THOMAS ADÈS
THE TEMPEST
INHALT
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DIE HANDLUNG S.
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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.
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OPER IST WIE EINE ÖFFENTLICHE SKULPTUR GESPRÄCH MIT DEM KOMPONISTEN UND DIRIGENTEN THOMAS ADÈS S.
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DAS THEATER ALS WERKZEUGKISTE DER MAGIE GESPRÄCH MIT REGISSEUR ROBERT LEPAGE S.
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PRÄCHTIG & FREMDARTIG ALEX ROSS S.
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ENDLICH VERSÖHNT & GEHEILT GAVIN PLUMLEY S.
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TROTZ UNTERSCHIEDEN SEHR NAH AN SHAKESPEARE ANDREAS LÁNG
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WARUM ZERBRICHT PROSPERO SEINEN STAB? ADRIAN MOURBY S.
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SHAKESPEARES STURM IN DER MUSIK CHRISTOPH WELLNER S.
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THE TEMPEST – SHAKESPEARE UND RACHE ADRIAN MOURBY S.
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LIBRETTO MEREDITH OAKES S.
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IMPRESSUM
Friends, don’t fear, the island’s full of noises, sounds and voices. Freunde, keine Angst, die Insel ist voller Geräusche, Klänge und Stimmen. CALIBAN, 2. AKT
THOMAS ADÈS
THE TEMPEST OPER in drei Akten, op. 22 Text MEREDITH OAKES nach WILLIAM SHAKESPEARE
ORCHESTERBESETZUNG 3 Flöten (2. und 3. Flöte auch Piccolo), 3 Oboen (3. Oboe auch Englischhorn), 3 Klarinetten (3. Klarinette auch Bassklarinette), 3 Fagotte (3. Fagott auch Kontrafagott), 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen (3. Posaune auch Bassposaune), 1 Tuba, Schlagwerk, 1 Klavier, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass
URAUFFÜHRUNG 10. FEBRUAR 2004 Royal Opera House, Covent Garden, London ÖSTERR. ERSTAUFFÜHRUNG Wiener Staatsoper
14. JUNI 2015
SPIELDAUER
INKL. 1 PAUSE
2 H 45 MIN
DIE HANDLUNG VORGESCHICHTE Nachdem Antonio seinen Bruder Prospero, den rechtmäßigen Herzog von Mailand, gestürzt hatte, trieb er ihn und dessen kleine Tochter Miranda mit Hilfe des Königs von Neapel in einem Boot hinaus aufs Meer. Dass Prospero und das Mädchen überhaupt mit dem Leben davon kamen, verdankten sie Gonzalo, dem Ratgeber des Königs. Gonzalo hatte nämlich aus Mitleid mit den Verbannten das Boot mit ausreichend Lebensmitteln und den Büchern Prosperos versehen. Von allen für tot gehalten, fanden Prospero und Miranda schließlich Zuflucht auf einer unbekannten Insel, die sich Prospero mithilfe von Zauberei untertan machte.
1. AKT UNGEFÄHR ZWÖLF JAHRE SPÄTER Vor der Insel Prosperos gerät ein Schiff in ein plötzlich aufziehendes schweres Gewitter und kentert – die Besatzung und die Passagiere, unter ihnen Antonio, der König von Neapel, und Gonzalo, kommen jedoch wie durch ein Wunder heil ans Ufer. Miranda vermutet, dass ihr Vater den Sturm durch magische Kräfte entfacht hat und zeigt große Sorge und Mitleid mit den Insassen des Schiffes. Prospero beruhigt sie: Keinem der Schiffbrüchigen würde ein Leid geschehen. Zugleich spricht er mit ihr, die sich nicht mehr an die früheste Kindheit erinnern kann, erstmals über Mailand, ihre Herkunft und die Machenschaften seiner Feinde. Tief betrübt über das Gehörte schläft Miranda ein. Prospero ruft seinen dienstbaren Luftgeist Ariel herbei und befiehlt ihm, auf das Leben und Wohl der Schiffbrüchigen zu achten. Vorherige Seiten SZENENBILD
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DIE HANDLUNG
Nun tritt Caliban, der Sohn der Hexe Sycorax, der früheren Besitzerin der Insel, an Prospero heran: Er wirft Prospero Undankbarkeit vor und macht auch deutlich, dass er an Miranda als Ehefrau und zukünftiger Mutter seiner eigenen Nachkommen interessiert wäre. Voller Abscheu und unter Drohungen wird Caliban von Prospero zurückgewiesen. In der Zwischenzeit trifft der Sohn des Königs, Ferdinand, der getrennt von den Seinen ebenfalls auf der Insel Rettung fand, auf Miranda. Ganz gegen den Willen Prosperos verlieben sich die beiden jungen Leute ineinander. Da der von Rachsucht getriebene Prospero in Ferdinand nur den Sohn seines Gegners sieht, stellt sich Miranda erstmals in ihrem Leben gegen ihren Vater.
2. AKT Die Schiffbrüchigen wundern sich über die Insel und über ihre Rettung, nur der König sorgt sich um seinen unauffindbaren Sohn Ferdinand. Versuche, den König zu trösten, schlagen fehl, zumal der unsichtbare Ariel geschickt Streit zwischen Antonio und Sebastian beziehungsweise zwischen Antonio und den Höflingen stiftet. Als Caliban zu den Schiffbrüchigen kommt, um sie gegen Prospero aufzuwiegeln, wird er belächelt und mit Alkohol betrunken gemacht – man beschließt, auf die Suche nach Ferdinand zu gehen. Prospero muss erkennen, dass die Liebe zwischen Ferdinand und Miranda nicht zu zerstören ist und er die Macht über seine eigene Tochter verloren hat.
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DIE HANDLUNG
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DIE HANDLUNG
3. AKT Caliban, Stefano und Trinculo – alle drei betrunken – gehen auf die Suche nach Prospero, um ihn zu töten, Stefano und Caliban träumen darüber hinaus jeweils von der Herrschaft über die Insel und einer Zukunft gemeinsam mit Miranda. Währenddessen ernennt der verzweifelte König, vom Tod Ferdinands überzeugt, anstelle seines Bruders Sebastian den Ratgeber Gonzalo zum Nachfolger. Als der König und sein Hof wenig später in einen tiefen Schlaf fallen, beschließen Antonio und Sebastian die Ermordung des Königs und Gonzalos, doch der Plan wird von Ariel, der die Schlafenden rechtzeitig weckt, vereitelt. Zugleich führt Ariel dem König und Antonio die Schuld vor Augen, Prospero und Miranda damals, vor zwölf Jahren, in den sicher scheinenden Tod geschickt zu haben. Unterdessen akzeptiert Prospero Ferdinands und Mirandas Liebe; ja, er bittet Miranda sogar um Verzeihung – dem mordlustigen Caliban erklärt Miranda hingegen einmal mehr ihre Abneigung. Als Ariel, innerlich bewegt, auf die Verzweiflung des Königs von Neapel und von Gonzalo hinweist, die nach wie vor um Ferdinand trauern, entschließt sich Prospero, seinen Feinden zu vergeben und die Vergangenheit hinter sich zu lassen: Als die auf der Insel Herumirrenden vor ihm auftauchen, gibt er dem Vater Ferdinand zurück, trennt sich von seiner Zauberkunst und lässt die Geister frei. In Vorfreude auf die Hochzeit von Ferdinand und Miranda verlassen alle gemeinsam mit dem wiederhergestellten Schiff die Insel – nur Caliban bleibt allein zurück.
KS ADRIAN ERÖD als PROSPERO STEPHANIE HOUTZEEL als MIRANDA
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BER DIESES PROGRAMM- BUCH 2004 wurde Thomas Adès zweite Oper The Tempest am Londoner Royal Opera House, Covent Garden mit großem Erfolg uraufgeführt. Das Werk, für das die Librettistin Meredith Oakes das Textbuch schrieb, basiert auf Shakespeares gleichnamigem Schauspiel und folgt diesem Original inhaltlich bis auf einige Kürzungen, Umstellungen und dramaturgischen Akzentverschiebungen ziemlich genau, wie Andreas Láng ab Seite 34 aufzeigt. Alex Ross heftet sich ab Seite 22 auf die Spuren der Karriere des Komponisten, Gavin Plumley gibt ab Seite 26 – auch musikalische – Einblicke in den Tempest. Thomas Adès hat die musikalischen Proben für die Wiener Premiere 2015 wie auch für die Wiederaufnahme 2024 betreut und das Werk jeweils auch selbst dirigiert. Einen Blick in seine Schaffenswerkstatt gibt er in einem Interview ab Seite 11. Die Premiere der aktuellen Inszenierung an der Wiener Staatsoper am 14. Juni 2015 – eine Koproduktion mit der New Yorker Metropolitan Opera und L’Opéra de Québec – war zugleich die österreichische Erstaufführung
dieser Oper. Der kanadische Regisseur Robert Lepage und Ex Machina, eine innovative multidisziplinäre Kompanie, mit der Lepage seit vielen Jahren weltweit erfolgreich zusammenarbeitet, lassen Prospero in dieser Produktion auf seiner Insel die Mailänder Scala nachbauen, in der er als Theatermagier die Rache an seinen Feinden zu vollziehen gedenkt. Und so zeigt Lepage jeden der drei Akte aus einem anderen Blickwinkel: von der Bühne in den Zuschauerraum, vom Zuschauerraum auf die Bühne und schließlich eine Art Querschnitt aus Bühne und Zuschauerraum. Lepage ließ dadurch die Ebenen verschwimmen – Personen sind zugleich Opfer von Prosperos Vergeltungswut und Zuschauer der magischen Theaterwelt. Ein Interview mit dem Regisseur gibt es ab Seite 17. Der Dramaturg und Autor Adrian Mourby eröffnet in zwei Texten (ab Seite 41 und 54) Einblicke in Einzelaspekte des Shakespeare-Werks, der Musikwissenschaftler Christoph Wellner zeigt ab Seite 46 das weite Feld weiterer Sturm-Vertonungen auf.
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RAINER MARIA RILKE, DER GEIST ARIEL
» Man hat ihn einmal irgendwo befreit mit jenem Ruck, mit dem man sich als Jüngling ans Große hinriss, weg von jeder Rücksicht. Da ward er willens, sieh: und seither dient er, nach jeder Tat gefasst auf seine Freiheit. Und halb sehr herrisch, halb beinah verschämt, bringt mans ihm vor, dass man für dies und dies ihn weiter brauche, ach, und muss es sagen, was man ihm half. Und dennoch fühlt man selbst, wie alles das, was man mit ihm zurückhält, fehlt in der Luft. «
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OLIVER LÁNG IM GESPRÄCH MIT KOMPONIST, DIRIGENT & PIANIST THOMAS ADÈS
OPER IST WIE EINE FFENTLICHE SKULPTUR ol
Wir stehen inmitten des Probenprozesses. Gehören Sie zu jenen, die diese Arbeitsphase schätzen? ta Ich mag Proben. Menschen haben unterschiedliche Geschwindigkeiten, und dem heißt es auch Rechnung zu tragen. Das bedeutet: Manche kommen am ersten Probentag und können bereits alles perfekt, andere brauchen noch ein wenig länger. Meine Aufgabe ist es, den Sängern und Instrumentalistinnen, so weit als es mir möglich ist, zu helfen. Und das in der Zeit, die uns für die Proben zur Verfügung steht. ol Es gibt die Geschichte, dass Sie den Einfall zur Oper in der Nacht nach einem plötzlichen Erwachen gehabt hätten. ta Ja, das ist richtig. Ich hatte vom Londoner Royal Opera House, Covent Garden ein Angebot, eine Oper zu schreiben. Über eine längere Zeit dachte ich über unterschiedliche Stoffe nach, die aber aus unterschiedlichen Gründen nicht zustande kamen beziehungsweise mir dann doch nicht zusagten. ol Etwa? ta Es gab zum Beispiel den Gedanken, ein wunderbares Libretto von Jean SORIN COLIBAN als GONZALO
Cocteau zu vertonen, das allerdings nicht ganz vollendet ist. Aber eines Tages erkannte ich: Jetzt muss ich bald einen Stoff finden, der vertont werden soll. Und der Sturm war so offensichtlich, dass ich mich für ihn entscheiden konnte, ohne mich im Vorfeld sehr ausführlich mit ihm zu beschäftigen. Das war einer der Fälle, bei denen man in der Nacht aufwacht: und die Idee ist da. Und nachdem der Einfall erst einmal geboren war, war es zu spät, um wieder umzukehren. ol Ihr Libretto ist nicht Shakespeare pur, sondern eine Überarbeitung des Sturm-Schauspiels durch Meredith Oakes. Warum nicht das Original? ta Das hat mehrere Gründe. Zunächst: Für mich ergäbe es keinen Sinn, den originalen Shakespeare-Text in Musik zu setzen. Wozu? Es ist ja ein großer Text, und das ist genug. Zweitens: Für meine Musik, für meine Art Oper zu schreiben, brauche ich emotionale Klarheit und eine Geometrie der Motive, das ist etwas, das man bei Shakespeare nicht so einfach bekommt. Es ist zum Beispiel nicht so ganz klar,
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IM GESPRÄCH MIT THOMAS ADÈS
warum Prospero macht, was er macht. Ich wollte eine Textgrundlage, die für die Musik klar genug und auch ausreichend »geometrisch« ist. Damit das Publikum erreicht, berührt werden kann. Damit das Ganze bewegend wird. Meine Geheimwaffe dazu war Meredith Oakes. ol Inwieweit ist das Libretto von Meredith Oakes eine Übersetzung, eine Neudichtung? ta Sie hat eine Art Übersetzung geschaffen und einen ganz eigenen Stil entworfen. Wir reden ja über unterschiedliche Zeitebenen. Im Stück befinden wir uns in einer Vor-Shakespeare-Zeit, es geht um die Herzöge von Mailand und Neapel im 14. Jahrhundert, eine Art mythische Zeit. Das Englisch, das Shakespeare verwendet, entstammt wiederum aus dem 16. Jahrhundert, das dieses 14. Jahrhundert darstellt. Und Meredith Oakes’ Englisch evoziert beide Zeiten. Aber sie geht nicht in die Falle einer historischen Sprache. ol Wie war die Zusammenarbeit zwischen Ihnen? Muss man sich das vorstellen wie zwischen Strauss und Hofmannsthal, also auch ein Ringen um ein Ergebnis? ta … und viele, viele Briefe? (lacht) ol … und ein: Schreib’ mir bitte noch fünf Verse. ta Es war eine absolut fantastische Zusammenarbeit. Meredith war sehr hilfreich, sie ist eine brillante Librettistin und Stückeschreiberin. Wann immer ich einen musikalischen Ausdruck nicht gefunden habe und der Weg der Musik für mich nicht klar war, meinte sie: »Gib mir eine Minute, ich muss etwas falsch gemacht haben.« Und dann war die Lösung da. Mere-
dith hat einfach verstanden, was ich zum Komponieren benötigt habe. Sie hat den Text ja nicht nur »übersetzt«, sondern eine gänzlich andere Struktur geschaffen. So ist das, was herausgekommen ist, teilweise ganz anders als Shakespeare, aber dann doch immer ganz nahe an Shakespeare dran. Es evoziert Shakespeare. Wir schrieben übrigens nicht viele Briefe, sondern Faxe. Interessanterweise. Denn 2003 gab es ja eigentlich schon E-Mail. ol Inwieweit kamen durch die neue Struktur auch neue Szenen dazu? ta Ich habe beschlossen, einen Chor – den gesamten Hof – zu haben. Also auch mit Frauen, obwohl es in Shakespeares Stück ja eigentlich nur eine einzige Frau, Miranda, gibt. Und ich wollte, dass Caliban mit dem gesamten Hof zusammentrifft. Diese komische Ecke, in die ihn Shakespeare stellt, kann im Schauspiel funktionieren, in der Oper wollte ich aber mehr, ich wollte ihn aus dieser Ecke retten; wenn er sagt: »Freunde, fürchtet euch nicht«, dann braucht es nach meiner Ansicht einfach mehr. Es braucht einen Chor als Gegenüber. Wir mussten also zusätzliche Szenen erfinden. ol Inwieweit waren andere musikalische Sturm-Bearbeitungen für Sie relevant? ta Ich bin natürlich bei Weitem nicht der erste Komponist, der sich diesem Stoff zugewandt und an einer entsprechenden Oper versucht hat. Ich weiß aber wenig von den anderen Opern, ich kenne ein paar Arien, die Henry Purcell geschrieben hat, und die wunderschöne Musik von Michael Tippett – wobei es sich dabei um keine eigentliche Sturm-Oper, sondern um seinen Knot Garden handelt. Na ja,
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und natürlich ist da noch Ludwig van Beethoven, der Shakespeares Sturm geliebt und sich intensiv mit ihm auseinandergesetzt hat. Diese komplexe Hintergrundgeschichte rund um Prospero: Da zerbrach er sich den Kopf, wie man das umsetzen könnte. Aber er hatte keine Meredith … (lacht). ol Caliban ist in Ihrer Opernfassung kein Klischeebild. ta Nein, ich fand das problematisch, wenn er mitunter so gezeigt wird. Ich frage mich, ob man dann sehr weit kommt. Ich finde ihn als Spiegel von Prospero viel interessanter. Fakt ist: Er ist der König seiner Welt. Er ist vielleicht dekadent, vielleicht seltsam. Aber er ist immer noch ein Aristokrat und königlich. Und so ist er bei mir stimmlich auch kein großer Bass, sondern eher ein französischer Tenor. Das finde ich vom Bühnencharakter her interessanter. ol Im Tempest greifen Sie unter anderem auf barocke Formen zurück. ta Ich war fasziniert von der Hofmusik und wollte etwas entwerfen, das mit den Traditionen des Barocks verwandt ist. The Tempest ist ein Stück voller Magie, vom Anfang bis zum Ende, und es gibt eine große Anzahl an Farben im Text. Das wollte ich aber nicht instrumental verstärken, sondern auf eine barocke Art und Weise: Der Sturm ist ja auch kein echter, sondern ein von Wissenschaftlern geplanter, mit geometrischer Qualität. Ich finde Magie wirkungsvoller, wenn sie musikalisch nicht immer auftaucht, sobald die Rede von ihr ist. Ich möchte mich nicht hinter den Effekten verstecken. ol Sie sind nicht nur Komponist, sondern auch Pianist und Diri-
gent. Macht dieses Wissen um die praktische Seite das Komponieren schwieriger? Weil sie die Grenzen kennen? ta Ich habe oft folgende Erfahrung gemacht: Der Dirigent sagt in mir zum Komponisten: »Weißt du, dass das richtig schwer ist, was du da komponiert hast?« Und er wünscht sich, der Komponist hätte es etwas einfacher gemacht. Aber der hat nun einmal Vorrang bei mir. Abgesehen von mir als Dirigent: Fragen Sie einen Instrumentalisten oder eine Sängerin: Ich habe die Oper tatsächlich nicht zu leicht gemacht … ol Haben Sie während des Schreibens Sängerinnen und Sänger gefragt, ob das Komponierte sangbar ist? ta Ich habe einfach geschrieben. Viele Rollen loten Extreme der Stimmen aus. Aber wenn man zu viel fragt, dann wird das Ganze ein wenig langweilig und konstruiert. Anfangs sagten manche Sänger: »Das ist zu schwierig.« Aber bereits bei der Wiederaufnahme waren sie deutlich entspannter. Sie hatten sich an das Extreme gewöhnt. Im Fall von Ariel wusste ich nicht, ob es überhaupt jemanden gibt, der die Partie singen kann. Es schien mir möglich. Aber ganz sicher war ich mir nicht. Also schrieb ich und überließ es dem Opernhaus, jemanden zu finden. Und es hat geklappt. ol Und entwickelten Sie vor Ihrer ersten Oper eine Operntheorie, auf die Sie dann in der Praxis aufbauten? ta (lacht) Nein, wir arbeiten in England nicht so. Die Oper soll menschliche Gefühle berühren und in die Tiefe des Menschen reichen; sie kommt
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OPER IST WIE EINE ÖFFENTLICHE SKULPTUR
meiner Meinung nach näher an das Innerste heran als jede andere Kunstform. Theorien als solche sind für mich nicht wichtig. Wichtig ist eben: Wie komme ich an die Gefühle der Menschen heran? Wie erreiche ich Menschen? Politik und alles andere ist nur insofern interessant, als sie uns die emotionale Realität des Stückes näherbringt. Natürlich braucht man die richtigen Werkzeuge, um das auch handwerklich umsetzen zu können. ol Sind diese Werkzeuge bei einer Oper andere als bei einer Symphonie? Auf der Opernbühne sieht man ja vieles, das muss dann ja musikalisch nicht mehr ausgesprochen werden. ta Im Grunde sind es genau dieselben Werkzeuge. Man verwendet sie in der Oper nur ein wenig anders. Oper ist wie eine öffentliche Skulptur. Es ist eine Skulptur, unter besonderen Umständen: Sie ist gewissermaßen Wind und Wetter ausgesetzt und für jedermann erfahrbar. Man muss also anders kommunizieren. Nicht einfacher, nicht bevormundend, aber anders. ol Wenn Sie heute auf das Werk zurückblicken, dann… ta … dann ist es für mich einfacher geworden. Ich verstehe die Stimmung der Szenen besser, etwa, was das Tempo betrifft. Nach dem Abschluss der Kompositionsarbeit wusste ich zum Beispiel: Diese oder jene Stelle basiert auf einem barocken Tanz. Und bei den ersten Proben fragten mich manche: Sollte das nicht langsamer sein? Und ich antwortete: Nein, weil es auf einer Bourée basiert. Später erkannte ich: Sie haben recht. Das gesamte Finale war in meinem Kopf viel schneller. Das hat sich nach und nach verändert. Anderes ist nach wie vor herausfordernd.
