20 minute read

Metropole trifft Provinz Die Wiener Itten-Schüler am Weimarer Bauhaus

Ute Ackermann

In Weimar

Schon vor der Bauhaus-Gründung im Frühjahr 1919 hatte innerhalb der „gemütlichen Kunstschule“1 in Weimar Aufbruchsstimmung geherrscht. Schüler forderten „den Ausbau der Hochschule zu einer Reformakademie[,] an der Malerei, Plastik, Architektur u. Kunstgewerbe Hand in Hand gehen“2. Insgesamt 46 Studierende hatten sich in der Freien Vereinigung organisiert. In der Stadt wurde kolportiert, dass sie Mitbestimmungsrechte „besonders bei der Anstellung und Absetzung von Lehrkräften“3 durchgesetzt hätten. Mit Beginn des ersten Bauhaus-Semesters im Mai 1919 waren diese Studierenden hoch motiviert, „jeden Einzelnen zur Mitarbeit zu gewinnen“4. Auf ihrer Agenda standen die „Verbreitung der Ziele des Bauhauses“ und „die Erweiterung der freien Vereinigung in veränderter Form“ zu einer Arbeitsgemeinschaft sämtlicher Studierender des Bauhauses Weimar.5 Gropius setzte auf ihre Initiative und ersuchte die in Weimar gut vernetzten Schülervertreter, „insbesondere der Verbreitung falscher und völlig irreführender Ansichten und Gerüchte in der Bürgerschaft und unter den Studierenden durch Aufklärung entgegenzuarbeiten“6. Die Schülerzeitschrift Der Austausch wurde zur Diskussionsplattform am jungen Bauhaus (Abb. S. 26). Einen ersten Höhepunkt der Aktivitäten stellte das Einführungsfest für Gropius am 5. Juni 1919 dar. Gropius’ programmatische Forderung an die Künstler, sich auf das Handwerk zurückzubesinnen, las man allerdings als Konzentration auf die handwerkliche Seite der einzelnen Gattungen, nicht aber als Absage an die Malerei als Lehrfach. Dies sollte sich im Verlauf der ersten Semester als eklatante Fehleinschätzung seitens der ehemaligen Hochschulprofessoren und einiger Schüler herausstellen. Im Sommersemester 1919 hatten von insgesamt 182 Schülern am Bauhaus bereits 153 an der Vorgängerschule studiert. Diese jungen Leute wollte Gropius nun für eine Bauhaus-Gemeinschaft gewinnen. Identitätsstiftend wirkten dabei die gemeinschaftlichen Aktivitäten zur Gründung der Bauhaus-Kantine, der Wettbewerb für das erste Bauhaus-Signet und die Planung einer Bauhaus-Siedlung. Nach einer euphorischen Anfangszeit enttäuschten die Ergebnisse der ersten Schülerausstellung den Bauhaus-Direktor: „Nicht ein Maler oder Bildhauer hat Kompositionsideen gebracht […].“7 Stattdessen hätten die Schüler „viele schöne Rahmen, prachtvolle Aufmachung, fertige Bilder“8 gezeigt. Es schien für Gropius an der Zeit, „Farbe [zu] bekennen, damit jeder eine klare Stellung zu mir und meinen Plänen findet“9. Das Ziel war hoch gesteckt: „Der Durchschnittspießer darf uns auf keinen Fall das Tempo angeben.“10 Doch keiner der beiden neu berufenen Meister Lyonel Feininger und Gerhard Marcks verfügte über ein pädagogisches Konzept oder Lehrerfahrung, um die im Bauhausprogramm formulierten Ziele mit Leben zu erfüllen.

In Wien

In Wien erlebte der Künstler Johannes Itten zur Jahreswende 1918/19 einen Höhepunkt in seiner pädagogischen Laufbahn. Sein ungewöhnlicher Zeichenunterricht wurde als so revolutionär wahrgenommen, dass Adolf Loos ihn 1919 in seinem Text Richtlinien für ein Kunstamt einer modernen künstlerischen Ausbildung zugrunde legte.11 Gropius, der sich stark für die Kunstschulreform interessierte, dürften diese Ausführungen kaum entgangen sein. Den „fabelhaften Kerl“12 Johannes Itten hatte Gropius im Haus seiner Frau Alma Mahler wohl im Sommer 1918 in Wien kennengelernt. Die erste Ausstellung von Schülerarbeiten aus der Itten-Schule im November 1918 war so erfolgreich, dass Itten daraufhin Lehraufträge angeboten wurden, die er jedoch ablehnte.13

