Programmheft »Rigoletto«

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RIGOLETTO Giuseppe Verdi


Io la lingua, egli ha il pugnale; l’uomo son io che ride, ei quel che spegne ! Ich habe die Zunge, er den Dolch; ich bin der Mann, der lacht, er der, der tötet ! Rigoletto, 1. Akt


INHALT Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Über Victor Hugo → Hugo von Hofmannsthal

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Ein italienischer Wozzeck → Pierre Audi im Gespräch mit Bettina Auer

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Auf dem Weg zur DNA des Stücks → Bühnen- & Kostümbildner Christof Hetzer im Gespräch mit Oliver Láng

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Wegweiser zum Drama

→ Premierendirigent Myung-Whun Chung im Gespräch mit Andreas Láng

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Ich räche lachend mich! → Victor Hugo

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Der Fürst → Niccolò Machiavelli

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Tagebuch des Verführers → Søren Kierkegaard

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» Der Applaus wollte und wollte kein Ende nehmen « → Oliver Láng

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» Der ganze Inhalt liegt in diesem Fluch « → Aus der Korrespondenz Giuseppe Verdis

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Rigoletto im Banne der Pariser Szene → Daniel Brandenburg 54 Das Wesentliche teilt sich durch die Musik mit → Andreas Láng

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Figlia – Mio Padre → Markus Vorzellner

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Gedanken zu Verdi und Rigoletto → Rainer Bischof

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Rigoletto an der Wiener Oper → Oliver Láng

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RIGOLETTO → Melodramma in drei Akten Musik Giuseppe Verdi Text Francesco Maria Piave

Orchesterbesetzung 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Cimbasso, Schlagwerk, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 3 Flöten, 2 Oboen, 5 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba, Schlagwerk, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Spieldauer 2 Stunden 45 Minuten (inkl. zwei Pausen) Autograf Verlagsarchiv Ricordi Mailand Uraufführung 11. März 1851, Teatro La Fenice in Venedig Erstaufführung im Haus am Ring 11. Februar 1871




DIE HANDLUNG

1. Akt Bei einem Fest erzählt der Herzog von Mantua, dass er seit Wochen einer ihm unbekannten jungen Frau nachstellt. Treue findet er lächerlich, für ihn sind alle Frauen attraktiv. Gerade hat er, angestachelt von seinem Hofnarren Rigoletto, Gräfin Ceprano im Visier. Marullo berichtet den anderen Höflingen von seiner neuesten Entdeckung: Der hässliche Rigoletto scheint eine Geliebte zu haben. Da Rigoletto am Hof verhasst, jedoch unangreifbar ist, wollen sich die Höflinge – unter Anführung von Graf Ceprano – an ihm rächen und planen die Entführung seiner vermeintlichen Geliebten. Als Rigoletto den Grafen Monterone, der den Herzog wegen der Entehrung seiner Tochter anklagt, verhöhnt, verflucht Monterone den Despoten und seinen zynischen Funktionär. Auf dem Heimweg begegnet Rigoletto dem Auftragsmörder Sparafucile. Als der ihm unvermutet seine Dienste anbietet, zeigt sich Rigoletto interessiert. In Sparafucile erkennt er sein eigenes Spiegelbild, beide sind sie Außenseiter. Beunruhigt von Monterones Fluch macht Rigoletto die Gesellschaft und sein zweifelhaftes Metier verantwortlich für seine eigene Bösartigkeit. Bei seiner Tochter Gilda, die er, abgeschieden von der Welt, versteckt hält, will Rigoletto alles Glück finden, das ihm das Leben verwehrt. All ihren Fragen nach ihrer und seiner Identität weicht er aus. Aus Angst, sie zu verlieren, verbietet Rigoletto seiner Tochter außer dem Kirchgang jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Dennoch macht ihr heimlich ein junger Mann den Hof. Es ist der Herzog, der sich als mittelloser Student ausgibt. Als Rigoletto das Haus verlässt, bestürmt der Herzog Gilda mit Liebeserklärungen, die ihre Mädchenträume scheinbar wahr werden lassen. Lärm auf der Straße zwingt den Herzog zum Aufbruch: Die Höflinge kommen, um Rigolettos »Liebchen« zu entführen. Rigoletto, durch eine Maske blind gemacht, unterstützt sie sogar dabei – im Glauben, dass die Gräfin Ceprano geraubt werde. Zu spät erkennt Rigoletto die Wahrheit. DIE H A N DLU NG

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2. Akt Der Herzog findet das Haus Rigolettos verlassen vor. Er klagt um die verlorene Geliebte, für die er erstmals tiefe Zuneigung zu empfinden glaubt. Am Hof erfährt er, dass Gilda von seinen Höflingen in den Palast verschleppt worden ist, und eilt zu ihr. Verzweifelt sucht Rigoletto nach seiner Tochter, doch die Höflinge lassen ihn ins Leere laufen, selbst als er ihnen eröffnet, dass sie nicht seine Geliebte, sondern seine Tochter entführt haben. Als der Herzog Gilda fortschickt, versucht sie sich ihrem Vater anzuvertrauen. Doch Rigoletto denkt nur noch an blutige Rache.

3. Akt Um Gilda endlich von ihrer Liebe zum Herzog »zu heilen«, führt Rigoletto sie zum Hause Sparafuciles und zwingt sie mitanzusehen, wie sich der Herzog mit der Prostituierten Maddalena (Sparafuciles Schwester) vergnügt. Rigoletto schickt seine Tochter fort, um die gemeinsame Flucht vorzubereiten, und beauftragt Sparafucile, den Herzog zu töten. Doch Gilda kehrt heimlich zurück und wird Zeugin, wie Maddalena ihren Bruder überredet, anstelle des Herzogs den Erstbesten zu ermorden, der vor Mitternacht vorbeikommt. Da steht Gildas Entschluss fest, sich für ihre Liebe zu opfern. Sie klopft an die Tür. Ein wenig später übergibt Sparafucile Rigoletto die Leiche in einem Sack. Im Augenblick seines größten Triumphes – Rigoletto fühlt sich als allmächtiger Rächer – hört er die Stimme des Herzogs. Entsetzt öffnet er den Sack und sieht seine sterbende Tochter. Ohne den Lauf der Dinge zu verstehen, macht Rigoletto den Fluch Monterones für die Tragödie verantwortlich.

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SYNOPSIS

Act 1 At a party, the Duke of Mantua reveals that he has been pursuing a young woman he does not know. He considers being faithful to one woman laughable; to him all women are attractive. Goaded by his jester Rigoletto, he has just set his sights on Countess Ceprano. Marullo tells the other courtiers about his latest discovery: the ugly Rigoletto seems to have a lover. Since Rigoletto is hated at court but is untouchable, the courtiers – led by Count Ceprano – plan to take their revenge on him by abducting his presumed lover. When Rigoletto mocks Count Monterone, who arrives to accuse the Duke of having dishonoured his daughter, Monterone curses the despot and his cynical jester. On his way home, Rigoletto encounters the hired killer Sparafucile. When he unexpectedly offers Rigoletto his services, Rigoletto seems interested. He realizes that Sparafucile is a reflection of himself: both of them are outsiders. Disconcerted by Monterone’s curse, Rigoletto blames society and his dubious metier for his own wickedness. At home with his daughter Gilda, whom he tries to keep hidden away from the world, Rigoletto seeks the happiness that life denies him. He sidesteps all her questions about her identity and his own. Out of fear of losing her, Rigoletto forbids his daughter all contact with the outside world, other than attending church. A young man is nevertheless courting her. It is the Duke, who is passing himself off as a poor student. When Rigoletto leaves the house, the Duke assails Gilda with declarations of love that seem to her to be her girlish dreams coming true. Noise from the street forces the Duke to leave: the courtiers have arrived to abduct Rigoletto’s »lover«. Rigoletto, whom they have blindfolded, even helps them in their endeavour, believing that they are abducting Countess Ceprano. Too late, Rigoletto realizes what has happened. 6


Act 2 The Duke finds Rigoletto’s house deserted. He laments his lost love, for whom for the first time he believes to have felt deep affection. At court, he discovers that Gilda has been brought by his courtiers to the palace, and he hurries to be with her. Rigoletto searches frantically for his daughter, but the courtiers are of no assistance to him, even when he reveals to them that they abducted not his lover but his daughter. When the Duke sends Gilda away, she tries to confide in her father. But Rigoletto can think only of bloody revenge.

Act 3 To »cure« Gilda of her love for the Duke, Rigoletto takes her to Sparafucile’s house and forces her to watch as the Duke takes his pleasure with the prostitute Maddalena (Sparafucile’s sister). Rigoletto sends his daughter away to prepare for their flight and instructs Sparafucile to kill the Duke. However, Gilda has returned secretly and overhears how Maddalena persuades her brother to murder the next person to come to the house before midnight instead of the Duke. Gilda is firmly resolved to sacrifice herself for her love. She knocks at the door. A short while later, Sparafucile gives Rigoletto a corpse in a sack. At the moment of his greatest triumph – Rigoletto feels like the omnipotent avenger – he hears the Duke’s voice. Horrified, he opens the sack and sees his dying daughter. Without comprehending what has happened, Rigoletto believes that Monterone’s curse has caused the tragedy.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Mit Rigoletto – dem ersten Werk der sogenannten »trilogia popolare« – gelang Giuseppe Verdi der endgültige Durchbruch vom sehr bekannten Opernkomponisten zum unbestritten Größten des damaligen italienischen Musiktheaters. Das Werk basiert auf Victor Hugos Le Roi s’amuse, ein Schauspiel, das bei seiner Premiere aufgrund der kritischen Darstellung des französischen Königs François I. zu einem Skandal (und einem nachfolgenden Verbot des Stückes) geführt hat. Aber auch Verdi hatte so manchen Strauß mit der Zensur auszufechten und Änderungswünsche zu berücksichtigen, ehe Rigoletto schließlich zur erfolgreichen Uraufführung gelangte: die ausgewählten Briefe des Komponisten ab Seite 48 und die von Oliver Láng ab Seite 42 geschilderte Entstehungsgeschichte führen diese für Verdi belastenden Umstände vor Augen. Rein musikalisch und musikdramaturgisch vollzog Verdi im Rigoletto einen deutlichen Entwicklungsschritt. Für Rainer Bischof stellt diese Oper sogar einen ähnlichen Wendepunkt im Schaffen Verdis dar, wie zuvor Macbeth – siehe dazu seinen Beitrag ab Seite 70. Wie sehr hierbei Verdis Erfahrungen eine Rolle spielten, die er in der Pariser Opernszene gemacht hatte, wie sehr überhaupt die französische Oper des mittleren 19. Jahrhunderts ihre Spuren in Rigoletto hinterließen, beschreibt Daniel Brandenburg ab Seite 54. Regisseur Pierre Audi, der mit dieser Inszenierung 2014 an der Wiener Staatsoper debütierte, zieht im Interview ab Seite 16 eine Parallele zwischen der Figur des Hofnarren Rigoletto und Büchners/Bergs Wozzeck und verweist auf die gleichzeitige Opfer- und Täterrolle des Protagonisten. Einblicke zur Konzeption des Bühnenbildes gibt Christof Hetzer in einem weiteren Interview ab Seite 24, über die Verdi’sche Humanität und die emotionale Wahrhaftigkeit seiner Bühnenfiguren spricht der Premierendirigent Myung-Whun Chung (Seite 28). Den komplexen Vater-Tochter-Verhältnissen in so manchen Opern Verdis widmet Markus Vorzellner seinen Essay (Seite 64) und Oliver Láng erzählt abschließend ab Seite 78 die Rezeptionsgeschichte des Werkes an der Wiener Staatsoper. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

→ KS Simon Keenlyside als Rigoletto

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KOLUMN EN T IT EL


Hugo von Hofmannsthal

ÜBER VICTOR HUGO

Das Dichterwerk will immer das große Ganze des Daseins abspiegeln. Aber dem jugendlichen Geist sagt das Einzelne zu; Einzelnes ergreift ihn, Einzelnes hebt ihn über die Last des Daseins hinaus, in Einzelnem scheinen sich ihm die Ideen zu offenbaren. Diesem Einzelnen stellt er gern das Übrige als das Gewöhnliche, das Gemeine, das Feindliche gegenüber, zur großen Materie des Lebens steht er noch in keinem Verhältnis. Allmählich aber stellt das Verständnis der Zusammenhänge sich ein; man erkennt, ein Wesen, ein Ding bedinge das nächste und so ringsum in unbegrenzter Wechselwirkung, das Gebiet des Darstellbaren erweitert sich, fast ins Grenzenlose, und damit erweitert sich auch die Manier der Darstellung. So sind bei Victor Hugo die Werke der ersten lyrischen Epoche durchaus auf die Darstellung des Einzelnen gestellt. »Odes et ballades«, »Feuilles d’automne«, »Chants du crépuscule«, »Voix intérieures« haben ihre vage Einheit nur in den Gesinnungen H UGO VON HOFM A N NST H A L

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des Autors, in seinen allgemeinen Gefühlen. Das Weltbild ist in ihnen sehr wenig präzisiert. Ein unerfahrenes Gemüt könnte sich aus ihnen nicht über die Zusammenhänge des Daseins unterrichten. Die Einheitlichkeit des Buches Orientales ist größer; aber sie liegt durchaus im Pittoresken und Stilistischen und gehört darum auf ein anderes Gebiet. Hierauf folgen die vierzehn Jahre dramatischer Produktion, etwa 1829 bis 1843, von der Konzeption des Cromwell bis zu dem definitiven Misserfolg der Burgraves. Schon die Geschlossenheit dieser Periode des Schaffens lässt ein gewisses Element des Gewaltsamen, der innerlich ausgeübten Willkür erraten. In der Tat haftet der in den Dramen ausgedrückten Weltanschauung etwas Künstliches an. Sie ist einer noch unreifen Erfahrung mit einiger Gewaltsamkeit abgerungen; sie ist einem einzigen Begriff mit Gewalt unterworfen: dem Begriff des Gegensatzes. Die Antithese, dieses Grundelement der französischen Diktion und Komposition, ist hier Eins und Alles der Konzeption geworden, sie beherrscht Inneres und Äußeres, Psychologie und Mechanismus, die dramatische Fabel und den dramatischen Vers. Es wird in diesen Dramen ausgedrückt, dass der Mensch ein aus Kontrasten zusammengesetztes Wesen ist, dessen Schicksal in jähen Antithesen immer das Unerwartetste realisiert; und dass alle menschlichen Begriffe vom Ablaufe des Lebens die eitelsten und nichtigsten sind, weil jeder Begriff seinen Gegensatz und also den der Erwartung entgegengesetzten Verlauf herbeiruft. Dieses merkwürdige, unheimliche und konzentrierte Weltbild aber hat seltsamerweise keinen Einfluss auf die Figuren dieser Dramen. Sie sind sich, als Menschen genommen, in keiner Weise der Gesetze des Daseins bewusst, unter welchen sie leben und welche sie selber verkörpern. Und nur diese gespenstische Unbewusstheit macht es möglich, dass sich ihre Schicksale in der Weise, wie es eben geschieht, zu tragischen Vorgängen verknüpfen. Könnte sich einer von ihnen jemals umwenden, so müsste er sehen, dass die anderen alle nur vorne bemalte Figuren sind und nach der Breite keinen Durchschnitt haben, dass es Figuren von Papier sind. Eine einzige nach allen Dimensionen reale Gestalt, eine Gestalt wie Hamlet, eine Figur wie Götz, müsste, wenn sie in eines dieser Dramen verwickelt würde, durch ihr bloßes Dabeisein die ganze Handlung zersprengen. Man ahnt, dass hier eine Welt aus der Phantasie des Genies und doch nicht aus der Fülle der Wahrheit heraus geschaffen ist, eine seltsame Abbreviatur des Weltbildes. Im Gewande des Banditen verbirgt sich die Seele eines Helden; der Greis trägt die jugendlich widerstreitenden Gefühle in der Brust: Hass und Liebe, der Lakai sieht sich von der Königin angebetet; den Sohn treibt es, die Mutter zu töten, in dem Narren, dem buckligen, verachteten, tückischen Geschöpf, wohnt grenzenlose Vaterliebe, und mit seinem ganzen zusammengerafften Gelde bezahlt er den Degenstoß, der ihm das einzige Kind tötet, der Verbannte, Geächtete erwirbt das Weib, das dem König, dem Kaiser versagt blieb: Aber die Liebesnacht wird zur Nacht des Todes und die 11

Ü BER V ICTOR H UGO


Lichter, die dem Hochzeitsfest angezündet waren, beleuchten zwei Leichen; der Mächtige ist ohnmächtig, der Narr ist traurig und weise; der sterbende Kardinal bringt noch mit einem Worte seiner entfärbten Lippen den jungen blühenden Didier um seinen Kopf, die Dirne liebt, wie keine zweite zu lieben vermag; Cromwell, der seinem Könige das Haupt abschlagen ließ, zittert vor seiner Frau und vor den Reden eines Kindes… so ist diese Welt.

Ü BER V ICTOR H UGO

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Theodor Wiesengrund Adorno

» Es gibt kein richtiges Leben im falschen. «

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Klabund → Cesare und sein Zwerg

» Cesare soll in Perugia, der Hauptstadt Umbriens, Jura und Theologie studieren. Cesare bildet sich zum vollkommenen Cortegiano, zum Mann von Welt aus. Er reitet, schwimmt, tanzt. Er liest die griechischen und lateinischen Klassiker, vor allem Cäsar, Livius und Herodot. Er ficht Florett und Degen. Er springt, ringt, singt. Man muss, so sagt er, sein Leben als schönes Kunstwerk leben. Hässliche Dinge lässt man die anderen tun. Sein liebster Umgang war ein verwachsener Zwerg namens Gabriellino, den er unterwegs auf der Reise wie eine vom Baum gefallene Nuss aufgelesen hatte.

