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Architektur als Bühne Die Laboratorien von Friedl Dicker und Franz Singer

Georg Schrom

„Den Schlüsselaufenthalt kennt der Umbehr“1, schreibt Friedl Dicker im Juli 1923 an ihre Jugendfreundin und Studienkollegin am Bauhaus, Anny Wottitz. Gemeint ist der Schlüssel für die im Juni 1923 gegründete Werkstätten bildender Kunst GmbH in der Fehlerstraße 1, Berlin-Friedenau, Geschäftsführung: Franz Singer. Nachdem sie im Konflikt mit Walter Gropius das Bauhaus in Weimar verlassen haben, beabsichtigen Dicker und Singer die Realisierung von Architektur- und Theaterprojekten sowie den Aufbau einer kunsthandwerklichen Produktion und eines Verlags, wie Franz Singer in einem Brief dem Regisseur Berthold Viertel mitteilt.2 In den einzelnen Laboratorien beginnt ein Team von Freunden und Kollegen vom Bauhaus und aus Wien mit der Produktion von Stoff- und Webarbeiten, Handtaschen, Druckwerken, Schmuck und Kinderspielzeug sowie mit Buchbindearbeit und Fotografie. Gleichzeitig mit den Werkstätten gründet Berthold Viertel mit dem Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor Dr. Reinhard Bruck als Geschäftsführer und den Schauspielern Ernst Josef Aufricht und Fritz Kortner das genossenschaftlich organisierte avantgardistische Ensembletheater Die Truppe. Mitfinanziert wird die Truppe vom Wiener Kunsthistoriker Ludwig Münz, von der Textilfirma S. Katzau aus NáchodBabí, geleitet von Hans und Hugo Moller, dem Geschäftsmann Richard Weininger (dem Bruder Otto Weiningers) und später – erstaunlicherweise – von Karl Kraus. Dem Brief an Anny Wottitz ist weiter zu entnehmen, dass Dicker und Singer zu dieser Zeit in der Berliner Wohnung des Schauspielers Fritz Kortner wohnen.

Bühnenbilder

Viertel hatte Dicker und Singer bereits 1921 mit den Bühnenbild- und Kostümentwürfen für seine Inszenierung der Stücke Haidebraut und Erwachen von August Stramm beauftragt (WV 2). Schon in diesen frühen Arbeiten erkennt man den Einfluss des expressionistischen Theaters, der Bühnenarbeiten von Lothar Schreyer und Oskar Schlemmer am Bauhaus sowie der abstrakten Bühnensynthese Wassily Kandinskys.3 Die spätere Formensprache der Architekturprojekte Dickers und Singers findet hier Ausdruck: Podeste und Treppen, starke Farbigkeit, exakte Lichtregie, auch das Automobil – die Maschine – hält Einzug in das Bühnenwerk. Betrachtet man die Entwürfe und zitiert eine Textpassage aus der Haidebraut, so ist nachvollziehbar, dass die Aufführungen bei Publikum und Kritik geteilte Reaktionen hervorriefen:

Ein Automobil hält keuchend in der Ferne. LASZLO. ... Hörst du ... es rattert ... toll ... rrrrrrrr ... die Menschen dort ... sie haben nicht Morgen und Mittag und Abend nicht ... wenn die Sonne zeigt ... sie kennen einander nicht ... wild ... durcheinander ...4

Für das zweite Stück des Abends, Erwachen, entwerfen Singer und Dicker ein Bühnenbild in zwei Ebenen, die durch eine Treppe verbunden sind – die Treppe wird auch in den späteren Arbeiten ein zentrales Element sein. In der Eröffnungsszene ist nur das obere Geschoß ausgeleuchtet, erst in den nachfolgenden Bildern erkennt das Publikum das gesamte Bühnenbild (Abb. S. 52). Felix Zimmermann beschreibt in der Frühausgabe der Dresdner Nachrichten den Theaterabend: „Aber Viertel hat mit einer Arbeit, die vollste Hochachtung verdient und seine Eignung für diese Künste unzweifelhaft macht, etwas von Bedeutung geschaffen. Die strahlende Farbenschönheit des ersten Stückes, die hochgebaute Szene des zweiten mit Blick in die Unterbühne, mit technischen Kunststücken und Feuerzauber, mit einem Hexensabbath von Massenregie waren

Bruno Pollak (?) im Atelier, um 1929, AGS Blick in das Atelier, links stehend Leopoldine Schrom, um 1930, AGS