Der Austausch. Veröffentlichungen der Studierenden am Staatlichen Bauhaus zu Weimar, Titelholzschnitt von Hans Groß, Buchdruck, 1919, Klassik Stiftung Weimar, Museen

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Walter Gropius diese Ausstellung gesehen hatte, als er gestand, dass er weder Ittens Bilder noch die seiner Schüler verstünde, Itten sich aber, wenn er Lust habe, nach Weimar zu kommen, eingeladen fühlen solle, am Bauhaus mitzutun.14 Im Unterschied zu den Wiener Angeboten hatte Gropius mit seiner Einladung an das Bauhaus Erfolg. Die Möglichkeit, 1916 von Stuttgart nach Wien zu wechseln und eine eigene Schule zu gründen, hatte Itten der Überzeugungs- und Finanzkraft seiner Schülerin Agathe Mark zu verdanken.15 (Abb. S. 27) Seine ersten Schüler*innen waren Marie Cyrenius, Richard Mark, der Bruder von Agathe, Anna Höllering, Margit Téry, Emmy Anbelang. Sie alle waren mit der jungen Gönnerin befreundet. Auch Franz Singer gehörte zu ihrem Kreis, denn Agathe hatte 1916 seinen Cousin, Moritz August Kornfeld, geheiratet.16 Spätestens ab 1917 war Singer dann auch mit Itten in Kontakt.17 Im Jahr 1919 hatte Itten bereits 20 Schüler. Viel wertvoller als das sicher eher bescheidene Einkommen, das er mit einem halben Tag Unterricht pro Woche erzielte, waren die Kontakte, die Itten in seiner Wiener Zeit knüpfen konnte. Durch seine gut vernetzten Schülerinnen und Schüler lernte er die wichtigsten Exponenten der Wiener Kunstszene kennen und kam mit dem Kreis um Genia Schwarzwald, eine engagierte Schulreformerin, in Kontakt. Im Schwarzwald’schen Salon verkehrten unter anderen Adolf Loos, Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Alma Mahler und Else Lasker-Schüler. Franz Singer lernte im Kreis um Genia Schwarzwald seine spätere Ehefrau, die Sängerin Emmy Heim, kennen. Einige von Ittens Schülern, darunter Friedl Dicker, Erwin Ratz, Viktor Schlichter, Alice Moller und Anny Wottitz, besuchten Schönbergs Kompositionskurse, die in den Räumen des Schwarzwald-Kreises stattfanden. Neben diesen Verbindungen lassen sich noch einige Schnittstellen zwischen den Itten-Schülern finden, die darauf verweisen, auf welchen Wegen sie in die private Kunstschule gefunden hatten. So gehörte Marie Cyrenius nicht nur zum engeren Freundeskreis von Agathe MarkKornfeld, sie hatte auch zugleich mit ihr an der Wiener Kunstgewerbeschule studiert. Über sie könnten weitere Kunstgewerbeschüler, so Friedl Dicker, Sofie Korner und Franz Schlichter, von Ittens Unterricht erfahren haben. Andere Schnittstellen ergeben sich aus dem Interesse an der Psychoanalyse, das der Freud-Schüler Milan Morgenstern mit einigen anderen Itten-Schülern teilte. Hier könnte wiederum der Salon Schwarzwald als Begegnungsort gedient haben, wo Vorträge zu diesem Thema stattfanden. Neben den engen, zum Teil verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb von Ittens Schülerschaft entstanden innige Freundschaften, wie jene zwischen Anny Wottitz und Friedl Dicker oder Carl Auböck, Walther Heller, Franz Probst und Anna Höllering, die ein Leben lang Bestand hatten.

Die Wiener kommen!

