten-Kongresses in Weimar 1922 nahegebracht.14

Anny Wottitz-Moller und ihre Tochter Judith im Klappbett, um 1930, Privatsammlung

Die ungewöhnliche Polsterung der Sitzgarnitur des Damenzimmers aus aneinandergereihten, konisch zulaufenden Stoffzylindern kann Friedl Dicker zugeschrieben werden. Die dunklen und hellen Streifen des handgewebten Leinenstoffs variieren in der Breite so, dass sich beim Sitzpolster eine Abstufung von Dunkel zu Hell ergibt. Diese Effekte bei Streifenstoffen sind charakteristisch für die Arbeiten der Bauhaus-Weberei.15 Die Korrespondenz zwischen Formensprache und Polsterung des Möbels ist ein Indiz dafür, dass die Entwurfsarbeit in enger Abstimmung zwischen Dicker und Singer ablief. Eine Sitzgarnitur, die zur Einrichtung der Berliner Wohnung von Margit Téry-Buschmann, einer Freundin und Studienkollegin, gehörte, ist heute auf verschiedene Aufbewahrungsorte verteilt (WV 55): Ein Sessel gehört zur Dauerausstellung im Museum für angewandte Kunst in Wien (MAK), zwei weitere befinden sich in Privatbesitz, die Sitzbank wurde 2021 von der Löffler Collection angekauft (Abb. S. 85). Eine ähnliche Sitzgarnitur wurde auf der Kunstschau 1927 präsentiert (Abb. S. 86); Skizzen und ein erhaltenes Schriftstück lassen vermuten,

Sitzgarnitur, Wohnung Wottitz-Moller, 1925/26, Rotbuche, Esche, Nadelholz, Kirschholz, Schleiflack, Rosshaarpolster, handgewebter Leinenstoff, Die Neue Sammlung — The Design Museum

dass sich diese Sitzgarnitur im Besitz von Margit TéryBuschmann befand und für ihre neue Berliner Wohnung umgearbeitet wurde (Abb. S. 87). Eine Liste des Möbelherstellers Prof. Hartmann & Co. verzeichnet zur Wohnung Téry-Buschmanns „1 Bank mit Bastsitz und Lehne“ und „3 Armsessel dazu, analog überzogen“ und weist außerdem eine erhellende Bleistiftnotiz mit Skizze auf: „Lehne ändern mit Stahlfedern (Bast) Bespannung“16 . Die zylinderförmigen Lehnen wurden gegen halbkreisförmige ausgetauscht und die leicht schrägen Hinterbeine durch gerade Rundhölzer ersetzt, wodurch ein massiverer Gesamteindruck des Möbels entstand. Die Sitzbank präsentiert sich heute mit einer Polsterung in rosa-gelb kariertem Bezug anstelle der ursprünglichen Gurtbänder. Die neue Bespannung dürfte aus Gründen des Komforts bereits in den 1930er Jahren erfolgt sein. In Abstimmung auf die Farbskala des Bezugsstoffs erhielt der ehemals rot gefasste Rahmen der Sitzfläche zudem eine rosafarbene Lackierung. Die befreundeten und durch Heirat ihrer Kinder Judith und Florian auch verwandtschaftlich verbundenen Familien Moller und Adler tauschten untereinander Möbel aus dem Atelier von Dicker und Singer.17 So gelangten der Kleiderschrank und die Wäschekommode aus Anny Wottitz-Mollers Damenzimmer ihrer Wohnung im 9. Bezirk nicht in ihr neues Haus von Adolf Loos, sondern in die Berliner Wohnung ihrer Freundin Margit Téry-Buschmann. In der erwähnten Auflistung des Möbelherstellers Prof. Hartman & Co. findet sich ein Änderungsvermerk zu einem „Kleiderkasten Hans Moller“ und „Wäschekasten Hans Moller“ zur Adaptierung für die Wohnung Téry-Buschmann: „Handgriffe wegnehmen nur Einschnitte“18 . Die Forderung des Bauhauses nach funktional gestalteten Gebrauchsgegenständen sowie eine formale Reduktion auf geometrische Grundformen wie Kubus, Kugel und Zylinder wurden in Wien bereits mit der 1903 gegründeten Wiener Werkstätte verfolgt.19 Auffällig sind