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Cesare befahl: Du hattest mir für den Abend ein hübsches Mädchen versprochen. Geh, hol sie mir! Der Zwerg greinte: Ich werde Euch ein weibliches Wundergeschöpf vorstellen. Zwei wunderschöne Schwestern – zwei Leiber – und kein Hirn, zwei Seelen – und kein Gedanke. Der Zwerg watschelte davon. « Aus: Borgia. Roman einer Familie

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EIN ITALIENISCHER WOZZECK Pierre Audi im Gespräch mit Bettina Auer

Rigoletto, die erste Oper von Verdis berühmter Trilogie, in welcher er gesellschaftliche Außenseiter zu tragischen Opernfiguren erhebt, gehört zu den populärsten Werken des Repertoires. Wie oft hast du Rigoletto schon inszeniert? PIERRE AUDI

Noch nie, ich inszeniere jedes Werk meist nur einmal. PIER R E AU DI IM GE SPR ÄCH MIT BET T INA AU ER

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Wie hat deine Regie-Laufbahn begonnen? Am Almeida Theatre, das ich 1979 in London gegründet habe, habe ich Die Fremdenführerin von Botho Strauss mit Tilda Swinton inszeniert. Wir kannten uns vom Studium, sie ist eine außergewöhnliche Schauspielerin. Zur selben Zeit (im beinahe identischen Bühnenbild) habe ich als Anfang Zwanzigjähriger auch meine erste Oper inszeniert: die englische Erstaufführung von Wolfgang Rihms Jakob Lenz. Unser Programm am Almeida war eine sehr spezielle Mischung aus Schauspiel, zeitgenössischer Musik und Tanz. In einem sehr ungewöhnlichen Gebäude, einem völlig entkernten Theater von 1837, entstand eine Art zeitloser Raum, in dem man Theater und Konzerte veranstalten konnte. AUDI

Du hast also gleichzeitig als Regisseur und Intendant begonnen? Ja, mein Theaterleben hat mit den beiden Berufen begonnen, die ich bis heute leidenschaftlich ausübe, inszenieren und produzieren. Sehr früh habe ich einen kreativen Raum für andere Regisseure geschaffen; ich selbst war schon immer sehr an ungewöhnlichen Stücken interessiert, wie man an Rihm und Botho Strauss sehen kann. Lange, lange Zeit habe ich mich hauptsächlich mit moderner Musik und mit Barock beschäftigt. Erst, als ich vor 15 Jahren den Ring an meinem Haus in Amsterdam inszeniert habe, betrat ich den Bereich der sehr bekannten Werke. In Österreich habe ich bisher drei Mal gearbeitet: Die Zauberflöte, eine Übernahme meiner Amsterdamer Produktion bei den Salzburger Festspielen, die Uraufführung von Wolfgang Rihms Dionysos, ebenfalls in Salzburg, und Partenope von Händel im Theater an der Wien. Rigoletto steht also in einer ziemlich merkwürdigen Abfolge. AUDI

2013 haben wir den 200. Geburtstag der zwei großen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Verdi und Richard Wagner, gefeiert. Wer von beiden ist dir näher? Da ich sehr viel Zeit damit verbracht habe, über Wagner nachzudenken, ist er mir mit seinen Werken, Stoffen und seiner Philosophie natürlich näher. Die erste Oper, die ich überhaupt erlebt habe, war mit 13 Jahren Tristan und Isolde, und zwar in der Nacht, als der erste Mensch den Mond betrat. 1969 hatte mich mein Vater nach München in die Oper mitgenommen, wo Wolfgang Windgassen den Tristan sang. Diese Oper hat mich als Kind, das Oper liebte, nachhaltig beeindruckt. Von Verdi habe ich bisher tatsächlich nur eine Oper inszeniert, die sehr eigenartig ist, sehr weit weg von seinen berühmten Opern, nämlich Jérusalem 1989 in England. Rigoletto ist also erst meine zweite Begegnung mit Verdi. Der Großteil meiner AUDI

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EIN ITA LIEN ISCHER WOZZECK


Arbeit basiert auf Neugierde, wie gehe ich mit diesem Stück um? Ich habe keinen Stil, an dem jede meiner Inszenierungen sofort erkennbar wäre. Einige meiner Kollegen machen das phantastisch, und ich liebe ihre Arbeit, aber ich funktioniere genau umgekehrt. Ich brauche auch unterschiedliche künstlerische Partner wie Bühnenbildner oder Dramaturgen, und zusammen machen wir uns zu neuen Abenteuern auf. Ich möchte Leute nicht dazu einladen, einfach meinen Weg mitzugehen. Meine Arbeit entwickelt sich immer aus dem Stück heraus, und das wird nie langweilig. Bei Rigoletto war die Herausforderung, die Oper wirklich frisch und unvoreingenommen anzuschauen. Zum Glück war ich nicht durch die Aufführungstradition beeinflusst, weil ich nicht viele Rigoletto-Aufführungen gesehen habe. Es ist eine der Opern, die darunter leidet, zu berühmt zu sein, und dass ein großer Teil des Inhalts in der Magie der Musik verloren geht. Verdi ist der Meister der knappsten, dichtesten Expositionen. In Rigoletto wird bereits in dem kurzen Gespräch zwischen Duca und Borsa, das die Oper eröffnet, der zentrale Konflikt entfaltet. Eine Exposition in Hochgeschwindigkeit – ganz im Gegensatz zu Wagner. Die erste Szene ist sehr modern, weil sie musikalisch wie ein Film geschrieben ist. Die Musik ist die Kamera und bewegt sich frei durch eine orgiastische Party von Totale zu Halbtotale zur Nahaufnahme. Auf dieser Party sehen wir auf sehr merkwürdige Beziehungen zwischen dem Duca, seinen Höflingen, Rigoletto und Monterone. Sehr schnell und virtuos wird dort eine komplizierte Geschichte über einen Mann und seinen Hof erzählt, der seine eigene Philosophie spiegeln soll, die Philosophie des »anything goes«: Wenn mich eine Frau langweilt, nehme ich eine andre; ich bin also nicht treu, weil zehn andere auf mich warten. Gleichzeitig gibt es Regeln an diesem Hof, denn dort herrschen Macht, Geld und Korruption. Was das Eröffnungsgespräch zwischen Duca und Borsa betrifft, muss man zunächst dafür sorgen, dass dieses Gespräch im Party-Chaos nicht untergeht, und dann eine Erzähltechnik entwickeln, die es dem Publikum ermöglicht, das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt sehr klar zu verstehen. AUDI

Warum ist der Duca, dessen erotische Unersättlichkeit und notorische Untreue bekannt ist, für die Frauen dennoch so attraktiv? Duca ist ein Charmeur und ein Naturtalent im Lügen. Lügner können sich sehr schnell in andere Menschen hineinversetzen. Als bipolarer Charakter wechselt er blitzartig von schwarz auf weiß, was auch attraktiv sein kann, weil er genau das hervorkehren kann, was der einzelnen Frau gefällt: Macht, Geld, Sex oder den romantischen Liebhaber. Viele solcher Leute sind sehr erfolgreich, weil sie sich wie ein Chamäleon verwandeln AUDI

PIER R E AU DI IM GE SPR ÄCH MIT BET T INA AU ER

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können, je nachdem, wessen die Verführung in der jeweiligen Situation bedarf. Bei Gilda gibt sich der Duca als armer Student aus, um den Sehnsüchten dieser armen jungen Frau zu entsprechen, die er missbrauchen wird. Ein ziemlich schockierendes Verhalten! Es ist nicht nur ein moralischer Skandal, einen König (der aufgrund der Zensur im 19. Jahrhundert in einen Herzog verwandelt werden musste) so darzustellen, sondern auch ein sehr merkwürdiges, schockierendes Paradox von Verdi, einen solch zerstörerischen, manipulativen Charakter zu entwerfen und ihm gleichzeitig all diese verführerische Musik zu geben. Ich frage mich wirklich, wie kritisch Verdi diesem Charakter gegenübersteht. Das bringt den Regisseur in eine schwierige Lage: Du kannst den Duca als wahres Monster vorführen, aber du kannst ihn auch sehr ehrlich zeigen, wie er ist, und das Urteil dem Publikum überlassen. Letzteres finde ich interessanter. Hat das Leben in dieser verrohten Hofgesellschaft Rigoletto böse und zynisch gemacht? Rigoletto hat einen Job am Hof. Er ist der Narr, der die Leute zum Lachen bringen muss, aber auch die Wahrheit sagen darf. Deshalb darf er selbst die Adeligen in aller Öffentlichkeit verletzen, obwohl er im Grunde nur ein Diener ist. In Rigolettos Privatleben ist offensichtlich etwas Schreckliches, Traumatisches passiert, wie er im Duett mit Gilda im ersten Akt andeutet. Wir erfahren nichts Genaues darüber, nur, dass Gildas Mutter gestorben ist. Als Familie ist Gilda nur ein Vater geblieben, der in dieser wahnwitzigen Welt solche Angst um seine Tochter hat, dass er sie einsperrt und Giovanna angestellt hat, um sie zu überwachen. Eigentlich zerstört er Gildas Leben. Rigoletto hasst seine Arbeit, hasst es, dass er für diesen schrecklichen Mann, den Duca, arbeiten muss. Das sagt Rigoletto mehrmals in der Oper. Als er in der ersten Szene beim Grafen Ceprano in seiner Bösartigkeit zu weit geht, erleben wir, wie aggressiv der Duca ihm gegenüber werden kann. Am Ende der Party hasst ihn der ganze Hof, sodass Rigoletto alle, inklusive des Duca, gegen sich hat. Er ist völlig isoliert – an seinem Arbeitsplatz und auch zu Hause. Für mich ist Rigoletto gewissermaßen ein italienischer Wozzeck. AUDI

Wenn ich während der Proben beobachte, wie du mit Simon Keenlyside an der Figur des Rigoletto arbeitest, muss ich einerseits an ein verwundetes Tier denken und andererseits an einen Maniac. Ist Rigoletto Opfer oder Täter? Es gibt einen pathologischen Charakterzug an ihm, eine Beschädigung, mit der er vielleicht geboren wurde und die durch sein Leben schlimmer geworden ist. Dadurch ist er fähig, die Idee zu akzepAUDI

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tieren, jemanden zu töten, denn er beauftragt Sparafucile, den Duca zu ermorden. Wenn jemand zu diesem Punkt kommt, hat er die Grenze des Normalen überschritten. Seine Tochter bittet ihn zu vergeben, auch wenn sie bedauert, dass sie den Duca noch liebt. Doch Gilda würde nie daran denken, jemanden zu töten. Rigoletto hingegen kann zum Tier werden. Rigoletto ist also beides, Opfer und Täter. Das kann man leicht damit begründen, dass etwas Schlimmes in seinem Leben passiert ist. Ich denke aber, dass es auch mit genetischer Veranlagung zu tun hat. Rigoletto ist einfach ein Mensch, manches hat ihn schlechter und manches auch sehr empathisch gemacht. Ein komplizierter Charakter! Dass Rigoletto seine Tochter vor der brutalen Welt des Hofes beschützen möchte, ist sofort nachvollziehbar. Aber warum weigert er sich, Gilda irgendetwas über ihre Identität zu erzählen – wie wir es im Duett der beiden im ersten Akt erleben? Ich glaube aus mehreren Gründen, aus Angst, aus Scham und vielleicht, weil er weiß, dass er ihr nicht mehr geben kann. Rigoletto kann seiner Tochter keine Familie geben, keine Biographie. Er versteht ihre existenziellen Fragen nicht. Da sie für ihn keine Bedeutung haben, müssen sie auch für Gilda unwichtig sein. Rigoletto ist in ihrer Gegenwart unglaublich egoistisch, denn er ignoriert seine eigene Tochter und spricht nur über sich selbst. Das ist die dunkle Seite von Rigoletto, er ist völlig besessen von sich. AUDI

Ist es für Rigoletto überhaupt möglich, sich in diesem kaputten System moralisch richtig zu verhalten? Gibt es überhaupt ein »richtiges Leben im falschen«, um Adornos berühmten Satz als Frage zu formulieren? Das ist nicht möglich. Den einzigen Satz, in dem das vorkommt, sagt Gilda. Sogar, nachdem sie vom Duca sexuell benutzt und anschließend hinausgeworfen worden ist, hängt sie noch an der Liebe zu diesem Mann. Sie glaubt, ihn kraft ihrer Liebe verändern zu können. Eine klassische psychologische Entwicklung, die man in der Musik sehr klar lesen kann. Doch das führt nur dazu, dass sie sich opfert. Sie weiß, dass sie sterben wird, wenn Sparafucile (im letzten Akt) die Tür öffnet, und sie denkt, dass sie dem Duca das Leben rettet. AUDI

Warum lässt sich Gilda – für mich die stärkste Figur von allen – anstelle des Duca töten?

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Ich denke, Gilda spaltet sich. Ein Teil von ihr weiß, dass sich die Probleme mit ihrem Vater nicht lösen werden, und der andere Teil weiß, dass der Duca niemals der Mann werden wird, für den sie ihn hält. Oder sie hängt an ihrer Vision von Liebe – das letzte, was sie noch hat. Doch in dieser Vision wird die Liebe sehr leicht die Vision vom Tod. Liebe und Tod kommen sich schließlich so nahe, dass Gilda kein Problem hat, Selbstmord zu begehen. Denn das tut sie: Sie beendet ihr Leben. Das Ende kündigt sich schon in ihrer »Gualtier Maldè«-Arie im ersten Akt an, gewissermaßen eine transzendente Arie, eine Form von Levitation, bei der Gilda diese Erde bereits verlässt. Wie eine Wolke steigt sie zu einem anderen Ort auf. Das erste Anzeichen ihres Verständnisses von Tod ist diese »Schlaf«-Arie, in der Gilda davon spricht, mit diesem Mann in einer anderen Welt verbunden zu sein. AUDI

Was passiert im Zimmer des Duca (im zweiten Akt), nachdem die Höflinge Gilda, als Racheakt an Rigoletto, entführt und in den Palast gebracht haben? Verdi und Piave belassen das unscharf. Natürlich haben sie Sex, das ist offensichtlich. Für Gilda ist es ein Trauma, das sie akzeptiert, weil es der Mann ist, auf den sie fixiert war. Wenn man bis zu einem gewissen Grad von Intimität kommt, können Intimität und Liebe gewissermaßen koexistieren. Grob oder sanft, aber sie existieren gleichzeitig. Verwirrend ist für Gilda, dass der Duca sie anschließend wegschickt, obwohl sie bei ihm bleiben möchte. Sie hofft, dass sie zu ihm zurückkommen kann. Stattdessen gerät sie wieder in die Hände ihres Vaters und muss mitansehen, wie er eine schwarz-weiß-Entscheidung trifft, um sich am Duca zu rächen, was sie schockiert und verwirrt. Ich denke, schon die nächtliche Entführung ist ein traumatisches Erlebnis für Gilda. Plötzlich ist sie am Hof und weiß nicht, warum sie dort ist. Auch, dass ihr Vater dort arbeitet, weiß sie nicht. Eine sehr seltsame Geschichte, die wir dem Publikum zu erzählen haben. AUDI

Kommen wir noch zu zwei anderen wichtigen Charakteren der Oper. Wer ist Sparafucile, einfach ein Killer, Rigolettos Spiegelbild oder der ehrlichste Mann in diesem korrupten System? Und wer seine Schwester Maddalena? Ich versuche, Sparafucile nicht als Gangster oder Zuhälter zu sehen, sondern mehr als einen kultivierten Mann, der Dr. Death ist. Es geht weniger darum, dass er Menschen umbringt, als dass er mit der ultimativen Lösung zu den Leuten kommt. Wenn ihn jemand beauftragt, diese Person soll vom Planeten verschwinden, sagt Dr. Death, ich glaube, ich habe da eine Lösung parat. Er ist eher ein Denker über den Tod, dessen Werkzeug seine Schwester ist. AUDI

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EIN ITA LIEN ISCHER WOZZECK


Maddalena ist eine sonderbare, einsame Frau, die genau wie Gilda ihrer Situation entfliehen will und nach Liebe sucht. Ein sehr interessantes Detail, dass auch Maddalena sich ihrem Bruder entgegenstellt, weil sie verrückt nach dem Duca ist und nicht will, dass er stirbt. Maddalena kämpft sogar für ihn. Ja, doch irgendwie muss Dr. Death seinen Auftrag durchziehen. Außerdem weiß er, dass jeder, der durch seine Tür tritt, sterben will. Ich fand es faszinierend, mich wirklich in diese Geschichte zu vertiefen. Das hat meine Vorstellung, die ich von der Oper Rigoletto hatte, völlig verändert. Die Geschichte ist unglaublich düster – erstaunlich, dass dies eine der populärsten Opern des Repertoires ist! Es wäre sehr einfach, Rigoletto beispielsweise in eine Gangsterwelt zu versetzen, nach Las Vegas oder in eine heutige korrupte Gesellschaft. Wir haben aber beschlossen, die Geschichte nicht zu aktualisieren, da sie zeitlos ist – genau wie Shakespeares Dramen, die er im 16. Jahrhundert geschrieben hat und mit deren Figuren man sich auch heute völlig identifizieren kann. Es geht um Macht, Könige, Menschen, Gewalt – all das spricht immer noch sehr stark zu einem heutigen Publikum. Es kommt nur darauf an, dass sich die Figuren auf der Bühne wie wirkliche Menschen verhalten. Wir müssen ein österreichisches Publikum nicht darüber belehren, was es bedeutet, wenn ein Vater seine Tochter einsperrt. Wir als Team sind mehr daran interessiert, Rigoletto auf poetische, dunkle Weise zu erzählen. AUDI

EIN ITA LIEN ISCHER WOZZECK

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Ingeborg Bachmann → Die Liebe auf der Nachtseite der Welt

» I ch glaube, dass die Liebe auf der Nachtseite der Welt ist, verderblicher als jedes Verbrechen, als alle Ketzereien. Ich glaube, dass, wo sie aufkommt, ein Wirbel entsteht, wie vor dem ersten Schöpfungstag. Ich glaube, dass die Liebe unschuldig ist und zum Untergang führt: dass es nur weitergeht mit Schuld und mit dem Kommen vor alle Instanzen. Ich glaube, dass die Liebenden gerechterweise in die Luft fliegen worden ist, und eilt zu ihr. Verzweifelt sucht Rigoletto nach seiner Tochter, und immer doch die Höflinge lassen ihn geflogen ins Leere sind… laufen, selbst als er ihnen eröffnet, dass sie nicht seine Geliebte, sondern seine Tochter entführt haben. Als der Ja,fortschickt, auffliegenversucht müssen Herzog Gilda siesie, sichspurlos, ihrem Vater anzuvertrauen. Doch Rigoletto denkt nur noch an blutige Rache.

denn nichts und niemand darf ihnen zu nahe kommen.

Um Gilda endlich von ihrer Liebe zum Herzog „zu heilen“, führt Rigoletto Sie sindsie wie dieHause seltenen Elemente, da sie und dort gefunden zum Sparafuciles und die zwingt mitanzusehen, wie werden, sich der Herzog mit der Prostituierten Maddalena (Sparafuciles Schwester) vergnügt. jene Wahnsinnsstoffe Strahldie alles zersetzen Rigoletto schicktmit seine Tochterund fort,Brandkraft, um die gemeinsame Flucht vorzubereiten, und beauftragt Sparafucile, den Herzog zu töten. Doch Gilda kehrt heimundwird dieZeugin, Welt inwie Frage stellen.ihren « Bruder überredet, anlich zurück und Maddalena stelle des Herzogs den Erstbesten zu ermorden, der vor Mitternacht vorbeikommt. Da steht Gildas Entschluss fest, sich für ihre Liebe zu opfern. Sie klopft an die Tür. Ein wenig später Aus:übergibt Der guteSparafucile Gott von Rigoletto Manhattan die Leiche in einem Sack. Im Augenblick seines größten Triumphes – Rigoletto fühlt sich als allmächtiger Rächer – hört er die Stimme des Herzogs. Entsetzt öffnet er den Sack und sieht seine sterbende Tochter. Ohne den Lauf der Dinge zu verstehen, macht Rigoletto den Fluch Monterones für die Tragödie verantwortlich.