Sollte die Bauhaus-Idee Realität werden, war die Mitarbeit eines so innovativen und durchsetzungsstarken Pädagogen wie Itten für Gropius’ Vorhaben zwingend notwendig. Gropius warb heftig um ihn und zeigte sich zu Kompromissen bereit. Zunächst organisierte er für Johannes Itten das Tempelherrenhaus im Park an der Ilm als Atelier, in das sich dieser bei seinem ersten Besuch sofort verliebt hatte (Abb. S. 28). Da Itten sein Kommen davon abhängig machte, dass seine Wiener Schüler in Weimar mit Wohnraum versorgt würden, räumte Gropius den Studierenden ein, in den Arbeits-

Herrmann Gustav Brinkmann, Tempelherrenhaus, Stich, o. J., Klassik Stiftung Weimar, Museen

räumen wohnen zu dürfen.18 Nachdem Franz Singer die Lage auf dem Weimarer Wohnungsmarkt eruiert hatte, war Ende August für fast alle Itten-Schüler Wohnraum gefunden. Lediglich sechs Studierende, die über geringe finanzielle Mittel verfügten, sollten im Prellerhaus untergebracht werden, was unproblematisch zu bewerkstelligen war, aber bei den älteren Studierenden für Unmut sorgte.19 Gropius ersparte den Wiener BauhausAspiranten – wenn auch nach einigem Zögern – die sonst für die Aufnahme am Bauhaus zwingend notwendige Vorlage von Arbeiten.20 Mit 20 Wiener Schülern implementierte Itten seine Schule auch personell in die entstehende Institution Bauhaus und erreichte durch die Zugeständnisse seitens der Direktion eine Art Sonderstatus für diese starke Gruppe, was ihr Selbstverständnis ungemein stärkte. Bei der Realisierung des BauhausProgramms wirkte dies alles als Katalysator. Die Protokollsprache, in der der Inhalt der semestereröffnenden Sitzung vom Oktober 1919 wiedergegeben ist, macht mit einem unangenehmen Pragmatismus spürbar, was sich nun am Bauhaus ändern sollte. Auf Ittens Vorschlag hin wurde „beschlossen, von jetzt ab von jedem Studierenden ein grundsätzliches Probesemester zu verlangen, nach dessen Abschluß über die Verwendbarkeit der einzelnen Schüler vom Meisterrat Beschluß gefaßt wird“21. Hatte Gropius als Gründer des Bauhauses und Reformator der alten Akademie im ersten Semester die Sympathien der reformwilligen Studierenden gewinnen können, regierte Itten nun mit strenger Hand und unbestechlichem Blick über die Lehre am Bauhaus. Er vollzog, was Gropius nicht vermocht hatte. Zunächst bildeten die Protagonisten Gropius und Itten eine Doppelspitze, in der Itten gewissermaßen als Exekutive figurierte. Im „summenden und brodelnden“ Bauhaus feierte der Direktor, ihn gewonnen zu haben: „Das Bauhaus ist wie ein Bienenstock voll Summen und Brodeln. […] und ich bin froh, daß ich ihn mir errungen habe.“ 22 Itten beschrieb die Atmosphäre am Bauhaus im Wintersemester 1919/20 als „herrliches Arbeiten mit vielen begeisterten jungen Leuten“23 . Er erklärte: „Wer hier versagen wird, ist für mich als Künstler, als Schüler abgetan.“24 Dies galt in erster Linie für die Klasse des ehemaligen Hochschulprofessors Max Thedy, die sich weigerte, Ittens Maßnahmen zu folgen, und auf dem Arbeiten nach dem Modell bestand.25 Auch stilistisch gingen die Wiener Schüler eigene Wege. Während einige der Weimarer Hochschüler pathetische Themen in expressionistischer Bildsprache umsetzten und sich vor allem in der Druckwerkstatt bei Feininger eingeschrieben hatten, vertraten die Wiener Schüler eher einen kalligrafisch fantasievollen, deutlich leichteren Stil.26 Gropius berichtete – vollkommen im Einklang mit Ittens Vorstellungen und Maßnahmen –, gemeinsam mit Itten, „das ganze Bauhaus auf den Kopf gestellt, die Modelle herausgeworfen“ und sich kurzerhand bis Weihnachten nur noch auf die Produktion von Spielzeug verlegt zu haben.27 Im Gegensatz dazu nahm Itten für sich allein in Anspruch, „mit einem kräftigen Schlage die alte akademische Tradition des Akt- und Naturzeichnens“ gepackt und „alle schöpferische Tätigkeit zur Wurzel […] zum Spiel zurück geführt“28 zu haben (Abb. S. 29). Sein Fazit lautete: „Ich habe ‚reine‘ gemacht. Ich habe seit einer Woche das ganze Bauhaus unter mir.“29 Hatte Gropius Itten nach Weimar berufen, um am Bauhaus mitzutun, erhob der charismatische Pädagoge nun Anspruch auf uneingeschränkte Führung, der von seinen Schülern mitgetragen wurde. Ittens Unterricht fand samstags von 8 bis 17 Uhr statt. In der übrigen Zeit fertigten die Schüler und Schülerinnen als Vorbereitung auf die Werkstattarbeit Materiestudien (Abb. S. 30). Der aufgeschlossene Teil der