Die Atelier-Mitarbeiter*innen Bruno Pollak (?), Anna Szabó und Leopoldine Schrom, um 1929, AGS Leopoldine Schrom und Anna Szabó, um 1935, AGS

Leopoldine Schrom, um 1930, AGS

Franz Singer mit Martha Hauska-Döberl (?), um 1930/31, AGS

Szenenbilder Erwachen, 1921, Deckfarbe auf Papier, 25,5×25,5 / 33×28 cm, V&A

durchaus etwas Neues und trotz seiner Wildheit und seinem Lärm etwas Kunstvolles. Nur ob Zweck und Mittel im angemessenen Verhältnis standen, ist die Frage.“5

Entfesseltes Theater

Bereits im Oktober 1922 schreibt Friedl Dicker an Anny Wottitz: „Ich habe das Moskauer Theater gesehen und viel werd ich Dir erzählen können von allen Herrlichkeiten.“6 Aus den Arbeiten von 1923 lässt sich erkennen, dass neben dem Einfluss der Bauhauslehre das Künstlerduo von den russischen Konstruktivisten inspiriert wird, dass es vertraut ist mit Alexander Tairoffs „entfesseltem Theater“, mit den Arbeiten Wsewolod Meyerholds und dem Moskauer Akademischen Künstlertheater MChAT. 7 „Der Klarheit der Konstruktionen und ihren multiplen Funktionen entsprechen ihre grundlegenden Charakteristika: Einfachheit, Sparsamkeit, Zweckdienlichkeit. Sie kombinieren die kühnen Formen und Farben des Konstruktivismus mit der emphatischen Bildsprache der Maschinenwelt.“8 Die enge Verknüpfung mit der Truppe erkennt man auch daran, dass Viertels Geschäftsführer Reinhard Bruck neben den Werkstätten in der Fehlerstraße im Auftrag von Singer ein Objekt in Kalkberge am Stolp östlich von Berlin anmietet. Es ist beabsichtigt, in diesem Objekt Bühnenbauten zu produzieren und einen Malersaal einzurichten. Auch Franz Singer unterstützt das Theaterensemble: So bestätigt Bruck am 8. August 1923, für „Die Truppe – Theater & Film G.m.b.H.“ 90 Millionen Mark von Franz Singer erhalten zu haben – ein in den Jahren der Hyperinflation gewagtes Unternehmen. Die erste Aufführung der Truppe ist Shakespeares Kaufmann von Venedig am 12. September 1923 im Lustspielhaus Berlin (WV 9). Salka Viertel erinnert sich: „Kortner trat in der ersten Kostümprobe in einer schwarzen Tonne auf, die nur die Unterarme frei ließ. Nach den ersten Sätzen zerfetzte er zu meiner Genugtuung seine Zwangsjacke und zog ein eigenes Kostüm an. Niemand verbot ihm die stilwidrige Eigenmächtigkeit, um die Premiere nicht zu gefährden.“9 In den Zeitungskritiken wird das Bauhaus nicht erwähnt – Dickers und Singers Arbeiten werden in Beziehung zum russischen Theater gesetzt: „Mindestens ebenso sehr Tschelitscheff oder Tairoff; nur weniger artistisch und aus zweiter Hand. Will sagen: eine betonte neurussische Ausstattung,

von den Moskowiter-Zöglingen Franz Singer und Frieda Dicker geliefert, überwucherte mit ihrem Firlefanz die Dichtung.“10 Auch der Kritiker Monty Jacobs bezeichnet sie als Epigonen und zieht Vergleiche mit dem russischen Maler und Bühnenbildner Pavel Tchelitchew und den Kostümen der ukrainischen Malerin Alexandra Exter: „Schwankend fuhr sein Schiff im Schlepptau der jüngsten Russen [...]. Aber selbst wenn all diese Armwülste und Kopfröhren, diese Zelluloidgürtel und hölzernen Hutfedern in der Sicherheit der Farbe dem russischen Muster glichen – die Truppe wüsste sie nicht zu tragen [...]. Lothar Müthels ritterlicher Bassanio war der einzige, der sich in Ehren mit dem Omelett auf seinem Kopf abzufinden wußte.“11 Obwohl Viertel sich selbst als „utopischen Sozialisten“ sieht, bezeichnet ihn Friedl Dicker als „nicht so revolutionär in seinem Fach, wie man sich wünscht“.12 Jedoch zeigen seine Inszenierungen, dass er nicht vor Provokationen und Skandalen zurückschreckt – nach dem Abgang Dickers und Singers beauftragt er George Grosz und Friedrich Kiesler mit der Gestaltung weiterer Bühnenbilder. Singer ist zu dieser Zeit zwischen Weimar, Wien und Berlin unterwegs und kümmert sich um die geschäftlich-organisatorischen Belange. Er versucht noch 1924, seine Investitionen in Die Truppe zurückzuerhalten, bekommt sie aber vermutlich nie zurück. Viertels Truppe erleidet bereits nach acht Monaten, am 31. März 1924, Schiffbruch. Karl Kraus ist hartnäckiger: Die letzte Rate überweist der Filmregisseur Fred Zinnemann – im Jahr 1930 noch Viertels Sekretär bei den Fox Studios in Hollywood – an Anwalt Dr. Oskar Samek, um Viertels Schulden bei Kraus zu tilgen.13 Dickers und Singers Theaterkarriere endet 1924 – die Figurinen zum Kaufmann von Venedig werden im Herbst desselben Jahres in Friedrich Kieslers Theatertechnik-Ausstellung im Konzerthaus in Wien gezeigt.

