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Wohnen – ein Vergnügen

Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus, Georg Schrom

„Ein Wohnzimmer ist zugleich Esszimmer, oft Gastzimmer, das Schlafzimmer ist zugleich Arbeitszimmer, und alle Räume müssen für den Tagesaufenthalt zu verwenden, müssen verwandelbar sein“, so definierten Friedl Dicker und Franz Singer ihr „modernes Wohn- prinzip“.1 Der Titel eines Manuskripts von 1930/31 bringt es auf den Punkt: „Wohnen – selbst im Raum beschränkt wohnen – ein Vergnügen“.2 In ihrer Ateliergemeinschaft entstanden Entwürfe für Möbel, Wohnungen und ganze Häuser, die von ihrer Ausbildung am Bauhaus geprägt waren. Klare stereometrische Formen, sorgfältig aufeinander abgestimmte Materialien und Farben, funktionale Flexibilität und gestalterisches Raffinement, verbunden mit einer spielerischen Entwurfshaltung, sind Kennzeichen der Arbeiten des Ateliers. Die Möbel waren häufig klappbar, stapelbar und platzsparend konzipiert und fester Bestandteil der Einrichtung, die je nach Nutzung ein unterschiedliches Erscheinungsbild annehmen konnte. Mit dieser betont ‚modernen‘, von der Wiener Tradition weitgehend unbelasteten Formensprache trafen Dicker und Singer und ihr Team den Geschmack einer jungen, aufgeschlossenen, vorwiegend jüdischen Klientel aus einem künstlerisch-intellektuellen Milieu, die nach Alternativen zur etablierten Wohnkultur eines Josef Hoffmann oder Josef Frank suchte.

Teamwork

Franz Singer und Friedl Dicker, die beide aus einer jüdischen Wiener Familie kamen, waren Schüler an Johannes Ittens privater Kunstschule, als sie im Jahr 1919 mit etwa 16 weiteren jungen Künstlerinnen und Künstlern das Nachkriegswien verließen, um ihrem Lehrer an das von Walter Gropius neu gegründete Staatliche Bauhaus in Weimar zu folgen. Sie gehörten damit zur ersten Schülergeneration an der einflussreichsten künstlerischen Ausbildungsstätte des 20. Jahrhunderts, die die Vorstellung von der sozialen, ökonomischen und kulturellen Funktion von Architektur, Design und bildender Kunst revolutionierte. Nachdem sie 1923 das Bauhaus verlassen hatten, gründeten Dicker und Singer zunächst die Werkstätten bildender Kunst in Berlin, die sich auf die Fertigung von kunstgewerblichen Produkten sowie Bühnenbildern und Kostümen für Theaterproduktionen spezialisiert hatten. 1925 etablierte Friedl Dicker mit einer Kollegin ein Atelier in Wien, dem sich bald Franz Singer anschloss. In Teamarbeit entstanden Raumgestaltungen und Bauten mit eigens entworfenen Möbeln, Leuchten, Kachelöfen und Textilien. Zu den Mitarbeiter*innen zählten Hans Biel, Bruno Pollak, Leopoldine Schrom und Anna Szabó. Dicker und Singer hatten einen künstlerisch-handwerklichen Zugang, der auf das frühe Bauhaus zurückzuführen war, während die Mitarbeiter*innen, die alle an der Technischen Hochschule in Wien (heute TU) studiert hatten, die architektonisch-technische Kompetenz mitbrachten. Die Ateliergemeinschaft stellte einen projektbezogenen Arbeitsverbund dar, in dem ein junges Team von Gestalterinnen und Gestaltern gemeinsam Ideen entwickelte und umsetzte. Um die Arbeitsweise im Atelier zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass die 1970 im Zuge der ersten Ausstellung eingeführte und in der Literatur mittlerweile etablierte Bezeichnung „Atelier Singer-Dicker“ von Friedl Dicker und Franz Singer nicht verwendet wurde. Obwohl sie von 1925 bis 1931 eng zusammenarbeiteten, verstand Singer Friedl Dicker vermutlich weniger als formelle Partnerin denn als Mitarbeiterin. Sämtliche Raumgestaltungen und Bauten des Ateliers wurden in Architekturzeitschriften unter Singers Namen veröffentlicht, und auch auf den Zeichnungen reklamiert Singer sein „geistiges Eigentum“ für sich. Obwohl Dickers Ideen in viele Bereiche, darunter auch in das Möbeldesign,