die gestalterischen Parallelen zwischen Möbeln, die um 1900 in Wien und am Bauhaus entworfen wurden. Besonders die Reduzierung auf Grundelemente, die Halbkreisform der Lehnen sowie die gitterartig gereihten Holzstäbe und Holzlatten fallen beim Vergleich zwischen der 1925 entworfenen Sitzgarnitur für Anny WottitzMoller und Josef Hoffmanns für J. & J. Kohn entworfenen Sitzgarnituren No. 723 und No. 729 aus den Jahren 1906 und 1907 auf (Abb. S. 88).20 Wie zuvor Josef Hoffmann ließen sich auch Entwerfer*innen der nachfolgenden Generation wie Josef Frank oder Oskar Strnad und eben Dicker und Singer vor allem durch die klaren, einfachen, materialbewussten und funktionellen Möbelformen des Empire und Biedermeier inspirieren. Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass Dicker und Singer nicht selten die in den Wohnungen ihrer Auftraggeber*innen vorhandenen Biedermeiermöbel umarbeiten ließen und in ihre Neugestaltungen integrierten.21 So wurde etwa die Patientenliege des Psychoanalytikers Eduard Kronengold aus einem Biedermeiersofa gefertigt (WV 102).

Fauteuil, Wohnung Téry-Buschmann, um 1930, Ahorn- und Buchenholz, gebeizt und lackiert, Gurtbespannung, 73×70×55 cm, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien

Ausstellung Wiener Raumkünstler – Vom Einzelstück zur Typisierung

Wie die 1931 im Kölner Tageblatt publizierten Möbel zeigen und aus dem begleitenden Text „Das moderne Wohnprinzip“ hervorgeht, strebte das Atelier die Entwicklung von Möbeltypen an. Diese seien „nicht nur für den Mittelstand, sondern auch für die Arbeiterschaft“ vorgesehen, womit eine soziale Perspektive angedeutet ist.22 Einige der später im Kölner Tageblatt abgedruckten Möbel waren bereits in der Ausstellung Wiener Raumkünstler 1929/30 gezeigt worden, die sich allerdings an ein wohlhabendes Publikum richtete. Josef Frank, Oswald Haerdtl, Josef Hoffmann, Ernst Lichtblau, Alfred Soulek, Eduard Wimmer-Wisgrill und Oskar Wlach präsentierten gediegene Einrichtungen für Speise-, Wohn-, Schlaf- und Musikzimmer. Einzig Ernst Lichtblau zeigte ein Beispiel für die Einrichtung der zu dieser Zeit neu aufkommenden „Einraumwohnung“. Unter Franz Singers Namen präsentierte das Atelier „Typen neuer Möbel und Beleuchtungskörper“, darunter den Schreibtisch Ti28, den „Kistenkasten“ Sch11 mit einklappbaren Fauteuils und Klapptischen, den „Schrankraum“ Li/Sch10, das „Diwanbett“ Li11, das Klappbett Li8, den Klapptisch Ti7, den Stuhl S10, „wachsende Stühle“ (Abb. S. 89), den Schrank Sch1 sowie verschiedene Leuchten (WV 71).23 Charakteristische Merkmale der Möbel waren Klappfunktion und Stapelbarkeit, gemäß der Forderung: „Alle Räume müssen für den Tagesaufenthalt zu verwenden, müssen verwandelbar sein.“24 Parallelen bestehen vor allem zu zeitgenössischen, beim Frankfurter Stadtbauamt tätigen Entwerfer*innen wie Margarete Schütte-Lihotzky oder Anton Brenner. Ein im Ateliernachlass erhaltenes Heft der Monatsschrift Das neue Frankfurt aus dem Jahr 1927 weist auf die Auseinandersetzung mit diesen Entwürfen hin. Der Schrank Sch1 zeigt beispielsweise auffällige Parallelen zum Kombinationsschrank von Ferdinand Kramer, der für das Frankfurter Stadtbauamt arbeitete. Die auf der Ausstellung Wiener Raumkünstler (WV D-6) präsentierten Möbel des Ateliers blieben fester Bestandteil des Möbelprogramms und wurden im Lauf der Zeit variiert und weiterentwickelt. Ähnlich wie am Bauhaus stand anfangs die Schaffung von Gebrauchsgegenständen für die Allgemeinheit im Vordergrund, allerdings wurde mit einigen wenigen Ausnahmen (Montessori-Kindergarten Goethehof, Möbelhilfe25) nur das wohlhabende Bürgertum erreicht.