Rückkehr nach Wien

Da sich das ursprüngliche Werkstätten-Konzept in Berlin zu einem Unternehmen mit vielen Mitarbeitern entwickelt, werden die Honorare nicht mehr finanzierbar. Friedl Dicker kehrt nach Wien zurück und eröffnet ihr Atelier – mit Martha Hauska als erster Mitarbeiterin – in der Wasserburgergasse 2 im 9. Bezirk. Nach der geschäftlichen Auflösung der Werkstätten in Berlin folgt ihr Franz Singer im selben Jahr in ihr Atelier nach. Er wird wie bereits in Berlin der Kopf und Organisator des Ateliers, wobei der Einfluss Dickers im Entwurfsprozess, auf Materialität und Farbgestaltung entscheidend ist. Ihre langjährige Freundin Anny Wottitz heiratet 1924 den Textilindustriellen

Hans Biel, Klapptisch, 1935, Holz, 62×85×60,5 cm, AGS

Hans Moller, der Singer-Dicker und Die Truppe bereits früher finanziert hat. Das Ehepaar Moller und Hans Mollers Eltern Hugo und Alice werden die ersten Auftraggeber für architektonische Arbeiten in Wien. Um 1926/27 beginnt Bruno Pollak, Architekturstudent an der Technischen Hochschule, seine Tätigkeit im Atelier. Vereinbart ist, dass er für das Atelier die technischen Zeichnungen ausarbeitet, aber nebenbei auch seine eigenen Projekte verfolgen kann. In der Zeit von 1926 bis 1934 erhält das Atelier zahlreiche Aufträge und beschäftigt eine Vielzahl von Personen – die meisten Architekturstudenten von der „Technik“. Jacques Groag arbeitet 1927/28 die Pläne für den Tennisclub von Hans und Grete Heller aus, bevor er zu Adolf Loos überwechselt und die Planung und Bauleitung für das Haus Moller von Anny und Hans Moller in der Starkfriedgasse in Wien übernimmt. Im Jänner 1928 beginnt die ungarische Architekturstudentin Anna Szabó ihre Tätigkeit, im Sommer 1929 empfiehlt sie ihre Studienkollegin Leopoldine „Poldi“ Schrom als technische Zeichnerin für das Atelier. Diese drückt in einem Brief an ihre Tante, die Schauspielerin Leopoldine Schröder-Schrom, ihre anfängliche Unzufriedenheit aus: Bruno Pollak beschreibt sie als „sehr tüchtig, so [eine] Art Vizechef“, der sich aber mehr um seine eigene Arbeit kümmere. „Das Ganze ist eine mit künstlerischer Ambition hochgehaltene Schlamperei. Der Chef selbst sehr ordnungsliebend, gondelt aber nach dem Tod seines Kindes in der Welt herum + ordnet nur schriftlich an. Eine unmögliche Sache, zumal die Compagnonin von ihm von Technik nichts versteht. Dazu sind alle Mitarbeitenden (Angestellten) Collegen + Colleginnen von der Technik schlampert + ziemlich arbeitsunfroh. Ist die Chefin weg, wird überhaupt nix gearbeitet. Die Chefin verlasst sich nur auf mich – aber ich pfeife darauf.“ Mit der „Compagnonin“, der „Chefin“ ist Friedl Dicker gemeint, woraus sich schließen lässt, dass diese zu der Zeit eine gleichberechtigte, mitentscheidende Rolle im Atelier innehatte. Leopoldine Schrom wurde trotz ihrer anfänglichen

Unzufriedenheit die am längsten dienende Mitarbeiterin des Ateliers. Über die Tätigkeit von Josef Seibelt (bis 1929) und Willi Winternitz (1929–1931), der später vermutlich nach Südamerika emigrierte, ist wenig bekannt. Sämtliche Mitarbeiter gingen nebenbei ihren eigenen Aufträgen nach und nutzten die Ressourcen des Ateliers, das für sie zum Sprungbrett in die Selbstständigkeit wurde.