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War das Werk nach Kompositionsabschluss für Sie endgültig beendet? Oder behielten Sie sich in der Hinterhand noch die Möglichkeit einer Überarbeitung? ta Es gibt ein paar Details, bei denen ich mir gedacht habe: Das könnte man einfacher machen. Nicht nur in der Rhythmik, sondern auch in der Orchestrierung. Dann aber denke ich mir: Lass’ es! Diese Dinge sind fruchtbare Eigenschaften und Aspekte des Werkes, Charakteristika. Und ich möchte die Oper eigentlich nicht charakterlos machen. In diesem Sinne: Ich habe hart an diesem Werk gearbeitet und bin froh mit ihm. Und ich fühle, wenn ein Stück fertig ist. Es noch einmal zu überarbeiten wäre, denke ich, ein Fehler. ol Gibt es etwas, was Sie dem Publikum mit Ihrem Tempest mitteilen wollen? Die berühmte Botschaft? ta Ich sage es anders: Ich würde mir wünschen, dass die Menschen, die den Tempest erleben, nach einer Vorstellung bewegt sind. Das lässt sich nicht so einfach in Worte fassen. Also: auf eine bestimmte Art transformiert und doch zu sich selbst zurückgekehrt. Oder, einfacher ausgedrückt: The Tempest soll im Idealfall eine Reise sein, ein emotionales Erlebnis. Wenn das gelingt, bin ich glücklich. Das Interview entstand 2015
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DAN PAUL DUMITRESCU als STEFANO THOMAS EBENSTEIN als CALIBAN
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ANDREAS LÁNG IM GESPRÄCH MIT R EGIS SEU R ROBERT LEPAGE
DAS THEATER ALS WERKZEUGKISTE DER MAGIE al
Sie haben Shakespeares Tempest schon mehr als ein halbes Dutzend Mal inszeniert, was fasziniert Sie so an diesem Werk? rl Shakespeares letztes, überaus reiches Stück ist Vermächtnis und Vision zugleich: Ein Blick auf die Welt, in der man mit Schiffen über das Meer gefahren ist und Amerika beziehungsweise die Welt der Ureinwohner erkundet hat. Mirandas oft zitierte »brave new world« ist zunächst und primär natürlich handlungsbezogen, meint aber im weiteren Sinn zusätzlich diese, für die Europäer neue Welt jenseits des Ozeans. Tempest führt unter anderem die Reflexe, die Konflikte vor Augen, die geschehen, wenn eine Kultur, die sich anmaßt, in allen wesentlichen Belangen den Durchblick zu haben – wie jahrhundertelang die europäische –, plötzlich auf eine andere, ihr unbekannte Zivilisation trifft: Es taucht der Drang nach Kolonisierung auf, der Drang des Besitzenwollens, aber ebenso der Wille sich zu vermischen, zu assimilieren. Prospero etwa agiert auf seiner Insel, die ihm ursprünglich gar nicht gehört hat, einerseits wie ein europäischer Potentat der
KS ADRIAN ERÖD als PROSPERO
Entdeckungszeit, andererseits wird er Teil dieser fremden Welt, macht sich die Magie der Insel zu eigen. In unserer Produktion ist er eben deshalb wie ein Ureinwohner gekleidet: Prospero übernimmt sozusagen mit dem Outfit der ansässigen Bevölkerung zugleich auch deren eigentümliche Kraft und Macht. In Tempest geht es weiters um die Akzeptanz des Alterns und des Sterbens, es geht um Rache und Vergebung. Miranda beginnt letztendlich ihr eigenes, unabhängiges Leben und so ist es ihrem Vater Prospero nun erlaubt, alt und krank zu werden – sein Verstand wird sich eintrüben, die Erfahrungen hat er weitergegeben, also darf er jetzt sterben. Die Handlung ist gewissermaßen der Prozess zu dieser Erkenntnis und zu diesem Punkt. All diese, auch in den heutigen politischen und kulturellen Diskussionen durchaus aktuellen Thematiken, faszinieren mich jedes Mal neu. al Thomas Adès’ Tempest basiert auf dem Shakespeare-Stück – aber in manchen inhaltlichen Punkten unterscheidet sich die Oper vom Schauspiel…
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IM GE SPR ÄCH MI T R EGIS SEU R ROBERT LEPAGE
rl Es gibt so manche Kürzung, Vereinfachung, das Hauptpersonal ist verkleinert. Andererseits wird das gesamte Schiffspersonal, das man im Stück nur aus dem Hintergrund hört, von Thomas Adès als Chor auf die Bühne eingeladen, wo es singt und aktiv an der Geschichte teilnimmt. Ähnliche Veränderungen passieren häufig in Shakespeare-Vertonungen – man denke nur an Verdis Macbeth: im Stück existieren drei Hexen, in der Oper gleich ein ganzer Chor von Hexen. Aber von all dem abgesehen, gibt es im Vergleich zum Tempest-Schauspiel tatsächlich auch manch unerwartete Wendung in der Oper. Ein sehr gutes Beispiel betrifft die Einstellung Prosperos zur Liebe zwischen seiner Tochter und Ferdinand. Im Stück werden Ferdinand und Miranda von Prospero zusammengeführt, die Liebe der beiden ist vom Vater erwünscht. In der Oper finden wir die komplett gegenteilige Situation vor: Dort ist es Zufall, oder aus der Sicht Prosperos, ein ungewollter Unfall, dass die beiden jungen Leute aufeinandertreffen. Prospero will in der Oper diese Liebe sogar verhindern, hat aber nicht die Macht dazu, weil die Liebe Mirandas und Ferdinands stärker ist als Prosperos Magie. Ich finde, dass durch diese wunderbare Umdeutung, die beteiligten Figuren in der Oper menschlicher, ja, psychologisch glaubwürdiger erscheinen. Spannender sogar, weil Prospero in eine Widersprüchlichkeit verstrickt wird, die ihn als Person farbiger, interessanter zeichnet: Der Ablösungsprozess der Tochter ist deutlicher, das Loslassenmüssen des Vaters zwingender. Man sieht die zwei gegensätzlichen Kräfte in Prosperos Brust arbeiten: Einerseits seine Liebe zu Miranda und gleichzeitig die Abneigung gegen den
von ihr geliebten Ferdinand, seinen Schwiegersohn in spe. Abgesehen davon kann man heute kein zeitgemäßes Libretto mehr schreiben, in dem ein Vater den Gatten für die Tochter aussucht. al Prospero ist in Ihrer Inszenierung ein Impresario des 19. Jahrhunderts – warum? rl Nun, es hängt davon ab, was man unter einem Impresario versteht. Mich hat als Ausgangspunkt der Überlegungen das zeitliche Zusammentreffen mehrerer unterschiedlicher Ereignisse interessiert und fasziniert: Das originale Tempest-Stück wurde von Shakespeare um 1608 geschrieben, ein Jahr davor erfolgte die Uraufführung von Monteverdis Orfeo, einem ersten Markstein der damals neuen Gattung Oper, zur selben Zeit erfand man das traditionelle japanische Kabuki-Theater und – last but not least – wurde 1608 Québec-City an der Stelle eines Irokesendorfes gegründet, und gerade in Québec-City haben wir diese TempestProduktion ja zum ersten Mal zeigen wollen respektive auch gezeigt. Es ging also um den überaus reizvollen Gedanken, diese verschiedenen, zeitgleichen historischen Aspekte auch in der Inszenierung an einem Ort der Illusion zusammenzuführen: die Idee der Oper, des Theaters, die Kultur der Ureinwohner. Prospero ist somit der Europäer, der in Amerika gestrandet ist, Caliban steht für die ursprüngliche Bevölkerung und das Opernhaus, das sich Prospero auf der Insel als seine private Welt erbaut, symbolisiert die Oper, das Theater an sich, das bei Shakespeare immer ein Abbild der Welt darstellt – vergessen wir nicht, dass Shakespeares Theater den Namen »Globe« trug. Der Schritt zur Mailänder Scala war dann nur mehr ein kleiner: Denn welches Opernhaus sollte
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DAS THEATER ALS WERKZEUGKISTE DER MAGIE
sich Prospero, der gestürzte Herzog von Mailand, nachbauen, wenn nicht jenes seiner Heimatstadt? al Die Zaubereien Prosperos sind in dieser Produktion also nicht nur echter Zauber, sondern auch Theaterzauber? rl Ja, so empfinde ich das. Diese von Prospero nachgebaute Scala ist die Werkzeugkiste seiner Magie. al Im ersten Akt sieht man in dieser Produktion in den Zuschauerraum, im zweiten auf die Bühne und im dritten hat man eine Art Querschnitt aus Zuschauerraum und Bühne. Warum dieser Wechsel des Bühnenbildes von Akt zu Akt? rl Es war interessant eine Welt zu schaffen mit Personen, die einerseits natürlich die Opfer von Prosperos Rache sind, also wirkliche Akteure, andererseits aber auch als Zuschauer dieser magischen Welt agieren. Dadurch wirken sie wie ein Echo der tatsächlichen Zuschauer im wirklichen Auditorium: Einmal handelt es sich scheinbar um Szenen im Dschungel eines hyperrealistischen Stückes, dann wechselt die Beleuchtung und es wird klar: alles ist nur Papiermaché, ist nur Prosperos Theaterwelt. Auf diese Weise werden dem Publikum beide Sichtweisen wechselweise angeboten. al Wenn Sie eine Inszenierung entwickeln, haben Sie am Beginn mehrere unterschiedliche Richtungen oder Ideen, die Sie weiterverfolgen und aus denen Sie am Ende die beste aussuchen? rl Wenn man mehrere Jahre an einem Stück arbeitet, nachdenkt, Workshops veranstaltet, Verschiedenes ausprobiert, Prototypen des Bühnenbildes baut, bietet sich das Ergebnis am Ende
des kreativ-intuitiven Entwicklungsprozesses von selbst an, es kommt auf einen zu. Aber man muss geduldig sein! Als Regisseur gleiche ich also jenem Kapitän, der mit seinen Schiffen ausgefahren ist, um einen Kontinent zu entdecken. Ein Christoph Kolumbus gewissermaßen (lacht). Ich weiß am Beginn der Reise nicht, wie der Kontinent ausschauen wird, aber ich weiß, dass es ihn gibt. Er ist unter Umständen sogar schöner, interessanter, reicher, als wir es erwarten oder erhoffen. al Ihre Inszenierungen entstehen, wie im Falle von Tempest, in Zusammena rbeit mit Ex Machina. Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus? Sie geben die Richtung vor und dann arbeitet jeder in der Kompanie für sich? rl Nein, wir arbeiten während des Entstehungsprozesses die ganze Zeit zusammen. Wenn man mich um eine Regie bittet, so antworte ich stets: »Sie müssen auch Ex Machina engagieren, da es mich nur zusammen mit meiner Kompanie gibt.« Wir verfolgen mit Ex Machina in der Vorbereitung einer Produktion eine Methode, die nicht einzupassen ist in das klassische System der großen Repertoirehäuser, wie der Wiener Staatsoper, der New Yorker Met, der Scala, der Pariser Oper, dem Royal Opera House in London, denn wir entwickeln eine bestimmte Inszenierung, die Kostüme, die Beleuchtung, die notwendige Bühnentechnik immer über einen Zeitraum von mehreren Jahren – das ist in Québec, wo alles billiger ist und die Strukturen weniger kompliziert sind, problemlos möglich. Die Sängerinnen und Sänger, die selbstverständlich nicht die ganze Zeit dabei sein können, werden währenddessen
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von Akrobatinnen und Statisten ersetzt, mit denen wir Lösungen suchen, die natürlich darauf Rücksicht nehmen, dass Sänger primär Klänge produzieren sollen. Und wenn dann die reguläre sechswöchige Probenzeit vor einer Premiere im jeweiligen Theater beginnt, verlieren wir keine Zeit mehr damit etwas zu versuchen, auszuwählen, zu testen, sondern können den Sängerinnen und Sängern bereits fertige Möglichkeiten anbieten, die wir vorgearbeitet haben. al Sie haben zum Teil andere Sänger als in New York. Hat dieser Umstand in manchen Aspekten Einfluss auf das Gezeigte? rl Natürlich, da ich immer versuche auf die Persönlichkeiten einzugehen. Die Energie eines Sängers oder einer Sängerin bringt eigene beziehungsweise neue Elemente in eine Produktion. Wir versuchen das nicht zu unterdrücken, sondern fragen uns: Wie kann man diese Aspekte in das bestehende System der Produktion einbauen, das Ganze erweitern? Nur ein Beispiel: Die Premieren-Sängerin der Miranda hier an der Wiener Staatsoper, Stephanie Houtzeel, ist als Person, als Grundcharakter ganz anders geartet als jene, die die Rolle an der Met verkörpert hat. Die Interpretin an der Met war sehr romantisch, naiv – Stephanie Houtzeel hingegen ist aktiv, mehr der Typ »wildes Kind«. Und da Miranda in der Handlung ja ohnehin auch ein wildes Kind ist, habe ich Stephanie bestärkt: »Versuche nicht naiv zu sein, du musst von dem nehmen, was dir als Material mitgegeben wurde.« al In welcher Form war die Musik von Thomas Adès Inspirationsquelle für die Inszenierung? rl Caliban bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: »Die Insel ist aus Musik
und Klängen gemacht.« Klänge muss ja nicht Töne meinen, sondern kann durchaus auch als Wiedergabe bestimmter Geräusche verstanden werden, die im Theater, die auf und hinter der Bühne entstehen: Beim Drehen der Winden, durch das Arbeiten der Theatermaschinen, der Bühnentechnik – bei uns Bestandteile der Magie Prosperos. Und diese »Theatergeräusche« sind neben den neobarocken Elementen ebenfalls aus der Musik von Thomas Adès herauszuhören. Darüber hinaus ist viel von dem, wie die Figuren bei uns erscheinen, wie sie sich bewegen, miteinander umgehen vom Subtext der Musik bestimmt. Kurzum: Die Partitur von Tempest hat die Charaktere und das gesamte Bühnenerscheinen dieser Produktion geprägt und bedingt. al Die Musik der einzelnen Charaktere in Adès’ Tempest ist sehr unterschiedlich. Sie haben also entsprechend der Komposition für die einzelnen Protagonisten ein je eigenes Repertoire an Bewegungs- und Reaktionsformen, an Mimik entwickelt? rl Ganz besonders sieht man das an Ariel – er hat geradezu ein ganzes Vokabular an Gesten und Bewegungen, das von der Interpretin sehr viel an athletischem und akrobatischem Einsatz erfordert. Dieses gestische Vokabular wird allerdings nie redundant eingesetzt, es verdoppelt nicht die Musik, sondern zeigt eine weitere Energie des Charakters und unterstützt dadurch wiederum – auf einer zusätzlichen Ebene – die Dynamik in der Musik. al Ist Ariel ein wirklicher Geist? rl Ariel wird immer wie eine lokale Kreatur gezeigt. Aber er ist Prosperos Geist, Verstand, Absicht, seine Gedanken, Selbstreflexionen. Bei Shakespeare
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DAS THEATER ALS WERKZEUGKISTE DER MAGIE
haben viele Figuren ein entsprechendes Gegenüber, Romeo beispielsweise den Benvolio, um eben Selbstreflexion zu üben. Im Falle Prosperos, dieses Mannes, der gemeinsam mit seiner Tochter fern der Heimat auf einer unbekannten Insel Zuflucht nehmen musste, fehlt so ein Benvolio, also hat Shakespeare Ariel erfunden. Für mich ist Ariel mit anderen Worten der Gegenpart der Selbstgespräche Prosperos. al Wenn Sie Sänger wären, welche Rolle würden Sie hier in Adès Tempest gerne übernehmen?