Friedl Dicker, Schriftliche Angaben und Muster zur Gestaltung der Wohnung Téry-Buschmann, um 1929/30, AGS Friedl Dicker, Entwürfe für Gurtbespannungen, um 1924–1930, Buntstift auf Papier, 29,3×20,9 cm, AGS

eingeflossen sind, beschäftigte sie sich vor allem mit Farbkonzepten, dem Entwurf von Textilien und FotoRetuschen. Sie fertigte Möbelbezüge, Gurtbespannungen, Vorhänge und Wandteppiche an, arbeitete parallel aber auch für Textilfirmen wie die in Stuttgart ansässige Pausa A.G. und die Wiener Firma B. Spiegler & Söhne. Die unbestrittene künstlerische Eigenständigkeit Friedl Dickers, die sich in ihrem malerischen Werk ebenso zeigt wie in der eindrucksvollen frühen Skulptur Anna Selbdritt (Abb. S. 18), steht in einem heute kaum mehr auflösbaren Spannungsverhältnis zu ihrem Verschwinden hinter dem Namen des „Ateliers Franz Singer“ (Abb. S. 19). Gewiss ist, dass Friedl Dicker aus diesem Hintergrund die Arbeiten des Ateliers über die Jahre wie keine zweite Person neben Franz Singer geprägt hat. In der Öffentlichkeit war das Atelier auf Ausstellungen – Kunstschau 1927, Wiener Raumkünstler 1929/30 – vertreten, wo neben Möbeln auch Möbelmodelle und die für die Architekturavantgarde der 1920er Jahre charakteristischen farbigen axonometrischen Zeichnungen gezeigt wurden. In hohem Maß präsent war das Atelier auch in Architekturzeitschriften, Illustrierten und Büchern, über die mit Fotografien und Besprechungen ein internationales Publikum angesprochen werden konnte. Die Auftraggeber*innen für die Möbel, Wohnungen und Bauten stammten allerdings vorwiegend aus dem familiären Umfeld und dem Wiener Freundes- und Bekanntenkreis von Singer und Dicker. Dazu kamen sozial orientierte Aufträge des Roten Wien, allen voran die Einrichtung des Montessori-Kindergartens im Goethehof (WV 75, Abb. S. 20), das Projekt Möbelhilfe (WV 117) und die nicht realisierten Projekte in Zusammenarbeit mit dem Verein Jugend in Arbeit: der Ausbau des Alten Rathauses zu einem Jugendhort, einer Volksbibliothek und einer Kunststelle (WV 116). Friedl Dicker, die um 1931 der Kommunistischen Partei Österreichs beitrat, wurde im November 1931 aufgrund des Vorwurfs, an Passfälschungen beteiligt gewesen zu sein, verhaftet. Ihr verstärktes politisches

Friedl Dicker, geometrisches Gewebe, um 1924, 60×65 cm, AGS

Engagement wird neben privaten Gründen Anlass gewesen sein, dass sie nicht mehr primär für die Ateliergemeinschaft tätig war. Auch Dickers künstlerische Arbeit wurde nun verstärkt politisch geprägt, wie eine Reihe eindrucksvoller gesellschaftskritischer Collagen beweist (Abb. S. 23). Als Dicker aus der Ateliergemeinschaft ausschied, verlegte Singer das Atelier in die Räumlichkeiten seiner Privatwohnung im 6. Bezirk. Die politischen Umwälzungen der 1930er Jahre wirkten sich in dramatischer Weise auf das Leben von Friedl Dicker und Franz Singer aus: Nach der Auflösung der KPÖ unter dem autoritären Bundeskanzler Engelbert Dollfuß emigrierte Dicker 1933 in die Tschechoslowakei, Franz Singer ließ sich 1934 in London nieder und führte von dort aus das Wiener Atelier weiter, während er parallel dazu an Projekten für England arbeitete. Friedl Dicker wurde 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt (Terezín) deportiert, wo sie Kindern Zeichenunterricht gab; ihre pädagogische Hingabe, die dem Schrecken des NS-Terrors trotzte, sollte Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges der Ausgangspunkt für ihre Wiederentdeckung sein. 1944 wurde Friedl Dicker in Auschwitz ermordet. Auch die zumeist jüdischen Auftraggeber*innen des Ateliers aus Österreich, der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich wurden durch das NS-Regime zur Flucht gezwungen. Die meisten Arbeiten von Franz Singer und Friedl Dicker gingen in dieser Zeit verloren. Der Montessori-Kindergarten im Goethehof wurde 1938 geschlossen, das Gästehaus Auersperg-Hériot (WV 115), eines der bemerkenswertesten Dokumente des Neuen Bauens in Wien, wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und in den 1950er Jahren abgerissen. Von den vielen Wohnungseinrichtungen haben sich meist nur Einzelstücke in Museen und Privatsammlungen erhalten. Es ist daher ein außerordentlicher Glücksfall, dass das Archiv des Ateliers zu einem großen Teil bewahrt blieb – aufgeteilt auf das Bauhaus-Archiv Berlin und das Archiv Georg Schrom in Wien. Die in diesen Beständen enthaltenen schriftlichen Unterlagen, Zeichnungen, Modelle

Friedl Dicker, Skulptur Anna Selbdritt, um 1920, BHA und Fotografien veranschaulichen die intensive und vielseitige Tätigkeit des Ateliers und bilden zugleich den Kern der Ausstellung im Wien Museum.

Ein Wiener Bauhaus-Atelier

Im Wien der 1920er und 1930er Jahre stellen die Einrichtungen und Bauten der Ateliergemeinschaft von Dicker und Singer eine Ausnahmeerscheinung dar. Von den zeichnerisch aufwendig gestalteten, in Farbe ausgeführten Darstellungen ihrer Projekte mithilfe isometrischer Axonometrien und Perspektiven über die Standardisierungstendenzen im Hausbau, die Multifunktionalität der Möbel und die Verwendung von Stahlrohr und Sperrholz im Möbeldesign bis hin zum Einsatz von Farbe im Raum arbeitete das Atelier ganz in der Art des Bauhauses. Zugleich sind aber auch Einflüsse des Wiener und internationalen Umfelds zu spüren. Ein Schlüssel zum Verständnis der Arbeiten des Ateliers ist der ab 1919 am Bauhaus gemeinsam mit Franz Scala entwickelte „Phantasus“-Baukasten (WV D-3, Abb. S. 21). Im Baukasten kommt nicht nur der für das Werk von Dicker und Singer essenzielle Aspekt des Spielerischen zum Ausdruck, sondern auch der Standardisierungsgedanke, der am Bauhaus im „Baukasten im Großen“ (Walter Gropius) gipfelte: Aus standardisierten Elementen sollten unterschiedliche Hausformationen zusammengefügt werden. Singer griff den Gedanken des modularen Bauens für seine „wachsenden Häuser“ mit Einbaumöbeln auf. Auch das Formenvokabular des „Phantasus“-Baukastens findet sich im baukünstlerischen Werk von Dicker und Singer wieder. In der verschachtelten Anordnung einzelner Raumkuben auf verschiedenen Niveaus und dem Einsatz von Podesten lassen sich Korrespondenzen mit dem „Raumplan“ von Adolf Loos feststellen. Beim Gästehaus Auersperg-Hériot erinnern die Ausgestaltung der Dachterrasse, die Pfeiler und Wendeltreppen wiederum an Bauten von Le Corbusier, was auf jene „künstlerische Ungebundenheit“ hinweist, die Friedrich Achleitner den beiden attestierte.3 Dicker und Singer erklärten Variabilität zum Credo ihrer Möbel und Raumgestaltungen. Dieses Merkmal zeigt neben der sozialen Komponente, die vorsah, in beschränkten Wohnverhältnissen Möbel unterschiedlich einzusetzen, eine Verbindung zum Bauhaus. Andererseits sind aber auch Bezüge zu Künstler*innen des russischen Konstruktivismus erkennbar, die kinetische Aspekte ihrer Arbeiten auf Möbel übertrugen. Das Motiv der Veränderbarkeit lässt sich außerdem mit der anfangs

Postkarte Atelier Franz Singer, Wien, AGS

von beiden ausgeübten Theaterarbeit und dem spielerischen Herangehen an Funktionalität verbinden. Durch die Schiebe-, Klapp- und Stapelmechanismen der Möbel und Einrichtungen wurden die Nutzer*innen in die Gestaltung des Wohnraums mit einbezogen und elementaristische und kinetische Aspekte der modernen Kunst auf die angewandten Bereiche übertragen. Ebenso erscheint Johannes Ittens Ansatz realisiert, der in seinem 1921 erschienenen Werk Utopia forderte, dass ein Kunstwerk erlebt werden müsse. Dickers und Singers Funktionalität äußerte sich viel eher als ästhetische Haltung denn als wirklich praktisch und zeigte sich auch an den Äußerungen der Auftraggeber*innen, die um Reparatur knarrender Fauteuils mit sich auflösender Gurtbespannung baten, die Möbel rückblickend als „Lederriemen-Monster“ bezeichneten oder sich an „verhasste“ Klappbetten erinnerten.4 Auch in Fachkreisen stand man vor allem einer Serienherstellung skeptisch gegenüber. Der „Kistenkasten“ auf der Ausstellung Wiener Raumkünstler (WV 71) wurde in der Zeitschrift Die Form als „Tischlein-deck-dich-Scherz“ 5 bezeichnet, und der Architekt Florian Adler, Sohn Margit Téry-Buschmanns, war der Meinung, dass die Möbel zwar innovativ, aber „in konstruktiver Hinsicht eher plump […] und ganz und gar nicht geeignet für die Herstellung in großer Serie“ seien.6 Elmar Berkovich, der Leiter der Möbelwerkstätte des niederländischen Einrichtungsgeschäfts Metz & Co., befand die Herstellungskosten aufgrund der komplizierten Konstruktionen als zu hoch.7 Verhandlungen mit größeren Herstellern wie dem tschechoslowakischen Stahlrohrmöbelproduzenten Mücke-Melder oder der britischen The Grovewood Company mündeten ebenfalls nicht in eine serielle Herstellung. Die funktionale Intention, die sich bei Dicker und Singer in Stapel-, Klapp- und Schiebemechanismen äußerte, war eine Art Markenzeichen ihrer Arbeit und hatte vor allem symbolischen Charakter. Achleitner assoziierte Ungebundenheit, Offenheit und Toleranz mit ihrem Möbeldesign, aber auch zeitgeistige Unterhaltung.8 Kunst in den Gestaltungsprozess einzubeziehen war zur Zeit von Dickers und Singers Studium am Bauhaus eine zentrale Vorgabe. Ihre Raumgestaltungen, die Singer als „Raumkompositionen“ bezeichnete, knüpfen an die Forderung des Bauhaus-Gründungsmanifests an, künstlerische Prinzipien auf Gebrauchsgegenstände und den Bau zu übertragen. In den Möbeldesigns und Raumgestaltungen des Ateliers wurde dieses künstlerische Prinzip in der Wirklichkeit eines nicht zuletzt von

Collage zum Kindergarten im Goethehof, 1932, BHA

Franz Singer, Franz Scala, Bauteile der verschiedenen Prototypen des „Phantasus“-Baukastens, um 1924, AGS

individuellen Auftraggeberwünschen bestimmten Arbeitsalltags auf die Probe gestellt. Der jugendliche Optimismus, der aus den Entwürfen des Ateliers sprach, fiel nach nur wenigen Jahren jäh dem NS-Terror zum Opfer. Das kulturelle Milieu, in dem die Arbeiten von Franz Singer und Friedl Dicker entstanden, wurde ebenso zerstört wie ihre Wohnungseinrichtungen und Möbel. Umso wertvoller sind für uns jene visuellen Dokumente, die in diesem Band zum Großteil erstmals veröffentlicht werden.

Stand der Forschung

Das Werk von Friedl Dicker und Franz Singer wurde zunächst vor allem entlang von Ausstellungen erforscht. Anlässlich einer umfangreichen Schenkung von Franz Singers Schwester Frieda Stoerk, die nach seinem Tod den Londoner Nachlass verwaltete, fand 1970 die erste Ausstellung Friedl Dicker, Franz Singer im damals noch in Darmstadt angesiedelten Bauhaus-Archiv unter dessen Gründungsdirektor Hans Maria Wingler statt.9 1988 stellten Georg Schrom und Stefanie Trauttmansdorff erstmals in Wien die Ausstellung Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien im Heiligenkreuzerhof der Universität für angewandte Kunst zusammen.10 Die Kataloge der zwei Ausstellungen lieferten grundlegende Informationen zu den Biografien der beiden Designer und präsentierten ausgewählte Projekte und Möbel. Während die Biografie Franz Singers kaum erforscht wurde, beschäftigte sich die Kunstpädagogin Elena Makarova ausführlich mit Leben und Werk Friedl Dickers. Ihre langjährigen Recherchen mündeten in die 1999/2000 weltweit gezeigte Wanderausstellung Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre11 . Eine erste Biografie Dickers war bereits 1969 im

Ausstellungskatalog 50 Years Bauhaus erschienen.12 2022 zeigte das Lentos Kunstmuseum Linz eine FriedlDicker-Retrospektive, während die Universität für angewandte Kunst Wien die hauseigene Dicker-Sammlung präsentierte.13 Bereits im Jahr 2021 erschien die 2018 approbierte Dissertation von Katharina Hövelmann in Buchform, die erstmals die Ateliergemeinschaft auf der Grundlage umfassender Quellenstudien bearbeitet und das Werk Dickers und Singers kontextualisiert hatte.14 Diese Forschungen bildeten die Basis für das inhaltliche Konzept der Ausstellung, die nun in Kooperation mit dem Bauhaus-Archiv Berlin im Wien Museum realisiert werden kann. Mit dem hier erstmals publizierten Werkverzeichnis ist die Grundlage für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Arbeiten des Ateliers gelegt.

Zur Ausstellung

Die Ausstellung im Wien Museum bietet anhand von Zeichnungen, Fotografien, Modellen und Möbeln den bislang umfangreichsten Überblick über das vielseitige Schaffen von Friedl Dicker, Franz Singer und ihrem Team. Es wird weniger nach der Autorschaft einzelner Werke oder Werkgruppen gefragt, als vielmehr der kollaborative Charakter der Arbeit im ‚Atelier Bauhaus, Wien‘ hervorgehoben. Unter dem Namen „Atelier Franz Singer“ schuf eine ganze Reihe kreativer Köpfe – unter ihnen nicht wenige Frauen – künstlerisch unverwechselbare Möbel, Wohnungseinrichtungen und Bauten. Die Ausstellung ist chronologisch angelegt, um Leben und Werk Dickers und Singers auch in der historischen Gebundenheit darzustellen: Die eigenständige Arbeit der beiden setzt in den noch von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs geprägten, zugleich der Zukunft zugewandten 1920er Jahren ein, hat ihren Höhepunkt in der Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1930 und wird durch den NS-Terror brutal beendet. Das Wiener Atelier wird 1938 aufgelöst – damit endet auch seine Geschichte. Für das Wiener Design der Nachkriegszeit blieben die Arbeiten Singers und Dickers wirkungslos. Den Auftakt bildet der bereits erwähnte „Phantasus“-Baukasten, der in seiner abstrahierten Räumlichkeit und spielerischen Wandelbarkeit die Ideen des Ateliers geradezu idealtypisch widerspiegelt. Der frühen Zeit in Wien, Weimar und Berlin ist das erste Kapitel der Ausstellung gewidmet. Ausgewählte Zeichnungen und Gemälde machen die Schulung bei Johannes Itten, die Lehrjahre am Bauhaus und die ersten künstlerisch selbstständigen Schritte in den Werkstätten bildender Kunst nachvollziehbar. Daran schließt sich der Hauptteil an, der die wichtigsten Arbeiten des Ateliers von 1925 bis 1939 in eindrucksvollen Zeichnungen, Fotografien und ausgewählten Möbelstücken vorstellt: Der Bogen spannt sich von modernistischen Wohnungen und Geschäftslokalen bis zum Gästehaus Hériot und dem Montessori-Kindergarten im Goethehof, denen eigene Kapitel gewidmet sind. Das letzte Kapitel skizziert die Lebenswege der beiden Protagonist*innen nach dem Ende der gemeinsamen Arbeit im Atelier: Die politischen Collagen Friedl Dickers werden Singers Entwürfen für Siedlungshäuser in Palästina gegenübergestellt. Friedl Dicker und Franz Singer haben ein Werk hinterlassen, das heute aufgrund seiner konsequenten Modernität ästhetisch faszinierend wirkt und auch aktuelle Designarbeit inspirieren kann. Das Ende der Ausstellung führt deshalb zurück an ihren Anfang: Der „Phantasus“-Baukasten kann erstmals als Nachbau in der Praxis erprobt werden (Rekonstruktion: HTL Mödling, Thomas Radatz, Recherche: Paul-Reza Klein und Georg Schrom). Ein erster Schritt zu einer Reaktivierung der gestalterischen Ideen aus dem ‚Atelier Bauhaus, Wien‘.