Politische Arbeit

Ab 1930 widmet sich Friedl Dicker neben der Arbeit im Atelier vermehrt neuen Tätigkeiten. Sie beendet ihre Arbeit für die Weberei Pausa in Stuttgart, beginnt kunstpädagogischen Unterricht zu erteilen und ist in Aktivitäten der kommunistischen Partei involviert. In der Gemeinschaft mit ihren Studienkollegen Margit Téry-Buschmann und Max Bronstein entsteht ein politischer Filmstrip, der das Kapital von Karl Marx illustriert (Abb. S. 53). Am 23. Jänner sowie am 8. April 1931 hält Dicker auf Einladung von Architekt Ernst Lichtblau in der Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene – BEST im Karl-Marx-Hof Vorträge zu den Themen „Die Farbe in der Wohnung“ und „Farbe und Material als Wohnungsschmuck“.14 Im November 1931 wird sie festgenommen und angeklagt, gefälschte Pässe aufbewahrt zu haben.15 In der Gerichtsverhandlung vom 22./23. März 1932 wird Dicker zu drei Monaten Kerker verurteilt.16 Sie tritt die Haft im September desselben Jahres an und wird nach 16 Tagen wieder entlassen. Im Juni 1933 emigriert sie in die Tschechoslowakei und heiratet 1936 ihren Cousin Pavel Brandeis in Prag – der Kontakt zu Franz Singer und den Wiener Kollegen bleibt aber in regem Briefverkehr bestehen.

Das Wiener Atelier

Um 1930 beginnt Hans Biel seine Tätigkeit im Atelier, arbeitet die Baustatik und den Stahlbau für das Gästehaus Hériot aus und übernimmt mit Szabó und Schrom die örtliche Bauleitung. Auch Biel arbeitet nebenbei an seinen eigenen Projekten (Abb. S. 54), bis er 1938 nach London emigriert, wo er seine Zusammenarbeit mit Franz Singer fortsetzt. Die behördlichen Einreichpläne für das Atelier verfasst Ing. Otto Frühwald. Im Gegensatz zu den teils luxuriösen Projekten des Ateliers arbeitet der aus Bratislava stammende Architekt Ladislaus FoltynFussmann in der Zeit von Mai 1933 bis Juni 1934 das Sozialprojekt Möbelhilfe für das Atelier aus.17 Weitere Mitarbeiter sind um 1931 Paul Fuchs, von 1933 bis 1934 Bruno Eliahu Friedjung, der später nach Haifa emigriert, sowie der 1934 aus Berlin geflüchtete Bühnenbildner Wolfgang Roth, der 1935 über Zürich nach New York emigriert und danach erfolgreich für die Opernhäuser in Dallas und New York tätig ist. In den Jahren 1935–1937 sind außerdem Jenny Pillat, Irma Stadler und Poldi Schroms Cousin Richard Erdoes im Atelier tätig. Poldi Schrom wird ab 1929 zunehmend zur ‚Allrounderin‘ des Ateliers. Sie tüftelt Konstruktionsdetails aus, verfasst Detailpläne, kümmert sich um die Funktionalität der wandelbaren Möbel und die Ausführung durch Tischler, Schlosser und Tapezierer und hält Kontakt mit den Bauherren. So wie ihre Kollegen startet sie 1935 den Weg in die Selbstständigkeit und übernimmt das Atelier der nach Palästina ausgewanderten Architekten Josef Berger & Martin Ziegler in der Lerchenfelder Straße 54 im 8. Bezirk, bleibt aber weiterhin für Franz Singer tätig. Anna Szabó ist ab 1934 ebenfalls selbstständig und richtet unter anderem zwei Wohnungen für die Schwestern von Alfred Polgar ein, hilft aber weiter im Atelier mit. Poldi Schrom berichtet Singer, der 1934 seinen Wohnsitz nach London verlegt hat, regelmäßig über die Vorgänge in Wien, über die finanzielle Schieflage des Ateliers und über Vorkommnisse bei den einzelnen Projekten.