Rudolf Lutz, Plakat für den Itten-Vortrag „Unser Spiel, unser Fest, unsere Arbeit“, Collage, 1919, Klassik Stiftung Weimar, Museen

ehemaligen Hochschülerschaft, der sich mit der Bauhaus-Idee vor Ittens Eintreffen identifiziert hatte, geriet nun gegenüber der Wiener Avantgarde mehr und mehr ins Abseits und war angesichts der neuen Ansprüche und Erwartungen vielfach überfordert. Offenbar kompensierten einige Schüler diese Enttäuschung mit antisemitischen Ressentiments. Schon im Oktober 1919 diagnostizierte der Meisterrat am Bauhaus „Strömungen, auch antisemitischer Natur“30. In der neu gewählten Schülervertretung übernahmen der neu eingetretene Konrad Schwormstedt und der Itten-Schüler Franz Singer das Amt des I. und des II. Vorsitzenden. Von den älteren Schülern besetzten Heinrich Basedow (Wohnungsangelegenheiten), Walter Determann (Vertreter aller Obleute und Zentrale für alle Bauhaus-Angelegenheiten) sowie Hans Groß (Obmann der Atelierinhaber) wichtige Positionen. In einer Rede als Reaktion auf eine Resolution, mit der die älteren Studierenden das Landschaftsfach als Lehrgegenstand wieder eingefordert hatten, ergriff Franz Singer Partei für das BauhausProgramm. Es heißt darin: „Eure Resolution begann mit den Worten ‚Wir stimmen mit der Grundidee des Bauhauses überein‘. Ich habe mir diesen Satz streng und genau überlegt. Versucht es auch einmal, ihr müsst selbst draufkommen, dass er ganz äusserlich hingesprochen ist […]. Spürt ihr denn nicht[,] dass seine [d. i. Gropius’] Idee das ehrliche vollkommene Einsetzen einer ganzen Persönlichkeit bedeutet? […] Das bedeutet eben viel mehr, als Ihr aus den Worten gleich entnehmen könnt. Es liegt die Forderung drin, weder Innenarchitekt noch Landschafts- od. Portraitmaler […], sondern harmonisch vollkommene Menschen zu werden, Menschen, Künstler zu sein.“31 Zur Jahreswende 1919/20 nahm der Konflikt deutlich an Schärfe zu. Vor allem die Wiener Schüler wurden nun häufig mit dem Label ‚Ausländer‘, ‚Jude‘, oder/und ‚moralisch fragwürdig‘32 etikettiert und diskreditiert. Im Umkehrschluss zählte man alle, die angeblich diesem Bild entsprachen, automatisch zur Wiener Gruppe. Marguerite Friedlaender, die keineswegs aus Wien stammte, aber Jüdin war und durch recht unkonventionelle, freigeistige Äußerungen zum Verhältnis der Geschlechter aufgefallen war, wurde hier wie selbstverständlich zugeordnet.33 Der ehemalige Meisterschüler

Margit Téry-Adler, Materiestudie aus dem Vorkurs Itten, Fotografie, 1920, Klassik Stiftung Weimar, Museen