Die Publikation

Den Hauptteil dieser Publikation bildet das von Katharina Hövelmann erstellte kommentierte Werkverzeichnis mit sämtlichen bekannten Raumgestaltungen, Bauten und Theaterarbeiten. Die reiche Ausstattung mit vorwiegend unpublizierten Zeichnungen und Fotografien soll die verlorenen Arbeiten des Ateliers veranschaulichen. Die Essays erweitern die Perspektive um zentrale Aspekte im Werk von Dicker und Singer: Ute Ackermann widmet sich dem Wiener Kreis um Johannes Itten, der in den ersten Jahren des Bauhauses prägend war; Heidy Zimmermann rückt die bisher zu wenig berücksichtigten Verbindungen zwischen Friedl Dicker und der zeitgenössischen Musik in den Mittelpunkt; Georg Schrom berichtet über die Mitarbeiter*innen des Ateliers und ausgewählte Projekte; Paul-Reza Klein analysiert mit den Baukästen zentrale Entwürfe des Ateliers. Die außergewöhnlichen axonometrischen Darstellungen sind Gegenstand des Beitrags von Klaus Jan Philipp; Katharina Hövelmann untersucht die Möbelentwürfe im Kontext der zeitgenössischen Designs, Eva-Maria Orosz das sozial orientierte Projekt Möbelhilfe, Andreas Nierhaus die Bauten des Ateliers. Elena Makarova schließlich widmet sich den pädagogischen Absichten

Friedl Dicker, „So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt“, Fotocollage, 1931/32, Glasnegativ, UAK

Friedl Dickers, die sie im Kontext der Kinderzeichenkurse in Theresienstadt formulierte und praktizierte. Die Biografien jener weitgehend vergessenen Bauhäusler, die sich gemeinsam mit Friedl Dicker und Franz Singer auf den Weg von Wien nach Weimar gemacht hatten, wurden für diese Publikation von Katharina Hövelmann neu recherchiert und sind im Anhang des Bandes zu finden. Der Anspruch des Buches deckt sich mit dem der Ausstellung: Beide möchten dazu beitragen, dem ‚Atelier Bauhaus, Wien‘ den Stellenwert innerhalb der Geschichte des modernen Designs zu geben, der ihm gebührt: als dem bemerkenswert konsequenten Versuch, ausgehend von der Lehre des Bauhauses und in Auseinandersetzung mit den lokalen Traditionen, eine unverwechselbare formale Sprache für ein ästhetisch fortschrittliches, ökonomisches und dennoch komfortables Wohnen und Alltagsleben in der Moderne zu finden. In dieser Hinsicht haben die Arbeiten von Dicker und Singer auch im 21. Jahrhundert nichts an Aktualität verloren.

1 o. A.: Das moderne Wohnprinzip: Ökonomie der Zeit, des Raumes, des Geldes und der Nerven, in: Kölner Tageblatt, 29./30.8.1931, o. S. 2 o. A.: Textentwurf „Wohnen – selbst im Raum beschränkt wohnen – ein Vergnügen“, um 1930/31, Archiv Georg Schrom (künftig AGS). 3 Friedrich Achleitner: …sondern der Zukunft, in: Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Hochschule für angewandte Kunst Wien), Wien 1988, S. 6. 4 Brief Peter Heller an Matthias Boeckl, 10.2.1993, Archiv Georg Schrom. 5 Wilhelm Lotz: Möbel und Wohnraum, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit 2 (1931), S. 41–59, hier S. 42. 6 Florian Adler: Eine Wohnung im Rückblick, in: Hochschule für angewandte Kunst 1988 (wie Anm. 3), S. 32–34, hier S. 32. 7 Archiv Metz & Co., Liste von Elmar Berkovich, Inv.-Nr. 977–203. 8 Friedrich Achleitner 1988 (wie Anm. 3), S. 6. 9 Peter Wilberg-Vignau: Friedl Dicker, Franz Singer (Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv Darmstadt), Darmstadt 1970. 10 Hochschule für angewandte Kunst 1988 (wie Anm. 3). 11 Elena Makarova: Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre, Wien u. a. 1999. 12 Wulf Herzogenrath (Hg.): 50 Years Bauhaus (Ausstellungskatalog Illinois Institute of Technology Chicago), Chicago 1969. 13 Brigitte Reutner-Doneus/Hemma Schmutz (Hg.): Friedl Dicker-Brandeis. Bauhaus-Schülerin, Avantgarde-Malerin, Kunstpädagogin (Ausstellungskatalog Lentos Kunstmuseum Linz), München 2022; Stefanie Kitzberger, Cosima Rainer, Linda Schädler (Hg.): Friedl Dicker-Brandeis. Werke aus der Sammlung der Universität für angewandte Kunst Wien, Berlin 2022. 14 Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln 2021.

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