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KOLUMN EN T IT EL


AUF DEM WEG ZUR DNA DES STÜCKS Bühnen- & Kostümbildner Christof Hetzer im Gespräch mit Oliver Láng

Wenn Sie sich an die Arbeit für eine neue Ausstattung machen: Wie fängt alles an? Ich höre mir zuerst die Musik an und konzentriere mich tatsächlich nur auf das, was ich höre. Denn ich glaube, dass in der Musik bereits ein Hinweis auf eine bestimmte gestalterische Ästhetik liegen kann. Unterschiedliche Musiken verlangen ja unterschiedliche Räume, eine Mozart-Oper lässt sich ohne Zweifel nicht in demselben Bühnenraum spielen wie eine Verdi- oder eine Janáček-Oper. Nach diesem Anfangsschritt beschäftige ich mich intensiv mit dem Libretto, um herauszufinden, was für Räume und Elemente das Stück braucht. Gleichzeitig finden ausführliche Gespräche mit dem Regisseur bzw. der Regisseurin und dem Dramaturgen bzw. der Dramaturgin statt, und wir versuchen einen Weg für eine Umsetzung zu finden. Das ist aber nur ein sehr allgemeiner Überblick über meine Herangehensweise, denn natürlich gibt es dabei große Unterschiede zwischen einer Oper des Kernrepertoires und beispielsweise einer Uraufführung. CHRISTOF HETZER

BÜ HN EN- & KOST ÜMBILDN ER CHR ISTOF HETZER IM GE SPR ÄCH MIT OLI V ER LÁ NG

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Wann ist der Moment, in dem Sie den Bühnenraum erstmals vor sich sehen? Das ist sehr unterschiedlich. Oft gibt es beim Hören der Musik ein unmittelbares Gefühl oder eine atmosphärische Ahnung. Interessant ist, dass dieses frühe Bild dann mitunter verschwindet und erst im Laufe der Arbeit wieder zurückkehrt. Im Falle von Rigoletto war es so, dass ich eigentlich sehr früh eine Vorstellung von der Umsetzung hatte. HETZER

Wie sieht diese atmosphärische Ahnung dann aus? Ist es schon ein Bild? Ein Gefühl? HETZER

Es ist reduziert auf eine Formel. Zum Beispiel wusste ich bei Rigoletto gleich, dass es schwarz-weiß sein muss! Bieten sich mitunter auch mehrere Wege an? Die Sie alle durchdenken und die beste Lösung auswählen?

Absolut! Mit dem Regisseur spiele ich dann die Möglichkeiten durch, und manchmal funktioniert eine Idee gut, bis wir zu einem einzelnen Detail kommen, das nicht »funktioniert«. So kommt man drauf, dass der Ankerpunkt vielleicht doch woanders liegt. Also probiert man einen anderen Weg aus… So kristallisiert sich die schlüssigste Interpretation heraus. HETZER

Wann kommt in Ihrer Arbeit das technische Denken dazu, also das Nachdenken über die tatsächliche technische Umsetzbarkeit der Ideen? Ich versuche, das so lange wie möglich auszublenden. Im Grunde herrscht im Theater ja eine schöne Aufgabenteilung: Es gibt das Leading-Team, das träumen darf, aber auch Kompromisse zwischen diesen Träumen und der Realisation der Ideen eingehen muss. Dann gibt es eine technische Mannschaft im Opernhaus, die begeistert werden will und auch ihre Fantasie einbringt. Das ist ein schöner, produktiver Prozess. Manchmal ist es gut, wenn man als Bühnenbildner nicht hundertprozentig über die Umsetzung Bescheid weiß, um die vorauseilende innere Zensur auszuschalten. HETZER

Gibt es bei Ihren verschiedenen Arbeiten etwas, was ganz Christof Hetzer ist? Ein persönliches Element? HETZER

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In meinen Bühnenbildern gibt es fast immer einen Baum, weil ich die Wechselwirkung zwischen Natur und Architektur AU F DEM W EG Z U R DNA DE S ST ÜCKS


besonders interessant finde. Stellen Sie sich einen Kirschbaum vor einer Ziegelmauer vor. Die Mauer wirkt ganz unterschiedlich und erzählt jeweils etwas anderes, wenn der Baum blüht oder wenn er verbrannt ist. Spannend finde ich auch die Art und Weise, wie sich die Natur die Architektur rückerobert und dadurch im klassisch-romantischen Sinn etwas von der Seelenlandschaft einer vergangenen Zeit erzählt. Gleichzeitig birgt sie ein Geheimnis. Wir haben es in der Oper ja hauptsächlich mit Werken aus vergangenen Epochen zu tun, sodass sich jedes Mal die Frage stellt, wie wir mit der Kluft zwischen Entstehungszeit und Aufführungszeit umgehen. Zurzeit scheint es geradezu den Zwang zu geben, dies durch Modernisierung, durch eine Verlegung der Geschichte in die heutige Zeit zu lösen. Mir erscheint es interessanter, immer wieder nach einem neuen Umgang mit dieser Zeitkluft zu suchen, es sind doch verschiedene Wege möglich. Wie sah jetzt ganz konkret im Rigoletto Ihre Vorbereitung und Ideenfindung aus? Die Vorlaufzeit war diesmal verhältnismäßig lang und auch komplex, da wir ja eben das Verdi-Jahr hinter uns gebracht haben, in dem Rigoletto weltweit unzählige Male gespielt wurde und alle möglichen Interpretationen erfahren hat. Uns war nicht wichtig, einen gänzlich neuen oder bewusst »anderen« Weg zu gehen, aber natürlich wollten wir auch keine zufällige Wiederholung einer aktuell entstandenen Interpretation abliefern. In der gemeinsamen Arbeit mit Pierre Audi und Bettina Auer hat sich gezeigt, dass wir keine Umdeutung des Stückes vornehmen, sondern direkt zum Herz der Oper vorstoßen wollten. Also: keine andere Zeit, kein anderer Ort. Sondern der Versuch, an die DNA des Stücks zu gelangen. Mit der Textur, die der Bühnenraum bietet, haben wir eine Skizzenhaftigkeit, eine grafische Wirkung erreicht, die der Drastik des Stückes sehr nahe kommt. Man sieht die Ecken und Kanten der Oper, nichts ist geschönt, aber manches ist bewusst überzeichnet: So wohnt zum Beispiel der Herzog dort, wo es golden ist, oder Gilda, die von ihrem Vater gefangen gehalten wird, lebt in einem hölzernen Vogelkäfig. HETZER

Die Kostüme sind allerdings nicht zeitlos, sondern weisen auf die Renaissance hin. Genau, wobei uns ein Aspekt wichtig war: Die Mode auf den Gemälden dieser Zeit, wie wir sie kennen, sind repräsentative Abbildungen. Das bedeutet, dass die Personen übermäßig geschmückt und farblich überzeichnet sind. Wir aber wollen echte, realistische Menschen zeigen, nicht nur Figuren in schönen Kostümen bieten. Das versuchen wir durch eine Konzentration von Formen und Farben und durch bestimmte HETZER

BÜ HN EN- & KOST ÜMBILDN ER CHR ISTOF HETZER IM GE SPR ÄCH MIT OLI V ER LÁ NG

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Schneiderdetails zu erreichen wie beispielsweise Stoffe, in denen sich eine Bewegung abzeichnet und Knitterfalten entstehen. Kann man überhaupt einen Charakter über ein Kostüm abbilden? Ja, durchaus. Sparafucile etwa zeigen wir als eine Art Gelehrten oder Philosophen, weil er von allen Figuren jener ist, der am meisten in sich ruht und sich mit der wüsten Welt um sich herum abgefunden hat. Er hat eine entsprechend »gesetzte« Musik. Für uns ist er kein Outlaw, sondern ein intellektueller Fanatiker, ein Überzeugungstäter, der als einziger einen verlässlichen Partner hat: seine Schwester Maddalena. Diesem Charakter und Wesen entsprechend kleiden wir ihn auch ein. HETZER

Zentrales Element der Bühnengestaltung ist eine Drehbühne. Hat diese neben praktischen auch dramaturgische Gründe? Zunächst sind es ganz pragmatische Gründe: Das Stück braucht mehrere Orte, die man auf einer Drehbühne praktikabel unterbringt. Abgesehen von diesem technischen Aspekt fanden wir es interessant, dass, sobald man zwei Räume nebeneinanderstellt, ganz von selbst ein Zwischenraum entsteht. Im Falle von Rigoletto haben wir daraus eine Art schwarze Zwischenwelt gemacht, die vom Chor bevölkert wird. Diese Zwischenwelt hat auch eine ganz reale historische Komponente: Gerade im 16. Jahrhundert gab es keine Privatsphäre am Hof, permanent lief man Gefahr, aus dunklen Ecken oder geheimen Türen beobachtet zu werden. Um es ein wenig überspitzt zu formulieren: eine Welt der Schatten und der Finsternis. HETZER

Im dritten Akt taucht eine Art überdimensionaler Totenkopf auf. Wie ist dieser zu verstehen? Es handelt sich dabei um das Haus Sparafuciles: Dieses erinnert an einen Totenkopf, aber es soll bewusst in einer Ambivalenz gehalten werden. Wir haben uns hier an den Angaben Verdis orientiert, der von einer löchrigen Wand sprach, die einen Blick auf etwas erlaubt, was man eigentlich nicht sehen soll. Das ist beinahe metaphysisch. Man findet es aber auch in der Renaissancemalerei, nämlich in Form von Zimmern ohne Wände. Im Endeffekt ist es eine Architektur, die wie aus Zufall eine besondere Form hat, aber metaphorisch etwas ausdrückt. HETZER

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AU F DEM W EG Z U R DNA DE S ST ÜCKS


WEGWEISER ZUM DRAMA Premierendirigent Myung-Whun Chung im Gespräch mit Andreas Láng

Verdi hat den Satz formuliert, dass er als Fachmann Rigoletto den Vorzug geben würde, als Laie Traviata. Können Sie diese Antwort nachvollziehen? Wer weiß, ob Verdi diesen Satz wirklich in dieser Form gesagt hat. Sicher ist aber, dass ihm Rigoletto sehr am Herzen gelegen ist und er mit der Zensur selbstbewusst um diese Oper gerungen hat. Aber jetzt konkret zum Inhaltlichen des Ausspruches: Ich persönlich würde – nicht als Laie, sondern als Musiker – Traviata als das feinere der beiden Werke bezeichnen. Oder anders gesagt: Rigoletto und Traviata, diese beiden sehr kontrastreichen Stücke, könnte man mit der Zuordnungen Mann – Frau versehen. Traviata ist offensichtlich die »Frau«, was Farben, Struktur, Kultiviertheit betrifft, Rigoletto der »Mann«, hinsichtlich der sehr dunklen, brutalen Atmosphäre, dieser finsteren Geschichte. MYUNG-WHUN CHUNG

DIR IGEN T MY U NG-W H U N CH U NG IM GE SPR ÄCH MIT A N DR EAS LÁ NG

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Gibt es einen oder mehrere Aspekte, die sich in allen Verdi-Opern, von der allerersten bis zum Falstaff wie ein roter Faden durchziehen? Ja, da sehe ich gleich mehrere Dinge. Zunächst einmal die Verdi’sche Humanität, die all seine Opern durchzieht, dann die emotionale Wahrhaftigkeit seiner Bühnenfiguren, ganz gleich, ob es sich um Hauptrollen handelt oder um kleine Nebenpartien, die jeden, ob Interpret oder Zuschauer, gleichermaßen berührt und nicht mehr loslässt. Beim Hören der Verdi’schen Musik kann man sich vollständig auf seine eigenen Empfindungen verlassen, man erspürt das Wesentliche und muss ihnen nicht intellektuell nachforschen, wie dies bei Werken einiger späterer Komponisten der Fall ist. Ich persönlich schätze diese Form der Kommunikation, bei der vor und nach dem Denkprozess das durch die Musik bedingte intuitive Erspüren steht. Dieser Punkt ist einer der größten Vorzüge Giuseppe Verdis. Dazu kommt, bei den späteren Werken häufiger, bei den früheren etwas weniger – aber dennoch immer erkennbar – ein wiederholtes Aufblicken zum Himmel, also zu einer Sphäre, in der der einzige wirkliche Sinn für das beschwerliche Leben erhofft wird. CHUNG

Mit anderen Worten: Die Charaktere – etwa im Rigoletto – sind auch erfassbar, wenn man den Text nicht versteht? Meines Erachtens nach: ja. Man fühlt exakt und sehr klar, worum es in der Situation geht, wie es um eine Person seelisch steht. Und je älter Verdi wurde, je weiter er sich entwickelt hat, desto intensiver verstand er sich auf diese Form der rein musikalischen Kommunikation, die vor allem auf der harmonischen und rhythmischen Struktur basiert. Diese harmonischen und rhythmischen Bausteine fungieren gleichsam als eine Art Wegweiser, als Wegweiser in das Innere des jeweiligen Dramas. CHUNG

Hat Verdi im Vergleich zu seinen früheren Opern in der RigolettoPartitur etwas Neues gebracht? Ich weiß nicht, ob es hier etwas wirklich Neues gibt. Einen vergleichbaren Sprung wie jenen, den Verdi von der Aida zum Otello gemacht hat, den gibt es bei Rigoletto nicht. Aber es ist einfach alles stärker und besser als in den Werken davor. Im Gegensatz zu manchen früheren Opern, bei denen stellenweise gewisse Schwächen auszumachen sind, war Verdi beim Rigoletto am Gipfelpunkt seiner schöpferischen Potenz. CHUNG

Im Zusammenhang mit Rigoletto und seinen nachfolgenden Opern wird Verdi oft als großer Klangdramaturg apostrophiert… 29

W EGW EISER Z UM DR A M A


Natürlich wird er das! Man muss sich nur einmal den Beginn von Rigoletto und den von Traviata ansehen: Bereits in den ersten Takten wird auf vollkommen unterschiedliche Weisen ein ganz spezifisches klangliches Gemälde vor dem Zuschauer ausgebreitet, in dem atmosphärisch bereits die gesamte jeweilige Handlung als Zusammenschau eingefangen wird. In den ersten Traviata-Takten hört man förmlich die physische Fragilität der Titelfigur, in den ersten Rigoletto-Takten das Düstere, Fluchbeladene, Drohende. CHUNG

Verdi wird gelegentlich für seine Um-ta-ta, um-ta-ta-Begleitungen kritisiert… In den deutschsprachigen Ländern nehmen Wagner und Strauss einen sehr großen Teil des Repertoires ein. Die Werke dieser beiden werden oft als Kontrast zu den Opern südlicherer Komponisten empfunden, und in manchen Details handelt es sich tatsächlich um zwei gegensätzliche Welten. Aber beide Welten haben gleichermaßen ihre Gültigkeit. Ich persönlich liebe beispielsweise den Walzer. Und wie sieht der Grundrhythmus des Walzers aus? Um-ta-ta, um-ta-ta, um-ta-ta. Der springende Punkt ist: Es gibt praktisch unendlich viele Möglichkeiten, dieses Um-ta-ta zu spielen. Und um dieses Wie geht es auch bei den Verdi’schen um-ta-ta-Begleitungen. Es gibt in der Musik einfach bestimmte, zeitlose Grundformen, ohne die Musik gar nicht existieren kann. Es ist somit geradezu lächerlich, diese zu kritisieren. CHUNG

Gibt es für Sie eine Schlüsselstelle, eine sogenannte »liebste Stelle« im Rigoletto? Ich denke, also wenn ich wählen müsste, so wäre es die gesamte Rigoletto-Szene im zweiten Akt. Dieser »La rà, la rà«Auftritt, danach der Umschwung des fast Animalisch-Entschlossenen in das flehentliche Bitten – das ist in einer Weise geschrieben, wie es nur das höchste Genie vermag. CHUNG

→ KS Juan Diego Flórez als Herzog

W EGW EISER Z UM DR A M A

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Victor Hugo

ICH RÄCHE LACHEND MICH!


(allein, das Auge auf den Sack gerichtet). Da ist er. – Tot. – Doch will ich ihn sehen. (befühlt den Sack) Er ist’s. – Ich fühl’ es deutlich. Hier dringen seine Sporen durch den Stoff. Er ist es wirklich… (er richtet sich auf und setzt einen Fuß auf den Sack) Welt, jetzt sieh mich an. – Ich bin ein Narr, und das hier ist ein König. Und welch ein König ist er: der Erste aller, Der Oberste, hier unter meinen Füßen; Ich hab’ ihn, er ist es selbst. Zum Grab die Seine, Den Sack als Sargtuch. – Wer tat denn das? Nun ja, ich ganz allein! Ich kann mich noch Von meinem Staunen nicht erholen, so Gesiegt zu haben, und die Völker werden Sich morgen weigern, es zu glauben. Was Wird erst die Zukunft sagen? Lange werden Die Nationen staunen ob dem Fall. Schicksal, das uns hierher bringt und uns wegnimmt! Eine der ersten Erdenmajestäten: Wie Franz von Valois, mit dem Flammenherzen. Des Kaiser Karl des Fünften Nebenbuhler, Ein König Frankreichs – ja, beinah’ ein Gott, Wenn man die Ewigkeit abzieht, ein Held, Ein Schlachtgewinner, dessen Schritt den Grund Von uralt festen Mauern wanken mochte; (es donnert von Zeit zu Zeit) Der Mann von Marignano; er, derselbe, Der eine ganze Nacht mit großem Lärm Die Bataillone aufeinander drängte, Und als der Tag anbrach, mit blutigen Händen Nur einen Stumpf noch von drei Schwertern hatte; Derselbe König! Gott, wie unerwartet Wird aus der Welt, von seinem Ruhm erleuchtet, Er nun geschieden sein; … Verbrecher! Kannst du’s noch, so höre mich. Mein Kind, das mehr wert ist, als deine Krone, Mein Kind, das keinem Menschen weh’ getan, Du hast mich darum beneidet, mir es geraubt, Mit Schmach und Unglück mir es zurückgegeben. Nun sage! Hörst du mich – jetzt – wunderbar, Jetzt bin ich hier und räche lachend mich! TRIBOULET

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V ICTOR H UGO


Weil ich mich stellte, als hätte ich alles vergessen, schlummertest du ein. Du glaubtest, Du Mitleidswürdiger, man bräche leicht Dem Vaterzorn seine Zähne aus! O nein, in diesem Kampfe zwischen uns, Dem Kampf zwischen dem Schwachen und dem Mächtigen, Da bleibt der Schwache doch des Starken Sieger. Der dir den Fuß geleckt, frisst nun dein Herz. (sich noch mehr zum Sack beugend) Ich halte dich. Hörst du mich wohl. – Ich bin’s O edler König, ich, der Narr, der Schalksnarr, Der halbe Mensch, das zweifelhafte Tier, Zu dem du sagtest: Hund! (er schlägt die Leiche) Nun siehst du wohl, Wenn einmal erst die Rache in uns ist, Schläft selbst in dem erstarrten Herzen nichts, Der Kleinste wird dann groß, der Niedrigste Verwandelt sich, der Sklave zieht alsdann Aus seiner Scheide seinen Hass, die Katze Wird dann zum Tiger und der Narr – zum Büttel! (sich halb aufrichtend) Wie sehr wollte ich, dass er mich noch hören Und sich regen könnte. (sich wieder niederbeugend) Hörst du mich? Ich hasse dich! Geh’, sieh’ am Grund des Flusses, Wo deine Tage enden, ob ein Strom Vielleicht nach Saint-Denis zurück hinauffließt. (sich aufrichtend) In’s Wasser, Franz der Erste! (er fasst den Sack und schleppt ihn an den Rand des Wassers) Fort! Hinab! (im Hintergrund singend) Die Frauen wechseln oft, Ein Narr, der auf sie hofft. DER KÖNIG

(zusammenfahrend) Wie? Welche Stimme! Täuschungen der Nacht, Treibt Ihr denn Euren Spott mit mir? (er wendet sich um und lauscht erschreckt.) TRIBOULET

V ICTOR H UGO

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DER KÖNIG (aus der Ferne singend) Die Frauen wechseln oft, Ein Narr, der auf sie hofft.

TRIBOULET

Verflucht! Er ist es nicht, den ich hier habe. – Fluch! Man ließ ihn entkommen, jemand schützt ihn, und mich hat man betrogen. (zum Haus eilend) Wen gab er mir an seiner statt? Ich zittere! – Der Verräter! Einen Unschuldigen? (er greift nach dem Sack) Es ist ein Mensch. (er schneidet den Sack mit seinem Dolch auf und blickt ängstlich hinein) Ich kann nichts sehen – die Nacht! Ich will einen Blitz abwarten. (es blitzt, er springt auf und stürzt mit einem wahnwitzigen Schrei zurück) Meine Tochter! Aus: Der König amüsiert sich, 5. Akt, 3. Szene

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ICH R ÄCHE LACHEN D MICH


Niccolò Machiavelli

DER FÜRST

Machiavellis umstrittenes, aber viel rezipiertes Traktat über den Fürsten entstand 1513. Er entwirft darin das Bild einer für ihn idealen Herrscherpersönlichkeit, die seiner Meinung nach allein imstande ist, einen Staat zu gründen und zu ordnen.


Vom Verhalten gegenüber Untertanen und Freunden Da in meinen Augen ein großer Unterschied zwischen dem besteht, wie man lebt und wie man leben sollte, so wird derjenige eher seinen Untergang erleben als seinen Erfolg, der das nicht beachtet, was wirklich geschieht und sich an das hält, was geschehen sollte. Ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht für das Gute einsetzt, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind. Deshalb muss ein Fürst, der sich behaupten will, lernen, nicht gut zu sein. Davon muss er Gebrauch machen, je nach Notwendigkeit. (…) Der Fürst braucht viel Klugheit, um den Ruf solcher Laster zu vermeiden, die ihn die Herrschaft über den Staat kosten könnten. Vor dem Ruf solcher Laster, die seine Herrschaft nicht gefährden können, sollte er sich möglichst hüten, wenn es ihm aber nicht möglich ist, sollte er sich ihnen ohne Rücksicht überlassen. Er sollte sich auch nicht darum kümmern, in den Ruf von Lastern zu verfallen, ohne die er den Staat kaum erhalten könnte. Denn es gibt Eigenschaften, die als tugendhaft gelten, die aber den Untergang des Staates herbeiführen würden, und Laster, aus denen Sicherheit und Wohlstand hervorgehen.

Von der Grausamkeit und der Milde Jeder Fürst muss wünschen, als gütig und nicht als grausam zu gelten. Dennoch muss er darauf bedacht sein, diese Güte nicht falsch anzuwenden. Cesare Borgia galt als grausam, dennoch hat diese Grausamkeit dazu geführt, Einigkeit, Ruhe und Frieden in der Romagna wiederherzustellen. (…) Denn wenn ein Fürst einige Exempel statuiert, so ist er gütiger als jemand, der aus großer Güte Unordnung einreißen lässt, aus der Mord und Raub entspringen. Diese treffen ein ganzes Gemeinwesen, die Exekutionen des Fürsten nur einzelne. (…) Es ist die Frage, ob es besser ist, geliebt zu werden oder gefürchtet zu sein. Ich antworte: Man sollte beides sein. Weil es sich aber nur schwer vereinen lässt, so sage ich: Es ist viel sicherer, gefürchtet zu werden als geliebt, wenn man schon auf eines verzichten muss. Denn von den Menschen lässt sich ganz allgemein sagen: Sie sind undankbar, wechselhaft, neigen zur Verstellung, scheuen die Gefahren und sind gewinnsüchtig. Solange du ihnen Gutes tust, sind sie alle dein, sie verschreiben dir ihr Blut und Leben, ihren Besitz und ihre Kinder, solange die Gefahr fern ist. Wenn aber die Gefahr nahe ist, empören sie sich. Der Fürst, der keine anderen Vorkehrungen getroffen hat und sich nur auf ihre Worte stützt, geht zugrunde. Freundschaften, die man durch Geld erwirbt und nicht durch Größe und Adel 37

N ICCOLÒ M ACHI AV ELLI


des Geistes, bewähren sich nicht und man kann mit ihnen nicht rechnen. Die Menschen scheuen sich weniger, jemanden zu beleidigen, der beliebt ist als jemanden, den sie fürchten. Denn die Liebe hängt an einem Band, das aus Eigennutz jederzeit zerrissen werden kann, weil die Menschen böse sind. Dagegen erhält sich die Furcht aus Angst vor Strafe, und die verlässt dich niemals. Doch der Fürst muss es erreichen, in einer Weise gefürchtet zu werden, dass er den Hass vermeidet, wenn er auch die Liebe nicht gewinnen kann. Es ist sehr wohl möglich, gefürchtet zu werden und nicht gehasst. Der Fürst kann das immer erreichen, wenn er das Eigentum seiner Untertanen und Bürger nicht anrührt und sich nicht an ihren Frauen vergreift. Wenn er sich dennoch genötigt sieht, gegen das Leben eines Untertanen vorzugehen, so darf er das nicht ohne hinreichende Rechtfertigung und ins Auge springende Gründe. Aber vor allem darf er fremdes Eigentum nicht angreifen, denn die Menschen verschmerzen eher den Tod des Vaters als den Verlust des Erbguts. Aus: Der Fürst / Il principe

→ KS Piotr Beczała als Herzog

AUS: DER F Ü RST / IL PR INCIPE

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Søren Kierkegaard

TAGEBUCH DES VERFÜHRERS (1843)

D. 24. SEPT.

Die Nacht ist still – es ist Viertel vor zwölf (…). Zu dieser Nachtstunde sehe ich nicht Gespenster, nicht was gewesen ist, sondern was kommen soll: im Busen des Sees, im Kuss des Taus, im Nebel, der sich über die Erde breitet und ihre fruchtbare Umarmung verhüllt. Alles ist Bild, ich bin selbst mein eigener Mythos, denn gleicht es nicht einem Mythos, dass ich zu dieser Begegnung eile? Wer ich bin, tut nichts zur Sache; alles Endliche und Zeitliche ist vergessen, nur das Ewige bleibt, die Macht der Liebe, ihre Sehnsucht, ihre Seligkeit. (…) Von Natur war sie schön. Ich danke dir, wunderbare Natur! Wie eine Mutter hast du über sie gewacht. Hab Dank für deine Sorge! Unverdorben war sie. Ich danke euch, ihr Menschen, denen sie es schuldet. Ihre Entwicklung, das war mein Werk – bald genieße ich meinen Lohn. – Wie vieles habe ich doch in diesem Augenblick versammelt, der nun bevorsteht. Tod und Hölle, wenn er mir entginge! SØR EN K IER K EGA A R D

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D. 25. SEPT.

Warum kann eine solche Nacht nicht länger dauern? Doch jetzt ist es vorbei, und ich will sie nie wieder sehen. Wenn ein Mädchen alles weggegeben hat, dann ist sie schwach, dann hat sie alles verloren; denn beim Mann ist Unschuld ein negatives Moment, beim Weib ist sie der Gehalt ihres Wesens. Jetzt ist aller Widerstand unmöglich, und Lieben ist nur so lange schön, wie es ihn gibt – wenn er aufgehört hat, dann ist es Schwäche und Gewohnheit. Ich will an meine Beziehung zu ihr nicht erinnert werden, sie hat den Duft verloren, und jene Zeiten, da sich ein Mädchen aus Schmerz wegen ihres ungetreuen Geliebten in einen Heliotrop (Sonnenblume) verwandelte, sind vorbei. Abschied will ich nicht von ihr nehmen, nichts ist mir widerlicher als Weibertränen und Weiberbitten, die alles verändern und doch eigentlich nichts zu bedeuten haben. Ich habe sie geliebt, aber von jetzt an kann sie meine Seele nicht mehr beschäftigen. Wäre ich ein Gott, so würde ich für sie tun, was Neptun für eine Nymphe tat – ich würde sie in einen Mann verwandeln. Es wäre doch wirklich wert zu wissen, ob man imstande wäre, sich dergestalt aus einem Mädchen herauszudichten, dass man sie so stolz machen könnte, sich einzubilden, sie sei diejenige, die des Verhältnisses überdrüssig wäre. Das könnte ein recht interessantes Nachspiel werden, es hätte psychologisches Interesse an sich und würde einen zudem um viele erotische Beobachtungen bereichern.

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TAGEBUCH DE S V ER F Ü HR ERS


Oliver Láng

» DER APPLAUS WOLLTE UND WOLLTE KEIN ENDE NEHMEN « Zur Entstehungsgeschichte der Oper


Schon die dramatische Vorlage der Oper, Le Roi s’amuse von Victor Hugo, uraufgeführt 1832 in Paris, hatte für einigen Wirbel gesorgt – ein Wirbel, der zu einem baldigsten Verbot des Schauspiels führte. Denn der sich amüsierende König war der französische Monarch François I. (1494 – 1547), genannt Le Roi-Chevalier, der Ritterkönig also. Dass aber ein gekröntes Haupt weder edel noch mit weisem Vorausblick, sondern als Verführer und charakterschwach auf einer Bühne zu sehen ist, erfüllte die in sich wenig stabile französische politische Landschaft mit einigem Schrecken – und rief alsbald die französische Zensur auf den Plan. Dass sich Verdi als Musikdramatiker mit genauem Gespür für Wirkung und noch dazu einem Hang zu präziser sozialer Fokussierung von einem solchen Stoff angezogen fühlen musste, verwundert freilich nicht. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass auch in den anderen europäischen Landschaften von amtlicher Seite mit einem solchen Topos mindestens mit Stirnrunzeln, eher aber mit Verboten umgegangen wurde. Was also passierte? Zunächst wünschte sich das Teatro La Fenice von Giuseppe Verdi – nach Ernani und Attila – eine neue Oper; nach etlichem Hin und Her und einem ausführlichen Zögern sagte Verdi endlich zu, sprach aber eine Reihe von Bedingungen aus: Die Partitur bleibt mein Eigentum, wobei dem Direktorium von La Fenice das Recht zuerkannt wird, das Werk nur in diesem Theater und nur in der Fastenzeitsaison von 1851 aufzuführen. Für das Libretto bin ich verantwortlich. Die Oper kommt in den ersten Tagen der Saison zur Aufführung, mit der Verpflichtung für mich, zwanzig Tage vorher in Venedig anwesend zu sein. Die Generalprobe findet mit Bühnenbild und Kostümen wie zur Premiere statt (ob bei leerem oder vollem Theater bleibt dem Direktorium überlassen). Das Direktorium zahlt mir dafür ein Honorar von 6.000 österreichischen Lire; die eine Hälfte bei meiner Ankunft, die andere am Tage der Generalprobe.1 Doch nach Vertragsabschluss war die Sache noch lange nicht gelaufen. Denn der Stoff – das Libretto stammte von Franceso Maria Piave – musste erst die genannte Zensur passieren, und auch wenn Piave seinem Komponistenkollegen gerne versicherte, dass eine entsprechende Erlaubnis der öffentlichen Stelle schon noch kommen werde, geschah nach längerem Warten das Gegenteil. Das Libretto wurde namens des österreichischen Gouverneurs, Karl Gorzkowski von Gorzkow abgelehnt, aufgrund einer »ekelhaften Amoralität und obszönen Trivialität«. Frustriert und pompös schrieb Verdi an den Intendanten des La Fenice, Carlo Marzari: »Der ablehnende Bescheid stürzt mich in Verzweiflung…« (siehe Seite 45). 43

OLI V ER LÁ NG


Nun setzte ein Spiel ein, das für beide Seiten kein unbekanntes war. Titel und Handlungselemente, die den offiziellen Stellen sauer aufstießen, wurden entfernt, auf der anderen Seite bestand Verdi auf Grundelementen des Sujets. Letztendlich kam aus dem Kräftemessen heraus, dass der ursprüngliche Titel La maledizione (Der Fluch) geändert werden musste, in mehreren Schritten auf Rigoletto; natürlich durfte auch François I. nicht mehr François I. oder sonst ein König sein (Franz war übrigens auch der Name des aktuellen habsburgischen Kaisers), sondern ein Herzog, so namenlos also wie nur möglich. Überhaupt sollte kein Adeliger einen Bezug zur Wirklichkeit haben. Verdi hingegen bestand nachdrücklich auf einen verkrüppelten Rigoletto, auf den Sack mit der Leiche, den ihn die Zensur eigentlich verbieten wollte. Im Laufe der Verhandlungen unterzeichneten Verdi und Piave mit dem Fenice einen Siebenpunkte-Vertrag, der die inhaltlichen Rahmenbedingungen umriss und der Zensur entgegenkam. Am 24. Jänner 1851 endlich konnte der Librettist an den Komponisten schreiben: »Gute Neuigkeiten! Heute habe ich für den Rigoletto endlich die Unterschrift des Generaldirektors des Amtes für öffentliche Ordnung erhalten, ohne Änderungen an den Versen. Ich musste nur die Namen Castiglione in Monterone und Cepriano und Ceprano ändern, da es Familien dieses Namens gibt. Auch der Name Gonzaga durfte nicht bleiben, er musste durch Herzog von Mantua ersetzt werden.« Und zwei Tage darauf: »Te Deum Ladamus! Gloria in Excelsis Deo! Alleluja! Alleluja! Endlich gestern um drei Uhr nachmittags kam unser Rigoletto in die Intendanz, gesund und munter, ohne Brüche und Verstümmelungen. Ich glaube noch zu träumen.« Die Legende erzählt von nur 40 Tagen Kompositionsarbeit Verdis, doch dürfen solche rekordverbrämten Spektakel-Meldungen nicht von der Tatsache ablenken, dass der Komponist sehr genau an seiner Partitur arbeitete und sich über mehrere Skizzen dem Endergebnis annäherte. Auch wird erzählt, dass der berühmte Schlager »La donna è mobile« bis zur Generalprobe geheim gehalten wurde, um seinen Effekt nicht im Vorhinein verpuffen zu lassen. Jedenfalls erreichte Verdi Venedig am 19. Februar 1851, im Gepäck die fertigen Gesangsstimmen, an jenen des Orchesters arbeitete und feilte er noch während der Proben – nichts Außergewöhnliches zu dieser Zeit übrigens. Nach einem Monat feilen und proben kommt am 11. März 1851 die Oper zur Uraufführung – und wird ein durchschlagender Erfolg: »Kaum war die glanzvolle Uraufführung des Rigoletto zu Ende, da trällerten auch schon alle Gondoliere der Lagunenstadt das übermütige Liedchen des Herzogs« (Otto Gerhartz). Und die Gazetta Uffiziale di Venezia schrieb: »Nach jeder Nummer wurde der Maestro gerufen. Der Applaus wollte und wollte kein Ende nehmen. Immer wieder mussten die Sänger und der Komponist sich zeigen.« Der Erfolg blieb nicht auf den Erstaufführungsabend und das Teatro La Fenice beschränkt, sondern griff um sich. Innerhalb kurzer Zeit spielten OLI V ER LÁ NG

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namhafte Häuser die Oper nach, und Verdi war vom hoch erfolgreichen Komponisten zum unbestritten Größten seiner Zeit aufgestiegen. Das erste der drei Teilstücke der trilogia popolare war geschaffen…

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1 Zitiert nach: Daniel Brandenburg, Rigoletto, 2012

» DER A PPLAUS WOLLT E U N D WOLLT E K EIN EN DE N EHMEN «


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» DER GANZE INHALT LIEGT IN DIESEM FLUCH «

Aus der Korrespondenz Giuseppe Verdis


An Francesco Maria Piave BUSSETO, 28. APRIL 1850

Versucht es! Das Sujet ist groß, gewaltig, und enthält eine Figur, die eine der größten Schöpfungen ist, deren sich das Theater aller Länder und aller Zeiten rühmen darf. Das Sujet ist Le Roi s’amuse, und die Figur, von der ich Dir spreche, wäre Tribolet; und wenn Varesi engagiert ist, gibt es nichts Besseres für ihn und für uns. P.S. Sobald Du diesen Brief erhalten hast, mach’ Dich auf die Beine: lauf’ in der ganzen Stadt herum und such’ eine einflussreiche Person, die die Erlaubnis erlangen kann, Le Roi s’amuse zu machen. Schlaf’ nicht ein, beeil’ Dich, mach’ schnell. Ich erwarte Dich in Busseto, aber nicht jetzt, erst wenn das Sujet gewählt ist.

An Carlo Marzari BUSSETO, 24. AUGUST 1850

Ich selbst habe Piave bewogen, so schnell wie möglich nach Venedig zurückzukehren; er sollte Ihnen persönlich dieses Schreiben aushändigen und Ihnen ausführlich das berichten, was ich Ihnen nur schreiben kann. Die Zweifel, die plötzlich aufgetreten sind, ob Le Roi s’amuse von der Zensur genehmigt wird, haben mich in große Verlegenheit gebracht. Piave selbst versicherte mir, dass dieses Sujet nicht auf Schwierigkeiten stoßen würde. Ich vertraute Ihrem Dichter und begann, mich in das Stück zu vertiefen, es zu studieren. Die musikalische Idee gewann schon Gestalt in mir. Ich kann ehrlichen Gewissens sagen, daß für mich die Hauptarbeit getan war. Wenn ich jetzt plötzlich gezwungen wäre, mich mit einem anderen Sujet zu befassen, würde die Zeit sicher nicht mehr reichen, solche Studien vorher zu betreiben. Es käme gewiss keine Oper dabei heraus, die ich reinen Gewissens zur Aufführung freigeben könnte. Außerdem bin ich – wie Piave Ihnen ja schon schrieb – von dem Können der Sanchioli absolut nicht überzeugt. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass der Vorstand eine solche Errungenschaft machen würde, hätte ich den Vertrag niemals akzeptiert. Es liegt in meinem Interesse, und ich glaube auch in dem des Theaters, den Erfolg der Oper möglichst zu sichern. Dafür, sehr verehrter Herr Präsident, ist es notwendig, dass Sie sich dafür einsetzen, diese beiden Hindernisse zu überwinden: erstens die Genehmigung für Le Roi s’amuse zu bekommen, und zweitens eine Sängerin aufzutreiben, die mir gefällt – ob sie nun berühmt ist oder nicht, spielt keine Rolle. Wenn diese beiden Punkte nicht zu erfüllen sind, glaube ich, liegt es im beiderseitigen Interesse, den Vertrag zu lösen. Dafür wäre ich dem Vorstand von Herzen dankbar. 49

BR IEFE


An Franceso Maria Piave CREMONA, 3. JUNI 1850

Was den Titel anbelangt: Wenn Le Roi s’amuse, der gut ist, nicht beibehalten werden kann, dann muss der Titel zwangsläufig La maledizione di Vallier oder kürzer gefasst La maledizione lauten. Der ganze Inhalt liegt in diesem Fluch, der auch moralisierend wirkt. Ein unglücklicher Vater, der die seiner Tochter geraubten Ehre beklagt, von einem Hofnarren verlacht wird, den der Vater verflucht, und dieser Fluch trifft den Narren auf fürchterliche Weise – das scheint mir moralisch und in höchstem Grade erhaben. Achte darauf, dass Le Vallier (wie im Französischen) nur zweimal auftreten und nur wenige emphatische, prophetische Worte sagen darf.

An Carlo Marzari BUSSETO, 5. DEZEMBER 1850

Der eingegangene Brief mit dem Dekret, das La maledizione rundweg verbietet, kam mir so unerwartet, dass ich fast den Verstand verloren habe. Dafür trifft Piave die Schuld, die ganze Schuld! In mehreren Briefen, die er mir seit dem Monat Mai geschrieben hat, versicherte er mir, die Genehmigung erhalten zu haben. Daraufhin habe ich einen großen Teil des Dramas vertont und mich mit größtem Eifer damit beschäftigt, und es zum vorgesehenen Termin zu beenden. Das Dekret, das es ablehnt, bringt mich in eine verzweifelte Lage, denn nun ist es zu spät, um ein anderes Libretto auszusuchen, da es mir unmöglich, völlig unmöglich wäre, es für diesen Winter zu vertonen. Es war das dritte Mal, dass ich die Ehre hatte, für Venedig zu schreiben, und die Direktion weiß, mit welcher Gewissenhaftigkeit ich stets meinen Verpflichtungen nachgekommen bin. Sie weiß, dass ich fast auf dem Totenbett mein Wort gab, den Attila zu beenden, und ich beendete ihn. Nun wiederhole ich bei meiner Ehre, dass es mir unmöglich ist, ein neues Libretto zu schreiben, wollte ich mich selbst damit befassen, selbst auf Kosten meiner Gesundheit.

An Carlo Marzari BUSSETO, 14. DEZEMBER 1850

Um Ihr Schreiben vom 11. gleich zu beantworten, ich habe nur wenig Zeit gehabt, das neue Libretto zu prüfen; ich habe aber genug gesehen, um zu begreifen, dass es ihm, auf diese Weise umgewandelt, an Charakter, an BR IEFE

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Bedeutung fehlt, und schließlich, dass die dramatischen Höhepunkte eiskalt geworden sind. Falls es nötig war, die Namen zu ändern, dann hätte man auch den Schauplatz ändern und einen Fürsten, einen Herzog eines anderen Landes daraus machen müssen, zum Beispiel einen Pier Luigi Farnese oder einen anderen, oder aber die Handlung in eine Zeit vor Ludwig Xl. zurückverlegen, als Frankreich kein geeintes Königreich war, und entweder einen Herzog von Burgund oder von der Normandie etc. etc., auf jeden Fall einen absoluten Herrscher, aus ihm machen müssen. – In der V. Szene des 1. Aktes hat der Zorn der Höflinge auf Triboletto keinen Sinn. – Der Fluch des Alten, im Original so schrecklich und erhaben, wird hier lächerlich, weil der Grund, der ihn veranlasst zu verfluchen, nicht mehr jene Bedeutung hat und weil es nicht mehr der Untertan ist, der so kühn zum König spricht. Welchen Zweck, welchen Sinn hat das Drama ohne diesen Fluch? Der Herzog wird zu einer nichtssagenden Figur; der Herzog muss aber unbedingt ein Wüstling sein, ohne das lässt sich Tribolettos Furcht, seine Tochter könne aus ihrem Versteck hervorkommen, nicht rechtfertigen; ohne das ist das Drama unmöglich. Wieso geht der Herzog im letzten Akt allein, ohne Ermunterung, ohne eine amouröse Verabredung, in eine abgelegene Taverne? – Ich verstehe nicht, warum man den Sack gestrichen hat? – Was liegt der Polizei an dem Sack? Fürchtet sie um die Wirkung? Man erlaube mir aber zu sagen: Wieso will sie mehr davon verstehen als ich? Wer ist hier der Maestro? Wer kann sagen, dies wird Wirkung zeigen und jenes nicht? Eine Schwierigkeit dieser Art gab es schon bei dem Horn im Ernani. Nun, wer hat beim Ertönen jenes Horns gelacht? Lässt man den Sack weg, ist es unwahrscheinlich, dass Triboletto eine halbe Stunde bei dem Leichnam redet, bevor ein Blitz aufleuchtet und ihn als den seiner Tochter enthüllt. Schließlich bemerke ich noch, dass man vermieden hat, Triboletto hässlich und bucklig zu machen!! Aus welchem Grund? Ein Buckliger, der singt! wird manch einer sagen! Und warum nicht?… Wird es Wirkung zeigen? Ich weiß es nicht; aber wenn ich es nicht weiß, dann – wiederhole ich – weiß es auch derjenige nicht, der diese Änderung vorgeschlagen hat. Ich finde es gerade herrlich, diese äußerlich missgebildete und lächerliche, doch innerlich leidenschaftliche und liebevolle Person auftreten zu lassen. Ich habe diesen Stoff gerade wegen all dieser Eigenschaften und dieser originellen Züge gewählt; wenn man sie weglässt, kann ich keine Musik mehr dazu machen. Wenn man mir sagt, dass die Noten ebenso gut für dieses Drama bleiben können, dann entgegne ich, dass ich diese Äußerungen nicht verstehe, und sage offen, dass ich meine Noten, seien sie schön oder schlecht, nicht per Zufall niederschreibe und dass ich immer danach trachte, ihnen einen Charakter zu geben. Mit einem Wort, aus einem originellen, gewaltigen Drama hat man eine ganz gewöhnliche Sache und kalte Angelegenheit gemacht.

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An Carlo Marzari BUSSETO, 29. JÄNNER 1851

Ich bin überglücklich, dass die Polizei endlich die Zustimmung zu diesem verflixten Rigoletto gegeben hat. Was mich betrifft, so bleibt nur noch das letzte Duett zu vertonen, und auch dieses wäre fertig, wenn ich in den letzten Tagen nicht an heftigen Magenschmerzen gelitten hätte. Zwei Tage, nachdem die Oper von Malipiero [Fernando Cortez] auf die Bühne gegangen sein wird, werde ich in Venedig sein, und ich werde am frühen Morgen da sein, um auch der Probe beizuwohnen. Für den Fall, dass sich Malipieros Oper um einige Tage hinziehen sollte, würde ich Sie bitten, mir durch Piave Bescheid zu geben und mich hier in Ruhe zu lassen. Ich wiederhole Ihnen, dass ich am Morgen des zweiten Tages, nachdem Malipiero über die Bühne gegangen ist, in Venedig sein werde, um noch am selben Tag die Probe abzuhalten, auch weil ich hoffe, die Partien einige Tage vor meinem Eintreffen zu schicken. Wenn das letzte Duett gemacht ist, dann bleibt mir nur noch die Arbeit von fünf bis sechs Tagen für die Instrumentation.

An Carlo Antonio Borsi BUSSETO, 8. SEPTEMBER 1852

Wenn Du überzeugt wärest, dass sich mein Talent darauf beschränkt, nichts Besseres zustande bringen zu können als das, was ich im Rigoletto zustande gebracht habe, dann würdest Du mich nicht um eine Arie für jene Oper bitten. Armseliges Talent! wirst Du sagen… Zugegeben, aber es ist so. Im Übrigen, wenn der Rigoletto so bleiben kann, wie er ist, dann wäre eine neue Nummer zu viel. In der Tat, wo eine Stelle finden? Verse und Noten kann man schreiben, aber sie bleiben immer ohne Wirkung, solange es keinen Platz für sie gibt. Eine gäbe es zwar, aber da sei Gott vor! Wir müssten Spießruten laufen! Man müsste Gilda mit dem Herzog in seinem Schlafzimmer zeigen!! Verstehst Du mich? Auf alle Fälle wäre es ein Duett. Ein großartiges Duett!! Aber die Priester, die Mönche und die Heuchler würden Zeter und Mordio schreien. Was die Kavatine im ersten Akt betrifft, so verstehe ich nicht, wo da Geläufigkeit in der Stimme ist. Vielleicht hat man nicht das Tempo getroffen, das ein Allegretto molto lento sein muss. Bei einem tempo moderato und einem Vortrag ganz sotto voce kann es keine Schwierigkeit geben. Um aber auf den ersten Punkt zurückzukommen, so ergänze ich, dass ich den Rigoletto ohne Arien, ohne Finali entworfen habe, mit einer endlosen Reihe von Duetten, denn das war meine Überzeugung. Wenn jemand einwirft: »Aber hier konnte man doch dieses, dort jenes machen« etc. etc. dann antworte ich: »Kann durchaus sein, aber ich habe es nicht besser machen können.« BR IEFE

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An Antonio Somma ST. AGATA, 22. APRIL 1853

Lange Erfahrung hat meine Ideen bestätigt, die ich immer bezüglich der Bühnenwirkung gehabt habe, wenn ich auch in meinen Anfängen nicht den Mut hatte, sie gänzlich zu offenbaren. (Zum Beispiel hätte ich vor zehn Jahren nicht riskiert, den Rigoletto zu machen.) Ich finde, dass unsere [heutige] Oper an zu großer Eintönigkeit leidet, so sehr, dass ich es heute ablehnen würde, Sujets wie Nabucco, Foscari usw. usw. zu komponieren… Sie bieten höchst interessante Situationen, aber ohne Mannigfaltigkeit – auf einer einzigen Saite, einer hohen, wenn Ihr wollt, aber doch immer derselben. Um mich besser zu erklären: die Dichtung Tassos ist vielleicht besser, aber ich ziehe Ariost tausend und abertausendmal vor. Aus demselben Grund ziehe ich Shakespeare allen Dramatikern einschließlich der Griechen vor. Mir scheint, was die Bühnenwirkung betrifft, dass das beste Sujet, das ich bisher in Musik gesetzt habe (ich will keineswegs vom literarischen und poetischen Wert sprechen), Rigoletto ist. Es bietet gewaltige Situationen, Mannigfaltigkeit, Feuer, Pathos; alle Verwicklungen entspringen dem leichtfertigen, zügellosen Charakter des Herzogs; daher die Befürchtungen Rigolettos, die Leidenschaft Gildas usw. usw., die viele höchst dramatische Momente ergeben, darunter die Szene des Quartetts, die, was die Wirkung angeht, stets zu dem Besten gehört, worauf unser Theater stolz sein kann.

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Daniel Brandenburg

RIGOLETTO IM BANNE DER PARISER SZENE Einen Tag nach der Uraufführung des Rigoletto erschien in der Gazzetta Ufficiale di Venezia folgender Bericht: »Eine Oper wie diese beurteilt man nicht an einem Abend. Gestern wurden wir von den Neuheiten gleichsam überrumpelt: Durch die Neuheit, oder besser Merkwürdigkeit des Sujets, durch die neue Art der Musik, im Stil wie in der Anlage der Nummern, und es war uns noch nicht möglich, dazu einen klaren Gedanken zu fassen. Die Oper […] beginnt mit einem Lied und einem Ball, hat als Hauptrolle einen Buckligen, beginnt mit einem Fest und endet, nicht sehr erbaulich, in einem Haus ohne Bezeichnung, in dem Liebe verkauft und über das Leben von Menschen verhandelt wird. […] Der Komponist oder der Dichter wurden wohl von einer späten Liebe zur satanischen Schule erfasst […], indem sie das Schöne und Ideale im Missgebildeten, Abstoßenden suchten. Sie zielten auf den Effekt, nicht auf dem üblichen Wege des Mitleids und des Schreckens, sondern dem des Seelenleids und des Entsetzens. Ich kann diesen Geschmack nicht wirklich loben. Dennoch errang diese Oper einen großartigen Erfolg und der Komponist wurde nach fast jeder Nummer gefeiert, gerufen, beklatscht und zwei derselben mussten sogar wiederholt werden. Und wirklich, das Bewundernswerte, Wunderbare an diesem Werk ist die Arbeit in der Instrumentation: Dieses Orchester spricht mit Dir, weint DA N IEL BR A N DEN BU RG

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und vermittelt Dir die Leidenschaft, so möchte ich sagen, direkt ins Herz […].« Verdi war es gelungen, mit seinem neuen Werk das Venezianische Publikum zu begeistern, zugleich aber auch bei den »Kennern« eine gewisse Verwirrung auszulösen, die angeregte Diskussionen nach sich zog und auf der Welle der damit verbundenen öffentlichen Aufmerksamkeit schnell zu Nachfolgeproduktionen in ganz Europa führte. Die Gründe für diesen Erfolg sind vielfältig und teils in der allgemeinen Situation des italienischen Opernbetriebs, teils aber auch in Verdis künstlerischen Visionen und musikalisch-dramaturgischen Innovationen zu suchen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts mussten die italienischen Opernzentren ihre internationale Vorherrschaft immer mehr an die aufstrebende Metropole Paris abgeben, deren großstädtisches Theaterleben und zahlreiche Opernbühnen auch für italienische Komponisten immer attraktiver wurden. Die professionelle Organisation und die modernen technischen Möglichkeiten der Häuser in der französischen Hauptstadt setzten Maßstäbe, über die ein Giuseppe Verdi, wie viele seiner europäischen Kollegen auch, nicht unbeeindruckt hinwegsehen konnte. Darüber hinaus lieferten die Spielpläne der Pariser Boulevardtheater Inspiration für publikumswirksame Opernsujets. Verdi kam 1847 zum ersten Mal nach Paris, verbrachte in den Jahren bis 1849 viel Zeit in dieser Stadt und kehrte auch danach immer wieder in sie zurück. Werke des Pariser Opernrepertoires lernte er allerdings auch schon früher kennen: Die italienische Erstaufführung von Giacomo Meyerbeers Robert le diable in Florenz 1840 gab ihm z.B. bereits wichtige Anregungen für seine Oper Macbeth. Meyerbeer war auch einer seiner Konkurrenten bei der Vergabe des Kompositionsauftrags, aus dem schließlich Rigoletto hervorgehen sollte. Im Jahr 1848 überlegte das Direktorium des Teatro La Fenice zunächst an den damals in Paris tätigen Kollegen heranzutreten, entschied sich dann aber (wohl auch aus finanziellen Gründen) für Verdi, der schließlich mit Rigoletto einen adaptierten französischen Dramenstoff vertonte: Victor Hugos Le Roi s’amuse. Für die Auswahl dieses Stücks bestimmend waren die Hauptfigur, ein gesellschaftlich geächteter, buckliger Narr, und die »Situazioni«, die Kernmomente der Handlung mit einem Fluch als tragendem Motiv, die offenbar vor dem geistigen Auge Verdis sogleich eine Vision einer musikdramatischen Realisierung erstehen ließen. Vor allem die optische Dimension seiner Opernprojekte spielte ab der zweiten Hälfte der 1840er Jahre in Verdis Schaffensprozess eine immer größere Rolle und beschäftigte ihn zumeist schon lange vor der eigentlichen Vertonung des Librettos. Der direkte visuelle Eindruck der Pariser Opernproduktionen dürfte ihn in dieser Vorgehensweise bestärkt und zu ungewöhnlichen musikalisch-dramaturgischen Lösungen inspiriert haben. Insbesondere die großen, als »Bild« angelegten Szenen der französischen Oper und die auf einer hochprofessionellen Bühnenmaschinerie fußenden musikalisch-visuellen Effekte dürften ihn besonders beeindruckt haben. Das legt auch sein Rigoletto nahe. 55

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So gelingt es ihm in der Festszene des ersten Akts auf sehr gelungene Art und Weise, das traditionelle Nummernschema der italienischen Oper zugunsten einer dynamisch gestalteten großen Szene zu überwinden. Er lässt den Protagonisten, Rigoletto, ohne Auftrittsarie auf die Bühne kommen und damit fast beiläufig die fatalen Entwicklungen ihren Lauf nehmen. Genauso rückt er den Herzog solistisch nur kurz ins Rampenlicht und macht den Fluch Monterones zum eigentlichen Höhepunkt, der in einem stetigen dramatischen Crescendo erreicht wird. Ähnlich verhält es sich mit dem letzten Akt, der ebenfalls ein szenisches Gebilde ist, das sich den traditionellen Strukturprinzipien der italienischen Oper entzieht (u. a. benutzt Verdi deshalb behelfsmäßig die Bezeichnung »Szene und Gewitter«). Hier verknüpft er Bühnengeschehen und Musik auf eine bis dahin in Italien noch nie realisierte Art und Weise und bereitet dem Publikum ein vollkommen neues musikalisch-sinnliches Erlebnis. In einem Brief an den Librettisten Francesco Maria Piave vom 31. Jänner 1851 heißt es dazu: »Ich brauche jetzt von Dir keine Verse mehr. Es müssen [aber] ein paar Szenenanweisungen geändert werden, vor allem im Sturm des dritten Akts, weil ich Donner, Blitze usw. usw. eingefügt habe, alle im Takt, und dabei nicht immer Deinen Hinweisen folgen konnte. Jetzt ist es notwendig, dass unser Nymphen-Freund [so lautete der Spitzname des Maschinisten Caprara] meinen Vorstellungen folgt und die Donner und Blitze nicht (wie üblich) ganz nach Laune stattfinden lässt, sondern im Takt. Ich wünsche mir, dass die Blitze auf dem Bühnenhintergrund aufleuchten, im Zickzack auf dem Tuch usw… usw… Du wirst Dir darüber (wie üblich) wieder die Haare raufen, aber bei der Aufführung wirst Du sagen: Er hatte recht […].« Besonders wichtig war Verdi die Synchronisation von Orchester und Bühneneffekt genau in dem Moment, in dem Rigoletto, Schreckliches ahnend, am Ufer des Mincio den Sack öffnet und im Schein eines Blitzes das Gesicht seiner Tochter erkennt. Die Macht der Naturgewalten ist hier nicht mehr nur Folie, vor der sich das schicksalhafte Drama vollzieht, sondern mit einem Mal Teil desselben. Erstes (Akt I,1) und letztes Bild (Akt III) zeigen ferner auch, dass Verdi seit seinen Pariser Tagen nicht mehr in den Kategorien des »Rampentheaters« dachte, sondern den gesamten Bühnenraum als musikalischen Aktions- und Klangraum zu nutzen suchte. In der Festszene lässt er neben dem Orchester vor der Bühne zwei weitere Ensembles auf und hinter derselben spielen und das eigentliche Ballgeschehen (siehe Regieanweisung) im Bühnenhintergrund stattfinden, während zunächst nur die Solisten vorne agieren. In der Szene am Mincio gibt er dem Bühnenraum dadurch Weite, dass er hinter der Bühne den Wind durch einen summenden Chor aufheulen lässt und die Bühne selbst mit dem Wirtshaus Sparafuciles in zwei Bereiche aufteilt (vor und im Haus), die ihm u.a. die passende Situation für das wunderDA N IEL BR A N DEN BU RG

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bare Quartett schaffen. Das Wirtshaus im letzten Akt und Rigolettos Haus in der zweiten Szene des ersten Akts waren überdies begehbare Konstruktionen, ein bühnentechnisches Novum in einem Opernbetrieb, der sich hinsichtlich des Bühnenbilds zumeist mit bemalten Stoffbahnen begnügte. All das, verbunden mit einer Musik, die das Geschehen nicht nur begleitet, sondern im Sinne der von Verdi postulierten »Verschmelzung der Musik mit dem Drama« Personen und Situationen über das gesungene Wort hinaus lebendig werden lässt, machte Rigoletto zu einem Schicksalsdrama von besonderer Eindringlichkeit. Die Erwartungen des Publikums des Teatro La Fenice waren sicherlich nicht sehr hoch: Neben kostengünstigen Balletten wurden in diesem Haus vor allem ältere Opernwerke gespielt, darunter auch solche nicht wirklich ›großer‹ Meister. Im Jahr 1850 stand z.B. neben der Oper Medea des in der ersten Hälfte des Jahrhunderts namhaften Komponisten Giovanni Pacini auch die Oper Elisabetta di Valois des heute weithin unbekannten Antonio Buzzolla auf dem Programm. In der Saison 1850/51 gab es hingegen als Neuheit (neben Rigoletto) Francesco Malipieros heute vergessenen Fernando Cortez sowie als ältere Repertoirestücke Gioachino Rossinis Semiramide, Giovanni Pacinis Allan Cameron, Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor und wieder eine Anzahl von Balletten. Der Spielplan zeigt, dass das Theater offensichtlich die durch die Aufstände von 1848 bedingten finanziellen Einbußen noch nicht verkraftet hatte und dass aufgrund des Rückzugs von Gaetano Donizetti und des schon fortgeschrittenen Alters Saverio Mercadantes in der Generationenabfolge der Opernkomponisten eine Lücke entstanden war, die darauf wartete, endgültig durch Verdi ausgefüllt zu werden. Auch wenn sich durchaus die Frage stellt, ob und inwieweit Verdi seine Vorstellungen im Rahmen der Gegebenheiten des Teatro La Fenice vollständig verwirklichen konnte, war das, was er erreichte, wohl schon beeindruckend genug, um ihn endgültig zum (auch international) gefragtesten Opernkomponisten Italiens zu machen. Bis auf den heutigen Tag bleibt Verdis Rigoletto eine künstlerische Herausforderung: Das gilt sowohl für die szenische Umsetzung als auch für die musikalische Realisierung in Gesang und Orchester. Moderne Produktionen zeigen u. a., dass sich die Grundgedanken der Regieanweisungen des Komponisten nicht beliebig verändern lassen, ohne das musikdramatische Gefüge zu stören, und dass manche interpretatorische Freiheiten der Titelpartie viel von ihrem emotionalen Farbenreichtum nehmen. Zugleich belegen sie aber auch, dass Rigoletto zu den Werken Verdis gehört, in denen es noch viel zu entdecken gibt.

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Andreas Láng

DAS WESENTLICHE TEILT SICH DURCH DIE MUSIK MIT


Der berühmte Tenor Leo Slezak stellte einst sinngemäß fest, dass das Libretto einer Oper nur dazu diene, dem Sänger Abwechslung zu bieten, damit dieser nicht ausschließlich la-la-la zu singen habe. Nun, selbst wenn man diese Extremposition nicht einmal im Ansatz teilen möchte, muss man zugestehen: Die Meisterwerke der großen Komponisten begreift man im Wesentlichen sogar dann, wenn man den Text – aus welchem Grund auch immer – nicht versteht oder mitbekommt. Man kann also lediglich durch die Musik erkennen und begreifen. Das soll um Himmels Willen keine Akzeptanz des Undeutlich-Singens bedeuten! Ebenso wenig ein Missachten der Tatsache, dass Interpretation ohne Text selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit ist und die meisten Komponisten grundsätzlich textausdeutend geschrieben haben. Aber nichtsdestotrotz: Eine Oper teilt sich dem Zuhörer in erster Linie durch die Musik mit. Das gilt natürlich auch für den Klangdramaturgen Giuseppe Verdi und insbesondere für seinen Rigoletto. Und so, wie bereits die ersten Takte des Vorspiels nicht nur die Grundatmosphäre des Stückes porträtieren, sondern den wesentlichen Handlungsaspekt des Fluches im punktiert-repetierten C, B beziehungsweise G musikalisch antizipierend andeutet (die Oper hätte ja zwischenzeitlich den Titel La Maledizione tragen sollen), so wird das Notwendige in Bezug auf Handlung, Stimmung sowie Charakterschilderung der Betreffenden in den jeweiligen Szenen des gesamten Werkes ebenso klar auch durch die Musik allein transportiert. Gehen wir, um einige Beispiele anzuführen, die Partitur des ersten Aktes diesbezüglich in groben Zügen durch. Nach dem düster-bedrohlichen Vorspiel schlägt die Stimmung mit dem Beginn des 1. Aktes schlagartig um. Das fröhliche As-Dur im Vergleich zum dunklen c-Moll davor, der meisterhafte Kunstgriff Verdis, die Szene mit einer Banda aus dem Hintergrund anfangen zu lassen, das flotte Alla Breve, die harmonisch einfache Struktur – das alles zeigt die unbeschwert-festliche Stimmung am Hofe des Herzogs. Und auch in dem ersten kurzen Zwiegespräch zwischen dem Herzog und Borsa wird in wenigen Zügen Grundsätzliches mitgeteilt: So wie Borsa die erste, gleichsam hingeworfene Phrase des Herzogs in Stil und Ton kopiert, wird das hierarchische Prinzip diese Hofes dokumentiert – hie der Machthaber, da der sich andienende speichelleckende Höfling. In der nachfolgenden 6/8-Takt-Arietta des Herzogs wird dessen unbeschwerte Leichtlebigkeit (die er ja letztlich auch besingt) bereits durch die einleitenden, sich wiederholenden Staccati der Streicher wiedergegeben. Insgesamt wirkt alles in dieser Arietta locker, lebendig, fröhlich, federnd. Galanter, aber in der Stimmung und in der Tonart gleichbleibend, das anschließende Menuett mit der kurzen Unterredung Herzog-Gräfin Ceprano. Rigolettos gesonderte Stellung am Hof wird dann gleich bei seinem ersten Auftritt offenkundig: Im Gegensatz zu den melodischen Linien des Herzogs hebt sich sein in den nächsten Takten fast durchgehendes parlandoartiges Repetieren auf ein und demselben Ton, dem C, deutlich ab. Auffällig übrigens 59

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dass die Oper mit einer leeren C-Oktav (Trompete, Posaune) beginnt, Rigolettos erstes Auftreten ebenfalls mit einem C und jener des fluchschleudernden Monterone ebenfalls. Auch Monterones Gesangslinie weist bis zum Fluch zahlreiche Mehrfachtonrepetitionen auf – aber wie anders geartet sind sie als jene von Rigoletto bei dessem ersten Auftritt? Mit Monterone kippt die Stimmung wieder zurück in die dunkel-dramatische Atmosphäre des Vorspiels, die einfachen harmonischen Wendungen des herzoglichen Festes werden aufgegeben, chromatische Bewegungen im Orchester und der Singstimme bereiten den berühmten Fluch spannungsgeladen vor, bis sich alles in dem Vivace-Ensemble des »O tu che la festa« auflöst. Verdi macht in diesem sotto voce gesungenen Chor rhythmisch das schreckerfüllte Schlagen der Herzen der Verfluchten hörbar, die plötzliche Angst der Masse ist fühlbar. Das nachfolgende Duett Rigoletto-Sparafucile hebt mit einem dunklen, sich stets wiederholenden Motiv an, so, als ob sich die Gedanken des Hofnarren unentwegt nur um eine einzige bedrückende Angelegenheit drehen würden, die er schließlich auch ausspricht: um den Fluch. Kaum hat Rigoletto das »Quel vecchio maledivami« für sich auch verbal artikuliert, scheint die erste Angst von ihm abzufallen, vielleicht ist er auch durch das Auftauchen Sparafuciles abgelenkt, auf jeden Fall erklingt im Orchester wieder eine rhythmisch und harmonisch einfachere Begleitung, die allerdings im Laufe des Duetts zunehmend durch Chromatik verdunkelt wird. Sowohl die insgesamt leise Dynamik dieser Nummer wie auch das Dunkle der Orchestrierung (Streicher ohne Geigen!) vermitteln insgesamt den Eindruck des verboten Geheimnisvollen. Kaum ist Sparafucile weg, beginnen Rigolettos Gedanken in einem rezitativischen Monolog abermals um den Fluch zu kreisen. Erst mit dem Auftauchen Gildas verändert sich die Situation vollständig und es ist auffällig, dass Verdi an dieser Stelle zum ersten Mal keine Vorzeichen schreibt und ein C-Dur umspielt, als ob damit auch in der Notenschrift die Reinheit des Mädchens gezeigt werden sollte. Und wenn Rigoletto zuvor davon sprach, dass er zu Hause ein anderer Mensch wäre, so wird das in dieser gemeinsamen Szene von Vater und Tochter auch musikalisch augenscheinlich, denn erstmals weist der Part des Hofnarren langanhaltende Kantilenen auf Schönheit und Emotionen, die nicht von Angst, Hass oder Bosheit gesteuert werden, auf. Doch nach und nach brechen wieder Unruhe und Sorge aus Rigolettos Innerem hervor, was durch insistierende Bewegungen im Orchesterapparat verdeutlicht wird. Wie sehr Gilda in ihrer Liebe zum Herzog in eine ganz andere Sphäre hinübergleitet, zeigt sich auch an den Tonarten: Von dem umspielten C-Dur am Beginn ihres Auftrittes war schon die Rede, später »taucht« sie in die b-Tonarten ihres Vaters ein und nur in den Momenten, in denen sie quasi aus dem väterlichen Bereich ausbricht, wechselt sie in Kreuztonarten: Zunächst während ihrer Bitte an den Vater, sich ein wenig in der Stadt »umschauen« zu dürfen (A-Dur), und dann in ihrem Monolog vor dem ZusamA N DR EAS LÁ NG

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mentreffen mit dem verkleideten Herzog (G-Dur). Dieses Zusammentreffen, das für Gilda ja völlig unerwartet und plötzlich geschieht, wirft das junge Mädchen in eine emotionale Zwickmühle zwischen Freude, Liebe und ängstlicher Abwehr, was harmonisch sehr schön durch ständige Modulationen und strukturell durch rasche Sechzehntelfiguren in der ersten Violine hörbar gemacht wird. Erst das B-Dur-Ständchen des Herzogs (in Linienführung, Stil und Rhythmus logischerweise bewusst gegensätzlich zu seiner ersten Arietta) beruhigt Gilda, die nach und nach in den Gesang des vermeintlichen Studenten einsteigt, um in der gemeinsamen Kadenz musikalisch mit ihm zu verschmelzen. Das hörbare Nahen der Höflinge auf der Straße bringt erneut Unruhe, das in einem Vivacissimo-»Addio« mündet – und jedem, der jemals verliebt war, dürfte das nicht enden wollende, abwechselnde und rasche »Leb wohl, leb wohl« vom Herzog und Gilda nicht unbekannt sein. Gildas berühmte »Caro nome«-Arie, in der sie verliebt über den vermeintlichen Namen des Angebeteten sinniert (übrigens wieder eine Kreuztonart, diesmal E-Dur), spiegelt in der einfachen melodischen Struktur (im Wesentlichen nur – zunächst unverzierte, später mit Koloraturen ausgeschmückte – abwärtsgerichtete Tonleiterbewegungen) das kindlich Naive, Mädchenhafte, Ehrliche dieses Charakters – von der späteren Aufopferungsbereitschaft der jungen Frau ist, wenn auch schon eine Todessehnsucht erkennbar ist, hier noch nichts zu spüren. Selbst der Chor ihrer Entführer wird vorerst, durch ihre Schönheit gebannt, in die Stimmung dieser Arie hinein- und miteinbezogen, und erst das abermalige Auftreten Rigolettos lässt den Zauber dieses Augenblickes zerplatzen und ruft den Höflingen den eigentlichen Grund ihres nächtlichen »Ausfluges« wieder in Erinnerung. Die durchgehenden Staccati im boshaft-heimlichen »Zitti, zitti«-Chor der Entführer spricht dann ebenso für sich wie der sich chromatisch immer weiter nach oben schraubende dramatische Schluss des Aktes, in dem Rigoletto den Raub seines ganzen Glückes, also seiner Tochter, gewahr wird und damit die Wirkung des Fluches von Monterone zu erkennen glaubt. Abschließend sei vielleicht noch bemerkt, dass Rigolettos »La maledizione«-Ausruf am Ende des ersten wie des letzten Aktes sowie die entsprechenden Variationen im Verlauf des Stückes (etwa das bereits erwähnte »Quel vecchio maledivami« oder die orchestrale Einleitung im Vorspiel) sich zwar im Charakter ähneln, aber bewusst nicht leitmotivisch getreu in Rhythmus und Tonschritt gehalten sind (man weiß aus dem Skizzenbuch Verdis, wie sehr er an der genauen Form der einzelnen Versionen gearbeitet hat), um die Unterschiede in der jeweiligen dramatischen Situation hörbar zu machen.

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Markus Vorzellner

FIGLIA – MIO PADRE

Väter und Töchter in den Opern Giuseppe Verdis


»Es bleibe also dabei, dass das, was schändlich ist, niemals nützlich ist. Nicht einmal dann, wenn du das erreicht hast, was du für nützlich hältst. Denn eben das für nützlich zu halten, was schändlich ist, ist verhängnisvoll.«1 Das Begriffspaar, das Marcus Tullius Cicero im dritten Buch seiner Schrift De officiis präsentiert – »turpe« versus »utile« – »schändlich« gegenüber »nützlich« –, zeigt den in der antiken Rhetorik durchaus nicht seltenen Fall einer unserer Gegenwart vielleicht etwas plakativ anmutenden Verdeutlichung. Wenn man jedoch den bei Cicero bald darauf folgenden Satz »nihil esse utile quod non honestum«2 in dieses Bild miteinbezieht, so scheint sich ein begriffliches Dreiecksverhältnis zu ergeben, das als ungeschriebenes Motto über dem Drama Victor Hugos und der Oper Verdis/Piaves stehen könnte. Der unehrenhaft und damit schändlich handelnde Herzog führt das verhängnisvolle Unheil herbei, wobei es freilich den schöpferischen Qualitäten der Autoren geschuldet ist, dass dieses wider Erwarten nicht ihn selbst, sondern das Opfer trifft und damit gleichzeitig auch die dramaturgische Konstellation, die im Œuvre Giuseppe Verdis mehrfach anzutreffen ist, jene zwischen Vater und Tochter. Nach Harald Goertz spendete Verdi dieser Beziehung »weit mehr als den Liebespaaren – die ergreifendste Musik«. In Verdis Opern überragt die dramaturgische Bedeutung der Töchter jene der Söhne: So redet Jacopo Foscari mit seinem Vater, dem Dogen, nur in Gegenwart seiner Frau Lucrezia, die ihrerseits jedoch eine ausgiebige Szene mit ihrem Schwiegervater hat. (Man mag dabei unweigerlich an Violetta denken, die vom alten Germont »wie eine Tochter« umarmt werden will – »Qual figlia m’abbracciate forte«). Auch ein persönliches Treffen zwischen König Philipp und Don Carlos findet nur in aller Kürze am Ende des vierten Aktes statt. Dort schleudert der Infant seinem Vater sein »Tu più figlio non hai!« ins Gesicht, dieser habe keinen Sohn mehr – damit ist alles gesagt! Die heranwachsende Gilda kann ihre ödipale Phase nicht abschließen, da die leibliche Mutter, als gleichgeschlechtliche Konkurrentin, nicht mehr existiert. Wie die amerikanische Psychoanalytikerin Marjorie R. Leonard aufgrund ihrer mehrjährigen Praxis an der Reiss-Davis Clinic for Child Guidance in Los Angeles 1966 niederschrieb2, gibt es Vater-Typen, die dem ödipalen Prozess ihrer Töchter bewusst ausweichen und diese eher als hausmütterliche Fürsorgerinnen betrachten, wohingegen die Ehefrau für sie eine mütterliche Rolle einnehmen kann. Dem u. a. von Richard Ekstein gegebenen Rat, die Sexualität der Tochter nicht durch Verbote zu hemmen, kann daher Rigoletto, für den es nur eine weibliche Bezugsperson gibt, in keiner Weise nachkommen.3 Aus diesem Blickwinkel kann Gildas Selbstmord durchaus als Beendigung einer festgefahrenen ödipalen Beziehung gesehen werden, wobei sie obendrein mit dieser Tat »ihrem Gualtier Maldé« ein stummes »Tu sei mobile« zuzurufen scheint. Dass der Duca jedoch diese Anspielung niemals begreifen würde, resultiert aus seiner völlig anders gelagerten Unreife. 65

M A R K US VOR ZELLN ER


Wenngleich Verdis Erstling Oberto kaum als Vorstudie zu Rigoletto angesehen werden kann, so sind doch manche Parallelen zu erkennen: Ein Adeliger, Conte Riccardo, verführt unter falschem Namen die junge Leonora. Ebenso schwört ihr Vater, der aus der Verbannung zurückgekehrte Oberto, Rache für das zur Schändung verkommene Abenteuer seiner Tochter. Seiner Aufgabe als Beschützer seiner Tochter vor sexueller Ausbeutung, auf die in der Psychoanalyse kontinuierlich hingewiesen wird4, konnte er aufgrund seiner Verbannung nicht nachkommen, weswegen ihm nur der Ruf nach Rache bleibt. Ein wesentlicher Unterschied zu Rigoletto besteht jedoch darin, dass Leonora von ihrem Vater der Untreue geziehen wird, wodurch deren Annäherung einen Kernbereich des obligaten Vater-Tochter-Duetts einnehmen kann. Der mit Vorwürfen gespickten Kantilene Obertos stellt Leonora selbstbewusst ihre eigene melodische Phrase entgegen, bevor sie dann doch seine Melodie übernimmt. Im folgenden Andante maestoso bestimmt Leonora das melodische Geschehen, in das ihr Vater vorerst nur zögernd einwilligt, allerdings mit einem anderen, weiterhin Rache schwörenden Text. Erst danach herrscht Einklang, und der Wunsch, gemeinsam den Verführer zu stellen, beendet diese Szene, steht aber gleichzeitig am Beginn des Versuchs einer gemeinsamen Bewältigung von Leonoras ödipalem Konflikt. Auch Giovanna d’Arco bestreitet im dritten Akt von Verdis Schiller-Vertonung mit ihrem Vater Giacomo ein Duett. Im Akt zuvor hatte er sie der Hexerei geziehen; nun aber hört er die in Ketten gelegte Tochter zu Gott flehen: Nur einmal habe sie geliebt, aber in aller Unschuld: »Amai, ma un solo istante, ma pura ancor son io.« Von seinem eigenen Irrtum überzeugt, löst Giacomo ihre Ketten, und so kann Giovanna, unter den empathischen und verstehenden Augen des Vaters, in den Kampf gegen die Engländer ziehen. Dass Schiller dem Vater, Thibaut, die Erkenntnis nicht zukommen und die Jungfrau ihre Ketten selbst zerreißen lässt, gewährt einen tieferen Blick in die Bedeutung der Vater-Tochter-Szene für Verdi. Auch hier vollzieht sich das väterliche Umdenken in Gegenwart der Tochter. Die Psychologin Julia Onken beschreibt eine derartige Konstellation: »Der bejahende Blick des Vaters speichert sich beim Mädchen in jeder Zelle mit der Nachricht ein, dass es vom anderen Geschlecht beantwortet wird. Fehlt dieser Austausch zwischen Vater und Tochter, wird das Mädchen diesen Mangel an Resonanz als negatives Grundmuster für ihre Weiblichkeit einspeichern.« Unter diesem Aspekt sind Giovannas Ketten und deren Sprengung durch den Vater wohl nicht nur wörtlich zu verstehen. Einer gänzlich anderen Ausgangssituation entwächst das Duett zwischen Amelia und Simon Boccanegra, das in musikalischer Hinsicht eine noch größere Differenzierung aufweist, die sich bis hin zur Wahl der Instrumente erstreckt: Bevor Amelia ihre Herkunft als Waisenkind darlegt (»Orfanello il tetto umile m’accogliea d’una meschina«), evoziert die SoloOboe ein Feld an Assoziationen. In die Erzählung mischen sich Simones M A R K US VOR ZELLN ER