Hans Groß mutmaßte, dass sich jüdische Mitschüler aus Wien den Zugang zu Posten in der Schülervertretung erschlichen hätten.34 Auch hatten einige der älteren Studierenden versucht, die Aufstellung von jüdischen Kandidaten zu verhindern. Wie verbreitet das Denkbild des tendenziellen Antisemitismus auch am Bauhaus war, illustriert eine Bemerkung von Gerhard Marcks, der schrieb: „Die Wiener Itten-Schüler sind alles Juden, und nun geht der Stunk los.“35 Differenzierter und ohne antisemitische, aber doch mit deutlichen nationalistischen Ressentiments analysierte Margarete von Hanke die im Herbst 1919 mit Eintritt der Itten-Schüler einsetzenden Veränderungen im Verhältnis zwischen Gropius und den Schülern. Sie gab zu Protokoll: „Es hatten sich am Bauhaus unter der Schülerschaft mehr und mehr zwei Strömungen herausgebildet. Eine, die durchaus und rein deutsch empfand und eine andere, die […] mehr international oder anational empfand. Mit der Zugehörigkeit zu irgendeiner Nation hatte dies ebensowenig zu tun, wie mit Religion oder Politik. […] Wir Ausgetretenen und Groß gehören zu ersteren […]. Zu den anderen aber, also zu denen, die nicht rein deutsch empfinden und sich betätigen, gehören z. B. Gilles, Basedow, Winkelmayer, […]. Ob einer Jude ist oder Christ, hat mit diesen Strömungen gar nichts zu tun. […] wir hatten es bald heraus, daß Herr Gropius sich immer zu der […] internationalen Richtung setzte: Wir durften daraus wohl mit Recht schließen, daß er die andere Richtung bevorzugte. Damit aber konnten wir Ausgetretenen uns durchaus nicht einverstanden erklären.“36 Eberhard Schrammen meinte dagegen, dass die Itten-Schüler in Berlin oder München keineswegs auffallen würden, aber in Weimar eben „nicht ganz mit unbefangenem Auge“ betrachtet würden.37 Im Bauhaus-Streit mischten sich Politisches und Innerinstitutionelles mit den Ressentiments der Weimarer Bürgerschaft gegenüber der neuen Einrichtung. Das kleinbürgerliche Klima in der einstigen Residenzstadt und die teils hervorragende Vernetzung der ehemaligen Meisterschüler der Hochschule in bildungsbürgerlichen Kreisen befeuerten nun den einsetzenden BauhausStreit. Den 20 mit Itten nach Weimar gekommenen Schülern standen 1919 am Jahresende 17 ausgetretene ältere Studierende gegenüber, die die programmatische Wendung nicht mitvollziehen wollten und dies mit ihrer deutschnationalen Gesinnung begründeten. Die Itten-Schüler, so schrieb Georg Muche, „waren der Sauerteig, der den Prozeß der organischen Entwicklung am Bauhaus einleitete“38. Die großstädtisch sozialisierten Wiener waren kulturell auf der Höhe der Zeit. Allein sechs Bauhaus-Abende des Jahres 1920 wurden von Wiener Avantgardisten bestritten. Aus Anlass einer Lesung von Else Lasker-Schüler im Frühjahr 1920 eskalierte der Konflikt zwischen den Schülergruppen erneut (Abb. S. 31). Der Veranstaltungsraum war von den Wiener Schülern mit Gebetsteppichen und Leuchtern geschmückt worden. Gunta Stölzl beschrieb den Abend als „wundervoll, rein orientalisch jüdisch“ 39. Weiter schrieb sie: „Den Anstoß zu dem großen Kampf gab das herausfordernde Benehmen einzelner Juden am Abend einigen Schülern gegenüber und überhaupt die ganze Aufmachung, die gar nicht dem Bauhausgeist entsprach […]. Ich denke nicht an die Ausschmückung […] sondern nur an die Form, wie die Weimarer Bürger empfangen wurden und daß wir einfach an die Wand gedrückt waren als arme Bauhäusler. Zuerst sah es beinahe so aus, als ob der Kampf in Antisemitismus ausarten würde. Die Gefahr ist überwunden, obwohl natürlich die Rassenfrage im Mittelpunkt ruht, aber die Bauhausidee muß darüberstehen.“40 Ein Brief von Friedl Dicker legt nahe, dass im Frühjahr 1920 durchaus eine jüdische Gruppenidentität