rl Ferdinand, und zwar aus musikalischen Gründen. Ich empfinde diese Partie aus der Sicht des Sängers als die wohl interessanteste im gesamten Stück. Vor allem in den Szenen mit Miranda hört man viele schöne Barockanklänge, englisches Barock und dann kippt die Musik, auf eine geradezu boshafte Art. In der Rolle von Ferdinand spiegelt sich, meines Erachtens nach, die gesamte Tempest-Musik am Deutlichsten wider. Das Interview entstand 2015
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ALEX ROSS
PR CHTIG & FREMD- ARTIG THE TEMPEST VON THOMAS ADÈS Zum ersten Mal hörte ich die Musik von Thomas Adès im Jahr 1995 an einem trüben Frühlingstag in Aldeburgh, England. Der Komponist war damals 24 Jahre alt – ein nervös-selbstbewusster junger Mann, der in rollenden Basstönen sprach wie ein sehr englischer Ving Rhames. Aufgeführt wurde das Stück Living Toys, mit jener Art von wild umher hastender Chaostheorie-Musik, die Komponisten unter dem Einfluss von György Ligeti damals verfassten. Aber ich hörte auch etwas anderes – eine deutliche Melancholie, die sich zu kurzen, schluchzenden Bitten verdichtete. Durch ein Labyrinth von Stilen und Stimmungen führte das Werk sein Publikum weit fort in eine ganz private Welt. Hier war ein Komponist, der zu allem fähig schien. In den darauffolgenden Jahren wurde Adès berühmt, berüchtigt, ein bisschen zu sehr exponiert – Probleme, die sich amerikanische Komponisten nur wünschen können. Seine erste Oper, Powder Her Face, wurde wohl mehr wegen des Blowjobs auf der Bühne gefeiert als wegen ihrer messerscharfen Charakterisierungen. Sein erstes großes symphonisches Werk, Asyla, enthält einen viel diskutierten und oft imitierten Scherzo-Satz, der eine Nacht im Drogenrausch in einem Londoner Club darstellt. 1999 verblüffte er das Publikum des New York Philharmonic Orchestra mit einer monumental grimmigen Kantate mit dem Titel America: A Prophecy, mit der Textstelle »Your cities will fall ... It is foretold / Prepare« (Eure Städte werden fallen ... Es ist vorhergesagt / Seid bereit). Bei all der Konzentration auf die extravaganten Eigentümlichkeiten der Werke von Adès wurde übersehen, dass sie durch fantastisch kunstvolle the-
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PRÄCHTIG & FREMDARTIG
matische Ausgestaltungen verknüpft waren, so, als sei der Komponist darauf bedacht, animalische Energien in makelloses Gewand zu kleiden. Dann kam eine Periode, in der sich der neue Star der englischen Musik seiner Richtung unsicher schien. Im Rahmen eines Auftrags für das Royal Opera House, Covent Garden, kam ein Projekt ins Stocken, sodass er sich kurzfristig dafür entschied, ein anderes in Angriff zu nehmen: The Tempest / Der Sturm von Shakespeare. Abgabetermine rückten drohend näher, die Partitur war nicht fertig. Die britische Presse, deren Verehrung sich verflüchtigt hatte, ließ durchblicken, es könnte sich ein Fiasko anbahnen, Sänger klagten über die Schwierigkeit ihrer Partien. Am Vorabend der Première wurde Adès in einigen Artikeln als Lieferant »banaler Cleverness« und »seichter Raffinesse« bezeichnet, der versucht hatte, »zu viel zu früh« zu tun. Wie viel ist zu früh? Frei nach Tom Lehrers unsterblichem Spruch könnte man sagen: Als Schubert im Alter von Adès war, war er bereits ein Jahr tot. The Tempest ist das Gegenteil einer Enttäuschung; es ist ein Meisterstück graziöser Schönheit und schauriger Kraft. Wie nach Plan ist Adès im Alter von 32 nun der bedeutende Künstler, den seine frühesten Arbeiten erwarten ließen. Ausschnitt aus einem Artikel, der im März 2004 in The New Yorker erschienen ist
DAVID PERSHALL als SEBASTIAN
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G AV I N P L U M E Y
ENDLICH VERS HNT & GEHEILT Als William Shakespeare Anfang des 17. Jahrhunderts das Drama Der Sturm schrieb, konzipierte er es nicht nur als verbale, sondern auch als akustische Erfahrung. Obgleich Shakespeare mit Regieanweisungen oft sparsam war, verlangt er hier mehrmals »feierliche und fremdartige Musik.« Außerdem stellt Caliban fest, dass »die Insel«, auf der Prospero seine Magie entfesselt, »voll von Geräuschen« ist. So ist es nicht verwunderlich, dass unter allen Stücken Shakespeares gerade dieses eine im Laufe seiner vierhundertjährigen Geschichte das Interesse zahlloser Komponisten weckte. Viele Orchesterwerke bauen auf diesem Stück auf, doch obwohl sich Halévy, Fibich, Martin, Tippett und Berio an Opern versuchten, kam nur Thomas Adès in seiner Auseinandersetzung mit diesem großartigen metatheatralischen Text dessen Reichtum und Eigentümlichkeit nahe. Während das Drama die Schlagkraft des Theaters betrifft – was auch in Shakespeares Anspielung auf sein Schauspielhaus offenbar wird, wenn er sagt »the great globe itself« (der große Globus selbst) –, setzen Adès und seine Librettistin Meredith Oakes auf die einzigartige Heilkraft der Musik. Die Erwartungen waren groß, als Adès zu Beginn des neuen Milleniums mit der Schaffung einer neuen Oper be-
auftragt wurde. Das Royal Opera House hatte ältere und etabliertere Persönlichkeiten der zeitgenössischen britischen Musikszene übergangen und mit der Einladung an Adès dessen bereits herausragende Leistungen unterstrichen. Nach seiner Ausbildung an der Guildhall School of Music and Drama in London sowie in Cambridge – wo er bei Alexander Goehr und Robin Holloway studierte – komponierte Adès sehr bald Stücke für Simon Rattle in Birmingham (und anschließend in Berlin), bevor er 1995 seine deftige Kammeroper Powder Her Face herausbrachte. Es folgten Plattenverträge mit EMI und die Leitung der Birmingham Contemporary Music Group und des Aldeburgh Festival. Aber würde sich die Wahl eines ShakespeareDramas für seine zweite Oper als ein zu großes Wagnis erweisen? In seiner Arbeit mit Oakes, einer aus Australien stammenden Bühnenautorin, ging Adès mit seiner Adaption ganz bewusst auf Distanz zum Originaltext. Hier sollte keine direkte Überführung Shakespeares auf die Opernbühne stattfinden. Stattdessen orientierten sich Oakes und Adès an Verdis und Boitos radikalem Umgang mit Othello und Falstaff und gestalteten aus Shakespeares Drama in fünf Akten einen neuen dreiaktigen Aufbau. Oakes behält die ursprüngliche Magie zum
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größten Teil bei, lässt aber die verschiedenen Figuren des Stücks aufeinanderprallen. Berichtete Handlung wird zur gespielten Handlung, und die zentrale Auseinandersetzung zwischen Neapel und Mailand spielt sich in einer Reihe von Charakterskizzen, Dialogen und Konfrontationen ab. Diese Dichotomie ist schon im gesungenen Text erkennbar, wo teils einfach verfasste Couplets sowohl Konflikte als auch deren Auflösung unterstreichen. Im Mittelpunkt der stürmischen Handlung steht natürlich Prospero. Er ist der rechtmäßige Herzog von Mailand, der zusammen mit seiner Tochter Miranda von seinem Bruder Antonio mithilfe des Königs von Neapel auf eine Insel verbannt wurde. Als er erfährt, dass Antonio mit dem Hofstaat des Königs an seiner Insel vorbeikommen wird, beschwört Prospero einen Sturm herauf, damit sie Schiffbruch erleiden. Die Ouvertüre, die kurz vor der Uraufführung der Oper im Februar 2004 fertiggestellt wurde, zeigt Prospero am Höhepunkt seiner Gewalt über das Wetter. Zuerst hören wir die Streicher säuseln – Musik himmlischer Stasis. Doch bald wird dieses Geräusch durch einen Halbtonschritt in beide Richtungen verzerrt, und eine misstönende Sequenz von Akkorden erhebt sich aus den Tiefen des Orchesters und
entfesselt einen musikalischen Sturm. Schwingend zwischen mikroskopischer Dynamik und durchdringenden dreifachen Forti, basieren die verknoteten Harmonien der Musik auf diesem schrillen Halbton. Rhythmisch instabil, zerrissen durch ein Metallblech und eine orchestrale Peitsche, werden diese wilden Abweichungen im Ton zum Markenzeichen von Prosperos Welt. Bei Shakespeare eine Quelle der Poesie und Fantasie, wird Prospero in der Oper – wie bei Wagners Wotan – zur Ursache von Finsternis und Verzweiflung. Mit der Macht Neptuns ausgestattet, beeinflusst Prospero die Musik der Personen in seinem Umkreis. Mit der Rolle des Ariel ist Adès eine besonders inspirierte Schöpfung gelungen. Sein stratosphärischer Gesangspart ist oft ein Widerhall von Prosperos Tiraden (wenn auch einige Oktaven höher), aber auch hier klingt ein Konflikt durch. Ariel wurde zwar durch Prospero von einem Fluch befreit, doch ist er nun ihm untertan. Wie Caliban – der die Insel als sein Eigentum betrachtet – vermittelt Ariel die echte Klangstimmung der Insel. Ariel ist häufig eher Klang als Wort, ganz anders als Caliban, der uns in einer der hinreißendsten Passagen der Oper erzählt, dass »die Insel voller Geräusche ist« (the island’s full of noises). Ihr Heim sollte ein Klangparadies sein, in dem
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Caliban gerne König wäre. Prosperos Zorn gehört eindeutig nicht hierher. Im Gegensatz zu den Bewohnern der Insel – grimmig wie Prospero, zauberisch wie Caliban und Ariel – ist der exilierte Hofstaat weitaus strukturierter. Anklänge des französischen Barocks, Tanzrhythmen und kanonische Strukturen deuten die Hierarchien an, die Prospero im Sturm zu ertränken hoffte. Weit entfernt von diesen polternden Monologen ist der König von Neapel eine musikalisch gedämpfte Figur. Sein durchnässter Hofstaat singt in kurzen, auf halbem Weg stecken bleibenden Ausbrüchen von Harmonie, während einzelne Personen, wie der erbittert streitende Antonio und Sebastian, oder der komische Trinculo und sein betrunkener Kumpan Stefano, die ungleichen Beziehungen in Prosperos exilierter Gruppe widerspiegeln. Nur Gonzalo reicht einen dramatischen und musikalischen Ölzweig, obwohl sein Optimismus ständig von der verzweifelten Situation herausgefordert wird, in der sich er und seine Mitreisenden befinden. Die Kluft zwischen der Insel und dem Hofstaat wird überbrückt durch die aufkeimende Beziehung zwischen Ferdinand und Miranda. Als Vertreter der beiden Lager spiegeln sie einander aufs Schönste. Nach Ariels schwindelerregender Arie »Five fathoms deep« (Fünf Faden tief) klingt Ferdinands Antwort besonders lyrisch, obwohl er eine heroischere Seite hat (die an Prosperos Musik erinnert). Miranda hingegen ist wunderbar zielstrebig. Sie kapituliert nicht vor den laut schallenden Tönen ihres Vaters. Tatsächlich ist es Miranda, die den Sturm zu beruhigen scheint, als der Vorhang aufgeht. Polyphonie weicht der Homophonie, und in Ferdinand findet Miranda ihr musikalisches GegenTHOMAS EBENSTEIN als CALIBAN
stück. Die Fähigkeit des Paares, die politischen, dramatischen und musikalischen Pole der Oper zu verbinden – oder in Prosperos Worten, »A strong power than mine« (Eine Macht, stärker als die meine) –, spornt seine Entschlossenheit noch weiter an. Aber während Mirandas und Ferdinands Liebesduett im 2. Akt zwei Personen im Einklang zeigt – unisono singend »My lover smiling blessed asylum« (Meine Liebe lächelt / Selige Zuflucht) –, sind die Anfangsszenen des dritten Aktes ebenso heftig wie der Sturm, mit dem die Oper begann. Zwischen pppund fff-Dynamik hin- und her schwingend, präzise gerichtet auf diesen einen beklemmenden Halbton, oder riesige Klüfte mit plumpen Intervallen überspringend, kommt es schließlich zum Showdown zwischen dem Hofstaat und Prospero. Calibans auditorische Zuflucht wird zu einer fernen Erinnerung, als gleitende Posaunen, Cellos, Kontrabässe und wild anschwellende Dissonanzen »die Wut der Hölle« beschreiben. Prospero, erneut mit der Liebe seiner Tochter zu Ferdinand konfrontiert, kann sich jedoch nicht mehr widersetzen und bringt seinen letzten Zauber zum Einsatz: die Auflösung der Situation und Freilassung Ariels. Der befreite Ariel segnet das Paar – »Children born of mortal strife May you live a happy life« (Kinder des tödlichen Zwists / Glücklich sollt ihr leben) – mit Noten, die das Thema für die darauffolgende Passacaglia vorgeben. Diese mit Spanien und Italien assoziierte höfische Form aus dem 17. Jahrhundert ist eine Folge von Variationen über einer festen Basslinie. Ariels Segnung ist aber noch bedeutungsvoller, denn Prospero, der König, Gonzalo, Ferdinand und Miranda sind »endlich versöhnt
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ENDLICH VERSÖHNT & GEHEILT
und geheilt« und tauchen gleichsam aus der Dunkelheit ans Licht. Schwere Dissonanzen lösen sich auf, und – auch hier anders als in der ursprünglichen Dramaturgie – stellen Caliban und Ariel (anstelle von Prospero) den säuselnd musikalisch-zauberischen Zustand der Insel wieder her, nunmehr verklärt in einer ganz neuen Tonart. Die Abweichung von Form und Sprache des originalen ShakespeareDramas hätte als Angst vor dem Genie des Barden verstanden werden können. Aber die von Adès und Oakes gewählten Texturen und Strukturen bringen das Werk seiner Botschaft näher, als
dies die musikalischen Versuche ihrer Vorgänger vermochten. Durch ein Netzwerk unterschwelliger und doch sofort erkennbarer musikalischer Ideen – Dissonanz und Konsonanz, springende Intervalle und Legatobögen, Polyphonie und Homophonie – sind Theater und Musik in The Tempest vereint. Die Kraft des Ersteren ist in der Sprache der letzteren auf brillante Weise reflektiert. Der Anfang der Oper fällt kopfüber in einen haltlosen Strudel, doch dann werden Stasis und Schönheit langsam wieder hergestellt, und Adès übergibt Caliban und Ariel die Schlüssel zu diesem neu gestalteten musikalischen Paradies.
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JASON BRIDGES als ANTONIO
KOPFZEILE
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ANDREAS LÁNG
TROTZ UNTERSCHIEDEN SEHR NAH AN SHAKESPEARE Der 1971 geborene britische Komponist Thomas Adès gehört zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten seiner Generation und seine zweite Oper The Tempest zählt wiederum zu den populärsten und meistgespielten Musiktheaterwerken der letzten 30 Jahre. Als Handlungsvorlage diente Thomas Adès Shakespeares gleichnamiges BühnenSpätwerk, das in der Musikgeschichte viele Tonschöpfer zu entsprechenden Kompositionen inspirierte, wobei sich manche eng, andere wieder nur sehr lose an das Shakespeare-Original anlehnten. Inwiefern weicht nun Adès’ Tempest von der ursprünglichen Handlungsvorlage ab – der Text, also das Libretto ist ja bereits bewusst eine Neudichtung von Meredith Oakes? Zunächst fällt auf, dass in der AdèsOper das Personal etwas kleiner ist als bei Shakespeare: Die beiden Hofherren Adrian und Francisco fehlen ebenso wie die namentlich genannten Geister Iris, Ceres, Juno sowie der Schiffspatron und der Bootsmann. Andererseits kommt das »allgemeine Personal«, also der Hofstaat und die Matrosen, bei Adès und Oakes in Form des Chores deutlicher zum Einsatz. Der Regisseur dieser Produktion Robert Lepage spricht in Vorherige Seiten SZENENBILD
diesem Zusammenhang davon, dass Thomas Adès das Volk sozusagen auf die Bühne eingeladen hat, wo es singt und aktiv an der Geschichte teilnimmt. Interessanterweise streicht Adès darüber hinaus dem König sein Alonso, in der Oper wird also bewusst nur vom namenlosen »King of Naples« gesprochen. In der Charakterisierung der Personen fällt außerdem bei Prospero eine deutliche Akzentverschiebung auf: Er ist in der Oper menschlicher, fehlerbehafteter und damit vielleicht psychologisch verständlicher präsentiert. Bei Adès ist Prospero so sehr vom Rachegedanken eingenommen, dass er nicht nach rechts und links blickt. Seine Vergeltungssucht würde zunächst ohne Skrupel sogar die frohe Zukunft seiner vielgeliebten Tochter Miranda vernichten. Deren Zuneigung zu Ferdinand kann nicht sein, darf nicht sein, weil Ferdinand Sohn des Gegners, des Königs von Neapel ist, der eine gewaltige Portion Mitschuld an Prosperos Verbannung auf der Insel trägt. Doch zu seinem und ihrem Glück vermag Prosperos Zauberkraft nichts gegen die reine Liebe des jungen Paares, und später wird der alt gewordene Vater, durch Einsicht gewandelt, der Rache abschwören. Im Gegensatz dazu weist Shakespeares
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Prospero etwas Übermenschliches, fast Allwissendes auf, er ist einer, der das Spiel in den Händen hält und strategisch zum guten Ausgang führt. Von der äußeren Form wurde das fünfaktige Shakespeare-Stück auf drei Opernakte zusammengefasst, die Handlung ist aber, trotz einiger Unterschiede und Verkürzungen, im Wesentlichen identisch – wie der nachfolgende Überblick beweisen soll:
SHAKESPEARE 1. AKT 1. SZENE Das Schiff des Königs wird vom Sturm heimgesucht. Wesentliche Hauptakteure wie der König, Gonzalo, Antonio und Sebastian werden vorgestellt. 2. SZENE Miranda zeigt Mitleid mit den in Seenot Geratenen. Prospero beschwichtigt sie, dass niemandem ein Leid geschah. Er erzählt ihr von der Mailänder Vergangenheit, vom Verrat gegen ihn und wie sie auf die Insel kamen. Unterredung Prosperos mit Ariel, der u.a. berichtet, dass er seinen Auftrag erfüllt und alle auf die Insel gebracht hat. Ariel will frei werden; Prospero erinnert sie, dass er ihn gerettet hat vor dem Zauber der Sycorax, der ihn in eine Fichte gesperrt hatte. Unterredung Calibans mit Prospero, aus der hervorgeht, dass Prospero Caliban erzogen hat, wofür ihn Caliban die Zauberkunst lehrte. Erst als Caliban Miranda schänden wollte, änderte sich das Verhältnis der beiden. Ariel lockt Ferdinand mit einem Lied über seinen ertrunkenen Vater. Ferdinand trifft auf Miranda und Prospero. Miranda und Ferdinand
verlieben sich zur Freude Prosperos ineinander, dennoch gibt sich Prospero gegenüber Ferdinand scheinbar rau.
2. AKT 1. SZENE Gonzalo versucht, den König aufzuheitern, und beschreibt, wie er die Insel regieren würde: niemand wäre arm oder reich, es gäbe keine Verträge und kein Arbeiten. Der König bereut, dass er seine Tochter in Afrika verheiratet hat, da der Sturm das Schiff auf dem Rückweg von dort erreicht hat. Als alle bis auf Antonio und Sebastian einschlafen, beschließen die beiden, den König und Gonzalo zu töten. Ariel weckt alle, sodass die Morde nicht geschehen können. 2. SZENE Stefano und Trinculo treffen auf Caliban, den sie als dumm erachten und dem sie Alkohol geben. Caliban bietet seine Dienste an.
3. AKT 1. SZENE Prospero beobachtet von der Ferne voller Freude die gegenseitige Liebeserklärung von Miranda und Ferdinand, die einander sogar die Heirat versprechen. 2. SZENE Caliban versucht, Stefano und Trinculo gegen Prospero aufzuwiegeln. Der unsichtbare Ariel stört die drei und stiftet Streit zwischen Trinculo und Stefano. 3. SZENE Diverse Geister bringen dem müden König und seinem Gefolge eine reich gedeckte Tafel, die aber wenig später von Ariel wieder zum Verschwinden gebracht wird. Ariel wirft dem König und Antonio vor, Prospero einst aufs
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Meer verbannt zu haben. Der König fasst das Verschwinden seines Sohnes Ferdinand als Strafe auf.
4. AKT 1. SZENE Prospero verstellt sich nicht mehr und zeigt Ferdinand seine Freude über dessen Liebe zu Miranda, warnt ihn aber davor, vor der Hochzeit Sex mit ihr zu haben. Diverse Geister segnen die Verbindung der beiden jungen Leute. Als Caliban, Trinculo und Stefano kommen, um Prospero zu töten, werden sie von Geistern in Gestalt von Hunden empfangen und über die Insel gehetzt.
5. AKT 1. SZENE Ariel berichtet vom Wahnsinn und der Trauer der Schiffbrüchigen und zeigt sich betroffen, obwohl er nur ein Geist ist. Prospero beschließt zu verzeihen, schwört der Zauberei ab, zeigt sich seinen früheren Gegnern und führt Ferdinand und Miranda als Paar dem nun glücklichen König zu. Man beschließt, mit dem wieder seetüchtigen Schiff davonzufahren, Prospero gibt Ariel frei und spricht den Epilog.
und wie sie auf die Insel kamen. Prospero ruft Ariel. 3. SZENE Unterredung Prosperos mit Ariel. Ariel erzählt vom Schiffbruch, Prospero befiehlt, dass Ariel alle heil auf die Insel bringt. 4. SZENE Unterredung Calibans mit Prospero. Caliban erklärt, dass er Prospero hilfreich aufgenommen habe, was Prospero als Lüge bezeichnet. Calibans Andeutungen von einer Verbindung mit Miranda weist Prospero unter Drohungen zurück. 5. SZENE Ariel hat die Schiffbrüchigen gerettet und geheilt. Ariel will frei werden; Prospero erinnert ihn, dass er ihn vor dem Zauber der Sycorax, der ihn in eine Fichte gesperrt hatte, gerettet hat; Ariel soll nun Ferdinand holen. Ariel lockt Ferdinand mit einem Lied über seinen ertrunkenen Vater.
ADÈS, OAKES
6. SZENE Miranda erwacht und erblickt Ferdinand: Die beiden verlieben sich. Prospero erkennt, dass seine Macht über Miranda schwindet. Prospero geht auf Ferdinand zu und wirft ihm das Verbrechen seines Vaters vor. Miranda verteidigt ihn; Prospero lässt sich von Ariel zu den übrigen Schiffbrüchigen bringen.
1. AKT
2. AKT
1. SZENE Das Schiff des Königs wird vom Sturm heimgesucht. Das Unglück wird nur vom Chor besungen.
1. SZENE Die Höflinge wundern sich über die Insel und dass sie heil geblieben sind (Chor). Stefano und Trinculo wundern sich, dass sie gesund sind, und erzählen einander, dass sie betrunken waren. Prospero beobachtet den König, seinen Bruder, Gonzalo und die Übrigen aus der Ferne und trägt Ariel auf, die Gestrandeten zu sekkieren. Auch der König
2. SZENE Miranda zeigt Mitleid mit den in Seenot Geratenen. Prospero beschwichtigt sie, dass niemandem ein Leid geschah. Er erzählt ihr von der Mailänder Vergangenheit, vom Verrat gegen ihn
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WILLIAM SHAKESPEARE
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und die anderen wundern sich, dass sie unversehrt sind, die Kleider wie frisch gewaschen und gebügelt wirken. Nur Ferdinand fehlt – man versucht, den König zu beruhigen, dass er an einer anderen Stelle an Land gegangen wäre und überlebt hätte; Ariel stiftet einen Streit zwischen Antonio und Sebastian bzw. Antonio und den Höflingen. 2. SZENE Caliban tritt zu den Höflingen, die ihn als dumm und primitiv ansehen. Trinculo und Stefano geben ihm Alkohol, den Caliban begeistert trinkt. Caliban will die Schiffbrüchigen gegen Prospero aufwiegeln – auf Grund seiner Trunkenheit wird er nicht ganz ernst genommen und man beschließt, Ferdinand zu suchen, auch wenn der König ohne Hoffnung ist. Prospero verflucht sie alle ungesehen. 3. SZENE Trinculo, Stefano und Caliban brechen auf, um Prospero zu vernichten und die Macht auf der Insel zu gewinnen. Caliban, der Miranda in Wahrheit für sich will, verspricht sie Stefano. 4. SZENE Ferdinand und Miranda besingen ihre gemeinsame Liebe; Prospero erkennt, dass er endgültig keine Macht mehr über seine Tochter hat: »Mein Kind hat mich besiegt.«
3. AKT 1. SZENE Trinculo, Stefano und Caliban auf dem Weg zu Prospero. Stefano sieht sich bereits als König und Mann Mirandas. 2. SZENE Prospero will von Ariel wissen, was die Schiffbrüchigen machen. Die Höflinge suchen Ferdinand. Der König beschließt, dass Gonzalo sein NachTHOMAS ADÈS & KS ADRIAN ERÖD bei einer Probe zur Premiere 2015
folger werden soll und nicht sein Bruder Sebastian: Alle schlafen ein, außer Antonio und Sebastian, die beschließen, den alten König und Gonzalo zu töten, damit Sebastian König von Neapel werden kann. Ariel weckt die Schlafenden, sodass der Mord verhindert wird; die Höflinge bekommen auf scheinbar wundersame Weise Speise und Trank: Gonzalo entwirft sein Königreich: Niemand soll dort arm oder reich sein, es soll dort keine Waffen, keine Gesetze, keine Verbrechen, kein Geld geben. Ariel erscheint und wirft ihnen vor, Prospero und Miranda einst aufs Meer hinausgeschickt zu haben. Der König meint, dass Ferdinand wegen ihm sterben musste. 3. SZENE Miranda und Ferdinand treten quasi als Paar vor Prospero. Prospero bittet Miranda um Verzeihung und willigt in die Verbindung ein. Caliban taucht mit Trinculo und Stefano auf und ruft zum Mord auf, Caliban weist außerdem darauf hin, dass er König der Insel und Miranda heiraten wird. Miranda erklärt noch einmal, dass sie nichts an Caliban findet. Ariel weist auf die Trauer von Gonzalo und dem König hin und obwohl er nur ein Geist ist, fühlt er mit den Trauernden. Prospero beschließt daraufhin, allen zu verzeihen und die Geister freizugeben. 4. SZENE Prospero gibt sich allen zu erkennen. Der König bittet um Vergebung. Prospero führt Ferdinand seinem Vater zu. Die Verbindung von Ferdinand und Miranda wird allgemein begrüßt. Das Schiff ist wieder seetüchtig und Prospero trennt sich von seiner Zaubermacht. 5. SZENE Caliban bleibt allein auf der Insel zurück; Ariel steigt auf und ist nur mehr mit Vokalisen hörbar.
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ADRIAN MOURBY
WARUM ZERBRICHT PROSPERO SEINEN STAB? Im Laufe der Handlung von Shakespeares The Tempest spricht Prospero ständig davon, Ariel freizulassen und seine Zauberkunst aufzugeben. Am Ende des Stücks erfüllt er nicht nur sein Versprechen, sondern legt auch noch seine Zauberer-Kleidung ab und erklärt, dass er nun seine Bücher versenken und seinen Stab zerbrechen wird. Aber warum? Dies sind die Symbole seiner Zauberei, und diese Kunst hat Prospero im ganzen letzten Stück von Shakespeare gute Dienste geleistet. Zunächst nutzt der verbannte Herzog sie zur Erschaffung des Sturms, der alle Männer, die er in seine Gewalt bringen möchte, zu Schiffbrüchigen macht. Dann setzt er Magie ein, um mithilfe seines Dieners, des Luftgeists Ariel, dafür zu sorgen, dass niemand ertrinkt und dass sich die Überlebenden in drei getrennten Gruppen befinden. So kommt es, dass Alonso, König von Neapel, verzweifelt glaubt, dass sein Sohn ertrunken ist, und dass Alonsos schurkischer Bruder Sebastian lange genug mit Prosperos Bruder Antonio allein ist, um ihn zu überreden, Alonso zu ermorden und an seiner Stelle den Thron von Neapel zu besteigen. KS ADRIAN ERÖD als PROSPERO
Später kann Prospero dank seiner Magie ein Bankett heraufbeschwören, bei dem eine furchteinflößende Stimme alle drei Männer – Alonso, Antonio und Sebastian – mit ihren Sünden konfrontiert, ein wesentlicher Bestandteil der lang geplanten Rache des Zauberers. Prospero zaubert außerdem für Ferdinand und Miranda ein feierliches Maskenspiel singender Nymphen herbei, wobei ein weiterer Teil seines Plans sich erfüllt und die beiden Kinder sich verlieben. Und er nutzt seine Magie, um die betrunkenen Verschwörer Caliban, Trinculo und Stefano zu bestrafen, indem er sie durch ein Dornengestrüpp jagt. Schließlich bringt Prospero alle schiffbrüchigen Überlebenden in einem magischen Kreis zusammen, wo er ihnen Vorwürfe machen und verzeihen kann, bevor er ihnen Ferdinand zeigt, der keineswegs ertrunken, sondern mit Miranda verlobt ist. Magie hat Prospero enorm viel erreichen lassen, seitdem das Segelschiff seiner Feinde zum ersten Mal vor der Küste dieser Zauberinsel gesichtet wurde. Er hat allen, die sich gegen ihn verschworen hatten, eine Lektion erteilt, und alle (mit Ausnahme von Antonio) haben bereut. Er hat sein Herzogtum wieder-
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erlangt und für seine Tochter eine vorteilhafte Heirat mit dem zukünftigen König von Neapel vermittelt. Doch bevor wir uns fragen, warum in aller Welt Prospero so viel Macht aufgeben will, ist es eine Überlegung wert, mit welchen Kräften ihn Shakespeare tatsächlich ausgestattet hat. Im jakobinischen England glaubte man noch wirklich an Magie und Hexerei. Besonders König James I. war von der Existenz von Hexen überzeugt und veröffentlichte im Jahr 1599, kurz bevor er den englischen Thron bestieg, sein Buch Daemonologie. Dies war eine Gegenschrift zur Publikation von Reginald Scot, Discoverie of Witchcraft (1584), in der der Autor Zauberer und Hexen als Betrüger abtat. James hingegen schrieb beifällig über die Jagd auf Hexen, die er als »abscheuliche Sklaven des Teufels« bezeichnete. Nicht nur widersprach er in seiner Monographie den »schändlichen Ansichten von Scots Buch«, sondern befahl anlässlich seiner Thronbesteigung im Jahr 1603, dass alle vorhandenen Exemplare von Discoverie vom Henker verbrannt werden sollten. Magie war zu jener Zeit für viele Menschen noch sehr real. Shakespeares Macbeth, geschrieben 1606, kurz nach der Ankunft des abergläubischen James in London, spiegelt die Furcht seines Monarchen vor Hexen wider. James, zuvor nur König von Schottland, war Schirmherr von Shakespeares Truppe, The King’s Men, und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass Shakespeare diese Geschichte eines früheren Königs von Schottland, der von Hexen in Tod und Verdammnis geführt wird, speziell zur Unterhaltung seines königlichen Förderers geschrieben hat. Aber The Tempest, fünf Jahre später verfasst, re-
flektiert eine andere – weniger histrionische – Auffassung von Magie. In diesem Stück gibt es keine Geister, keine Zauberformeln, kein »hubble bubble, toil and trouble« (doppelt plagt euch, mengt und mischt). Prospero gehört zur höheren Ordnung der Zauberer – die über die Dienste höherer Wesen verfügen können — eine ganz andere Klasse als Macbeths Hexen, die mit Satan im Bunde sind und ihre Seelen für übernatürliche Kräfte geopfert haben. Wie bei Dr. Faustus von Christopher Marlowe (1604) mag es den Anschein haben, dass die Hexen ihre Geisterbeschwörung unter Kontrolle haben, aber letztendlich werden sie einen furchtbaren Preis dafür zahlen. Die Magie reitet sie, und sie werden diesen Ritt niemals beenden können. Einer der wichtigsten Gründe, warum Prospero seinen Stab zerbricht und seine Zauberei aufgibt, ist, dass er im Gegensatz zu Faustus und den Hexen dazu imstande ist. Aber die Magie, die Prospero durch die Verdrängung von Sycorax, durch Lektüre sowie Kleidung und Stab eines Zauberers erlangt hat, ist nur Mittel zum Zweck. Einige jüngere Produktionen des Stücks deuteten an, dass die Zauberkunst Prospero belastet und dass er sie nur solange nutzt, bis er seine Ziele erreicht hat – und dann wirft er sie erleichtert fort. Shakespeares Text lässt diese Interpretation sicherlich zu. Schließlich hat Prospero am Ende des Stücks alles erreicht, was er sich nur erhoffen konnte, außer der Versöhnung mit seinem missmutigen Bruder. Laut einer anderen Betrachtungsweise, die von Gelehrten und Regisseuren in den Vordergrund gestellt wird, braucht Prospero seine Magie nicht länger, weil ihn die Geschehnisse im Laufe von The Tempest menschlich gemacht
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haben. Er beginnt das Stück als grimmiger Zauberer, der Stürme heraufbeschwören kann, eine furchteinflößende Figur, die Caliban körperliches Leid zufügt und unfähig scheint, sein Wort bezüglich der Freilassung von Ariel zu halten. Selbst Miranda, Prosperos geliebte Tochter, erkennt, dass sie in der Vergangenheit die Geduld ihres Vaters strapaziert hat. Als er ihr davon erzählt, wie er mit ihr auf dem Meer umherirrte, ruft Miranda: »Ach, welche Not / Macht ich euch damals!« Miranda kennt ihren Vater gut. Einige Minuten später, als Prospero ihr die ganze Geschichte seines Sturzes erzählt, wirft er ihr immer wieder voll Bitterkeit vor, nicht zuzuhören: »Aber merkst du auf?« »Doch du hörst nicht.« »Hörst du?« Noch später, als Prospero Ferdinand zwingt, Holzscheite zu seiner Zelle zu tragen, ist er anfänglich harsch zu ihm. Selbst als er feststellt, dass die beiden sich lieben – wie er gehofft hatte –, und sich dafür entschuldigt, Ferdinand »zu streng« bestraft zu haben, droht er ihm dennoch, falls er Miranda entjungfert, bevor sie verheiratet sind: »So wird der Himmel keinen Segenstau Auf dieses Bündnis sprengen: dürrer Hass, Scheeläugiger Verdruss und Zwist bestreut Das Bett, das euch vereint, mit eklem Unkraut, Dass ihr es beide hasst: drum hütet euch.« Das kommt einem Fluch gleich. Dennoch: Prospero, der im Stück die längste
Zeit launenhaft und mürrisch schien, wird milder, als sich alles nach seinen Vorstellungen entwickelt. Er hat zwölf Jahre darauf gewartet, mit seinen Feinden quitt zu sein, und nun, da sie ihm schließlich ausgeliefert sind, verzeiht er ihnen. Während Prospero sie aus dem Meer rettet, wird er durch ihre Schonung gerettet. Nun, da er Gelegenheit zur Rache hat, verweigert er sie. Auge in Auge mit dem alten Gonzalo weint er sogar: »Heil’ger Gonzalo! ehrenwerter Mann, Mein Auge lässt, befreundet mit dem Tun Des deinen, brüderliche Tropfen fallen.« Und nun kann er endlich über das Ende seines Lebens ohne Bitterkeit nachsinnen: »Dann zieh ich in mein Mailand, wo Mein dritter Gedanke soll das Grab sein.« Die Versuchung ist groß, am Ende dieses Stücks etwas Autobiographisches zu finden. Der Dramatiker Shakespeare legt seine Feder weg, so wie Prospero seinen Stab weglegt. Diese Vorstellung wird durch die Tatsache bestärkt, dass Shakespeare im gesamten Stück Prospero wie einen Dramatiker auftreten lässt. Er holt Charaktere herbei und schickt sie wieder von der Bühne weg; er beschwört Effekte, gibt den Einsatz für Musik und inszeniert Ereignisse, um einen glücklichen Ausgang herbeizuführen. Diese Interpretation wird durch eines der wenigen biographischen Details, die wir über Shakespeare wissen,
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weiter bestärkt. The Tempest (1611-1612) war das letzte Stück, das er alleine verfasste. Eingedenk dieser Tatsache wird es zunehmend offensichtlich, dass wir einem großen Zauberkünstler zusehen, der einen guten Ausgang anstrebt und sein Publikum zufriedenstellen möchte, damit er schließlich seine Feder weglegen kann. Nun steht Prospero auf der leeren Bühne und spricht zu diesem Publikum – und nicht zu einem der Charaktere, denen wir gefolgt sind – und bittet uns, ihn loszulassen:
Wenn dies Shakespeares Lebewohl für sein Publikum war, so zerbricht er tatsächlich seinen metaphorischen Stab. Leider verdarb der Dichter diese dramatische Geste, als er danach in seinem Ruhestand mit John Fletcher zusammen zwei unbedeutendere Stücke verfasste, Heinrich VIII. und Two Noble Kinsmen (Die beiden edlen Vettern). Aber, wie wir alle wissen, kann es schwer sein, sich zur Ruhe zu setzen.
»Durch eure will’gen Hände [unser Applaus]. Füllt milder Hauch aus euerm Mund Mein Segel nicht, so geht zu Grund Mein Plan; er ging auf eure Gunst.«
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KS ADRIAN ERÖD als PROSPERO
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CHRISTOPH WELLNER
SHAKESPEARES STURM IN DER MUSIK Das Werk von William Shakespeare verlangt in vielerlei Hinsicht nach Kombination mit Musik. Einerseits ist es die musikalische Sprache des englischen Dichters, andererseits ist es Shakespeare selbst, der in seinen Stücken Platz für Lieder, Schauspielmusik und musikalische Untermalung schafft. Die Faszination an der Dichtung von William Shakespeare ist bis heute ungebrochen. Vertonungen gibt es sowohl in der sogenannten E-Musik, wie auch in der U-Musik. Egal, ob als Musical oder in der Rockmusik. In Spiel- und Zeichentrickfilmen wird Shakespeare und seinem Œuvre gehuldigt, seine Stücke in Computerspielen thematisiert. Die Encyclopædia Britannica verweist an einer Stelle auf über 200 Opern, die auf Themen von Shakespeare zurückgehen. Allerdings mit der Bemerkung, dass davon lediglich ein »gutes Dutzend« von Bedeutung seien (»rare moments of operatic achievement«). Weitet man das Spektrum von Oper auf Schauspielmusik und musikdramatische Werke aus und inkludiert damit auch Musicals, kommt man alleine auf über 200 Werke, die nach 1945 entstanden sind. Die erwähnte Quote wird sich nicht nachhaltig ändern, allerdings sei auf Publikumserfolge wie Cole Porters Kiss me Kate oder Leonard Bernsteins West Side Story verwiesen, die längst zu Klassikern avanciert sind.
Aber nicht nur im Bereich der Oper finden sich Vorlagen von Shakespeare, sondern auch in symphonischen Dichtungen oder in Liedern. Der große Liedkomponist Franz Schubert hat lediglich drei Mal Shakespeare vertont – das bekannteste Lied ist sicher An Sylvia D 891, das 1826 entstanden, dem Stück The Two Gentlemen of Verona entnommen ist. Nicht vergessen darf man, dass Richard Wagners zweite Oper Das Liebesverbot auch auf ein Shakespeare-Vorbild, Measure for Measure, zurückgeht. Wie frei man mit dem literarischen Vorbild und der Musik umgehen kann und trotzdem großen Erfolg feiern kann, zeigt exemplarisch das Tony®nominierte Broadway-Musical Play On!, das Standards aus der Feder Duke Ellingtons lose in das inhaltliche Korsett von Twelfth Night webt. In einem Ranking der für die Bühne am beliebtesten und am häufigsten vertonten Stücke von William Shakespeare führt interessanterweise The Tempest vor Romeo and Juliet und A Midsummernight’s Dream. Zum ersten Mal wurde diese Liste im Jahr 1965 von Winton Dean im Shakespeare Survey Nr. 18 erstellt. An der Reihenfolge hat sich bis heute nichts geändert. Was macht das letzte Bühnenwerk Shakespeares so interessant für Opernkomponisten? Zu allererst sind es die
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SHAKESPEARES STURM IN DER MUSIK
Elemente des Magischen, Übersinnlichen, die verzauberte Insel, die Charaktere der Protagonisten und die starken Emotionen, die nach Vertonung rufen. Aber es sind auch die Grundkonflikte der menschlichen Gesellschaft, die auf die Bühne gebracht werden, wie Caroline Lüderssen in ihrem Essay Zur Aktualität von Shakespeares Sturm im Musiktheater argumentiert hat: Mit Prospero und Caliban gibt es zwei starke Figuren mit gegensätzlichem Charakter, die ideal für musikalische Umsetzung sind: Prospero ist auch autoritär und herrschsüchtig, Caliban ist auch ein zartfühlender Unterdrückter, dem man übel mitgespielt hat. Und natürlich gibt auch bei The Tempest William Shakespeare direkt An weisungen: »Du musst dich nicht fürchten; diese Insel ist voll von Getöse, Tönen und anmutigen Melodien, welche belustigen und keinen Schaden tun. Manchmal sumsen tausend klimpernde Instrumente um mein Ohr; manchmal Stimmen ...« (3. Akt, 2. Szene, Übersetzung: Christoph Martin Wieland) Die allerersten musikalischen Bearbeitungen von Liedern aus The Tempest datieren mit 1612 schon aus dem Jahr nach der Uraufführung. Von Robert Johnson sind Liedsätze zu Where the bee sucks und Full fathom five erhalten. Wer die erste Shakespeare-Oper komponiert hat, lässt sich ebenso wenig genau festmachen wie die erste Tempest-Vertonung. Grund dafür ist die Bearbeitung des Shakespeare’schen Originals von John Dryden und William D’Avenant aus dem Jahr 1667. Thomas Shadwell und Mathew Locke haben diesen Sturm jeweils im Jahr 1674 vertont und sind damit rund zwanzig Jahre vor Henry Purcell, dem gemeinhin die ersten Opern-Vertonungen nach
Shakespeare nachgesagt wurde: The Fairy-Queen aus dem Jahr 1692 (das Libretto ist eine anonyme Bearbeitung des Sommernachtstraums) sowie The Tempest aus dem Jahr 1695. Mittlerweile ist die Forschung sicher, dass Purcell beim Tempest nur wenige Takte selber komponiert hat. Der Rest stammt wahrscheinlich von einem seiner Schüler. Ob die besonderen Formen der englischen Barockoper – Masque oder SemiOpera – im heutigen Verständnis Opern sind, sei an anderer Stelle diskutiert ... Tempest-Opern, die heute regelmäßig auf dem Spielplan stehen, gibt es wenige. Hier fällt einem gleich wieder das Zitat aus der Encyclopædia Britannica ein. Vergleichsweise jung und trotzdem bekannt ist die Adaption Un re in ascolto von Luciano Berio vom Beginn der 1980er Jahre, die an der Wiener Staatsoper am 12. Juni 1984 Premiere feierte. Auch hier ist anzumerken, dass es sich bei der »azione musicale« weder um eine Oper im eigentlichen Sinn handelt noch das Libretto einzig auf William Shakespeare zurückgeht, sondern Elemente aus The Sea and the Mirror, W. H. Audens großem Kommentargedicht zum Tempest, und dem italienischen Dichter Italo Calvino verarbeitet. Für die Wiener Staatsoper von großer Bedeutung ist natürlich die im Juni 1956 hier im Haus unter der Leitung von Ernest Ansermet uraufgeführte Oper Der Sturm von Frank Martin mit der für Dietrich Fischer-Dieskau komponierten Partie des Prospero. Das Libretto basiert auf der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. In dieser Oper sind auch die Fünf Gesänge des Ariel für gemischten Chor enthalten, die bereits 1953 in Amsterdam uraufgeführt worden waren. Die Trois Fragments tirés
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CHRISTOPH WELLNER
de l’opéra Der Sturm wurden 1961 in Genf uraufgeführt. Komponisten, deren Namen heute noch geläufig sind, aber deren SturmOpern nahezu unbekannt sind, gibt es schon mehr. Jacques Fromental Halévy – bekannt hauptsächlich als Komponist von La Juive – komponierte im Jahr 1850 eine italienische Oper nach einem Libretto von Eugene Scribe namens La tempesta. Der tschechische Komponist Zdeněk Fibich schrieb 1893/1894 die vierte seiner (insgesamt sieben stark von Richard Wagner beeinflussten) Opern mit Namen Bouře (Der Sturm). Das Thema der »Geisterinsel«, der »verzauberten« oder »bezauberten« Insel von William Shakespeare war ein beliebter Topos für deutsche Komponisten im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Franz Anton Hoffmeister komponierte 1798 seine Oper Der Sturm, Wenzel Müller schrieb wie Johann Friedrich Reichardt, Friedrich Wilhelm Haack und Johann Rudolph Zumsteeg im selben Jahr eine Geisterinsel. Johann Heinrich Rolle und Franz Aspelmayr waren ein paar Jahre früher mit der Bezauberten Insel und dem Sturm an der Reihe (1782), Philipp Jakob Riotte schrieb seine Geisterinsel eine Generation später (1833). Ein Singspiel mit dem Titel Die Geisterinsel hinterließ der deutsche Komponist Johann Friedrich Anton Fleischmann. Dieses Singspiel enthält das Wiegenlied Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein, das neuesten Forschungen nach tatsächlich von Fleischmann und nicht von Wolfgang Amadé Mozart (KV 350) stammen könnte ... Auf seine theoretische Abhandlung Wie muss ein Tonstück beschaffen seyn, um gut genannt zu werden? sei noch extra verwiesen! Vorherige Seiten AUDREY LUNA als ARIEL
Als seltener Fall einer italienischen Vertonung aus dem 18. Jahrhundert gilt die 1788 uraufgeführte Opera Buffa La tempesta ossia Da un disordine nasce un ordine von Vincenzo Fabrizi. Aus dem 20. Jahrhundert ist exemplarisch der Schweizer Komponist Heinrich Sutermeister hervorzuheben. Er komponierte äußerst erfolgreiche Opern, darunter im Jahr 1958 eine Nestroy-Oper nach dem Talisman mit dem Titel Titus Feuerfuchs (Liebe, Tücke und Perücke), eine Vertonung der Schwarzen Spinne nach Jeremias Gotthelf (1936, rev. 1949) und die beiden ShakespeareOpern Romeo und Julia (1940) sowie Die Zauberinsel (1942). Seine Missa da Requiem wurde 1953 unter der Leitung von Herbert von Karajan mit Elisabeth Schwarzkopf als Solistin uraufgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei neben den Werken von Thomas Adès, Frank Martin und Luciano Berio noch auf die Oper Stormen von Kurt Atterberg aus dem Jahr 1948, The Tempest von Lee Hoiby (1985, rev. 2008) und Prospero von Luca Lombardi (2005/2006) hingewiesen. Der deutsche Komponist Helmut Oehring verarbeitete Musik von Henry Purcell zu seinem 2006 in Basel unter der Regie von Claus Guth uraufgeführten Musiktheaterstück UNSICHTBARLAND (oder: Der Sturm). Aktuelle Musical-Adaptionen wurden 2011 von Heinz Rudolf Kunze und Heiner Lürig und 2013 vom Jazzsaxophonisten Wolfgang Schmidtke veröffentlicht. Auf dem Gebiet der expliziten Ballett-Musik sind eigentlich nur zwei Werke nennenswert: Einerseits das 1889 komponierte Ballett La Tempête von Ambroise Thomas, der sich als Komponist der einzigen bekannten Hamlet-Oper einen Namen gemacht
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SHAKESPEARES STURM IN DER MUSIK
hat. Andererseits das 1979 entstandene Stück Tempest des norwegischen Komponisten Arne Nordheim, das neben den Tänzern auch Stimmen erfordert, konventionelles Orchester mit Elektronik kombiniert und den Text Shakespeares mit dem berühmten musikalischen Rätsel von Leonardo da Vinci kombiniert (Amore sola mi fa remirare, la sol mi fa sollecita). Wie sich vor ein paar Jahrhunderten die Komponisten auf die phantastische Welt des Prospero nach William Shakespeare begeistert eingelassen haben, sind es im 20. und 21. Jahrhundert die Filmregisseure, die cineastisch die verzauberte Insel zum Leben erwecken. Stellvertretend für die vielen Adaptionen sei auf die erste Verfilmung aus dem Jahr 1905 aus Großbritannien hingewiesen. The Tempest wurde 1956 ins Weltall versetzt, 1998 in die Zeit des amerikanischen Sezessionskrieges. 1989 wurde Der Sturm unter dem Titel Die Reise nach Melonia in Schweden als Zeichentrickfilm adaptiert, unter dem Titel Blast of Tempest wurde eine japanische Manga-
Reihe als Animé-Fernsehserie realisiert, in der es zahlreiche Anspielungen auf das Shakespeare’sche Original gibt. Eine Sonderstellung nimmt sicherlich der Film Prospero’s Books von Peter Greenaway ein, der nicht nur wegen seiner komplexen Erzähltechnik, intermedialen Inszenierungsform und innovativen Bildbearbeitung Beachtung fand, sondern dessen Soundtrack von Michael Nyman wiederum als eigenständige Filmmusik erfolgreich war. Prospero’s Books gilt heute als Beispielfall des postmodernen Kinos der 1990er Jahre. Erzähler und Hauptdarsteller des Films ist der berühmte ShakespeareDarsteller Sir John Gielgud. Abseits von Opernbühne und Kinoleinwand gibt es über die Jahrhunderte zahlreiche Schauspielmusiken und mit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch symphonische Dichtungen und Phantasien. Am bekanntesten sind die Werke von Hector Berlioz, Arthur Sullivan, Piotr Iljitsch Tschaikowski, Arthur Honegger, Jean Sibelius, Egon Wellesz und Arthur Bliss.
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ADRIAN MOURBY
THE TEMPEST – SHAKESPEARE & RACHE Rache war in der Zeit Shakespeares ein sehr wichtiges Thema. Sie hatte sowohl auf der Bühne als auch im Alltagsleben große Auswirkungen. Eine weit verbreitete Ansicht besagte, dass ein Sohn, der den Mord an seinem Vater nicht rächte, nicht erben konnte. Dafür gab es zwar keine rechtliche Grundlage, aber dieser Volksglaube wurde häufig zur Verteidigung eines Rachemordes zitiert – was zeigt, wie sehr die Rache Teil des Alltagslebens im Elisabethanischen Zeitalter war. Sehr oft geriet die Rache völlig außer Kontrolle. In Shakespeares Romeo und Julia befehden sich die Familien Montague und Capulet wegen Ehrenbeleidigungen, an die sie sich kaum erinnern können, aber das hält sie nicht davon ab, Rache auf Rache folgen zu lassen. Tybalt will Rache an Romeo wegen einer Beleidigung seiner Tante und seines Onkels, Romeo möchte sich an Tybalt wegen des Todes von Mercutio rächen, und Graf Paris versucht Romeo aus Rache für Tybalt zu töten. Shakespeares Prinz versucht erfolglos, diesen Rachezyklus unter Kontrolle zu bringen, indem er Romeo aus Verona verbannt, doch dieser kehrt zurück, als er von Julias Tod erfährt, und so setzt sich der Zyklus fort, bis beide Protagonisten tot sind. Das Gesetz in Gestalt des Prinzen kann sich nicht durchsetzen. Nur die verfeindeten Familien können das regeln.
Rache war im elisabethanischen und jakobinischen Drama ein so zentrales Thema, dass der amerikanische Gelehrte A. H. Thorndike ihr im Jahr 1900 eine eigene Unterkategorie zuordnete, die Rachetragödie. Shakespeares frühes Stück Titus Andronicus war ein typisches blutiges Beispiel, in dem Titus, ein General der römischen Armee, mit der Gotenkönigin Tamora in einen Teufelskreis der Rache verstrickt ist. In einem späteren Drama richtet Jago Othello zugrunde, aus einem nie vollständig erklärten Bedürfnis, sich an ihm zu rächen. Macduff tötet Macbeth aus Rache, und Richmond ermordet Richard III. aus Rache für viele Untaten. Edmund in König Lear schmiedet Ränke, um sich an der Welt für seine uneheliche Geburt zu rächen; und Hamlet könnte man als Rachetragödie des denkenden Menschen bezeichnen, weil unser Held so viel Zeit mit seiner Rachebesessenheit verbringt, aber an der Durchführung scheitert. Auch in vielen Komödien Shakespeares taucht Rache auf: als grausame Heimsuchung von Malvolio in Was ihr wollt, vereitelt von Portia in Der Kaufmann von Venedig und aufgegeben von Oberon in Ein Sommernachtstraum. Außerhalb des Shakespeare-Kanons gab uns Thomas Kydd die Figur des Hieronymo, der in The Spanish Tragedy (1592) Rache sucht; Thomas Middleton
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THE TEMPEST – SHAKESPEARE & RACHE
SHYLOCK, DER KAUFMANN VON VENEDIG Wenn ein Jude einen Christen beleidigt, was ist seine Demut? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muss seine Geduld sein nach christlichem Vorbild? Nu, RACHE. HAMLET Wie jeder Anlass mich verklagt Und spornt die träge RACHE an! KÖNIG LEAR Ich will mir nehmen solche RACH’ an euch, Dass alle Welt – will solche Dinge tun –, Was, weiß ich selbst noch nicht; doch soll’n sie werden Das Grau’n der Welt. KARL DER DAUPHIN, HEINRICH VI., 1. TEIL Nun strahle sie wie ein Komet der RACHE, Wie ein Prophet von unsrer Feinde Fall! KÖNIGIN MARGARETA, HEINRICH VI., 2. TEIL Oft hört’ ich, Gram erweiche das Gemüt, Er mach’ es zaghaft und entart’ es ganz; Drum denk’ auf RACHE und lass ab vom Weinen. LORD CLIFFORD, HEINRICH VI., 3. TEIL Hätt’ ich auch deine Brüder hier, ihr Leben Und deines wär’ nicht RACHE mir genug; Ja, grüb’ ich deiner Ahnen Gräber auf Und hängt’ in Ketten auf die faulen Särge, Mir gäb’s nicht Ruh’ noch Lind’rung meiner Wut. MARKUS ANTONIUS, JULIUS CAESAR Und Cäsars Geist, nach RACHE jagend, wird, Zur Seit’ ihm Ate, heiß der Höll’ entstiegen, In diesen Grenzen mit des Herrschers Ton Mord rufen und des Krieges Hund’ entfesseln.
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ADRIAN MOURBY
gab uns Vindici, der in The Revenger’s Tragedy (1606) bloß für die Rache lebt, und John Webster erschuf mehrere Charaktere, die sich in The Duchess of Malfi (1613) an der Herzogin rächen wollen. Nicht alle Rächer erreichten ihr Ziel. Der Geist von Montferrer in The Atheist’s Tragedy von Cyril Tourneur (1613) befiehlt seinem Sohn ausdrücklich, keine Rache zu üben, während König Lear in Shakespeares größter Tragödie erklärt, dass er furchtbare Rache nehmen wird, es aber nicht schafft. Am Ende erreicht Lear die Versöhnung mit seiner Tochter Cordelia und stirbt kurz darauf. Ironischerweise ist es The Tempest, mit dem Shakespeare das Thema Rache am großartigsten ergründet: nicht, weil Prospero sich grandios rächt, als sich die Gelegenheit bietet, oder weil ihm seine Rache misslingt, sondern, weil der frühere Herzog von Mailand trotz heftiger Versuchung auf seine Rache verzichtet und deshalb deren Gegenteil erfährt, nämlich Erlösung. Warum also kam Shakespeares Publikum immer wieder ins Theater, um die Darstellung von Rache zu sehen? Zum Teil, weil dies die hitzköpfigen Zeiten widerspiegelte, in denen der Dramatiker und seine Zeitgenossen lebten. Im Elisabethanischen Zeitalter trug jeder Mann ein Messer bei sich, und dies nicht nur zum Schneiden von Fleisch. Die Straßen waren weder gut beleuchtet noch gut bewacht, und das Rechtssystem funktionierte nur langsam. Für den durchschnittlichen Mann wurde Gerechtigkeit am besten durchgesetzt, indem man sich direkt mit den Beleidigern oder Angreifern auseinandersetzte. Der größte Zeitgenosse Shakespeares als Dramatiker, Christopher Marlowe, wurde nach einem Streit in einer Taverne erstochen.
Während der englische Philosoph Francis Bacon die von ihm so bezeichnete »wilde Justiz« Englands in seinem Essay Of Revenge (1625) verurteilte, erkannten Shakespeares Zeitgenossen sie als Teil ihrer Welt an. Zwei parallel existierende gegensätzliche Standpunkte führten zu einer tiefgehenden moralischen Zwiespältigkeit rund um die Strafverfolgung von Rache. Einerseits verurteilte das Gesetz private Rache ganz entschieden, weil sie sich Gottes Vorrecht anmaßte – (»Die Rache ist mein; ich will vergelten«, spricht der Herr) – und außerdem in die Befugnisse des Herrschers eingriff, der im Namen Gottes für Gerechtigkeit sorgen sollte. Aber andererseits war Rache auch in den Vorstellungen von persönlicher Ehre verhaftet. Es gab drei Situationen, in denen Shakespeares Welt über Rache hinwegsah: Erstens, wenn der Schaden auf eine heimtückische oder unehrenhafte Art zugefügt worden war; zweitens, wenn das Opfer keine Chance hatte, auf dem Rechtsweg entschädigt zu werden. In beiden Fällen wurde Rache als ehrenhaft erachtet. Und schließlich gab es da noch Mord, der trotz des gewalttätigen Charakters jener Zeiten als ein so abscheuliches Verbrechen galt, dass selbst die Engel zur Erde nach Rache riefen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass Rache auch großes Theater bedeutete. Sobald eine Figur erklärt, dass er – oder sie – sich rächen wird, wissen wir, in welche Richtung dieses Stück geht und dass es eine spannende Reise wird. John Websters The White Devil (1612) beginnt mit Lodovicos Ausruf »Verbannt?«, und das legt sofort den Erzählstrang fest. Eine große Ungerechtigkeit ist geschehen, und Lodovico wird sich rächen, selbst, wenn es zu seinem
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THE TEMPEST – SHAKESPEARE & RACHE
Tod führt (und das tut es auch). Sobald wir wissen, dass wir es mit einem Rachedrama zu tun haben, folgen wir allen Drehungen und Wendungen in der Überzeugung, dass wir wissen, was und warum wir es anschauen. Hamlet ist ein Stück, in dem eigentlich sehr wenig passiert, aber da wir schon sehr früh wissen, dass es eine Rachetragödie ist, können wir ganz frei alle Wendungen und die fehlgeschlagenen Pläne genießen. The Tempest ist deshalb eigentlich eine Anomalie in dieser rachsüchtigen Welt, weil Prospero jeden Grund hat, nach Rache zu trachten. Er wurde von seinen eigenen Leuten und sogar seinem eigenen Bruder auf abscheuliche Weise hintergangen und er kann sich an keine höhere Autorität wenden. In Shakespeares Publikum gab es wohl nur wenige, die Prospero, als er die von ihm erlittenen Demütigungen und die
Enteignung schildert, das Recht auf Rache abgesprochen hätten. Und der abgesetzte Herzog hat während des Stücks viele Gelegenheiten zur Rache und dank seiner Zauberkünste auch große Macht zur Ausführung. Er hätte in dem Sturm, den er am Beginn des Stücks heraufbeschworen hatte, alle ertrinken lassen können. Aber The Tempest ist ein Stück über einen Mann, der wütend und gekränkt ist, aber trotzdem auf Rache verzichtet. Rache war eine Erzähltechnik, die Shakespeare in der Vergangenheit sehr gute Dienste geleistet hat; doch gegen Ende seines Lebens, im letzten Stück, das er allein verfasste, gab er sie auf, um eine fesselnde Geschichte von Erlösung zu schaffen. Wie die Tragikomödie des Caliban zeigt, funktioniert Rache nicht. Was funktioniert, ist Prosperos Fähigkeit zur Vergebung.
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STEPHANIE HOUTZEEL als MIRANDA PAVEL KOLGATIN als FERDINAND
MEREDITH OAKES
LIBRETTO 1. AKT SZENE 1 HÖFLINGE Die Hölle ist leer. Alle Teufel sind hier. SZENE 2 MIRANDA Oh Vater. Sturm und Donner, Regen und Hagel, turmhohe Wellen, rasender Orkan. Das Schiff ist zerschellt, es ächzt und bebt. Widernatürliche Flammen laufen und zittern. Schreie, schwach wie das Kreischen von Möwen. Ist dies das Werk meines Vaters? Wehe, wehe dem Tag. HÖFLINGE Hölle! Hölle! MIRANDA Vater. Dort, Feuer und Sturm. Doch hier ist es ruhig. Dort schwarz wie die Nacht, hier aber die Insel ist hell. Vater, ist das dein Tun? Welche Kreaturen hast du getötet? Das Schiff wird auseinandergerissen. HÖFLINGE Hölle! Hölle! MIRANDA Ihr Schrei, ihr Schrei quält mein Herz. Vater, ist das deine Kunst? Wehe, wehe, wehe dem Tag. PROSPERO Miranda, du bist mir anvertraut. Auf dieser Insel lebend, hast du nie infrage gestellt, was du bist. Nun höre deinen Vater! Das Schicksal brachte meine Feinde an diese Küste. Sie müssen leiden wie einst ich. Ich war Mailand! Ich war Herzog! Ich liebte Einsamkeit und meine Bücher. Mein Bruder, der einwilligte, mich zu vertreten, sann in seiner Gier darauf, mich zu stürzen. Er lernte Gesuche zuzulassen, sie abzuweisen, seine Lakaien zu belohnen, sie zu schmähen. Er brandmarkte mich als unfähig! Er hielt mich für ersetzbar! Er ging zum König von Neapel!
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LIBRETTO
Nach Neapel, roh und trügerisch, nach Neapel, eitel und erbarmungslos. Nach Neapel, dem protzigen, großen hinterhältigen Staat. Schönes Mailand, kunstvolles Mailand, edles Mailand, kunstfertiges Mailand, Mailand meine Bibliothek und Freiheit. An Neapel, ordinär und frech, wurde Mailand verkauft. MIRANDA Mailand? Was ist Mailand? PROSPERO Schönes Mailand. Steht gebeugt, der Anmut beraubt, finsteren Gesichts. Lässiger Sport für Neapels korrupten Hof. Beschämt, verwirrt, betrogen, geschmäht. Miranda, getäuschtes Kind. Miranda, glücklose Unschuldige. Miranda, wild die Nacht und schwarz die Bosheit. Ausgesetzt, ohne richtiges Schiff. Ein modriges Floß, kein Mast, kein Takel. Ich und du weinendes Geschöpf, ich und mein Staat. Zurückgelassen auf einem Schiff, das die Ratten verlassen hatten! MIRANDA Hatten wir denn gar keine Freunde? PROSPERO Ein Mann half uns: Der gute Gonzalo, Staatsrat von Neapel. Er rettete unser Leben. Er ließ mich meine Bücher behalten. Und versorgte uns, als wir Segel setzten. MIRANDA Furchtbare Geschichte, tut mir so leid. PROSPERO Wie konnte das ein Bruder sein? Wie konnten wir eine Mutter haben? Antonio und ich einem Schoß entstammen? Er nahm meine Glieder und saugte meine Süße. Stahl meine Haut, löschte meine Gesichtszüge. Ich war erschöpft, ich floh, ich floh, ich floh mit dir, an einen Ort, wo wir ein bessres Schicksal erwarten konnten. MIRANDA Vater, solcher Gram, ich möchte weinen. Was du erzählt hast, bedeutet mir nichts. Worte voll Zorn, fern und seltsam. Aus meinem Gedächtnis entschwunden ist alles, was du mir beschreibst. Düsteres Geheimnis, bestürzende Wut, Landzungen zum Klettern, Sanddünen zum Springen. Untiefen zum Schwimmen, alles war so klar. Kein Sturm, kein Wüten, keine zerborstenen Trümmer. Kein Windstoß, kein Schaden, kein Sturm, keine Furcht. Warum hast du hier dieses Leid heraufbeschworen?
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MEREDITH OAKES
PROSPERO Wo du lebst, herrscht Freundlichkeit, wie deine behütete Seele. Du kennst nur Gutes. Schlaf mein Kind, lass es so bleiben. Geist, Diener, komm und berichte. Sind sie bestraft, Ariel? SZENE 3 ARIEL Furcht, Furcht dem Sünder. Feuer, Feuer dem Unreinen. Sturm dem Bösewicht, Unheil dem Übeltäter. Sie sind bedrängt, davongetragen zum Riff. Zur Tiefe, sie sind zersprengt, ihr Mast ist dahin. Sie sind geschlagen, sie sind zerborsten, von den Wellen geschleudert, von den Flammen überrannt. Sie sind gefunden, sie sind ertränkt. Furcht dem Sünder, Feuer dem Unreinen. Sturm dem Bösewicht, Unheil dem Übeltäter. Flamme dem Eindringling, Schrecken dem Feind. Grauen dem Besucher, Schmerz ohne Heilung. Tod dem Übeltäter, Unermessliches Leid ... PROSPERO Ariel, das ist genug. Kein Grund, grob zu sein. Sie dürfen nicht verletzt werden, ich will sie nur verzaubert sehen. Kein Haar gekrümmt, kein Fleck auf ihren Kleidern. Hol sie zurück, belebe sie, und bring sie auf die Insel. ARIEL Hilfe für die Opfer. Hilfe für die Hilflosen. PROSPERO Mein guter Geist, geh und tu es. ARIEL Pflege für die Verwundeten, Hoffnung für die Verzweifelten. Eilig werden sie gebracht zur Küste, zur Heilung. PROSPERO Sicher in diesem Hafen, mein falscher Bruder, unversehrt doch innerlich gezeichnet, soll seine Sünde erkennen! ARIEL Linderung den Verletzten, Friede den Verfolgten, Leben den Ertränkten, Liebe den Gehassten. PROSPERO Die Pflichten, die ich vernachlässigte, werden nun nachgeholt. Oh blinde Männer, ich werde sie finden. Mein Licht wird ihr Inneres berühren. Nun heile und befreie sie, wo ich mich verbergen und sie sehen kann.
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LIBRETTO
ARIEL Ich werde sie reinigen und trocknen und sie auf die Insel bringen. SZENE 4 CALIBAN Zauberer, stirb! PROSPERO Caliban, warum? CALIBAN Solch ein Regen, er fiel wie Donner, solche Flammen, sie zischten wie Wasser. Sag mir wie. PROSPERO Caliban, nicht jetzt. CALIBAN Wie du das Schiff verbranntest, wie du die Menschen zerstörtest. PROSPERO Stell mir keine Fragen, Sklave, denk an deine Stellung. CALIBAN Diese Insel ist mein, ich bin König, doch du behandelst mich wie ein Nichts. Wegen deiner Kunst beuge ich mich dir, denn Feuer brennen und Winde blasen für dich. Ich nahm dich auf wie einen Bruder, die Insel ist mein, durch Sycorax, meine Mutter. Als ich dich damals fand, warst du schwach. An einem Felsen kauernd, dein Kind in deinen Mantel gehüllt. Ich kam dich zu retten, war dein Freund. Auch warst du damals nie unfreundlich zu mir. Du verachtest und schlägst mich, du sagst, du liebst mich nicht. Ich zeigte dir die ganze Insel, das fruchtbare und das öde Land. Alles was ich hatte gab ich dir, doch nun hast du vergessen ... PROSPERO Du lügst, du winselst, du vergeudest meine Zeit. CALIBAN Du bist undankbar, genau wie dein Kind Miranda, die an meiner Seite zu schlafen pflegte. So klein war sie und schmächtig, ihre Haut war weich und zart. Ich trug sie auf meinen Schultern, ich sah sie aufwachsen. Bald wird sie Kinder haben. Ja, sie wird kleine Calibans machen ... PROSPERO Widerlicher Sklave! Geh in deine Höhle! Irrer, das alles bildest du dir ein. Hexenbrut, ich warne dich, ich sah
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MEREDITH OAKES
dich mit Miranda. Schleichst um sie herum, Schlange, ich bin geduldig. Doch wenn du um meine Tochter herumlungerst, du Unflat, du Teufelsbrut, schicke ich dir Schmerzen, die deine Knochen quälen. Ariel! SZENE 5 ARIEL Herr? PROSPERO Hast du sie gerettet? Sind sie hier? ARIEL Sie schlafen, sie träumen. Am Ufer, alle wiederhergestellt. Wo die Papageien kreischen und schwatzen, dort im Schatten liegen sie. Ich flickte sie zusammen, ich nähte sie, sie sind geheilt, sie sind ganz. PROSPERO Nun sing für den Sohn des diebischen Neapel, Prinz Ferdinand, Erbe Mailands. Bring ihn her mit einem Wink. Meine Feinde sollen trauern und sein betrübter Vater ihn für ertrunken halten. ARIEL Werde ich bezahlt? PROSPERO Bezahlt? ARIEL Mein Lohn ... PROSPERO Du wagst es zu fragen? ARIEL Gewiss. PROSPERO Wankelmütiger Geist. ARIEL Es steht mir zu! Meine Entlassung, du schworst es, dein Versprechen! PROSPERO So kalt so bald, ich brauch dich noch. Ist das dein Dank? Ich hab noch Arbeit, du kannst mich nicht verlassen. ARIEL Mein Lohn, mein Preis, mein Lösegeld, meine Freiheit. Eifrig und treu, geduldig und aufrichtig, beflissen und heiter, diene ich dir. Zwölf Jahre lang dein Sklave, bald soll ich frei sein, oh wie ich meine Freiheit ersehne.
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PROSPERO Zwölf Jahre hat dich wegen Anmaßung die Hexe Sycorax in eine gespaltene Fichte gesperrt. Sycorax starb, vergiss das nicht, ließ dich drin, ich holte dich heraus. ARIEL Seit zwölf Jahren bin ich dein Gefangener. Ich muss in höheren Sphären tätig sein. Geister steigen auf oder verkümmern. Ich gedeihe nur in Freiheit! PROSPERO Du gabst ein Versprechen bei deiner Befreiung. Zwölf Jahre Dienst tun, so wie ich es brauche. Oder du bösartiges Ding steckst zwölf Jahre in einer Eiche, ich stutze dir die Flügel! Bring mir Ferdinand! Sing! ARIEL Fünf Faden tief liegt dein Vater. Dies sind Perlen, die seine Augen waren. Nichts von ihm, das sterblich war, blieb gleich, seine Knochen aus Koralle. Das Meer hat ihn verwandelt in etwas, das reich ist und seltsam. Stündlich läuten Meeresnymphen sein Grabgeläut. Ich kann sie hören, ding dong bell. SZENE 6 FERDINAND Ich saß weinend, da hörte ich Gesang, ein Lied über meinen ertrunkenen Vater. Dieser Klang beruhigte den Sturm und besänftigte seine Wut. Ließ die Winde einschlafen und glättete den Wellenschlag. Dieser Einfluss, diese Stille, die sich über das Wasser breitete, endete den Lärm des Donners und ließ mein Weinen verstummen. Wer ist hier? Wundersam ... Ist sie eine Göttin? MIRANDA Bist du ein Geist? Ein Schatten? Bist du etwas, das mein Vater machte? PROSPERO (Sie ist wach, mein Bann gebrochen?) MIRANDA Du bist schön, bist du ein Mensch? FERDINAND An der Küste ging ein Schiff verloren. Nur ich bin übrig, die anderen sind tot. MIRANDA Ich wusste nicht, dass ein Mann aussehen kann wie du!
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MEREDITH OAKES
FERDINAND Bin ich so seltsam? MIRANDA Nein, ändere dich nicht. PROSPERO (Was nun? Sie ist verhext!) FERDINAND, MIRANDA Nie sah ich jemanden wie dich. MIRANDA Du bist nass, lass mich dich pflegen. FERDINAND Nie sah ich deinesgleichen, ich mache dich zur Königin von Neapel. PROSPERO Sir, Neapel entthronte mich, beraubte mich der Herrschaft. Mein Herzogtum durch Verrat gestohlen. Dies war der Frevel zwischen deinem Haus und meinem. FERDINAND Herr, du bist zornig, es tut mir leid, Ich kam hierher aus Neapel. Mein Vater war dort König. Ich bin verloren, ist das deine Tochter? PROSPERO Dummer Junge. Was soll das? Du bist nicht hier, sie anzugaffen! Junger Narr, sei still! MIRANDA Vater, nicht! Oh Vater bitte versuch ihn zu beruhigen. FERDINAND Ich bin gelähmt durch ihn, ich kann meine Glieder nicht beherrschen! MIRANDA Warum musst du so grausam sein? Er hat dir nichts Böses getan. FERDINAND Er bewirkte einen Trick, eine Zauberei. PROSPERO Versuch zu verstehen, dies ist Ferdinand. Golden und schön durch unser Missgeschick. MIRANDA Vater, sieh ihn an! PROSPERO Genährt durch die Verderbtheit seines verhassten Vaters. Aufgezogen in einem Königreich der Diebe und Schurken. MIRANDA Wie kannst du so etwas sagen?
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FERDINAND In welchem Traum bin ich gefangen? MIRANDA Glaub niemals, dass ich dir vergebe. FERDINAND Bin ich verloren oder gefunden? MIRANDA Lass ihn gehn, sonst liebe ich dich nicht! Was wird er denken? Warum hast du das getan? Warum hasst du ihn? Was für ein verdrehter Grund? FERDINAND Obwohl er voll Hass ist, fürchte ich seine Drohungen nicht oder seine Verfolgung. Ich fürchte diesen Kerker nicht. Nein, der Kerker wird süß sein. Ich werde stehen und warten. Nichts wird mich entmutigen, wenn sie mir nahe ist. MIRANDA Oh solcher Zorn, du bist so tapfer. Solche Wut, wie konnte er. Nein, es ist nicht wahr, Vater, schäme dich! Nichts was du sagst, du magst drohen wie du willst, wird mich je umstimmen, wenn er mir nahe ist. PROSPERO Er ist deiner nicht würdig. Du kennst deinen Wert nicht. Lass dieses Kind der Sünde, ich muss ihn bestrafen. Und auch die anderen. Bring mich zu ihnen, Ariel. ARIEL Bow-wow, was tu ich jetzt? Soll ich bellen? Diese Sterblichen und ihr Leid. Wann lassen sie mich gehen?
2. AKT SZENE 1 HÖFLINGE Am Leben, wach! An einem Ort, wo der Sturm keine Spur hinterließ. Möwenspuren, angeschwemmte Algen. Glänzende Muscheln, Treibgut, Tang. Waldland. Trockener Sand. Kein Regen. Still, seltsam. Wunden entschwunden. Kleider ganz, wie neugeboren. Ist es möglich? Ist es ein Wunder? Glänzende Gestade, schimmernde Hügel. Verworrener Urwald. Unheimlich still. STEFANO Mir schien, ich flog über dem Ozean wie eine Möwe. Schwer zu sagen.
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TRINCULO Drachen wanden sich, Kessel siedeten über meinem Kopf. Wir könnten tot sein. STEFANO Wir waren untergegangen. TRINCULO Ich war betrunken. STEFANO Ich war sturzbetrunken. TRINCULO Ich hing an einem Fass. Kein Blut. STEFANO Keine Beule. Alles glatt. HÖFLINGE In welchen Sturm gerieten wir? An welche Küste kamen wir? PROSPERO Nun seh ich sie alle zusammen. Dort ist Neapels König! Mit seinem Bruder. Dort ist Gonzalo, einst mein Retter. Dort ist er. Dort ist mein Bruder. Höhne sie, verspotte, reize und quäle sie. ARIEL Höhne, bedränge sie, reize und quäle sie. PROSPERO Stich sie, täusche sie, gib ihnen keinen Frieden. ANTONIO Alle sicher an Land. HÖFLINGE Alle sicher. SEBASTIAN Alle außer Ferdinand, Neapels Sohn. HÖFLINGE Er ist nicht hier. Der König ist in Tränen aufgelöst. GONZALO Herr, seid fröhlich. Das ist bemerkenswert! Bitte weint nicht, Eure Majestät. Dem Sturm entrissen, unsere Kleider frisch, wie nicht getragen! Herr, das ist der Beweis, die Vorsehung liebt uns! Prinz Ferdinand, euer Sohn, ist sicherlich in guten Händen. TRINCULO Lord Gonzalo. STEFANO Hoffnungsfroher Gefährte. ANTONIO Herr, ich sah ihn im Wasser, tapfer strebte er dem Land
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LIBRETTO
zu. Der Prinz schwimmt ausgezeichnet! Ich habe Vertrauen zu diesem jungen Mann. ARIEL Lügner! ANTONIO Was sagtet ihr, Herr? SEBASTIAN Ich habe nicht gesprochen. ANTONIO Mein Fehler. Herr, der Sturm hat ihn nicht geholt, das Schicksal liebt ihn! Er ist euer Sohn, er ist dynamisch und entschlossen. Ein Prinz, wie er im Buche steht. ARIEL Schamlos! ANTONIO Was, Eure Hoheit? SEBASTIAN Ich habe nicht gesprochen. ANTONIO Herr, ihr scherzt ... SEBASTIAN Du bist verwirrt. ANTONIO Nein, ich habe es gehört. SEBASTIAN Mailand, deine Eitelkeit, deine Arroganz brachten uns an diese gottverlassene Küste. Für dich trotzten wir den Gefahren des Ozeans, das Schiff ist zerschellt, mein Neffe ist nicht mehr. ANTONIO Prinz Sebastian, als euer Gastgeber tat ich mein Bestes. Brachte euch auf diese Erholungsreise. Ich verdiene eure verletzenden Worte nicht. Mein einziger Gedanke galt dem Hofstaat. SEBASTIAN Meines Bruders einziges Kind, Blüte der Nation. Wie bringst du ihn zurück? Was wirst du tun? Wir kamen aus Neapel auf eure Einladung. Die Schuld für dieses Unglück liegt bei euch. ANTONIO Ich wollte, dass alles perfekt ist für den König. Der Hurrikan war unerwartet. SEBASTIAN Erspar uns deine Ausreden! Sie sind ganz nutzlos.
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KÖNIG Oh Prinz von Neapel und Mailand! Welcher Fisch hat dich verspeist! Oh hör mich, Ferdinand, ich hätte sterben sollen, nicht du. ANTONIO Er ist nicht ertrunken, er wird gefunden! Mut, Herr, und regiert! ARIEL Schwacher Narr. SEBASTIAN Er beleidigt meinen Bruder. ANTONIO Nicht ich, jemand anderer! HÖFLINGE Was sagte er? Verräter, dafür wirst du bezahlen. ANTONIO Du wagst es, dich gegen mich zu wenden mit Beschimpfung und Kritik. Wolltest mich unbedingt zum Freund. Du hast mit mir für Bilder posiert! Deine höfischen Feste wurden aus meiner Tasche bezahlt. Mailand war Mäzen für viele deiner Verse, deiner Feste, Paläste, deiner Vergnügen und Günstlinge. Deiner Pläne, deiner Geschäfte, ich garantierte für deine Schulden. HÖFLINGE Alles seine Schuld, und doch spricht er, ganz ohne Respekt. ANTONIO Ich lud dich zum Essen. ARIEL Nichtsnutze, Faulenzer, Diebe, Sünder. HÖFLINGE Hört ihn, nun ist er entlarvt. Undankbares Gesindel, man sollte ihn verprügeln. ANTONIO Hört auf, Freunde, wir sind verhext. HÖFLINGE Widerlicher Mann, Scharlatan, unverschämter Abschaum. Man sollte ihn schlagen. Verprügeln, Scharlatan, schlagt ihn, auf ihn, Neapel. ANTONIO Wartet, gute Leute!
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SZENE 2 HÖFLINGE Ein Monster! Ein Einheimischer! CALIBAN Dies sind Besucher, dies sind Reisende mit Juwelen an den Händen. HÖFLINGE Er murmelt! Er gestikuliert! Was versucht er uns zu sagen? CALIBAN Aus einem strahlenden Land. Gekleidet wie Könige, wie sie mich anstarren. Rätselhafte Anmut in jedem Gesicht. HÖFLINGE Er mag uns, er spricht sanftmütig. Er ist hässlich. Er ist freundlich. CALIBAN Solche Männer, solche Frauen ... Ihr seid vom Himmel gefallen. SEBASTIAN Ja, wilder Bursche, wir sind vom Mond. STEFANO Ein leichtgläubiges Monster. TRINCULO Eine schwache, betörte Kreatur. Monster, willst du uns helfen? Du kannst uns so viel lehren. Unser Haar mit Lehm zu flechten. STEFANO Wie man die Füße einwärts dreht. TRINCULO Wie man mit offenem Mund schaut. Wild, vage und dumm. Was sollen wir dir geben, um zu zeigen, wie sehr wir dich lieben? Knöpfe oder Taschentücher, Tressen von unseren Mänteln. Ein bisschen Kleingeld oder etwas Brandy? Wir haben welchen zur Hand. CALIBAN Das ist ein Zeichen, du bist nett. TRINCULO Nimm dir nur, trink so viel du willst. Ein Jahrgang aus dem Keller des Königs. GONZALO Die Kreatur ist nicht an Alkohol gewöhnt. Ist es klug, ihn zu verführen?
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CALIBAN Oh Brüder, dieses Getränk ist gut. Ich bring euch dorthin, wo Schlammkrabben wachsen. Ich zeig euch das Nest eines Hähers. Ich führ euch an den Ort, wo die besten Quellen fließen. Ich helf euch den Seidenaffen zu fangen. Mit meinen langen Nägeln werde ich nach Ferkelnüssen graben. Ich schwimme, um Schildkröten für euch zu fangen. Ich bringe euch Kastanien. Von den Felsen hol ich junge Scamels. ALLE Er faselt, was sind Scamels. CALIBAN Oh starker Trunk, der mich stark macht. HÖFLINGE, TRINCULO, STEFANO Ja, trink noch mehr! So ist es gut, mach weiter. CALIBAN Es brennt in mir mit Feuerzungen. Es hebt mich höher und höher. ARIEL Es hebt ihn höher und höher. HÖFLINGE Wer ist da? Es ist Luft! ARIEL Wer ist da? Es ist Luft. HÖFLINGE, TRINCULO Spuk-Küste, es ist ein Geist. CALIBAN Freunde, keine Angst, die Insel ist voller Geräusche, Klänge und Stimmen. Es sind die Geister. Manchmal kommen sie nach dem Aufwachen und summen mich wieder in den Schlaf. Mit Klängen und einer Süße wie tausend Instrumente. Dann träume ich, den Himmel zu sehen. Als ob sich die Wolken geöffnet hätten. Ich sehe, dass aus ihnen Schätze regnen, dann wach ich auf und weine, weil ich wieder träumen will. HÖFLINGE Geister nennt er sie. Was ist diese Insel? GONZALO Herr, was du sagst, weiß ich nicht. Auch nicht, wo wir sind oder wohin wir gehen sollen. Es gab vor Kurzem einen Sturm, kannst du uns helfen, unseren Prinzen zu finden? CALIBAN Keinen solchen Sturm hab ich erlebt, seit meine Mutter Sycorax Königin war. Sie konnte die Strömung aufKS HERBERT LIPPERT als KÖNIG VON NEAPEL SORIN COLIBAN als GONZALO
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peitschen, bis die Krötenfische sich versteckten. Sie konnte Dämonen herbeirufen, die die Küste in Furcht erbeben ließen. Ihre Kunst jedoch war nichts gegen die meines Meisters. ANTONIO So sind wir hier nicht allein! CALIBAN Ich war ein Kind in seinen Händen. Durch Heimtücke nahm er mein Land. Er tötete euren Prinzen! Er machte den Sturm, er will euch schaden, er hasst euch alle. ANTONIO Hört ihr, Herren, was er über Zauberei spricht? Man weiß, dass manche Gelehrte Wunder vollbringen. Wie können wir abtun, was die einfache Kreatur sagt? Woher wissen wir, welche Künste an diesem Ort ausgeübt werden? CALIBAN Er kann nach Belieben Sonnen, Monde, Hitze, Kälte heraufbeschwören. HÖFLINGE Niemand kann sagen, was wahr ist. CALIBAN Wolken in Galeonen verwandeln, die leere Küste mit Gefährten bevölkern. Er lässt dich glauben, dass du siehst, hörst und berührst, was er sich ausdenkt. Ich kenne keine stärkere Kunst als die Kunst des Prospero ... ANTONIO Monster, wer ist dein Meister? CALIBAN Kann’s nicht sagen, bin nicht gesund. SEBASTIAN Die Kreatur ist betrunken und du bist ein Spinner. Behalte deine Theorien für dich. Genug davon! Uns grundlos zu ängstigen, verstärkt das Unrecht, das du uns getan. Dumme Lügen sind alles, was dir geblieben ist. Du hast schon meinen Neffen getötet. GONZALO Das Monster spricht wilden Unsinn. Wir finden den Prinzen, obwohl der Urwald dicht ist. Wir versuchen es weiter, durchsuchen die Insel, fürchten uns vor nichts. Wir werden euren Sohn finden. Wir gehen weiter. KÖNIG Mein Sohn ist tot. Das Meer verspottet unsere Suche am Land. Er ist verloren, und wir irren umher, ihn zu finden. Umsonst, er ist fort. Worte können nicht hel-
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fen, Hoffnung gibt es keine mehr. Der Schmerz ist zu groß. Wäre ich doch gebettet, wo Ferdinand liegt. Ja, in diesem Morast. Oh lasst ihn gehn ... GONZALO ... Herr, er ist nicht fort. Wir werden ihn noch finden. PROSPERO Geht und sucht, wo es keinen Pfad gibt. Geht im Kreis, trinkt den Salzsumpf, wandert im Moor. Stolpert und kriecht, lallt und tobt. Geht, bis ihr fallt. Verrückt geworden, werdet ihr meinen Namen wissen. SZENE 3 STEFANO Sie werden ihn nicht finden, er ist ein toter Mann, wie tragisch. TRINCULO Nimm einen Brandy. STEFANO Gestrandet, wir sind alle verloren. Nichts zu essen, keine Zuflucht. TRINCULO Trink noch einen. STEFANO Verloren in der Wildnis, wie konnte das passieren. TRINCULO Nichts zu tun als zu sitzen und nachzudenken ... Komm, trink was. Neapel, lebe wohl, hier werden wir sterben. CALIBAN All dein Leid kommt von meinem Feind. STEFANO Was ist das, Monster? TRINCULO Ist sein Anfall vorbei? CALIBAN Helft mir mein Land zurückgewinnen, ich werde euer Freund sein. STEFANO Oh gewiss. TRINCULO Danke, eure Majestät. CALIBAN Wenn er tot ist, wirst du König sein an seiner Stelle. Du wirst der Herr seiner Tochter sein.
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STEFANO Ist sie rein? CALIBAN Sie wird deine Königin sein. TRINCULO Ist sie süß? CALIBAN Sie besucht meinen Schlaf, sanft wie der Tau. TRINCULO, STEFANO Wir gehen mit dir! Der Magier wird sterben, und mit seinem Kind werd’ ich in der Wildnis ein Volk zeugen. Die Gedanken sind frei, und in diesem Land beuge ich mich niemandem mehr. SZENE 4 FERDINAND Was vorher war, gibt es nicht mehr. Mein Vater ist fort, ich lebe weiter. Gebunden bis zu meinem Tod, Bäume und Steine meine Heimat. Verloren wie ein Traum war ich, nichts übrig als dieser Gram. Nur sie tröstet mich in dieser Nacht. Sie ist das Licht. MIRANDA Wie kann ich bieten, was ich geben würde? Wie kann ich erbitten, was ich haben möchte? Liebst du mich? Warum weine ich? Liebe ist stark, ich bin schwach. FERDINAND Sobald ich dich erblickte, flog mein Herz, dir zu dienen. Als hätte es mein Leben lang gewartet, dich zu lieben. Wie ist dein Name? MIRANDA Miranda. Ich bin ungehorsam, Vater will nicht, dass ich es sage. FERDINAND Bewunderte Miranda, Wunder meines Lebens, meine Frau. FERDINAND, MIRANDA Hoch oben auf der Landzunge, tief unten im trockenen Sand, tief drin im Waldland. Dort werden wir liegen. Oder auf einer Felswand, nahe den brechenden Wellen, hören wir die Gezeiten strömen. Du und ich! Oh, willst du mich haben, sag mir, dass du mich liebst. Wenn du bei mir bist, bin ich ganz. Meine Liebe lächelt, selige Zuflucht. Reiche Insel, alles, was ich mir wünsche.
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PROSPERO Miranda! Ich habe sie verloren, kann ihre Gedanken nicht beherrschen. Mein Kind hat mich besiegt, eine Macht, stärker als die meine, hat den jungen Mann befreit.
3. AKT SZENE 1 CALIBAN Hier entlang, sie sind ganz nahe. TRINCULO Wartet einen Augenblick auf Erfrischungen. STEFANO Monster, Gnade, ich habe Durst. TRINCULO Ich auch! CALIBAN Mut! Es ist nicht mehr weit. Tod ihrem Vater. TRINCULO, STEFANO Noch einen Trunk. CALIBAN Ja, aber schnell. Ich trinke auf König Stefano. Bald beginnt eine ruhmreiche Herrschaft: König Stefano mit seiner jungfräulichen Königin. TRINCULO, STEFANO Lauf, Mädchen, und versteck dich. Ich komm zu dir, ich zeig dir, was ein Mann tun kann. CALIBAN Still, oder wir werden entdeckt. TRINCULO, STEFANO Noch eine Runde. Bald beginnt eine ruhmreiche Herrschaft: König Stefano mit seiner jungfräulichen Königin. CALIBAN (Durch meine Kunst seid ihr getäuscht, ich werde frei sein.) TRINCULO, STEFANO, CALIBAN Tod ihrem Vater. SZENE 2 PROSPERO Geist, muss ich mein Unrecht gutmachen? Miranda ist fort, bist du treu, Ariel? Oh diene mir gut.
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ARIEL Durch faulige Tümpel, durch triefende Klippen, in versinkendem Boden führte ich sie auf und ab. Durch saugenden Treibsand, durch Sümpfe und Salzpfannen. Durch weinende Blätter, vorbei am dornigen Baum. Durch Fliegenschwärme. Lass mich doch mich erheben. Ich jagte sie überall. Oh lass mich gehen! PROSPERO Nein, lass mich nicht im Stich. Geist, enttäusch mich nicht, sind sie bestürzt? Was sagen sie? Verstehen sie? Haben sie an mich gedacht? ARIEL Schau doch: sie sind schwach, sie können kaum gehen! HÖFLINGE Die Insel ist ein Labyrinth aus geraden Pfaden und Irrwegen. Wir werden alle sterben. Wenn der Prinz der Wut des Sturms entkam, fiel er dem Hunger eines Tieres zum Opfer. GONZALO Meine alten Knochen schmerzen, ich kann nicht weiter gehen. HÖFLINGE Wir werden bald alle hier sterben. SEBASTIAN Narr, du hast uns erschöpft, und vergebens. Ich wusste, es ist Zeitverschwendung. KÖNIG Ferdinand, warum holte dich die See und nicht mich? Oder einen anderen: meinen Bruder. Du warst jung, du warst schön, nun ist Sebastian mein Erbe. Bald wird dieser Gram mein Leben beenden. Ferdinand, ich werde Neapel nicht vergessen lassen. Mein Bruder hat nicht dein Verdienst, er wird nicht erben. Gonzalo, höre mich, du wirst mir nachfolgen. Ich werde dafür sorgen, dass du Regent wirst. GONZALO Ihr seid so müde, Herr, schlaft, Herr, so erschöpft, so schwer. ANTONIO Du bist nicht deines Bruders Liebling. SEBASTIAN Das ist kein Geheimnis. ANTONIO Plötzlich schlafen sie. Dieser Unfall könnte uns zu Freunden machen. Eines Tages sehen wir Neapel wieder...
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SEBASTIAN Sag, was du willst, lach über meinen Sturz. Ich kann gar nichts erwarten. ANTONIO Das liegt an dir. Du musst dich entscheiden, sieh, wie sie schlafen. Als wären sie gestorben; wenn es so wäre, wärst du der König. Keiner am Hof könnte etwas sagen. SEBASTIAN Du hast seltsame Gedanken, ganz wie meine eigenen. Du hattest einen Bruder, dann war er fort. ANTONIO, SEBASTIAN Wage und gewinne, tu es, meine Seele. Das Glück, sagt man, dient dem Kühnen. Einer für den König, einer für diesen Herrn. Zwei mit einem Schlag fallen durch das Schwert. ARIEL Öffnet die Augen, wenn euch euer Leben lieb ist. Oh seht, was sich tut. Alte Männer, hört auf zu schnarchen. Wenn euch euer Leben lieb ist, macht die Augen auf! GONZALO Mord! HÖFLINGE Mord! KÖNIG Was ist das für ein Schrei? ANTONIO Da ist jemand. SEBASTIAN Fremde. ANTONIO, SEBASTIAN Wir haben uns gegen die Gefahr bewaffnet. PROSPERO Sie sind dieselben, noch dieselben. Als hätte sich nichts geändert. Gift bis ins Innerste, böswillig wie zuvor. Welches Leid bewegt sie? Sind diese Geschöpfe Menschen? Meine Kunst muss ihre Herzen treffen! HÖFLINGE Hilfe! Was sind das für Dinge? Unglaublich bizarr. HÖFLINGE, KÖNIG, GONZALO, ANTONIO Seltsame Vision. Es sind Lebensmittel. GONZALO Freunde, wir bekamen Nahrung vom Himmel. Wenn ich König wäre von so einem Land, würden alle Menschen im Müßiggang leben. Keine Reichen, keine Armen, Dienen wäre unbekannt. Kein Erlass, kein Ge-
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setz, keine Geschäfte. Kein Messer, keine Waffe, kein Frevel, kein Verbrechen. Kein Bedarf an Maschinen, kein Wucher. Es gäbe keinen Handel, kein Gold, keine Sünde. Es gäbe keinen Herrscher ... ANTONIO Wenn er König wäre. SEBASTIAN Genug der Politik, lasst uns essen. HÖFLINGE, KÖNIG, ANTONIO, SEBASTIAN, GONZALO Furchtbare Kreatur! ARIEL Ihr seid sündige Männer, wie ihr wisst. Ihr aus Mailand verbanntet Prospero. Selbst das hungrige Meer konnte euch nicht verdauen, sondern spie euch aus, in Erinnerung an Prospero. Da ihr sie vor zwölf Jahren dem Hungertod überlassen habt, das Kind und Prospero. Ihr seid hier verurteilt, langsam dahinzusiechen, unterzugehen wie dein Bruder Prospero. HÖFLINGE, SEBASTIAN, GONZALO Dies ist der Zorn des Himmels! KÖNIG, ANTONIO Schrecklich, schrecklich! ANTONIO Ich hörte seine Stimme, sah sein Gesicht ... KÖNIG, ANTONIO Prospero ist hier. KÖNIG Schrecklich, schrecklich! Am Strand, Prospero im brausenden Ozean. ANTONIO Prosperos Geist verdammt mich. KÖNIG Die Natur spricht gegen mich. Ich werde noch verrückt. Meine Sünde tötete meinen Sohn! GONZALO Was sie vor langer Zeit getan, kommt jetzt zu ihnen zurück. Gift aus verborgenen Untaten hat auf ihren Verstand gewirkt. PROSPERO Ihr Hirn kocht in ihren Schädeln. Geist, das ist Magie. Gequälte Seelen, leistet eure Zahlung, nun wohnt ihr mit mir in der Hölle. Mit meiner Kunst verdunkelte ich die Sonne, ließ den wilden Ozean fließen. Spaltete Jupiters starke Eiche mit Feuer aus seinem eigenen Blitz. Erschütterte die Landzunge, weckte
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die Toten. Und brachte den Zorn der Hölle an den Strand, sonst nichts. SZENE 3 MIRANDA Vater, Ferdinand und ich ... FERDINAND Herr, sie ist meine Braut. PROSPERO Mein Lebenswerk ist zunichte. Nie werde ich dein Glück kennen. MIRANDA Vater, sei nicht zornig, ich bin so glücklich. PROSPERO Miranda, vergib deinem Vater. Meine Arbeit war hart, das Ende ist noch härter. Hier ist Ariel, um dir Glück zu wünschen. FERDINAND Ist er ein Geist? PROSPERO Ja, mein Diener. FERDINAND Fantastischer Vater! ARIEL Kinder des tödlichen Zwists, glücklich sollt ihr leben. Prosperos Rache ist vollzogen, Neapel wird seinen Sohn bald sehen. FERDINAND Mein Vater? Er lebt? PROSPERO Neapel überlebte. ARIEL Flieh vor diesen traurigen Zeiten. Erhebe dich über deines Vaters Untaten. FERDINAND Wann kann ich ihn sehen? PROSPERO Bald wirst du ihn begrüßen. ARIEL Prospero hatte seine Rache, Prospero, der den Sturm machte. FERDINAND Herr, ich verstehe nicht ...
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PROSPERO Warte, ich rieche Caliban. FERDINAND Der Sturm? Du hast ihn gesandt? PROSPERO Unsere Feier ist vorbei. Warum gaffst du? Er löste sich in Luft auf, so werden Städte vergehn, Paläste verschwinden. Der Globus selbst sich auflösen, nichts bleibt, alles verblasst. CALIBAN Tötet diesen Mann, ich bin Caliban. Straft seine Untat, die Insel ist mein. Calibans Herrschaft beginnt bald. König Caliban mit seiner Jungfrau ... TRINCULO, STEFANO Caliban, bist du verrückt geworden? CALIBAN Gib mir deine Tochter, wir werden Calibans haben, viele und starke. So wird meine Linie weiter bestehen. Sie war versprochen, von Kindheit an zu meiner Königin bestimmt. Gib sie mir! PROSPERO Schurke, hast du dich selbst gesehen? Dachtest du an die Ehre meiner Tochter, mit so einem Mann belastet zu sein? MIRANDA Stets folgst du, stets beobachtest du, wenn ich am Strand gehe oder den Pfad auf den Klippen. Immer dort, fremd, sonderbar. Du und ich: wie könnte das sein? PROSPERO Armes Tier, letztes deiner Art. Kreatur: du hast keine Zukunft. Ariel, eine Sache ... der König. ARIEL Er und dein Bruder starren und schaudern. Sie sind verloren in Furcht und Schrecken. Und Gonzalos Tränen rinnen in seinen Bart. So wirkt dein Zauber, dass es dein Herz erweichen würde, sie zu sehen. Mir erginge es so, wenn ich menschlich wäre. PROSPERO Wenn du, der du aus Luft bestehst, ihr Leiden fühlst, so werde ich umso mehr barmherzig sein. In dieser Stunde noch wird deine Arbeit enden, du wirst freigelassen.
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SZENE 4 PROSPERO Gelassenheit wird die Sinne trösten, die gelitten haben. Erwacht, ihr Wahnsinnigen, erwacht. Eure Augen sind offen, ihr kennt meinen Namen: Prospero! ANTONIO Prospero lebt! Ich dachte, ich hätte ihn getötet. KÖNIG Dein Puls schlägt, du bist aus Fleisch und Blut. Ich fürchte, ich war verrückt. Vergib, was ich tat. Mein Sohn ist tot, ich werde alles tun, was du willst. Nur zeig mir bitte seinen Leichnam, meine Sünden brachten dieses Leid über mich. Nimm dein Herzogtum. PROSPERO Ich werde dir mehr geben als dein Königtum ... GONZALO Der Prinz! KÖNIG Oh Vorsehung! Bist du es wirklich? Es sind nicht meine Augen. Ich ertrage es nicht, dich zweimal zu verlieren. Ferdinand, umarme deinen Vater. PROSPERO Das ist meine Tochter Miranda. KÖNIG Oh barmherziger Himmel. FERDINAND Vater, wir sind verheiratet. KÖNIG Von meiner Tochter erbitte ich, der Vater, wie ein Kind Vergebung. MIRANDA Wie gut sie sind, wie strahlend, wie großartig. Und ich werde von Ferdinand geliebt. FERDINAND Oh wie vollkommen ist mein Leben: ich habe einen Vater und eine Frau. PROSPERO Nun ist mein Werk beendet, ich kann verderben und heilen. KÖNIG Nun da mir mein Sohn gegeben ist, lege ich die Eitelkeit ab. GONZALO Nun ist die wilde Verzweiflung vorbei, endlich ver-
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söhnt und geheilt. Wie all das geschah, wer kann es sagen? Oder wie unser Schiff hierher geriet. PROSPERO Beruhigt euch, eure Leiden sind hinter euch. Euer Schiff ist neu und wartet auf euch. HÖFLINGE Aus dem Ozean erhob sich unser Schiff, das geborsten war ... Der Prinz, der vermisst war, ist hier und lebt. Unsere Sünden sind vergeben. SEBASTIAN Grüßt die Macht des Himmels. MIRANDA Oh schöne neue Welt. PROSPERO Oh argloses Mädchen. HÖFLINGE Wer sind diese Menschen, mehr als seltsam? KÖNIG Diese Ehe hat das Schicksal vermittelt, unser Königreich wird beständig sein. Diese Partie vereint Mailand und Neapel. PROSPERO Bring auch die anderen Männer, ich vergaß sie, Ariel. ARIEL Diese Aufgabe ist die letzte. TRINCULO, STEFANO Sind wir wach? Und in guter Verfassung? Wie mein Kopf schmerzt. Es scheint so. Oh, kann das sein, wir fahren nach Italien zurück! GONZALO Gesegnet diese Insel, wo Prospero fand sein Herzogtum, Ferdinand seine Braut, und Neapel Ferdinand. HÖFLINGE Jubelt! Bald segeln wir nach Hause. Ihr Götter schaut herab, alle Verlorenen sind gefunden. PROSPERO Bis Neapel begleite ich euch. Wir werden diesen jungen Leuten eine angemessene Hochzeitsfeier bereiten. KÖNIG Und auf der Reise erzählst du deine Geschichte. ANTONIO Glückliches Paar, eine Staatsaffäre. PROSPERO Dich Bruder zu nennen, wünsche ich nicht, doch werde ich verzeihen.
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ANTONIO Die Vergebung kostet dich nichts, du hast gewonnen, ich verloren. Ich verlor meinen Stolz, mein Leben. Dein Kind ist Neapels Frau. Neapels Frau, verwöhntes Kind des Glücks, das du den Willen des Himmels nennst. Der Wille des Himmels, der entschied, dass du besser geboren bist als ich. Besser als ich mit meinem geringen Mut, der zu deinem Vorteil wurde. Dein Vorteil nimmt mir den Atem, und dein Leben ist mein Tod. PROSPERO Stolz, alle sterben. Ich ertränke mein Buch, breche meinen Stab, regiere in Mailand neben meinem Grab. ARIEL A...i…e…
PROSPERO Ariel, bleib bei mir, Ariel. Rette mich, Ariel. Leb wohl ... nun hab ich keine Kunst. Mitleid, steh mir bei!
SZENE 5 CALIBAN Wer war hier, sind sie verschwunden? Gab es andere? Waren wir Brüder? Feierten wir? Machten Geschenke? Gab es Feuer, und Schiffe? Sie schienen menschlich, träumte ich. Im Schimmern des Sandes. ARIEL A...i…e… CALIBAN Caliban. Im Zischen der Gischt, in der Tiefe der Bucht. Im Golf im Schwall, Caliban. ARIEL A...i…e… Libretto von Meredith Oakes Abdruckgenehmigung und Bühnenrechte: © FABER MUSIC, London, vertreten durch Alkor-Edition Kassel
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IMPRESSUM THOMAS ADÈS
THE TEMPEST SPIELZEIT 2023/24 PR EM IER E DER PRODU KT ION: 14. J U N I 2015 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion SERGIO MORABITO, ANDREAS LÁNG, OLIVER LÁNG Gestaltung & Konzept EXEX Bildkonzept Cover MARTIN CONRADS, Berlin Layout & Satz ROBERT KAINZMAYER Lektorat MARTINA PAUL Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE: ORIGINALBEITRÄGE Alle Texte stammen aus dem Premieren-Programmheft The Tempest der Wiener Staatsoper 2015. TEXTÜBERNAHMEN & ÜBERSETZUNGEN Alex Ross: Prächtig und fremdartig, Ausschnitt aus einem Artikel des The New Yorker, März 2004. BILDNACHWEISE Cover: Vik Muniz, Cloud Cloud, Manhattan, 2002 © Bildrecht, Wien 2024 / Alle Szenenbilder: Michael Pöhn/Wiener Staatsoper GmbH. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
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KULTUR BEWEGT UNS ALLE. AUF DIE OMV KÖNNEN SIE SICH VERLASSEN. HEUTE UND MORGEN.
Die OMV und die Wiener Staatsoper verbindet eine jahrelange Partnerschaft. Unser Engagement geht dabei weit über die Bühne hinaus. Wir setzen uns aktiv für Jugend und Nachwuchsprojekte ein, und ermöglichen den Zugang zu Kunst und Kultur für junge Menschen. Gemeinsam gestalten wir eine inspirierende Zukunft. Alle Partnerschaften finden Sie auf: omv.com/sponsoring
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WIENER- STAATSOPER.AT