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freudige Ahnungen, denen Verdi in der Fassung von 1881 noch größere Tiefe verleihen wird. Nachdem der Doge in Amelia seine verloren geglaubte Tochter Maria wiedererkannt hat, eröffnet er die Cabaletta »Figlia, a tal nome palpito«, wobei »palpitare« – das Pochen – durch Pizzicato-Viertel in den Streichern symbolisiert wird. Als Beleg für eine solche Tradition kann der Brief Mozarts an seinen Vater vom 26. September 1781 herangezogen werden, in welchem er große Teile seiner Entführung aus dem Serail, so auch die orchestralen Begleitfiguren, erläutert: »Nun die Aria von Belmonte in A Dur. – O wie ängstlich, o wie feurig, wissen Sie, wie es ausgedrückt ist – auch ist das klopfende liebevolle Herz schon angezeigt – die 2 Violinen in Oktaven.« Amelia stimmt in das Duett ein mit den Worten »Padre vedrai la vigile figlia a te sempre accanto« – »Vater, Deine wachsame Tochter wirst du immer bei Dir sehen!« Ihr selbstbewusstes Auftreten lässt sie freilich nicht sofort die Melodie Simones übernehmen, sondern sie ergänzt diese vorerst durch eine Gegenrede. Doch Verdis dramaturgischer Spürsinn dringt noch tiefer in die Materie ein: Ein Teil der Streicher begleitet Amelia ab »Padre vedrai« in Sechzehntel-Figuren, die sich im Lauf des Duetts zu Triolen verlangsamen und in die Bläsergruppe wandern. Bevor die wiedererkannte Tochter schließlich die Melodie des Vaters übernimmt, wird diese Annäherung also schon durch den Orchesterapparat rhythmisch zur ViertelBegleitung des Vaters hingeführt. Neben das Motiv des Wiederfindens und Wiedererkennens tritt innerhalb der Verdischen Vater-Tochter-Dramaturgie das Motiv der Selbsttötung der Tochter. Im Duett Aidas mit ihrem Vater Amonasro gesellt sich zum ursprünglichen Konflikt mit der machtpolitisch besser gestellten Amneris jener zwischen Liebe und Verrat: In einem aufrüttelnden Rezitativ begrüßt der äthiopische König die Verbindung seiner Tochter mit Radames, speziell als Mittel zu Aidas Instrumentalisierung, um den Kriegspfad der ägyptischen Feinde zu erfahren. Sie werde, so Amonasro, über Amneris siegen und so die Heimat, den Thron und die Liebe – in dieser Reihenfolge – erringen. Mit dieser Phrase, die das weitere Geschehen des gesamten Plots bestimmt, greifen Verdi und sein Librettist Antonio Ghislanzoni einen Topos auf, der den Zeitgeist der Risorgimento-Bewegung zur Wiedervereinigung Italiens im 19. Jahrhundert entscheidend prägt: die Verbindung von familiärem Gefüge und Heimatbegriff. Unter der musikalischen Charakterisierung cantabile dolcissime beginnt Amonasro folgerichtig, die Bilder der alten Heimat mit jenen des privaten Glücks zu kombinieren: »Rivedrai le foreste imbalsamate, Le fresche valli, i nostri templi d’or. Sposa felice a lui che amasti tanto, Tripudii immensi ivi potrai gioir.«5 Diese Assoziation übernimmt die äthiopische Prinzessin sofort, indem sie Amonasros Melodie in derselben Tonart wiederholt. Im April 1860, ein knappes Jahr vor der Ausrufung der 67

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italienischen Monarchie, veröffentlichte der erste Vorkämpfer des Risorgimento, Giuseppe Mazzini, eine Schrift mit dem Titel I doveri dell’ uomo – Die Pflichten des Menschen. In diesem Manifest richtet der Begründer der Giovane Italia an die Bürger des in seiner Entstehung begriffenen souveränen Italien den Appell: »Ad ogni opera vostra nel cerchio della Patria o della Famiglia, chiedete a voi stessi: se questo ch’io fo fosse fatto da tutti e per tutti, gioverebbe o nuocerebbe all’ umanita?«6 Jegliches zielführende Wirken für die Menschheit könne nur von dem als Vaterland begriffenen Staat oder der Familie als Zentrum staatsbürgerlicher Existenz ausgehen. Mit dieser Ideologie kann Amonasro seine Tochter überzeugen. Den Reminiszenzen an die Gräueltaten der Ägypter, bei welchen die vorausgegangene beschauliche Dur-Melodie tiefgreifende Modulationen erfährt, folgt Aida mit großer Empathie. Erst Amonasros Forderung nach Spionage beim Geliebten, die von einem Zerfall der melodisch-rhythmischen Struktur in ein Rezitativ begleitet wird, ruft bei Aida einen schweren seelischen Konflikt hervor. Im abschließenden Allegro, an dessen Beginn Amonasro die letzte Reserve an apokalyptischen Bildern heraufbeschwört, droht er, die Tochter von sich zu stoßen, wenn sie seinem Wunsch nicht widerfährt. Mit dem Ruf »O patria! o patria, quanto mi costi!« entscheidet sie sich schließlich für die Erfüllung ihrer politischen Pflichten. Aus dem Umstand, dass sie die zweite Option des Mazzini’schen Topos’ – o della Famiglia – nicht einzulösen vermag, folgt in konsequenter Dramaturgie ihre Selbsttötung, zusammen mit ihrem Geliebten. Frauengestalten, deren Selbstmord einer Zeichensetzung dient, begegnen uns in der Geschichtsschreibung seit Titus Livius, der das Schicksal jener Lucretia überliefert, die vom Königssohn Sextus Tarquinius vergewaltigt worden war, diese Geschichte ihrem Mann erzählte und vor dessen Augen Selbstmord beging. Dabei erhebt sich die Frage, ob es sich nun bei deren Vergewaltigung und Gildas Verführung um einen prinzipiellen oder bloß graduellen Unterschied handelt. Vielleicht wäre noch zu erwähnen, dass Lucretia vor ihrem Selbstmord neben ihrem Mann auch ihren Vater zu sich rufen ließ.

1 Marcus Tullius Cicero: De officiis III/49 f. 2 ibid. III/85 3 Rudolf Ekstein: Daughters and Lovers. Reflections on the Life-Cycle of Daughter-Father Relationships. in: Martha Kirkpatrick (ed): Woman’s Sexual Development. New York and London 1980 4 etwa Rudolf Ekstein a.a.O., sowie Christine Adams-Tucker & Paul L. Adams: Role of the Father. in: Kirkpatrick a.a.O 5 »Du wirst die üppigen Wälder, die frischen Täler und unsere Tempel von Gold wiedersehen. Als Gattin dessen, den du liebst, wirst du dort große Freudenfeste feiern.« 6 »Zu all euren Werken, im Bereich des Vaterlandes oder der Familie, fragt euch selbst: Nützt oder schadet das, was ich als einer von allen für alle getan habe, der Menschheit?« Giuseppe Mazzini: I doveri dell’ uomo, Milano: 2010, S. 64

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Nach C. G. Jung gibt es Igor vierStrawinski Formen von Wahrnehmung und Bewußtheit: wie bei der graphischen Gestalt der Himmelsrichtungen steht das kognitive Denken als – gesellschaftlich hoch gelobte – Hauptfunktion an der Spitze; dem gegenüber steht das Fühlen als »minderwertig« ganz unten, seitlich umrahmt vom körperlichen Empfinden einerseits und der Intuition andererseits. Der psychisch gesunde Mensch wäre demnach einer, der diese vier Funktionen ausbalancieren kann – und so kommen die Hilfe Suchenden ja auch in Psychotherapie, wenn sie sich entweder aus ihren Gefühlen »nicht mehr heraus sehen« oder wenn sie auf Grund ihrer Gefühlskälte verlassen und isoliert sind. (Oder sie kommen wegen psychosomatischer Beschwerden bzw. überquellender Phantasietätigkeit.)

» Es tut mir leid: Aber ich behaupte, dass zum Beispiel in der Arie › La donna è mobile ‹ mehr Substanz und mehr wahre Erfindung steckt als in dem rhetorischen Redeschwall der › Tetralogie ‹. «

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KOLUMN EN T IT EL


Rainer Bischof

GEDANKEN ZU VERDI UND RIGOLETTO


Verdi gilt mit Wagner als der große Opernreformator des 19. Jahrhunderts und somit der modernen romantischen Oper. Bei der Beschäftigung mit Verdi stößt man auf ein Problem, nämlich, dass Verdi im theoretisch-wissenschaftlichen Bereich lange Zeit im Vergleich mit Wagner weniger intensiv behandelt wurde. Es gab eine zeitlang, vor allem in deutscher Sprache, wenig Bedeutendes zur Rezeptionsgeschichte Verdis. Dies mag vielerlei Gründe haben. Zum einen ist es die besonders in deutschen Landen immer wieder als simpel angesehene Kompositionsweise, vor allem in den Begleitungen, die musikalische Faktur und der vermeintliche Mangel an durchgeistigter Musikalität, repräsentiert in der Fuge. Die bekannte Aussage Richard Wagners über das Verdi-Orchester als »Gitarre-Begleitung« hat viel zur Missachtung Verdi’scher Musik beigetragen. Der Zeitgeist des Nationalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sein Übriges verbrochen. Verdi ist, um es rundum vielleicht ein bisschen simpel zu sagen, als der »Schlagerkomponist« der Oper angesehen worden, wobei ich glaube, dass dies in vielerlei Kreisen der intellektuell sich gebärdenden Musikwissenschaft bis heute der Fall ist. Man darf ja nie vergessen, dass Verdi-Melodien tatsächlich von den Leuten auf der Straße gepfiffen und gesungen wurden. Ein Beispiel: Einer der wichtigsten Webern-Schüler, Leopold Spinner, erwähnte in seiner Dissertation Das Rezitativ in der romantischen Oper bis Wagner, 1930, kein einziges Mal Verdi, und genau in diesem Punkt, nämlich der Behandlung und Entwicklung des Rezitativs, scheint mir Verdis musikdramaturgische Leistung als der große Opernreformator, absolut gleichwertig mit Wagner, zu liegen. Verdi gehört zu jenen Komponisten, welche eine unglaubliche Entwicklung an sich selbst durchgeführt haben und stetig von Werk zu Werk gewachsen sind, man hat geradezu den Eindruck, es gibt eine höhere Planung in der Entwicklung der Verdischen Opern zum Höhepunkt, gipfelnd in Aida, Otello und Falstaff. Diese unglaublich konsequente, ja geradezu logische Lebenslinie eines Komponisten hat wenig Vergleichbares. Beethoven wäre hier zu nennen, Schubert, Schumann, Brahms, Schönberg, Webern, Strawinski, Lutoslawski und für die Gegenwart besonders Penderecki. Bei Verdi nehmen in dieser Entwicklungslinie zwei Opern zentrale Momente seines Lebens als Komponist ein: Macbeth und Rigoletto. Beide Opern bilden aus nun zu entwickelnden Begründungen entscheidende Stationen in der Entwicklung zum großen, mittleren Verdi – Traviata, Troubadour, Maskenball, Forza, Simone, Don Carlo – um dann in die späte große Trias Aida, Otello, Falstaff – man müsste unbedingt das Requiem und die Quattro Pezzi Sacri dazunehmen – zu münden.

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I Verdi ging es in seinem ganzen Leben eigentlich nur um einen einzigen Grundgedanken, den seine Musik ausdrücken soll: den menschlichen Charakter in seiner unendlichen Vielfalt darzustellen und mit dem größtmöglichen Ausdruck auszustatten, keinesfalls in eine leere Unterhaltung abzugleiten, sondern die Kunst des Theaters im Shakespeare’schen Sinne als Sezierung der menschlichen Seele in Musik zu gießen. »Ich will die Kunst, in welcher Form sie auch immer erscheine, niemals aber Unterhaltung, Artistik und theoretische Spekulation« (Brief vom 7. Dezember 1869 an Camille Du Locle). Verdi wollte immer nur sein Publikum, zu dem er ein absolut gespaltenes Verhältnis hatte, erregen, emotionalisieren – einerseits schreibt er oft, dass er nicht Rücksicht nimmt, andererseits macht er an vielen Stellen Konzessionen, auch dem Publikum gegenüber. Die italienische Musiktradition, auf welcher Verdi aufbaut, fußt auf Palestrina, Bellini, Donizetti, Rossini, alle vier von ihm hochgeschätzt, wird von ihm weiterentwickelt, er wird somit in den Augen der Kritik und der zeitgenössischen Kompositionslehrer – er bezeichnet diese gerne als »Perücken« – zum »Vernichter« des Belcanto. »Man wirft mir vor, dass ich zu sehr das Spektakel liebe und den Gesang vernachlässige« (Brief vom 23. Mai 1844 an Salvatore Cammarano). Es kommt Verdi überhaupt nicht mehr, natürlich nur an gewissen Stellen in gewissen Situationen, auf die Schönheit einer Stimme oder des Gesangs an, sondern der Gesang hat sich dem Ausdruck der darzustellenden Situation oder der Verdeutlichung des inneren Seelenzustands der agierenden Person unterzuordnen. Das geht nicht nur über die Stimme, sondern auch über die Darstellung durch die Gestalt des Sängers, und er folgt damit konsequent Shakespeare, am deutlichsten und radikalsten drückt das Verdi in der folgenden Briefstelle aus: »Die Tadolini hat zu große Qualitäten für diese Partie! Sie werden das vielleicht für einen Widerspruch halten!! Die Tadolini hat eine gute, schöne Erscheinung, und ich möchte die Lady Macbeth ungestalt und hässlich haben. Die Tadolini singt vollendet, und ich möchte haben, dass die Lady überhaupt nicht singt… Ich möchte für die Lady eine rauhe, erstickte, hohe Stimme haben… Die Stimme der Lady soll etwas Teuflisches haben.« (Brief vom 23. November 1848 an Salvatore Cammarano). Um Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, dies betrifft natürlich nicht jede Opernfigur, vor allem nicht beispielsweise die Darstellung der liebenden Gilda in der Arie »Caro nome«. Hier muss das reine, liebende, ehrliche Lieben der Seele ausgedrückt werden, und dies verlangt Schönheit. Der Weg von Macbeth zu Rigoletto ist ein ungeheuer konsequenter, und zwar in jeder Hinsicht. Beide Opern werden zu den Lieblingsstücken Verdis, er ist sich seiner revolutionären Leistungen in beiden Werken absolut bewusst. »Ich weiß, dass Sie Macbeth proben, und da das eine Oper ist, für die R A IN ER BISCHOF

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ich mich mehr interessiere als für die übrigen, erlauben Sie mir wohl, dass ich darüber ein paar Worte sage« (Brief vom 23. November 1848 an Salvatore Cammarano). »Nun, hier sende ich Ihnen jetzt den Macbeth, den ich lieber habe als meine anderen Opern« (Brief vom 25. März 1847 an Antonio Barezzi). »Vor zehn Jahren hätte ich zum Beispiel nicht gewagt, den Rigoletto zu schreiben… Die Dichtung Tassos ist vielleicht besser, aber für meine Person ziehe ich Ariost tausendmal vor. Aus dem selben Grund stelle ich Shakespeare an die Spitze aller Dramatiker, einschließlich der Griechen. Mir scheint, dass, was Bühnenwirkung anlangt, das beste Buch, das ich bis jetzt in Musik gesetzt habe (dabei sehe ich von dem literarischen und poetischen Wert völlig ab), Rigoletto ist. Es bietet gewaltige Situationen, Mannigfaltigkeit, Feuer, Humor: Alle Verwicklungen entspringen dem leichtfertigen, zügellosen Charakter des Herzogs; so die Befürchtungen Rigolettos, die Leidenschaft Gildas etc., die zahlreiche, höchst dramatische Momente ergeben, darunter das Quartett – das, was Wirkung betrifft, stets zu dem besten gehören wird, worauf unser Theater stolz sein kann« (Brief vom 22. April 1853 an Antonio Somma).

II In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts taucht in der Kunst ein Begriff auf, der für die gesamte Literaturgeschichte von entscheidender Bedeutung sein wird, und zwar sowohl im Drama als auch in der Prosa: der »innere Monolog«. Den inneren Monolog gab es in der Lyrik schon immer, er wurde aber in seiner Entwicklung James Joyce als Gründer zugeschrieben, von ihm selbst aber als Erfindung von Edouard Dujardin in seinem Roman Geschnittener Lorbeer bezeichnet. Auch Arthur Schnitzler wird in der Literaturwissenschaft oft als Begründer des inneren Monologs angesehen. Tatsache ist, dass bei Joyce und in dessen Nachfolge – Italo Svevo, Robert Musil, Hermann Broch etc. – der innere Monolog die bedeutendste Rolle als literarischer Kunstgriff einnimmt. Was ist der innere Monolog? Eigentlich nichts anderes als die Darstellung seelischer Zustände eines Menschen in der Zwiesprache mit sich selbst, in Selbstreflexion, um so eine Situation der menschlichen Seele – des »Weiten Landes« (Schnitzler) – zu beschreiben. Auf die Musik übertragen, wird dieser Begriff bei Verdi und Wagner zur großen Reform der Oper in der neuen Erzählform des Rezitativs. In der Oper wesentlich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, wird die Umgestaltung des Rezitativs zum zentralen Moment in der Entwicklung des dramaturgischen Aufbaus einer Oper. Es kann nicht von ungefähr sein, dass dies bei Wagner und Verdi zur gleichen Zeit, in der Geistesgeschichte spielen acht Jahre keine Rolle, erfolgt. Die Behandlung des Rezitativs bei Verdi ist im Rigoletto in einzigartiger Weise gelöst. Man müsste einen neuen Begriff 73

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für das Rezitativ bei Verdi finden, weil die traditionelle Unterscheidung in secco- und accompagnato-Rezitativ bei Verdi nicht mehr stimmt. Wagner hat interessanterweise einen neuen Begriff dafür eingeführt: den Monolog. In seinem Holländer-Monolog »Die Frist ist um« verbindet Wagner den ariosen mit dem rezitativischen Charakter durch den inneren Monolog. Dasselbe mit anderen Mitteln macht Verdi und wird somit mit Wagner in diesem Sinne der Entwicklung der Oper ein Revolutionär des Rezitativs. Ich gehe in meiner Argumentation noch weiter: Verdi denkt eigentlich ganz konsequent in rezitativischer Form und versucht dann durch ariose Teile den inneren Seelenzustand der jeweiligen Figur herauszuarbeiten. »Hindert Sie etwa das Versmaß und die Reime daran? Sollte dies der Fall sein, machen Sie ein Rezitativ daraus. Ich ziehe mittelmäßigen Strophen ein gutes Rezitativ vor« (Brief vom 6. November 1857 an Antonio Somma). Verdi ist sich also bewusst, welche Bedeutung die Darstellungsform Rezitativ hat. Man muss nur neue Zugänge zum Rezitativ finden. Das berühmte Quartett im 3. Akt, Gilda-Maddalena-Duca-Rigoletto gilt in der Entwicklungsgeschichte der Oper als Meilenstein in der Besonderheit der Charakterisierung menschlicher Seelenzustände. Dies musikalisch ausgedrückt zu haben, in dieser differenzierten Form wie hier, ist eben jene dramaturgisch musikalische Leistung, die Verdi dann in späterer Folge in seinen großen Ensemble-Szenen in Troubadour, Don Carlo, Maskenball, Aida, Otello, Falstaff zu größter Meisterschaft bringt. Das Quartett 3. Akt Rigoletto enthält aber sowohl in der Rolle des Duca, aber vor allem in der Rolle der Maddalena, rein rezitativische Momente in Sechzehntelnoten. Auch hier, trotz des unleugbar ariosen Charakters, herrscht ein Einfluss des Rezitativs vor. Victor Hugo äußerte sich »eifersüchtig« auf gerade dieses Quartett und begründete diese seine »Eifersucht«, dass dies am Theater nicht möglich wäre, nämlich zur gleichen Zeit vier Charaktere sprechen zu lassen. Das ist eine Besonderheit der Musik, welche nur und ausschließlich die Musik in der Oper imstande ist auszudrücken. Verdi schafft in der Darstellung, in der Aussage, in der Charakterisierung menschlichen Denkens durch den inneren Monolog eine vollkommen neue Ausdrucksebene, die er aber traditionell rezitativisch denkt. Man sieht es am deutlichsten in der Partitur des Rigoletto, wenn er in traditioneller Weise manchmal nur akkordisch begleiten lässt oder in großen Notenwerten mit wenig bis kaum Bewegung, meist mit wenig Instrumentarium, um dann in ein traditionelles Rezitativ, mit Tremoli unterlegt, ariose Momente einzuführen, und immer wieder von rein rezitativischen Elementen unterbrechen lässt. Die Begleitung ist nicht mehr nur Begleitung, das sieht man am Notenbild, und wird ohne Unterbrechung in ariose Teile geführt, und auch das sieht man am Notenbild, dass hier ein neuer musikalischer Gedanke vorherrscht. Die rezitativisch gedachte ariose Form führt nahtlos in das Terzett Gilda-Maddalena-Sparafucile (3. Akt) hier, in diesem Terzett, R A IN ER BISCHOF

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wird das Rezitativische mit dem Ariosen ohne Angabe, wo das Rezitativ beginnt und wo es endet, miteinander verbunden. Es gehört zum dramaturgischen Aufbau, dass dieses Terzett nahtlos in den Sturm übergeht.

III Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist weiters ästhetisch in ganz Europa von einem Grundgedanken bestimmt: der Übereinstimmung der menschlichen Seele mit der Natur. Das Naturgeschehen wird auf die menschliche Seele in besonderer Weise übertragen, am deutlichsten in der österreichischen Literatur bei Adalbert Stifter durch sein »sanftes Gesetz«. Es gehört zum Interessantesten, dass diesen Kunstgriff in der Musik, nämlich einen Sturm darzustellen, sowohl Wagner als auch Verdi quasi zu einer unglaublichen Höhe erheben. Im Rigoletto mündet das Terzett in den Sturm. Es ist aber nicht nur der Sturm in der Natur, es ist der Sturm in den Seelen der inneren Vorstellung der Protagonisten. Im Rigoletto wird die Grundlage zum Beginn des Otello gelegt, in welchem der Sturm eine expressive Impression ausdrückt und dadurch die Seelenzustände der Menschen in Naturparallele beschreibt. Wagner macht dies am Beginn der Walküre in gleicher Weise und zeigt somit rein musikalisch durch den Sturm die Verkettung der Seelen. Die musikalisch-dramaturgische Darstellung der Seelenzustände der Verdi’schen Figuren ist das zentrale Thema des Verdi’schen musikalischen Denkens. »Sie müssen wissen, dass mein Blick manchmal scharf genug ist, in den Herzen der Menschen zu lesen« (Brief vom August 1856 an Ercolano Balestra). Oft kann Verdi seine Textdichter und Librettisten nicht genug insistierend auffordern: »…Zeichnen Sie mir diesen Charakter nur scharf, entwickeln Sie ihn so recht mit Wohlbehagen, und fürchten Sie nicht, daß es zu lang werden könnte« (Brief vom 8. Jänner 1855 an Antonio Somma). Die berühmte Gilda-Arie »Caro nome« aus dem 1. Akt ist ein wunderbares Beispiel für die musikalische Ausdeutung eines Seelenzustandes mit Vorschlägen und Trillern, welche stimmlich das Erzittern der Seele verdeutlichen. Die Grundanlage dieser Arie wird nur von kleinen Sechzehntelrepetitionen in zwei Violinsoli unterstrichen, der Rest – das zeigt auch das Notenbild – ist wieder rezitativisch, die Stimme hingegen quasi koloraturmäßig geführt. Aber hier ist die Koloratur absolut im dienenden Ausdruck der seelischen Situation der Sängerin. In diesem Zusammenhang behaupte ich, dass ohne diese Gilda-Arie Verdi beispielsweise die große Philipp-Arie aus dem Don Carlo »Ella giammai m’amo« nicht hätte schreiben können.

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IV Im Rigoletto gibt es an verschiedenen Stellen Tonmalereien, welche eine neue musikalische Sprache andeuten, so zum Beispiel nach dem MonteroneAuftritt im 1. Akt auf Rigolettos »Chi’o gli parli«. Hier erfolgt in den tiefen Streichern eine Darstellung der Schlange, die später die Bezeichnung Monterones für Rigoletto – »e tu serpente« »und Du, Schlange« – in den Fluch »Sii maledetto« überleitet. An dieser Stelle zeigt sich auch, so wie im Sturm, eine bislang bei Verdi nicht existierende neue Form der Instrumentation. Auch die Anweisung für den Chor am Beginn des Terzetts »vocalizzando a bocca chiusa«, also mit geschlossenem Mund, wortlos, Akkorde zu singen, ist ein Instrumentationseffekt, die Stimme wird rein zum wortlosen Instrument des Ausdrucks. In diesen Aspekten der Instrumentalbehandlung ist der Rigoletto ein Meilenstein in der Entwicklung. Das beginnt schon beim Anfang der Oper, es gibt keine Ouverture, sondern nur ein kurzes Preludio, welches wohl eine Variation des Fluch-Motivs ist, aber eigentlich nur eine Impression der Expressivität des ganzen Stückes. Diese 35 Takte vermitteln die Tragik, die Dramatik und die Entsetzlichkeit des Geschehens in diesem Drama. Sie nehmen das Hässliche dieser Oper vorweg, man könnte meinen, sogar die Reaktion des Publikums. »Alles schrie auf, als ich einen Buckligen auf die Bühne brachte. Nun, und ich war glücklich, den Rigoletto zu komponieren, und ebenso war es bei Macbeth« (Brief vom 1. Jänner 1853 an Cesare de Sanctis). Mit dem Rigoletto beschritt Verdi Neuland in der Oper. Die Menschheitsgeschichte ist dadurch reicher geworden.

→ Erin Morley als Gilda

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Oliver Láng

RIGOLETTO AN DER WIENER OPER

In den Statistiken der meistaufgeführten Opern weltweit hat Rigoletto einen Stammplatz unter den ersten zehn. Nicht anders an der Wiener Staatsoper, an der dieses Werk seit seiner Erstaufführung rund 700mal gegeben wurde, und das nicht nur in regulären Produktionen des Hauses, sondern auch in Gastspielen, der sogenannten »Italienischen Stagione«. OLI V ER LÁ NG

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Zwei Jahre nach der Eröffnung des Gebäudes der heutigen Wiener Staatsoper erschien Rigoletto erstmals am Spielplan, und zwar am 11. Februar 1871. Neben dem bekannten Ensemble des Hauses sang ein Gast, Mathilde Sessi: die Gilda. Mit einem durchwachsenen Erfolg: »Das künstlerische Naturell des Gastes hat eben gar nichts Zündendes an sich«, schrieb die Wiener Sonnund Montagszeitung, »den Schlusstriller im zweiten Acte hätte Frl. Sessi lieber kürzer als länger, dafür aber besser machen sollen.« Doch immerhin ist von einem »anständigen Niveau« die Rede. In der Neuen Freien Presse las man wiederum, dass von den Sängern »Herr Johann Nepomuk Beck zumeist ausgezeichnet wurde, dessen Rigoletto bekanntlich eine effectvolle, auch dramatisch sehr bedeutende Leistung ist«. Weiters zu hören war Gustav Walter als Herzog. Am Pult stand Felix Dessoff, die Ausstattung (Bühne: Theodor Jachimowitz) wurde aus dem alten Operntheater übernommen. Neu war jedenfalls ein eingeschobenes Ballett im ersten Akt, das bei den Rezensenten nicht nur auf Zustimmung stieß. »… dass man es nöthig hielt, die schmale Taille des ersten Actes durch ein umfangreiches Ballett zu verstärken und die Zwischenacte ins Unermessliche auszudehnen. Warum gibt man denn nicht lieber ein eigenes Ballett nach dieser Oper?«, fragte »Florestan«, der Kritiker der genannten Sonn- und Montagszeitung. 1880 kam ein neuer Rigoletto heraus, und Wien durfte sich über eine neue Gilda freuen: Bianca Bianchi, gebürtige Bertha Schwarz aus Heidelberg, eine der führenden Koloratursopranistinnen ihrer Zeit und als solche Widmungsträgerin des Frühlingsstimmenwalzers von Johann Strauß. Überschlagend so manche Rezension: »Ihr Gesang war von echt musikalischer Empfindung durchwärmt und fand auch stets die entsprechenden Accente für den Ausdruck des gesteigerten Affects«, stand etwa in der Presse. Weniger hingerissen zeigte sich der Kritiker der Wiener Zeitung vom neuen Darsteller der Titelpartie, Louis von Bignio. »Herr von Bignio ist kein Rigoletto. Wir vergeben ihm, denn es ist nicht seine Schuld. Aber kein Sänger darf falsch singen und von dem Orchester minutenlang ganz getrennte Wege gehen wie gestern Herr von Bignio. Dazu kam, dass Herr Capellmeister Johann Nepomuk Fuchs den herumirrendenden Sänger ganz rathlos anstarrte!« Ebenso bissig wurde die Regie in dieser Zeitung beschrieben: »Die Inszenierung bot gestern ein Unicum. Ball bei dem Herzog. Die Tänzerpaare drängen sich bis an die Rampe. Der Herzog mit einem Vertrauten tritt auf. Der Tanz ist beendet. Der Herzog vertraut laut und vernehmlich in einer Arie dem Begleiter: dass er alle Frauen treulos verlasse, und alle Damen, welche den Tanz beendet, stehen ruhig, knapp hinter dem Herzog und hören dem Bekenntnisse der schönen Seele zu! Wahrscheinlich glaubte der Arrangeur die Damen vor Verrath zu bewahren, wenn er sie über den Wankelmuth des Herzogs in nächster Nähe unterrichten ließ!« Diese Produktion im Bühnenbild Anton Brioschis wurde über 180mal gespielt, zuletzt am 3. März 1944. 79

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Als Einschub zwei historische Details: Nicht nur bei der Uraufführung am Teatro La Fenice in Venedig, sondern auch in Wien war die Oper immer wieder ein Kombinationsstück, also ein Werk, das man zusammen mit einem anderen aufführte. War es bei der Uraufführung im Jahr 1851 ein Faust-Ballett, so führte Gustav Mahler als Direktor der Wiener Hofoper dieses Stück teils ebenfalls mit einer Reihe unterschiedlicher Ballette auf, wie etwa Die Perle von Iberien oder Wiener Walzer. Richard Strauss wiederum entwarf in späteren Jahren ein Konzept einer Neuordnung der musikalischen Theater Wiens, das er als »künstlerisches Vermächtnis« in einem Brief an Karl Böhm niederlegte. Seine Überlegungen gingen von einer Wiener Staatsoper als positiv verstandenes »Museum« aus, also als einen Ort, an dem das Beste und Bewährteste gegeben wird. In diesem Museum sollten im Idealfall acht Strauss-Opern »ausgestellt« werden, das Wagner’sche Musiktheater von Rienzi bis Götterdämmerung, aber nur drei Opern Verdis (Aida, Simon Boccanegra, Falstaff). Für ein zweites, kleineres Haus (das Theater an der Wien) dachte er an einen »dem Bildungs- wie bessern Unterhaltungsbedürfnis gleich gerechten Spielplan«. Hier gönnte er dem Wiener Publikum unter anderem den Rigoletto. In der Praxis war es freilich anders: Strauss als Direktor der Wiener Staatsoper spielte aus dem Werkregister Verdis Aida, Un ballo in maschera, Trovatore, Traviata und Otello sowie den Rigoletto; diesen mehr als 30mal in den Jahren seiner Leitung, also von 1919 bis 1924. Und anders als unter Mahler: alleinstehend, also nicht in Kombination mit einem anderen Werk. Zurück zur spezifischen Rigoletto-Aufführungspraxis im Haus am Ring: 1946 kam wieder eine Neuproduktion heraus – im Ausweichquartier der Wiener Staatsoper, dem Theater an der Wien, da das Haus am Ring zerstört war. »Wenn man von einigen kleinen Unzulänglichkeiten absieht, ist auch diese Neueinstudierung als großer Opernabend zu werten«, las man im Neuen Österreich. »Der Gesamteindruck war ein ausgezeichneter, und das ist in erster Linie Rudolf Moralt zu danken, der das Orchester zu voller Leistungsfähigkeit führte.… Von den Sängern sei vor allem der stimmlich wie schauspielerisch blendende Herzog Dermotas genannt.« Positives stand im Wiener Kurier über das Bühnenbild (Gottfried Neumann-Spallart): »Der Saal des ersten Aktes schloss sich originell an Theaterprospekte der Renaissance, die lastende Atmosphäre des zweiten Aktes kam, abgesehen von der großzügigen Schönheit des Bildes, unübertrefflich zur Geltung und trug, wie auch das Mantegna-Zimmer des dritten, das Stimmungsbild des vierten Aktes entscheidend zum Erfolg bei.« In dieser Produktion, die von Josef Witt inszeniert wurde, sang Georg Oeggl die Titelpartie, Emmy Loose war die Gilda. Zwölf Jahre später (Premiere: 3. Mai 1958) inszenierte Mario Frigerio das Werk neu und implementierte so wieder eine Rigoletto-Produktion im Haus am Ring. Es sangen bei der Premiere Gianni Raimondi (Herzog), Aldo Protti (Rigoletto) und Renata Scotto (Gilda), die mit diesem Abend ihr Hausdebüt OLI V ER LÁ NG

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an der Wiener Staatsoper gab. Die Presse schrieb: »Sehr hübsch sind die Bühnenbilder, deren Entwürfe von Nicola Benois stammen und dartun, dass sich auch in der hergebrachten Dekorationsform Individuelles ausdrücken lässt. Leider sieht man den Dekorationen nur allzu deutlich an, dass sie aufs billigste und eiligste hergestellt wurden.« Und in der Wiener Zeitung stand: »Wirklich fesselnd war der erlebt gespielte Rigoletto Aldo Prottis, dessen mächtiger Bariton, ein im Klang etwas hartes, aber mit großem Können, und vor allem mit stärkstem dramatischem Temperament eingesetztes Organ, das Publikum ehrlich begeistert hat.« Bereits vier Jahre später war wieder ein Bühnenraum von Nicola Benois zu sehen, diesmal inszenierte Ernst Poettgen. »Für die Qualität des musikalischen Teils der Vorstellung bürgte eine Dirigentenautorität vom Range Tullio Serafins, der schon beim Betreten des Orchestergrabens mit Sympathiebeweisen überschüttet wurde. Klarheit und Präzision sowie eine niemals das Vokale übertönende Orchesterbegleitung charakterisieren die Partiturdeutung des Maestro«, stand in der Presse. Dann aber doch auch: »An manchen Stellen wünschte man sich eine flexiblere Führung, welche den Sängern die Entfaltung stärkerer Effekte ermöglicht hätte.« Und zur Inszenierung merkte der Rezensent des Neuen Österreich an: »Poettgen vermied illusionistische, poetische und stilisierende Effekte. Die Chor-Gesellschaft agiert lebhaft. Nur partiell konnte Poettgen sein Konzept auf die Solisten ausdehnen, da die wichtigsten erst kurz vor der Premiere verfügbar waren. Wie das im Opernleben halt so ist. Man darf sich also nicht wundern, wenn die Partner (vielleicht auch aus Rampensucht) gelegentlich aneinander vorbeisingen.« Zu hören waren bei dieser Premiere unter anderem Giuseppe Zampieri (Herzog), Aldo Protti (Rigoletto) und Ruth-Margaret Pütz (Gilda). 21 Jahre später waren es u.a. Franco Bonisolli (Herzog), Renato Bruson (Rigoletto) und Edita Gruberova (Gilda), die unter der musikalischen Leitung von Riccardo Muti die bislang vorletzte Rigoletto-Premiere an der Staatsoper bestritten. Bissige Kommentare standen in den Zeitungen praktisch über die gesamte Besetzung. Wie auch zur Inszenierung (von Sandro Sequi): »Ein paar Details spielen sich im jeweiligen Zweitraum oder Hintergrund ab und sind unerheblich« (Die Presse); »zu sehen ist bloß oberflächlich arrangiertes Stehtheater« (Kurier). Und so kommt der Rezensent des Kurier zu seinem Fazit: »Nach Verdis ursprünglichem Willen hätte Rigoletto einfach »Der Fluch« heißen sollen. Dieser Titel könnte ebensogut Motto dieser Premiere gewesen sein. Der Fluch trifft sie alle.« Nach 30 Jahren Spielzeit und über 100 Vorstellungen dieser Inszenierung kam am 20. Dezember 2014 eine Neuproduktion dieser Oper heraus: MyungWhun Chung dirigierte, der Hausdebütant Pierre Audi führte Regie, in der Premierenserie waren unter anderem Simon Keenlyside (Rigoletto), Piotr Beczała (Herzog), Erin Morley (Gilda), Elena Maximova (Maddalena) und Ryan Speedo Green (Sparafucile) zu hören. 81

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KATTUS GRANDE CUVÉE Offizieller Sekt der Wiener Staatsoper

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Impressum Giuseppe Verdi RIGOLETTO Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 20. Dezember 2014) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Anton Badinger Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Alle Texte wurden aus dem Rigoletto-Programmheft der Wiener Staatsoper der Premiere (2014) übernommen. Englische Übersetzung des Inhalts von Andrew Smith. Der Text Über dieses Programmheft stammt von Andreas Láng. Die Inhaltsangabe stammt von Bettina Auer. Alle Texte des Programmhefts aus 2014 – bis auf jene von Verdi, Hofmannsthal, Kierkegaard, Bachmann, Machiavelli, Klabund und Hugo – waren Originalbeiträge. BILDNACHWEISE Coverbild: Volker Hermes Hidden Wedgwood Bentley Photocollage 2019 basierend auf der Büste von J. van Oldenbarnevelt, Rijksmuseum, Amsterdam Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.


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