der Wiener Schüler existierte, zu der sie sich zugehörig fühlte.41 Wie Gropius berichtet, brach „ein neuer Skandal los, Ittenschüler kontra Germanen, der außerordentlich heftig wurde“42. Nach Einschätzung des Bauhaus-Direktors waren Franz Singer und Bruno Adler der Unruheherd, und er befürchtete, dass sie „das ganze Bauhaus in die Hand bekommen“43 wollten. Sein Fazit lautete, dass sie „nicht ans Bauhaus gehören und mit der Zeit fort müssen, wenn Ruhe eintreten soll“44. Adler trennte sich in der Konsequenz gemeinsam mit seiner Frau Margit Téry-Adler vom Bauhaus. Bereits im Frühjahr 1920 hatten sechs Itten-Schüler das Bauhaus wieder verlassen. Weitere sechs traten im Lauf des Jahres 1921 aus. Drei davon, Carl Auböck, Alfred Lipovec und Franz Probst, zogen zusammen mit Werner Gilles und Hans-Joachim Breustedt nach Florenz. Nur Richard Winkelmayer, Friedl Dicker, Franz Singer, Franz Scala, Anny Wottitz und Richard Mark blieben bis 1923 am Bauhaus. Damit hatte die ursprünglich starke Gruppe an Bedeutung und Einfluss verloren. Die Streit- und Experimentierlust der Itten-Schüler hatte in Anny Wottitz eine letzte Vertreterin an der Schule. Sie absolvierte erfolgreich eine Lehre in der Buchbinderei, befand sich jedoch mit dem Handwerksmeister Otto Dorfner in ständigem Streit.45 Itten übte nach seiner verstärkten Hinwendung zur MazdaznanLehre und der Einführung des obligatorischen Vorkurses starken Einfluss auf alle neu eintretenden Studierenden aus. Seine Einstellung gegenüber handwerklicher Tätigkeit wich vom Bauhaus-Programm deutlich ab. Jeden Pragmatismus ablehnend, betrachtete er das Handwerk ausschließlich als Mittel zur Harmonisierung der Persönlichkeit. 1923 verließ Itten schließlich das Bauhaus. In den stürmischen Anfangszeiten hatten sich die Unterschiede in den Arbeits-, Kunst- und Lebensauffassungen der beiden charismatischen Persönlichkeiten Gropius und Itten im gemeinsamen Tun aufgehoben. Doch nach den ausgestandenen Kämpfen der ersten Jahre waren sie umso deutlicher zutage getreten.46 Die Wiener Itten-Schüler hatten den engagierten älteren Studierenden die Führung des Reformprozesses abgenommen. Ihre Anwesenheit eskalierte die Gegensätze. Den „eisernen Besen“, den Gropius nicht hatte in die Hand nehmen wollen, schwangen statt seiner nun Itten und dessen Schüler, womit sie auch die Ausgründung einer Hochschule für bildende Kunst aus dem Bauhaus 1921 provozierten.47 Erst danach setzte eine Phase des produktiven Arbeitens ein, die mit der Revision des alten Bauhaus-Mottos von der Rückkehr des Künstlers zum Handwerk einherging. Nun lautete die Devise, dass Kunst und Technik eine neue Einheit bilden müssen. Bis Ende 1923, dem Jahr der großen Leistungsschau, haben alle Itten-Schüler das Bauhaus wieder verlassen. Der Katalog der ersten Ausstellung würdigt ihre Arbeit jedoch in Text und Bild.48