Josef Hoffmann, Armlehnstuhl Nr. 729/F, J & J Kohn, 1907, MAK Bruno Pollak, Stahlrohrstuhl, 1927, Stahlrohr, Rohrgeflecht, 88,4×51,6×45,5 cm, AGS

Stahlrohr- und Sperrholzmöbel – Wege zur Serienfabrikation

1926 hatte Marcel Breuer seinen Stahlclubsessel präsentiert, der am Bauhaus die Weichen für das Aufgeben der traditionellen Tischlerei lieferte (vgl. Abb. S. 81). Das leichte und federnde Stahlrohr galt als funktional, preisgünstig und hygienisch. Bereits im Jahr darauf entwarf der Ateliermitarbeiter Bruno Pollak einen Stahlrohrsessel, der allerdings nicht bei Einrichtungen von Dicker und Singer verwendet wurde. Die Verbindung zum Atelier wird durch einen im Nachlass erhaltenen Prototyp mit einer Bespannung aus Rohrgeflecht bestätigt (Abb. S. 88). Der von Pollak patentierte Stuhl wurde zunächst von dem Wiener Stahlmöbelhersteller Josef & Leopold Quittner in verchromtem oder lackiertem Stahlrohr und mit einer Sitzfläche in Rohrgeflecht, Stoffbespannung oder Lattenhölzern ausgeführt und weist in seiner quadratischen Rahmenform, der auskragenden Rückenlehne, der Konstruktion aus zwei Stahlrohrelementen und dem Aufeinandertreffen der Stahlrohrenden im Fußbereich Parallelen zum B5 von Marcel Breuer aus dem Jahr 1926/27 auf. Ein entscheidender Unterschied ist allerdings, dass Pollaks Stuhl im Gegensatz zu dem von Breuer stapelbar war. 1931 wurde eine der Ergonomie angepasste Variante des Stuhls hergestellt, die in der Mustereinrichtung im Haus von Anton Brenner in der Wiener Werkbundsiedlung gezeigt wurde, bevor sie ihren Siegeszug in Großbritannien antrat.26 Von Dicker und Singer wurden Stahlrohrmöbel dagegen erst ab 1931/32 in Wohnungseinrichtungen verwendet. Es gab zwar bereits früher Entwürfe, etwa den auf der Ausstellung Wiener Raumkünstler präsentierten „wachsenden Stuhl“, der die aktuelle Entwicklung des hinterbeinlosen Freischwingers aufgriff (Mart Stam hatte den ersten Stuhl dieser Art auf der Stuttgarter Werkbundausstellung 1927 gezeigt), allerdings ist er lediglich für die Einrichtung des Kinderzimmers von Florian Adler nachweisbar (WV 71, 55). Für viele Einrichtungen wurden zunächst Stühle von Marcel Breuer und Mies van der Rohe verwendet, so im Modesalon Kriser (WV 45). Um 1930/31 wurde der freischwingende Armlehnstuhl S1 entwickelt, der in verschiedenen Ausführungen mit einer Sitzfläche aus Drahtnetz, eingehängten dünnen Polstern oder einer Stoffbespannung ausgeführt wurde (Abb. S. 89). Etwa zur gleichen Zeit wurde der

Stuhl S1, um 1930/31, BHA Armlehnstuhl S9 (Type Hériot), Prototyp, um 1932/33, Stahlrohr, Rohrgeflecht, Holz, 75×56×54 cm, AGS

stapelbare Freischwinger S9 entwickelt, der im Fußbereich eine charakteristische, an Bugholzmöbel erinnernde schlaufenförmige Überkreuzung aufwies, die zu einer Art Markenzeichen für Singers Entwürfe avancierte (Abb. S. 89, WV D-6). Dieses Modell, das 1935 zum Patent angemeldet wurde, gab es mit einer Bespannung aus Stoff oder Rohrgeflecht. Es folgten weitere Entwürfe, wie der 1933 entwickelte V-Stuhl, dessen Form 1936 patentiert wurde (Abb. S. 95). Für diesen Stuhl wurde zudem eine Technik entwickelt und patentiert, bei der die Einflechtung des Rohrgeflechts direkt in ein mit weicherem Material, wie Holz oder Kork, ausgefülltes Stahlrohr erfolgte. Diese Technik entsprach zwar hohen ästhetischen Maßstäben, war für eine massenweise Herstellung allerdings kompliziert und teuer. Obwohl sich bei den Stahlrohrmöbeln Typen herausbildeten, blieben sie Einzelanfertigungen, die in den Details wie Höhe und Neigung der Lehne voneinander abwichen. Die Überkreuzung im Fußbereich wurde auch für den X-Stuhl aus Sperrholz aufgegriffen, der ab 1935/36 entwickelt wurde (WV D-8, Abb. S. 95). Breuer, der wie Singer nach London emigriert war, entwarf zu dieser Zeit Möbel aus dem gleichen Material für die Firma Isokon.

Neben gebogenem Sperrholz arbeitete er mit ausgeschnittenen Sperrholzelementen, die einen kostengünstigen Produktionsprozess ermöglichen sollten. Auch Singer wandte diese Technik bei seinem X-Stuhl an, der in der Entwicklungsphase aus nur vier Teilen bestand – zwei mit einer Kreuzüberblattung verbundenen u-förmigen Rahmen, die gleichzeitig Fuß und Lehne bildeten, einem Sitz sowie einer Lehne. Die Konstruktion wurde allerdings später durch zusätzliche Elemente stabilisiert (WV D-8). Innovativ ist der Entwurf deshalb, weil alle Teile des Stuhls aus Sperrholzplatten ausgeschnitten wurden und somit eine kostengünstige Produktion gewährleistet war. Da sich Franz Singer davor scheute, Lizenzen an größere Hersteller wie die britische Grovewood Company auszugeben, wurde der Stuhl vermutlich nie in größerer Stückzahl hergestellt und es blieb bei einer kleinen Probeproduktion durch einen Wiener Tischler, der ebenfalls nach London emigriert war.

Hersteller

Für Möbel der 1920er Jahre ist die Zusammenarbeit mit der Möbelfabrik Prof. Hartman & Co. belegt. Betreiber dieser 1922 gegründeten Firma waren Alexander Hartmann, Walter Fröhlich und Alois Koller. Hartmann war Maler, Lehrer und Redakteur der von Franz Čižek gegründeten Zeitschrift Kunst und Schule. 27 Dies lässt darauf schließen, dass sich Hartmann wie Dicker und Singer im Kreis der Wiener Reformpädagogen bewegte. Die direkte Zusammenarbeit dürfte aber bereits um 1930 wieder geendet haben, da die Firma ab dem Jahr in Zeitschriftenpublikationen nicht mehr angegeben ist. Fortan wurde mit verschiedenen kleineren Wiener Tischlereien zusammengearbeitet. Die Stahlrohrmöbel der Ausstellung Wiener Raumkünstler führte die Firma Josef & Leopold Quittner A.G. aus, die auch den Stuhl von Pollak herstellte. Da diese allerdings wenig später, nach der Fusion mit August Kitschelt A.G., ihren Betrieb einstellte, wurden kleinere Schlossereibetriebe herangezogen, wie der Metallwarenfabrikant Josef Anton Talos der wiederum 1935 Konkurs anmeldete. Anschließend bestand eine Zusammenarbeit mit dem Schlossermeister Walter Gowal, der neue Prototypen gemeinsam mit der Mitarbeiterin Leopoldine Schrom entwickelte. Als größerer Hersteller bekundeten die Mücke-Melder-Werke in der Tschechoslowakei 1937 Interesse an der Lizenz für das Verfahren zur Einflechtung bei Stahlrohrstühlen, doch entwickelte sich aus dieser vielversprechenden Firmenverhandlung letztendlich keine Zusammenarbeit.28 Die in Amsterdam ansässige Firma Metz & Co. nahm aus zahlreichen vom Atelier vorgeschlagenen Entwürfen lediglich zwei Tische in ihr Sortiment auf (WV D-6). Folgerichtig stellte Leopoldine Schrom rückblickend fest, dass in Bezug auf die serielle Produktion von Möbeln „der Durchbruch […] eindeutig Bruno Pollak gelungen“ sei, und nicht Franz Singer.29

Zuschreibungsfragen

Federführend beim Möbelentwurf war Franz Singer, der in technischer Hinsicht durch die Mitarbeiter*innen Hans Biel, Leopoldine Schrom, Anna Szabó und Bruno Pollak unterstützt wurde, wobei Schrom es nicht unterließ, berechtigte Kritik an Entwürfen ihres Chefs zu äußern: „[…] die Verwendung von Dreh- und Schiebebetten für die Pal[ästina]-Siedlungen […] und die ganz großen Kosten für [die] eigens dazu angefertigten Möbeln (Einbausachen bekanntlich immer teurer als freistehende) ist für diesen Fall meiner Meinung nach unangebracht. […] Warum denn auf der ganzen Linie die Betten gschamig verstecken?“30 (WV 157). Für Dicker lassen sich die Stoffentwürfe der frühen Möbel und die Gurtbespannungen nachweisen. Dass sie auch am Möbelentwurf beteiligt war, ist naheliegend, sind doch die Konstruktion und der Bezug der Möbel eng aufeinander abgestimmt. Dicker richtete bereits 1925 mit ihrer Freundin Martha Hauska-Döberl ein Atelier in der Wasserburgergasse 2 ein, in dem sie zwei Webstühle aufstellte und zunächst Handtaschen im Auftrag von Singers Schwester Frieda Stoerk anfertigte. Dickers Mitarbeiterin erinnert sich in Vorbereitung der 1970 gezeigten Ausstellung Friedl Dicker, Franz Singer im Bauhaus-Archiv Darmstadt: „Er [Singer] […] kam aber fast täglich mit meist nachts ausgedachten Plänen und Neuigkeiten, die er sowohl, d. h. zuerst mit Friedl und dann mit den anderen Mitarbeitern durchsprach; dann arbeitete jeder an seiner Wohnung. […] Die Zusammenarbeit der beiden war sehr eng, jede neue Idee des einen fand beim andern seine Fortsetzung und es ist schwer zu sagen, wie die Arbeit zwischen ihnen aufgeteilt war. Grob gesagt, hat Franz S. vielleicht das Grundkonzept gegeben und technische Lösungen gefunden und Friedl hat für die Schönheit gesorgt. Sie hat Stoffe besorgt, ausgesucht, gewebt, sie hat die Farbgebung entscheidend beeinflußt, aber auch das ging eben Hand in Hand und entwickelte sich manchmal auch in schöpferischem Streit.“31 Die durch zahlreiche Mitarbeiter*innen unterstützte Arbeit im Atelier ist demzufolge im projektbezogenen Arbeitsverbund geschehen. Die Entwürfe können als Werk eines kreativen, innovativen Teams verstanden werden. Gleichwohl ist festzuhalten, dass Franz Singer die Entwürfe stets unter seinem Namen veröffentlichte.

Die zeichnerische Darstellung der Raumgestaltungen mithilfe isometrischer Axonometrien, die Multifunktionalität und die Tendenz zur Typisierung der Möbel, die Verwendung von geometrischen Formen und Materialien wie Stahlrohr und Sperrholz sowie die Farbgestaltung weisen Dickers und Singers explizite Bezüge zum Bauhaus nach. Gleichzeitig sind dies Themen einer breiten Architekturavantgarde, mit denen sich auch das Wiener Umfeld beschäftigte. Während Josef Frank Stahlrohr als kaltes Material des Maschinenzeitalters vehement ablehnte und sich über die Platzverschwendung der Stahlrohrmöbel beschwerte, verfolgten Dicker und Singer auch für Stahlrohrmöbel die Prinzipien platzsparender und modularer Funktionen.32 Im Wien der 1920/1930er Jahre stellen ihre Entwürfe ein einzigartiges Moment dar – ihr spezifisches „Wohnprinzip“.

1 Hans Hollein: Mobili nel Museo. Exhibition in Vienna, in: Domus (1967) 448, S. 24–28. 2 Vgl. Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Hochschule für angewandte Kunst in Wien), Wien 1988. 3 Singer sollte eines der Häuser von André Lurçat einrichten. Vgl. Brief Franz Singer an den Österreichischen Werkbund, 17.12.1931, Archiv Georg Schrom (künftig AGS); Briefkorrespondenz zwischen Singer und Österreichischem Werkbund im Zeitraum 13.12.1929 bis 17.12.1931, AGS. Der stapelbare Stuhl von Dickers und Singers Mitarbeiter Bruno Pollak gehörte hingegen zur Einrichtung von Ilse Bernheimer in Haus 15 und der von Ernst Lichtblau in Haus 22 der Wiener Werkbundsiedlung. Vgl. Andreas Nierhaus, Eva-Maria Orosz (Hg.): Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des neuen Wohnens (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2012, S. 137, 149. 4 Vgl. Brief Franz Singer an Paul Singer, 25.4.1934, AGS. 5 Vgl. Brief Österreichischer Werkbund an Franz Singer, 9.1931, AGS. 6 Der Fotobestand zu Franz Singer im Bauhaus-Archiv Berlin umfasst nahezu 4.000 Abzüge. 7 Vgl. WV 41 in diesem Band; Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien 2021, S. 319–334. 8 o. A.: Frauenwelt. Die Frau und die neue Wohnung. Der Zweck der Farbe, in: Kleine Volks-Zeitung, 24.1.1931, S. 12. 9 o. A.: Das moderne Wohnprinzip: Ökonomie der Zeit, des Raumes, des Geldes und der Nerven, in: Kölner Tageblatt, 29./30.8.1931, o. S. 10 Ebd. 11 Franz Singer: Verzeichnis der von mir geleisteten Arbeiten, in: Ansuchen um Verleihung der Befugnis eines Architekten, 31.7.1937, OeStA/AdR HBbBuT BMfHuV Allg Reihe PTech Singer Franz Karl 8.2.1896 GZl. 71537/1937 Singer, Franz Karl, 8.2.1896, 1919–1938 (Akt (Sammelakt, Grundzl., Konvolut, Dossier, File)). 12 Im Vortrag „Der Wille zum Stil“, den van Doesburg am 3.4.1922 in Weimar hielt, zeigte er in Lichtbildern Arbeiten seiner niederländischen Kollegen, darunter auch den Lehnstuhl von Rietveld. Vgl. RKD Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis, Den Haag, Archiv von Theo und Nelly van Doesburg, Manuskript des 1922 in Weimar gehaltenen Vortrags „Der Wille zum Stil“, Inv.-Nr. 0408-340; van Doesburg veröffentlichte diesen Vortrag. Vgl. Theo van Doesburg: Der Wille zum Stil. Neugestaltung von Leben, Kunst und Technik (Schluß), in: De Stijl (1922) 3, S. 33–41. 13 RKD Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis, Den Haag, Archiv von Theo und Nelly van Doesburg, Teilnehmerlisten des „Stijl-Kursus“ März–Juli 1922, Inv.-Nr. 0408–1217. 14 Wulf Herzogenrath: Theo van Doesburg und das Bauhaus, in: Rolf Bothe u. a. (Hg.): Das frühe Bauhaus und Johannes Itten, Katalogbuch anlässlich des 75. Gründungsjubiläums des Staatlichen Bauhauses in Weimar (Ausstellungskatalog Kunstsammlungen zu Weimar, Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung Berlin, Kunstmuseum Bern), Ostfildern-Ruit 1994, S. 114. 15 Vgl. Magdalena Droste: Anpassung und Eigensinn. Die Webereiwerkstatt des Bauhauses, in: Das Bauhaus webt (Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv Berlin u. a.), Berlin 1998, S. 11–20, hier S. 12. 16 Liste Prof. Hartmann & Co., um 1929, AGS. 17 Die Adaptierung von Möbeln ist auch für andere Projekte belegt, siehe WV 17 und WV 68 in diesem Band. 18 Liste Prof. Hartmann & Co., um 1929, AGS. 19 Vgl. Rainer K. Wick: Die Wiener Kunstgewerbeschule und die Wiener Werkstätte – Ein Bauhaus vor dem Bauhaus?, in: Josef Linschinger (Hg.): Perspektiven neuer Kunst, Gmunden 1994, S. 7–27, hier S. 22. 20 Weitere Beispiele siehe: Hövelmann 2021 (wie Anm. 7), S. 210–216. 21 Siehe dazu: o. A.: New furniture for old, in: The Evening Standard, 1.3.1934, S. 24. 22 o. A.: Das moderne Wohnprinzip 1931 (wie Anm. 9). 23 Genauere Beschreibungen der Möbel siehe: Hövelmann 2021 (wie Anm. 7), S. 221–227. 24 o. A.: Das moderne Wohnprinzip 1931 (wie Anm. 9). 25 Siehe dazu den Beitrag von Eva-Maria Orosz in diesem Band. 26 1934 erwarb die britische Firma Practical Equipment Ltd. (PEL) das Patent, um den Stuhl zu produzieren. Siehe: Dennis Sharp u. a.: Pel and Tubular Steel Furniture of the Thirties, London 1977, S. 24–25. 27 Ernst Bruckmüller (Hg.): Österreich-Lexikon, Bd.1, Wien 2004, S. 225, Stichwort: Čižek, Franz. 28 Vgl. Hövelmann 2021 (wie Anm. 7), S. 252–253. 29 Brief Leopoldine Schrom an Anna Szabó, 2.3.1972, AGS. Seit 2020 ist Pollaks Stuhl in einer Re-Edition von Jasper Morrison beim Möbel-Label TYP wieder erhältlich. 30 Brief Leopoldine Schrom an Friedl Dicker, 4.3.1935, AGS. 31 Brief Martha Hauska-Döberl an Margit Téry-Buschmann, 14.9.1969, in: Bauhaus-Archiv Berlin, Ordner Dicker/Singer Ausstellung 1970. 32 Vgl. Josef Frank: Rum och inredning, Form (1934) 10, S. 217–225. Übersetzung ins Deutsche: Tano Bojankin; Christopher Long, Iris Meder (Hg.): Josef Frank. Schriften, Bd. 2, Veröffentlichte Schriften von 1931 bis 1965, Wien 2012, S. 388–305, hier: S. 302.

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