Prag

Friedl Dicker trifft sich in Prag mit politischen Emigranten in der Buchhandlung Schwarze Rose von Lizzy Deutsch und lernt Hilde Angelini geb. Kothny kennen, mit der sie bis zu ihrer Deportation in enger Freundschaft verbunden bleibt. In den Briefen an das Atelier, an Hilde Angelini und Anny Moller erwähnt Friedl Dicker zunächst keine architektonischen Arbeiten, vielmehr gilt ihr Interesse etwa dem Buch Plastische Arbeiten Blinder ihres Mentors Ludwig Münz und des Psychoanalytikers Viktor Löwenfeld.18 Sie arbeitet mit den Architektinnen Karola Bloch, der Bauhäuslerin und Frau des Philosophen Ernst Bloch, und Margarete Bauer-Fröhlich. Die in der Cooper Hewitt Collection erhaltenen Zeichnungen zeigen, wie stark Bauer-Fröhlich in ihren Entwürfen von Dicker und Singer beeinflusst war. Seit ihrer Jugendzeit waren Singer und Dicker mit den späteren Analytikern Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel befreundet, der Analytiker Eduard Kronengold wurde ihr Auftraggeber. Bernfeld schreibt noch 1934 an Singer, er solle ihn im Viertel‘schen Haus am Grundlsee besuchen. In Prag beginnt Dicker mit einer Analyse bei Annie Reich.19 In einem Brief an das Atelier vom 12. Juni 1934 schreibt sie: „Was macht das Atelier (mit Ausnahme von N. [Anna Szabó, G. S.] von ihr möchte ich solange sie nicht analysiert ist nichts hören)“.

Villa Neumann, Farbskizze für das Herrenzimmer, 1930, Bleistift und Deckfarbe auf Transparentpapier, 28,5×40 cm, AGS

Anna Szabós zeichnerisches Talent war unbestritten – zahlreiche der heute erhaltenen farbigen Perspektiven und Axonometrien wurden von ihr angefertigt. Aufgrund ihres energischen Temperaments vermochte sie sich zum Beispiel auf der Hériot-Baustelle durchzusetzen. So gibt es die Anekdote, dass sie dem Tischlermeister – wie Poldi Schrom an Singer in London berichtet, „sicherlich nicht mit leisem Stimmchen“ – verbot, den Lehrling „abzuwatschen“, da er einen Politurballen auf einer frisch politierten Platte zurückgelassen hatte. Als König Alfons XIII. von Spanien 1934 das Gästehaus besuchte, warnte sie die Handwerker vor und wurde belächelt. Als der König dann auftauchte, „schlotterten ihre Knie“. König Alfons XIII. wurde damals vom Fotografen Robert Haas abgelichtet, der mit dem Atelier befreundet war.20

Radical Chic in Liberec

Die architektonischen Arbeiten für das Ehepaar Dr. Franz und Grete Neumann (WV 58, WV 169) gehören zu den umfangreichsten Projekten des Ateliers in dessen Wirkungszeitraum von 1929 bis 1939. Die Beauftragung des avantgardistischen, links stehenden Architektenduos durch die ästhetisch radikalen Neumanns kann als exemplarisch für das Werk des Ateliers betrachtet werden.21 Die Neugestaltung der Villa Neumann stellt auch die Wende von den frühen, phantasievollexpressionistischen Einrichtungen hin zu einem stärker sachlich-technischen Stil des Ateliers dar. Bei den Umbauarbeiten in der im Jahr 1905 errichteten Villa in Reichenberg (Liberec) wird durch den Abbruch zahlreicher Zwischenwände der starre Grundriss aufgelöst; der Einbau von Schiebe-, Falt- und Harmonikatüren ermöglicht variable, bühnenbildähnliche Raumverwandlungen. Die Stiegenhaus-Galerie, das Speisezimmer und die Halle sind um eine Stahlsäule – als zentrales statisches Element– gruppiert. Friedl Dicker fertigt detaillierte Farbabwicklungen für die einzelnen Bereiche der Villa an, wobei auf einer Skizze zur Halle festgehalten ist: „zu entscheiden v. Franz Singer“. Die Kunsthistorikerin und Journalistin Amelia Levetus, die mehrfach zu den Arbeiten Franz Singers publiziert hat, verfasste einen Artikel mit detaillierten Raum- und Farbbeschreibungen, der 1935 in gekürzter Form im Studio veröffentlicht wird: „Nothing has been left out of consideration. These

Villa Neumann, Farbskizze für die Küche, 1930, Bleistift und Deckfarbe auf Transparentpapier, 22,5×33 cm, AGS

attributes and a mastery in technicalities accompanied by clear-headed conception, warm temperament and vivid imagination have rendered these homes most dwellable.“22 Das Atelier entwickelt eine eigene Stahlrohrsessel-Type, die aber nicht umgesetzt wird, und entwirft das Beleuchtungskonzept. Die Arbeiten und Ergänzungen werden in den darauf folgenden Jahren fortgesetzt, so entwirft Schrom 1934 einen „Grammophontisch“ für Grete Neumann. 1936 beauftragt das Ehepaar Franz und Grete Neumann Franz Singer, den Transfer des Mobiliars aus der Villa in Reichenberg in ihre neue Wohnung in Prag, Hanspaulce 3, zu planen (WV 169). Friedl Dicker und Grete Bauer-Fröhlich betreuen das Projekt in der Tschechoslowakei, Poldi Schrom arbeitet in Wien die Pläne aus. Aufgrund des Planungsaufwands in Prag und Wien – die Details der Umbauarbeiten werden mit einem ähnlichen Aufwand geplant wie die Reichenberger Villa – und der Kosten für die Reisen Singers und Schroms nach Prag und Reichenberg zu Besprechungen – wird das Baubudget der Familie Neumann erheblich belastet, was zu Verstimmungen mit Grete Bauer-Fröhlich und Friedl Dicker führt. Dennoch bleibt Franz Neumann in der Korrespondenz stets höflich und

Stahlrohr-Type für die Villa Neumann, 1930, Bleistift auf Transparentpapier, 127×92 cm (Detail), AGS

zuvorkommend. Franz Singer macht seinem Ärger Luft und schreibt an Grete Bauer-Fröhlich: „Sie machen mir nur Unannehmlichkeiten.“ Im September 1937 teilt Neumann Singer mit, dass die Wohnung „für den Laien“ fertig sei. Zur gleichen Zeit berichtet seine Frau nach Wien, dass Friedl in Paris sei, und weiter: „So sehe ich viele kleine Schweinereien, die mich stören.“ Am 24. April 1938 schreibt sie abermals nach Wien: „Wir müssen uns dies alles mit Ihnen allein machen, weil wir mit Fr. Fröhlich gänzlich außer Kontakt sind und Friedl trotz aller Bemühungen nicht einmal zu einer Aussprache bereit ist, die die […] Voreingenommenheiten hätte beseitigen sollen.“ Im Jahr 1939 – die politische Situation hat sich zugespitzt – überlegt das Ehepaar Neumann, die Einrichtung der Wohnung abermals, diesmal nach Pápa, Ungarn, zu übersiedeln. Die Korrespondenz endet mit Briefen von Franz Neumann am 11. Mai 1939 an Poldi Schrom in Wien und am 14. Mai an Anna Szabó in Budapest. In den Schreiben erklärt er, dass er diese Übersiedlung mit den beiden durchführen möchte, deutet aber auch Pläne zur Emigration an, welche Entscheidungen mit der Möblierung getroffen werden sollen und schreibt: „Beinahe muss ich sagen, dass Singermöbel kein Glück bringen!!“ Und: „Es schwebt auch die Idee, dass meine Mutter mit mir geht.“ Olga Neumann (geb. Haurowitz) wird bereits im Oktober 1942 in Treblinka ermordet, Franz und Grete Neumann gelingt die Flucht in die USA. Er verstirbt 1988 in Scarsdale, New York.

Vertreibung und Ermordung

Am 17. Dezember 1942 wird das Ehepaar DickerBrandeis, das sich in die ostböhmische Provinz zurückgezogen hat, nach Theresienstadt deportiert. Die Bekannte Wally Fischer schreibt: „[...] und Friedl Dicker-Brandeis sagte zum Abschied in Prag: ‚Ich kann nicht fort, ich könnte prinzipiell morgen nach Israel auswandern, aber Wally, ich habe eine Mission zu erfüllen, ich muss hier bleiben, was immer auch mir geschieht.‘ Und sie ist mit den Kindern in den Tod gegangen, nachdem sie vielen, vielen Kinder in dieses jämmerliche Leben ein bisschen Sonne und viel Liebe gebracht hat.“23 Dicker setzt in Theresienstadt ihre pädagogischen und künstlerischen Tätigkeiten fort. Sie erlangt posthume Berühmtheit für ihren Kinderzeichenunterricht, es entstehen aber auch Skizzen zur Herstellung einfacher Möbel, die an die Entwürfe des Projekts Jugend in Arbeit von 1933 (WV 117) erinnern, sowie Kostüm- und Bühnenbildentwürfe, zum Beispiel für ein Ballett für der aus Wien gebürtigen Tänzerin und Choreografin Kamila Rosenbaumová, die sich ebenfalls für die Kinder von Theresienstadt einsetzte. Friedl Dicker-Brandeis wird am 9. Oktober 1944 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Ab 1946 nehmen Franz Singer, Poldi Schrom und weitere Kollegen wieder Kontakt miteinander auf, auch wenn die ersten Briefe unmittelbar nach Kriegsende nicht ankommen. Am 12. Dezember 1946 schreibt Poldi Schrom an Singer: „Es verschwinden spurlos Menschen, ganze Waggons etc. – was ist da ein Brief!? Nusi [Anna Szabó, G. S.] lebt auch, das gehört bereits in die Kategorie ‚Wunder‘.“ Szabó konnte 1944 – versteckt auf einem Dachboden – den Judendeportationen nach Auschwitz entgehen und überlebte im Frühjahr 1945 die Häusergefechte zwischen der Sowjetarmee und der SS in Budapest. Weiters berichtet Schrom über die Schicksale von Freunden und Auftraggebern: „Erwin [Ratz, G. S.] ist in der Favoritenstraße 46. Hans Swarowsky24 ist auch dort. Lotte Eisler25 gibt im Jänner ein Konzert. [...] Robert Haas schrieb, es geht ihm sehr gut. Bernard Rudofsky ist Editor von Interiors, Vetter Richard26 hat sich auch gemacht, war jetzt in den kleinen Antillen zeichnen und photographieren. [...] Und Fritz Lederer27 ist tot. Er war für viele ein ruhiger Pol, so lange er da war. Die Tragik war sein Verwurzeltsein hier. Man kriegte ihn nicht raus.“ Schrom ist zu diesem Zeitpunkt bereits über Details der Transporte informiert: „Es waren damals 2 Transporte nach Riga unter Brunner II: Im ersten Mutter Schulhof, Richards Schwiegermutter, im zweiten Fritz.“ Dass das Atelier in gutem Kontakt mit den einzelnen Professionisten war, erkennt man daran, dass Poldi Schrom auch über ihre Schicksale berichtet: „Unsere Handwerker leben, bis auf Sonnenschein. [...] Von Strass hoffe ich, dass er nach England gekommen ist. Dittler ist nach der Befreiung nach einer Operation gestorben. Wejtasa lebt – [...] Julius Donner ist noch in Gefangenschaft – [...] Schlosser Gowal auch zurück, der Alte geblieben, lässt grüßen. [...] Denes lebt, Nusi traf ihn in Pest, aus dem Lager Belsen kommend.“ Über die ehemalige Ateliermitarbeiterin Irma Stadler berichtet Schrom: „Irma ist tot. Selbstmord. 10 Tage nach der Beendigung [des Krieges, G. S.]. Es war draußen in Villengegend sehr arg.“ Schrom erkundigt sich nach den architektonischen Arbeiten Singers in London und teilt ihm mit, dass sich reduziertes Aktenmaterial, alle Patentakten und diverse Möbel in verschiedenen Lagern erhalten haben. Einer ihrer ersten Aufträge nach dem Krieg ist die Einrichtung der Wohnung von Berthold und Elisabeth Neumann-Viertel, die aus Hollywood nach Wien zurückgekehrt sind, da Viertel ans Burgtheater berufen wurde. In der Wohnung in der Riemergasse und im Haus am Grundlsee werden einige der Singer-Möbel,

die den Krieg in Wien überstanden haben, eingesetzt. Franz Singer kehrt nicht mehr nach Österreich zurück. Die erste umfassende Schau zum Werk von Dicker und Singer fand 1970 in Darmstadt statt,28 gefolgt von der Wiener Ausstellung im „Anschluss“-Gedenkjahr 1988. Im Katalog schreibt Friedrich Achleitner: „So repräsentieren Dicker und Singer in einer von Blut- und Bodensehnsucht sich selbst überwältigenden Wiener Kultur, in einer nach Wende und Werten rufenden vaterländischen Kulturpolitik ein künstlerisches Prinzip der Ungebundenheit, Offenheit und Toleranz und – Symbol des Ganzen – der Mobilität.“29 Daher rührt auch ihre heutige Aktualität.

1 Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, Wien, Juli 1923, UAK, Inv.-Nr. 13.708. Otto Umbehr, genannt Umbo, Fotograf, ebenfalls Student bei Johannes Itten am Bauhaus. 2 Falls nicht anders angegeben, befinden sich die hier zitierten Briefe im Archiv Georg Schrom, Wien. 3 Wassily Kandinsky: Über die abstrakte Bühnensynthese, in: Staatliches Bauhaus in Weimar, Karl Nierendorf in Köln (Hg.): Staatliches Bauhaus Weimar 1919–1923, Weimar/München 1923, S. 142–144. 4 August Stramm: Das Werk. Hg. v. René Radrizzani, Wiesbaden 1963, S. 168. 5 Zit. n. Berthold Viertel: Schriften zum Theater, München 1970, S. 485. 6 Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, Berlin, Oktober 1922, UAK, Inv.-Nr. 13.705. Dicker bezieht sich vermutlich auf die Erste Russische Kunstausstellung, die 1922 in der Galerie van Diemen & Co. stattfand und in der auch Theaterprojekte zu sehen waren. 7 Vgl. Michaela Böhmig: Das russische Theater in Berlin 1919–1931, München 1990. 8 Klemens Gruber: Die polyfrontale Avantgarde, Wien 2020, S. 81–82. 9 Ernst Josef Aufricht: Erzähle damit du dein Recht erweist, Berlin 1966, S. 53–54. 10 Berliner Theater, in: Neue Zürcher Zeitung, 19. September 1923, Erstes Morgenblatt, Nr. 1273, http://horst-schroeder.com/krit19-33.htm#j23 (27.9.2022). 11 Vossische Zeitung, 13.9.1923, Abend-Ausgabe. 12 Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, Dresden, April 1921, UAK, Inv.-Nr. 12.883. 13 Brief Fred Zinnemann an Oskar Samek, 15.12.1930, Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 1545. 14 Kleine Volks-Zeitung, 24.1.1931, S. 12; Die Österreicherin. Zeitschrift für alle Interessen der Frau 4 (1931) 4, S. 2. 15 Der Abend, 5.11.1931, S. 7. 16 Der Abend, 24.3.1932, S. 11. 17 Fussmann studierte zuvor bei Oskar Strnad an der Kunstgewerbeschule und später am Bauhaus in Dessau. Nach dem Krieg ändert Ladislav Fussmann seinen Namen auf Foltyn und ist als Architekt und Fotograf, sowie als Professor für Architekturgeschichte an der Technischen Hochschule in Bratislava tätig. 18 Ludwig Münz, Viktor Löwenfeld: Plastische Arbeiten Blinder, Brünn 1934. 19 Annie Reich war die erste Frau von Wilhelm Reich. In ihrem Buch Psychoanalytic Contributions, New York 1973, ist Dickers Analyse unter dem Pseudonym „Frances“ publiziert. 20 Wien Museum, Inv.-Nr. 302.179/1 und 2. 21 Der von Tom Wolfe geprägte Ausdruck „radical chic“ verweist hier auf das Auftragsverhältnis zwischen einer meist wohlhabenden, fortschrittlich gesinnten Klientel und den links orientierten Avantgardearchitekten Dicker-Singer. 22 Manuskript, AGS. 23 Brief von Wally Fischer (Valerie Fischerová) an Raja SchwahnReichmann, um 1975. 24 Hans Swarowsky, Dirigent. 25 Charlotte Eisler, Sängerin, Mutter des Malers Georg Eisler, Schüler Friedl Dickers in Prag. 26 Richard Erdoes gelang die Flucht über Paris und London nach New York, wo er als Grafiker, Fotograf und Schriftsteller tätig war. 27 Fritz Lederer, Patentanwalt Singers, wurde am 6. Februar 1942 nach Riga deportiert. 28 Peter Wilberg-Vignau: Friedl Dicker, Franz Singer (Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv Darmstadt), Darmstadt 1970. 29 Friedrich Achleitner: … sondern der Zukunft, in: Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Hochschule für angewandte Kunst Wien), Wien 1988, S. 6.

Tierfiguren aus dem Prototyp des „Phantasus“-Baukastens, um 1924, AGS

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