1 Eberhard Schrammen: Der Austausch. Veröffentlichung der Studierenden am Staatlichen Bauhaus Weimar, Weimar 1919, S. 1. 2 Resolution der Freien Vereinigung, Januar 1919. Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv (künftig LATh – HStA) Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 1–2. 3 Paul Dobe: Tagebucheintrag vom 26.1.1919. Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Schiller-Archiv. 4 An die Arbeitsausschüsse der Bauhaus-Arbeitsgemeinschaft am 18.5.1919. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 9. 5 Ebd. und I. und II. Vorsitzender der Schülervertretung an die Leitung des Staatlichen Bauhauses Weimar am 20.5.1919. Ebd. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 11. 6 Freie Vereinigung: Bericht über eine Unterredung mit Gropius am 22.5.1919, LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 17. 7 Gropius: Manuskript zur Rede anlässlich der ersten Schülerausstellung am 25.6.1919, LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 132, Bl. 5–6. 8 Ebd., Bl. 5. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Adolf Loos: Richtlinien für ein Kunstamt, Wien 1919. 12 „In Itten hatten wir uns nicht getäuscht. Er ist ein fabelhafter Kerl.“ Alma Mahler-Gropius an Erika Tietze-Conrad 1917. Zit. n. Rolf Bothe, Peter Hahn, Christoph von Tavel (Hg.): Das frühe Bauhaus und Johannes Itten (Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv Berlin, Kunstmuseum Bern und Kunstsammlungen zu Weimar), Ostfildern-Ruit 1994, S. 447. Zur Datierung der Begegnung zwischen Gropius und Itten vgl. Wagner 2006 (wie Anm. 14), S. 65–77, hier S. 67. 13 Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln 2021, S. 45. 14 Christoph Wagner: Zwischen Lebensreform und Esoterik: Johannes Ittens Weg ans Bauhaus in Weimar, in: Ders. (Hg.): Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee. Das Bauhaus und die Esoterik (Ausstellungskatalog Gustav-Lübcke-Museum Hamm, Museum im Kulturspeicher Würzburg), Bielefeld/Leipzig 2006, S. 65–77, hier S. 67. 15 Willy Rotzler (Hg.): Johannes Itten. Werke und Schriften, Zürich 1978, S. 28. 16 Für den Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen Kornfeld und Singer dankt die Autorin Katharina Hövelmann. 17 Hövelmann 2021 (wie Anm. 13), S. 41–42. 18 Vgl. Gropius an Itten, 18.6.1919, in: Josef Helfenstein, Henriette Mentha (Hg.): Johannes Itten: das Frühwerk, 1907–1919, Bern 1992, S. 44. 19 Vgl. Paul Kämmer an Walter Gropius, 22.8.1919. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 75, Bl. 44. Vor allem die Meisterschüler fürchteten den Entzug ihrer Arbeitsräume. 20 Zunächst hatte der Bauhaus-Direktor versucht, wenigstens der Form halber die Einsendung einiger Arbeiten durchzusetzen, schrieb aber zugleich: „Im Übrigen ist es natürlich für mich ausgemacht, dass die Leute, die Sie vorschlagen, auch genommen werden.“ Gropius an Itten, 13.7.1919. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 111, Bl. 34. 21 Protokoll der Meisterratssitzung vom 5.10.1919. Zit. n. Volker Wahl (Hg.): Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919–1925, Weimar 2001, S. 48. 22 Walter Gropius an Lily Hildebrandt, Oktober 1919. Zit. n. Bothe u. a. 1994 (wie Anm. 12), Dokument 11, S. 449.

23 Johannes Itten an Anna Höllering, 3.11.1919. Zit. n. Rotzler 1978 (wie Anm. 15), S. 67. 24 Johannes Itten an Matthias Hauer, 5.11.1919. Zit. n. Rotzler 1978 (wie Anm. 15), S. 68. 25 Befragung Thekla Diedrich-Wrede am 9.2.1920. Zit. n. Volker Wahl (Hg.): Das Staatliche Bauhaus in Weimar. Dokumente zur Geschichte des Instituts, Begleitband, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 227–230. 26 Siehe Abb. S. 26 und 31. Von den 34 bei Feininger eingeschriebenen Schülern gehörte lediglich Julie Moller zur Gruppe der Wiener Itten-Schüler. 27 Walter Gropius an Lily Hildebrandt, Oktober 1919. Zit. n. Bothe u. a. 1994 (wie Anm. 12), Dokument 12, S. 449. 28 Johannes Itten an Matthias Hauer, 5.11.1919. Zit. n. Rotzler 1978 (wie Anm. 15), S. 68. 29 Ebd., S. 68. 30 Wahl 2001 (wie Anm. 21), S. 48–51 und Erläuterung zu 50, 29–30, S. 387–388. 31 Franz Singer, Manuskript einer Rede, undat., wohl Ende 1919. Klassik Stiftung Weimar, Museen, Nachlass Adler. 32 Die angebliche Bevorzugung von Ausländern, gemeint sind die Itten-Schüler, wird vor allem in der lokalen Tagespresse kolportiert. So von Leonhad Schrickel, Was geht vor in Weimar? Weimarische Landeszeitung Deutschland, Nr. 347 vom 19.12.1919. Gerhard Marcks‘ Äußerung zur jüdischen Herkunft der Itten-Schüler zitiert in Anm. 35. Zur freigeistigen Haltung von Marguerite Friedlaender vgl. Anm 33. 33 „Auf Rückfrage mit Frl. v. Minckwitz lautete die Rede zwischen Friedländer, Julie Moller u. einer dritten Ittenschülerin gegen die unduldsamen Weimarer Hauswirtinnen, die gegen Herrenbesuche Einspruch erheben. Einer war gesagt worden durch ihren Verkehr doch so blamiert zu sein, daß sie den betreffenden heiraten müsse. Darauf die Friedländer: dann könnte ich zweitausend heiraten! Überhaupt die Wirtinnen mit ihrer Moral. Wenn man einen Jüngling liebt und schläft mit ihm, so ist das Natur, wenn man das nicht tut, so ist das Unmoral.“ Aussage von Thekla Diedrich am 9.2.1920. Zit. n. Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 227–231. 34 Aussage von Walter Determann am 27.1.1920. Zit. n. ebd., S. 223. 35 Gerhard Marcks an Richard Fromme, 28.10.1919. Zit. n. Gerhard Bott (Hg.): Gerhard Marcks. Briefe und Werke, München, 1988, S. 34. 36 Befragung Margarete von Hanke am 13.1.1920. Zit. n. Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 219–220. 37 Befragung Eberhard Schrammen, 16.2.1920. Zit. n. Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 237. 38 Georg Muche: Was gab dem Bauhaus seine große Wirkung?, in: Johannes Itten gesehen von Freunden und Schülern, Ravensburg o. J., S. 14. 39 Vgl. Peter Bernhard: „Frau Lasker-Schüler hatte uns mit ihren Staccato-Versen völlig im Bann.“ Erinnerungen von Max Peiffer-Watenphul. In: Ders. (Hg.): bauhaus vorträge, Gastredner am Weimarer Bauhaus 1919–1925. Neue Bauhausbücher, Bd. 4, Berlin 2017, S. 99–100. 40 Ebd., S. 99. 41 „Es wäre viel drüber zu reden über die jetzige Bauphysiognomie in Bezug auf uns. Wir (Juden) müßten die Stellung, die wir beanspruchten, brauchen und schaffen allein durch oder trotz allem.“ Friedl Dicker an Anny Wottitz um 1920. Zit. n. Hövelmann 2021 (wie Anm. 13), S. 50–51. 42 Reginald Isaacs: Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, Bd. 1, S. 251. 43 Ebd., S. 251. 44 Ebd., S. 252. 45 Wahl 2001 (wie Anm. 21), S. 459–461. 46 Karin Wilhelm geht davon aus, dass beide Protagonisten in ruhigeren Zeiten sicher recht schnell bemerkt hätten, dass sie „viel zu unterschiedlich waren, als daß sie ernsthaft eine gemeinsame Bildungsaufgabe hätten angehen können“. Karin Wilhelm: Auf der Suche nach dem neuen Menschen. Zum Verhältnis von Walter Gropius und Johannes Itten, in: Bothe u. a. 1994 (wie Anm. 12), S. 59–70. 47 Vgl. Befragung Werner Gilles am 5.2.1920, in: Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 225. 48 Vgl. Walter Gropius (Hg.): Staatliches Bauhaus 1919–1923 (Ausstellungskatalog Staatliches Bauhaus Weimar), Weimar/München 1923.

Franz Singer, Männlicher Akt, 1918, Kohle auf Papier, 31,3×18,2 cm, BHA, Inv.-Nr. 2016/1341.16 Friedl Dicker, Figurenstudie, um 1916–1919, Kohle auf Karton, 39×29 cm, UAK, Inv.-Nr. 12.203

Friedl Dicker, Blumenvase, um 1919, Kohle und Bleistift auf Papier, 45,3×32 cm, AGS

Franz Singer, Komplementärfarben – Vermittlung Gelb zu Violett (aus dem Unterricht bei Paul Klee), 1922/23, Bleistift und Aquarell auf Papier, 23,3×10 cm, BHA, Inv.-Nr. 1078 Friedl Dicker, Weiße und schwarze Kreisflächen, Studie zum Hell-Dunkel-Kontrast, um 1919, Collage aus weißem Papier und Pappe, mit Tusche und Kohle überarbeitet, auf Karton, 26,1×18,1 cm, BHA, Inv.-Nr. 3091

Dolly Schlichter, Friedl Dicker und Stefan Wolpe in Weimar, um 1920, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe

This article is from: