ANDREA CHÉNIER Umberto Giordano
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Vom Blute gerötet → Ernst Krause
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Der Lyriker André Chénier und die Revolution → Hans Heinz Hahnl
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Die Musik von Andrea Chénier → Maurizio Giani
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Paradigma des historischen Verismo → Hans-Joachim Wagner
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Das elende Vergnügen, andere schlechter zu finden als sich selbst → Rotraud A. Perner
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Wie beendet man eine Revolution → Erwin Ringel
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Freiheit und Luxus → Philipp Blom
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Gustav Mahler und Andrea Chénier → Angela Pachovsky
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Mit Herzblut komponiert → Umberto Giordano im Gespräch
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Vom Publikum geliebt → Oliver Láng
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Da spricht der Poet, nicht der Mensch → KS Jonas Kaufmann im Gespräch
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Io della Redentrice figlio, pel primo ho udito il grido suo pel mondo ed ho al suo il mio grido unito... Or smarrita ho la fede nel sognato destino? Ich, Sohn der Revolution, hörte ihren Ruf als erster durch die Welt hallen und vereinte meinen Ruf mit dem ihren... Habe ich meinen Glauben an das erträumte Schicksal verloren? Carlo Gérard, 3. Bild
ANDREA CHÉNIER → Dramma di ambiente storico in vier Bildern Musik Umberto Giordano Text Luigi Illica
Orchesterbesetzung 2 Flöten, Piccoloflöte (auch 3. Flöte), 2 Oboen (2. auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotti, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Bassposaune, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Rührtrommeln Spieldauer 3 Stunden (inklusive 2 Pausen) Autograph Verbleib unbekannt Uraufführung 28. März 1896, Teatro alla Scala, Mailand Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 28. Jänner 1926
DIE HANDLUNG
1. Bild Während der letzten Tage des Ancien Régime wird im Schloss der Gräfin von Coigny in Paris zu einer festlichen Soirée gerüstet. Der Kammerdiener Carlo Gérard, Sohn des alten Schlossgärtners, lässt seinem Hass gegen die aristokratische Gesellschaft und deren oberflächliche Welt freien Lauf. Die Gräfin von Coigny erscheint mit ihrer Tochter Maddalena, zu der Gérard in aussichtsloser Liebe entbrannt ist, und mit Bersi, der Vertrauten und Kammerzofe. Die Gräfin tadelt ihre Tochter, da diese sich noch nicht zum Fest gekleidet hat. In ihrer Unterhaltung mit Bersi aber erläutert Maddalena, wie lästig sie die heutige Mode findet, samt dem törichten Gehaben der Aristokratie. Die Gäste stellen sich ein. Das Fest beginnt – eine Unterhaltung im Stile des Rokoko, bei der Pietro Fléville, ein eitler Romancier, und der Abbate das große Wort führen. Die Gespräche drehen sich um die Revolution, die bevorstehen soll. Doch niemand nimmt die Sache ernst. Von Fléville eingeführt, wird der junge Dichter Andrea Chénier vorgestellt. Die Gräfin fordert ihn zum Vortrag aus seinen Gedichten auf. Doch Chénier lehnt ab. Da wettet Maddalena mit ihren Freundinnen, dass es ihr gelingen werde, Andrea umzustimmen. Sie provoziert ihn, indem sie von ihm erwartet, dass er die Liebe besinge. Doch als Reaktion darauf preist Chénier in einer scharfen, politischen Anklage das Vaterland und die neuen Prinzipien von Freiheit und Humanität. Der Skandal ist da, die Gesellschaft empört. Chénier findet nur bei Maddalena und Gérard Zustimmung. Angefeuert von Andreas mutigem Lied, führt Gérard eine Schar hungernder Bauern, die ihr Schicksal beklagen, in den Salon. Von der Gräfin zur Rechenschaft gezogen, lässt er sich dazu hinreißen, sie mit Revolutionsparolen zu schockieren. Er schlägt sich auf die Seite der Unterdrückten und wird von der Gräfin, der er den Vorwurf macht, auf Kosten der Armen Feste zu feiern, entlassen. Doch das Fest ← geht weiter… Vorherige Seiten: Szenenbild
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2. Bild Die Revolution ist zur Schreckensherrschaft Robespierres ausgeartet. Die Menschen zittern vor dem Revolutionstribunal, vor den Todesurteilen und der Guillotine. Gérard ist zum Deputierten der Kammer aufgestiegen. Andrea, der zuvor die Ideale der Revolution gepriesen hat, wird jetzt konterrevolutionärer Umtriebe verdächtigt und von der Polizei bespitzelt. Maddalena hat bei Bersi Unterschlupf gefunden. Auch sie gehört zu den Verfolgten. Gérard aber liebt Maddalena immer noch. Vor dem Café Hottot in der Nähe der Seine versucht ein Incroyable, der als Spitzel die verschollene Maddalena sucht, Bersi zu provozieren. Sie ist zum Straßenmädchen geworden, um ihre frühere Herrin ernähren zu können. Halb ernst, halb zynisch gibt Bersi vor, eine echte Tochter der Revolution zu sein und sich in diesem Milieu wohlzufühlen. Der lncroyable aber schöpft Verdacht, als er bemerkt, dass Bersi und Chénier Blicke tauschen. Zu Chénier gesellt sich sein Freund Roucher und gibt ihm den Rat, möglichst rasch aus der Hauptstadt zu fliehen, da er bereits auf der Liste des öffentlichen Anklägers steht. Aber durch geistvolle, anonyme Briefe einer mysteriösen Dame, die erstmals das Gefühl echter Liebe in ihm erwecken, verwirrt, lehnt Andrea ab. Roucher versucht ihn davon zu überzeugen, dass die Briefe nur von einer Merveilleuse, einer der Straßendirnen dieser Zeit, stammen können, und steckt ihm einen Pass zu. Chénier jedoch will erst die Schreiberin der Briefe ausfindig machen. Auch bittet ihn Bersi, auf eine Dame zu warten, die in größter Gefahr sei. Der Incroyable, auch von Gérard beauftragt, Maddalena zu suchen, kombiniert den Zusammenhang: Chénier – als Konterrevolutionär verdächtig – nimmt von Bersi, der jetzt zum Straßenmädchen heruntergekommenen Vertrauten Maddalenas – einer Adeligen also – Botschaften entgegen. Also konspirieren Andrea und Maddalena. In der Dame, die Bersi angekündigt hat, erkennt Andrea Maddalena, die sich auch als die geheimnisvolle Briefeschreiberin zu erkennen gibt. Sie berichtet, dass Bersi sie verborgen hält, man ihr aber doch auf die Spur gekommen sei. Nun suche sie Schutz bei Andrea, obwohl sie weiß, dass auch er in Gefahr schwebe. Beide gestehen einander ihre Liebe. Sie schwören Treue bis in den Tod und beschließen die Flucht. Da erscheint Gérard, herbeigerufen vom Incroyable, der die beiden verraten hat. Roucher entflieht mit Maddalena. Chénier zieht seinen im Stock verborgenen Degen und verwundet Gérard. Der Incroyable will die Flüchtenden verfolgen, doch bedroht ihn Roucher mit der Pistole. Gérard ist verwundet, hat aber trotzdem seine frühere Sympathie zu Andrea nicht ganz vergessen und vor allem nicht seine unglückliche Liebe zu Maddalena. Er verhilft ihm zur Flucht. Chéniers Namen aber führt der öffentliche Ankläger Fouquier-Tinville bereits in seinen Listen. 5
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3. Bild Im Wohlfahrtsausschuss hetzt Mathieu das Volk gegen die Feinde der Revolution auf, denn das Vaterland ist in Gefahr. Gérard, von seiner Verwundung genesen, fordert in einer flammenden Rede zum Notopfer auf: Ganz Europa steht gegen die Franzosen. Die Frauen opfern ihren Schmuck, die Väter ihren Lohn, die Mütter ihre Söhne. Die alte, blinde Madelon wird von ihrem Enkel hereingeführt. Ihr Sohn Roger, so berichtet sie, fiel beim Sturm auf die Bastille, dessen ältester Sohn liegt bei Valmy begraben, den Buben, der sie führt, gibt sie jetzt hin für das Vaterland. Während die ausgelassene Menge die Carmagnole tanzt, meldet der Incroyable Gérard die Verhaftung Chéniers bei einem Freund. Um Maddalena, so meint er, brauche man sich jetzt keine Gedanken zu machen. Sie werde sich bald von selbst einfinden in der Hoffnung, ihren Geliebten zu retten. Von Gérard fordert er die Formulierung der Klage, da FouquierTinville darauf wartet. Da Gérard noch zögert, drängt ihn der Incroyable zur Unterschrift. Verzweifelt erkennt Gérard, dass die Ideale der Revolution, für die er gekämpft hat, die edle Absicht, den Armen und Unterdrückten zu helfen, sich umgekehrt hat in Gemeinheit, Lüge und Hass. Gewissensbisse tauchen in ihm auf, zumal er selbst – geplagt durch seine unglückliche Liebe – zum Verräter und Verleumder wurde. Wie der Incroyable vorausgesagt hat, erscheint Maddalena. Gérard bekennt, wie sehr er sie liebt, seit der Zeit schon, da sie als Kinder gemeinsam im Garten des Schlosses spielten. Aber die Aussichtslosigkeit, sie erobern zu können, machte ihn zum Verräter an Chénier. Sein erneutes Drängen wehrt sie ab. Lieber wünscht sie sich den Tod. Dann aber – in verzweifelter Erinnerung an die Mutter, die man ermordet hat, an das in Schutt und Asche gelegte Schloss, an Bersi, die sich für sie verkauft, bietet sie Gérard selbst ihren Körper an in der Absicht, Andrea zu retten. Davon ist Gérard tief gerührt. Er erklärt sich zum Versuch bereit, Chénier zu retten. Das Volk genießt das Schauspiel eines Schnellgerichts gegen angebliche Verräter der Revolution. Sie werden alle hingerichtet, ohne sich verteidigen zu können. Nur Chénier erhält die Möglichkeit zu einem letzten Wort und er verteidigt sich mannhaft. Gérard bekennt seinen Verrat an ihm und will die Klage zurückziehen. Doch die Menge fordert seinen Tod. Andrea Chénier wird zum Tod durch die Guillotine verurteilt.
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4. Bild Im Hof des Gefängnisses von St. Lazare, vor der Revolution Kloster des Heiligen Vinzenz von Paul, schreibt Chénier sein letztes Gedicht nieder. Seinem Freund Roucher, Gefangener wie er, trägt er das Lied vor – ein Hymnus auf die Poesie, in deren Armen er sterben wird. Hereingeführt vom Schließer, betreten Maddalena und Gérard das Gefängnis. Gérard hat Maddalena die Erlaubnis zur letzten Unterredung mit Andrea verschafft. Gegen Schmuck und Geld erreicht sie bei dem Schließer, mit Idia Legray, einer zum Tod verurteilten Gefangenen, ausgetauscht zu werden, um an Chéniers Seite zu sterben. Gérard, dessen tragische Liebe ihn zum Einverständnis zu dieser verhängnisvollen Lösung bewog, wagt jetzt noch einmal einen Rettungsversuch – den letzten: Robespierre muss helfen! Maddalena und Chénier treffen einander zum letzten Gespräch. Es ist kein Abschiednehmen, denn beide sterben in der Gewissheit, nach dem Tod in einem neuen Leben auf immer vereint zu sein. Der Schließer ruft die beiden Namen auf: Andrea Chénier und Idia Legray. Gérards letzter Rettungsversuch war vergebens.
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SYNOPSIS
Scene 1 The palace of the Comtesse de Coigny is being prepared for a sumptuous soirée during the final days of the Ancien Régime. Carlo Gérard, valet de chambre and son of the elderly gardener, vociferously expresses his hatred of aristocratic society and its superficial world. The Comtesse de Coigny appears with her daughter Maddalena, with whom Gérard is hopelessly in love. They are accompanied by Bersi, confidante and maid. The comtesse reproaches her daughter, who has not yet dressed for the party. In conversation with Bersi, Maddalena discloses how tiresome she finds modern fashion and the foolish behavior of the aristocracy. The guests start to arrive, and the celebration commences. There is an entertainment in rococo style in which Pietro Fléville, a vainglorious novelist, and the Abbé monopolize the conversation. Talk centres on the revolution which is allegedly imminent. However, nobody takes the matter very seriously. The young poet Andrea Chénier, a guest of Fléville’s, is introduced. The comtesse asks him to recite some of his poetry, but Chénier declines to do so. Maddalena makes a bet with her friends that she will be able to make Andrea change his mind. She provokes him by expecting him to sing the praises of love. However, Andrea’s reaction to this challenge is to extol his fatherland and the new principles of freedom and humanity in a harsh political accusation. Chénier has caused a scandal, and the company is outraged. Only Maddalena and Gérard agree with Chénier. Inspired by Andrea’s courageous sang, Gérard leads a crowd of starving peasants into the salon. The peasants lament their fate. When the comtesse takes him to task, Gérard gets quite carried away and shocks her with slogans of the revolution. He accuses the comtesse of holding her celebrations at the expense of the poor and declares himself on the side of the oppressed. The comtesse dismisses Gérard on the spot. However, the party continues.
SY NOPSIS
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Scene 2 The Revolution has degenerated into Robespierre’s reign of terror. People live in fear of the Revolutionary Tribunal, the death sentence, and the guillotine. Gérard has been promoted to the Chamber of Deputies. Andrea, though he had previously extolled the ideals of the revolution, is now suspected of counter-revolutionary activities and is being watched by the police. Maddalena has taken refuge with Bersi, and she, too, is being persecuted. Gérard is still consumed by his unhappy love for her. In front of the Café Hottot near the Seine an Incroyable, a police informer charged with searching for Maddalena, is trying to provoke Bersi. The latter is obliged to walk the streets in order to be able to feed her former mistress. Half seriously, half cynically, Bersi pretends to be a real daughter of the Revolution, maintaining that she feels quite at home in this milieu. However, the Incroyable becomes suspicious when he notices Bersi and Andrea exchanging glances. Chénier is joined by his friend Roucher, who advises him to leave the capital as quickly as possible as his name is already on the Public Prosecutor’s list. But Andrea is bewildered by sparkling, anonymous letters from a mysterious lady which have awoken in him for the first time the feeling of true love and refuses to leave the city. Roucher attempts to convince him that the letters can only come from a merveilleuse, one of the streetwalkers of the time, and hands him a pass. Andrea, however, is determined first to find the writer of the letters. Bersi also begs him to wait for a lady who is in great danger. The Incroyable, who has also been hired by Gérard to look for Maddalena, draws his own conclusions: Chénier – suspected of being a counter-revolutionary – has been receiving messages from Bersi, who, though reduced to being a street-walker, was once Maddalena’s confidante – and thus an aristocrat: Andrea and Maddalena must therefore be conspirators. Andrea recognizes the lady whom Bersi has talked of as Maddalena, who also admits to being the author of the mysterious letters. She teils him how Bersi has sheltered her; however, now they are on her trail. She asks Andrea for protection, although she knows that he, too, is in danger. The couple declare their love for one another. They swear to be faithful until death and decide to flee. Suddenly Gérard appears, having been summoned by the Incroyable, who has betrayed the couple. Roucher escapes with Maddalena. Chénier draws a dagger which he has concealed in his walking stick and wounds Gérard with it. The Incroyable tries to pursue the fleeting couple, but Roucher threatens him with a pistol. Although he has been wounded, Gérard has not completely forgotten his previous sympathy for Andrea, nor his frustrated love for Maddalena. He helps Andrea to flee – however, Chénier’s name is already on the list of Public Prosecutor Fouquier-Tinville.
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Scene 3 In the Committee of Public Safety Mathieu stirs up the people against the enemies of the Revolution, for the fatherland is endangered. In a fierce speech Gérard, who has recovered from his injury, calls on the people to be prepared to make sacrifices if necessary: the whole of Europe is against the French. The women sacrifice their jewelry, the fathers their wages, the mothers their sons. The old, blind Madelon is lead in by her grandson. Her son Roger, she says, fell in the storming of the Bastille and her eldest son lies buried near Valmy. She has now come to offer the services of the young boy leading her for the fatherland. Whilst the exuberant crowd is dancing the carmagnole, the Incroyable reports to Gérard that Chénier has been arrested at a friend’s house. He assures him that there is no need to worry about Maddalena: she will soon turn up of her own accord in the hope of rescuing her loved one. He asks Gérard to specify the charge, as Fouquier-Tinville is waiting. Gérard hesitates, and the Incroyable urges him to sign. In despair Gérard realizes that the ideals of the Revolution for which he fought – the noble intention of helping the poor and oppressed – have turned into depravity, lies and hate. Gérard is conscience-stricken, particularly as he himself – tormented by his frustrated love – has also become a traitor and maligner. Maddalena turns up just as the Incroyable predicted she would. Gérard confesses how much he loves her, and how he has loved her ever since the time when they played together as children in the palace gardens. But the hopelessness of ever being able to possess her has made him betray Chénier. Maddalena rejects his renewed advances, saying she would rather face death. Then, as she despondently remembers her mother, who has been murdered, and the palace, which has been reduced to ashes, and Bersi, who has been selling herself for her sake, she offers Gérard her own body in the hope of saving Andrea. Gérard is deeply moved by this gesture. He declares his readiness to attempt a rescue of Chénier himself. The crowd is enjoying the spectacle of tribunal trying alleged traitors to the Revolution. They are all executed without being given a chance to defend themselves. Only Chénier is given an opportunity of saying his last words and defends himself valiantly. Gérard admits that he has betrayed him and wants to withdraw the charge. However, the crowd clamors for his death. Andrea Chénier is condemned to death by the guillotine.
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Scene 4 In the courtyard of the prison of St. Lazare, which before the Revolution was the monastery of Saint Vincent de Paul, Andrea commits his last poem to paper. He sings the song to his friend Roucher, a prisoner like himself. It is a hymn to poetry, in whose arms he is about to die. The jailor admits Maddalena and Gérard to the prison. Gérard has obtained permission for Maddalena to talk to Andrea for the last time. In return for gold and jewelry she persuades the jailor to let her take the place of Idia Legray, a prisoner condemned to death. Thus, she will be able to perish at Andrea’s side. Gérard, whose tragic love has made him agree to this fateful solution, is prepared to make one further attempt at rescue – the last: Robespierre will have to help! Maddalena and Andrea talk with one another for the last time. It is only a temporary parting, for both die in the certainty that after death they will be reunited in a new life. The jailor calls out two names: Andrea Chénier and Idia Legray. Gérard’s last attempt at rescue has been in vain.
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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Umberto Giordano, 1867 geboren und 1948 gestorben, zählt zu den wichtigsten Vertretern des italienischen Verismo, also jener Opernform, die einen ungeschönten und mitunter brutalen Realismus auf der Bühne zeigt. Seine 1896 an der Mailänder Scala uraufgeführte Oper Andrea Chénier gilt heute als sein bekanntestes Werk, wenn auch andere seiner Opern, wie etwa Fedora oder Siberia, immer wieder auf den internationalen Spielplänen stehen. Ernst Krause umreißt in seinem Beitrag ab Seite 14 kurz die Biografie des Komponisten und zeichnet die Entstehungsgeschichte der Oper nach. Hans Heinz Hahnl widmet sich ab Seite 22 dem titelgebenden Dichter, über die Musik der Oper schreibt Maurizio Giani ab Seite 26. Eine genaue Analyse von Giordanos Oper aus musikdramaturgischer Sicht, verfasst von HansJoachim Wagner, findet sich ab Seite 32, Philipp Bloms Text über Voltaire beleuchtet einen Philosophen am Vorabend der Französischen Revolution (Seite 58). Beiträge von Erwin Ringel (S. 54) und Rotraud A. Perner (S. 46) liefern psychoanalytische Sichtlinien, Angela Pachovsky schreibt ab Seite 62 über Gustav Mahlers erfolglosen Versuchs als Hofoperndirektor, Andrea Chénier im Haus am Ring zu spielen – die Staatsopern-Erstaufführung fand erst deutlich später, 1926, statt. Diese erste Chénier-Premiere wird in dem Programmbuch mehrfach beleuchtet: So in einem Interview aus 1926, in dem Umberto Giordano zu Wort kommt (S. 68), einer Premierenkritik von Elsa Bienenfeld (S. 78) und einem Abriss der Vorbereitungen zur ersten Premiere (S. 74). Einen heutigen Blick auf das Werk gibt KS Jonas Kaufmann in einem Interview ab Seite 86, das er anlässlich der Wiederaufnahme 2022 gab. ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH
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André Chénier → Die junge Gefangene
Dem jungen Halm ist noch vor keiner Sichel bang, Die Rebe schwelgt im Tau den goldnen Sommer lang Und denkt der Kelter nicht, der herben. Und ich, wie sie so schön und, ach, so jung wie sie, Ob mir die Stunde gleich kein hold Geschick verlieh, Auch ich, auch ich will noch nicht sterben.
Ernst Krause
» VOM BLUTE GERÖTET « Umberto Giordano und sein Andrea Chénier
Große Opernzeiten kommen meist völlig überraschend. Das heißt: erwartet man sie, sind sie, wie zum Beispiel in der Wagner-Nachfolge, nicht da. Es schien fast ein Naturgesetz, dass einer gewaltigen Erscheinung wie Wagner in Deutschland zunächst ein Vakuum folgte, ja, eine Zeit schöpferischer Ebbe. Erst Richard Strauss mit seinem Salome-Meteor durchbrach das Dunkel. Von ihm stammt das einleuchtende Bild: er habe versucht, mit seinem Manöver das Gebirge zu umgehen. Glückliches Italien! Dort hatten sie noch den großen Verdi, als der Verismo oder die »Giovane Scuola« bereits kräftig Wurzeln trieben. Das Meisterwerk Falstaff, Krone der italienischen Buffa, war noch nicht geschrieben, als Mascagni mit seiner bei dem Wettbewerb des Verlagshauses Sonzogno preisgekrönten Cavalleria rusticana als Sieger hervorging. Das war der Anstoß für eine ganze Reihe von Opern, die den Stil des musikalischen Naturalismus rezipierten, das Leben in seinen Emotionen und Konflikten beim Wort nahmen, historisch eingekleidet oder auch auf den Tag bezogen. Der Cavalleria ER NST K R AUSE
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folgten Leoncavallos Pagliacci, Catalani mit La Wally, Spinelli mit A basso porto, später Cilèa mit Adriana Lecouvreur. Das Publikum, der Wagner’schen Götter und Helden längst überdrüssig, griff begierig nach der »brutalen Erholung« vom Bayreuther Meister, nach hochgetriebener Dramatik und südlicher Melodienfülle. Heute wissen wir: Puccini, der Genialste von ihnen, erkannte als erster die ästhetische Begrenztheit der neuen Schule. Begabt mit eminenter melodischer Erfindungskraft und wachem Theaterinstinkt, empfing er entscheidende Anregungen von der französischen Opéra lyrique Massenets. Puccini überwand den Verismus mit der lyrischen Poesie seiner Bohème und selbst seinem Dramma lirico Tosca. Dies Stück »grausam verketteter Wirklichkeit« ist nicht nur historisch getreues Abbild, sondern Klage und Anklage. Das »Nun sterb’ ich in Verzweiflung« weist über den Zustand eines zum Tode Verurteilten weit hinaus. Gewiss, die politische Hochstimmung des Risorgimento, in der sich Italien Mitte des 19. Jahrhunderts befand und die Verdi inspirierte, war dahin. Fast alles, was der nationalen Sehnsucht des gesamten Volkes nach Einheit Ausdruck verlieh, war den Interessen des Hauses Savoyen gewichen. Aber nicht alles war verloren. Noch das Jahr 1896 schenkte der veristischen Oper Umberto Giordanos Andrea Chénier mit seinen spätrisorgimentalen, revolutionären Anklängen. Was ist es mit diesem Chénier? Merkwürdig genug: man denkt unwillkürlich an Puccinis Tosca, wenn man von diesem »Musikalischen Drama vor geschichtlichem Hintergrund« spricht – als ob Giordanos Meisterwerk auf ihr fußen würde. Stimmt nicht: Tosca war 1894, dem Entstehungsjahr des Chénier, noch gar nicht komponiert. Wir müssen uns wohl erst an den Gedanken gewöhnen: Andrea Chénier wurde zum Vorbild für Illica und Puccini. Hat nicht der versierte Librettist Luigi Illica, gleichzeitig an Bohème arbeitend, einige wesentliche Situationen des späteren Tosca-Buches, wie es scheint, probeweise vorweggenommen? Auch Maddalena fleht ums Leben ihres verhafteten und zum Tode verurteilten Geliebten. Auch sie ist bereit, sich dem Schurken Gérard (von dem der Bariton Battistini vom Komponisten eine entschieden grausamere Ausgabe als den »halbherzigen Wüstling« Puccinis wünschte) als Preis der Befreiung hinzugeben; auch sie singt auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung eine gefühlstrunkene Arie (nicht »Vissi d’arte«, sondern »La mamma morta«). Zu allem Überfluss entspricht auch Chéniers Romanze »Come un bel dì di maggio« vor seiner Hinrichtung in Situation und Stimmungsgehalt genau Cavaradossis »E lucevan le stelle«. Die gleichen Motive, der gleiche Blutdruck der Musik! Die Tosca-Parallelen samt Revolutionstribunal und nachtdunklem Gefängnishof sind evident: hier der Dichter, da der Maler, beide revolutionären Geblüts. So betrachtet, mag die italienische Klassifizierung eines »letzten Veristen« für Giordano ihre Berechtigung haben. Puccini hat den um neun Jahre Jüngeren nicht kopiert. Er hat ihn mit seiner realistischen Milieuzeichnung, seinen poetischen Abbildern der Wirklichkeit weitergeführt. 15
»VOM BLU T E GERÖT ET«
BEI SONZOGNO Man kennt und schätzt die Oper Andrea Chénier, die heute längst den Aufnahmen-Hits der späteren italienischen Musikdramatik eingereiht wird, ein Bestseller des internationalen Repertoires von Rom bis San Francisco. Aber der Puccini-Nachbar mit seiner Oper vor dem Panorama der Französischen Revolution teilt das Los so manchen Musikers: er ist als Komponist dieses einen breiten Opernerfolges nie so recht ins Bewusstsein der Mitwelt gedrungen. Dabei erscheint Giordanos Leben nicht weniger bunt und reich als das Puccinis. Zum Beispiel, wenn man liest, dass der am 27. August 1867 in der süditalienischen Stadt Foggia geborene, ursprünglich für den Arztberuf vorgesehene und am Konservatorium in Neapel bei Serrao ausgebildete junge Musiker bereits sehr früh mit einer Sinfonie Aufmerksamkeit erregte; dass der eben 23-Jährige noch während seines Studiums an dem berühmten Concorso Sonzogno in Mailand teilnahm – wer nahm es zur Kenntnis? Obwohl seine Erstlingsoper Marina, ein Einakter, nur mit dem sechsten Platz bedacht wurde, schloss der Verlag mit ihm einen Vertrag über 200 Lire monatlich sowie 25prozentiger Beteiligung an den Einnahmen. Hierfür sollte Giordano die komplette Partitur einer neuen Oper liefern. Es entstand Mala vita nach einem Buch von Daspuro. Die Oper wurde 1892 uraufgeführt; das Echo war stark. Nach der Wiener Aufführung schrieb der gewiss nicht sanfte Eduard Hanslick: »Es ist eine interessante Arbeit, eine in ihrer Art neue und kühne Oper.« Die Folge: Der Erfolg veranlasste Sonzogno, mit Giordano einen neuen Vertrag zu schließen und sein Monatshonorar auf 300 Lire zu erhöhen. Aber was sollte er schreiben? Sonzogno wandte sich an Menasci, den Librettisten der Cavalleria, und klagte: »Giordano weiß nicht genau, was wir brauchen.« Die Wahl fiel auf einen bereits von Donizetti verarbeiteten Stoff, Marina di Rohan, der unter dem Titel Regina Diaz aufgeführt werden sollte. Doch die Sache verlief ungünstig. Der mäßige Erfolg bildete wohl eine Enttäuschung für Sonzogno: »Keine Spur von musikalischem Talent! Die Kunst ist nichts für Euch! Wir haben nichts mehr miteinander zu tun.« Was war hier geschehen? In einem Brief an Cilèa schrieb Giordano resümierend: »Es ist leicht, bei ihm in Ungnade zu fallen, wenn man etwas schreibt, was nicht nach seinem Geschmack ist.«
FRANCHETTI VERZICHTET Die Zukunft sah düster aus. Sollte er nicht vielleicht zum Kapellmeister umsatteln oder dem Rat des Vaters folgen, seine Fähigkeiten der Fechtkunst als Fechtmeister zu nutzen? Da erschien im richtigen Moment Rettung durch Alberto Franchetti. Dieser war drauf und dran, ein theatralisch schlagkräfER NST K R AUSE
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tiges Libretto seines Freundes Illica, Andrea Chénier, zu vertonen und überließ, einer augenblicklichen Stimmung folgend, Giordano Stoff und Text. In einem freundschaftlichen Brief vom 20. April 1894 schrieb Franchetti: »Lieber Giordano, ich weiß, dass Du ein Libretto brauchst, und ich bin glücklich, Dir die Rechte an Andrea Chénier abzutreten, wenn Du mir die 200 Lire wiedergibst, die ich Illica für die Alleinrechte an dem Libretto gegeben habe. Herzliche Grüße. Alberto Franchetti.« Durch ihn wurde die alte Verbindung zu Sonzogno wiederhergestellt, der Vertrag zu den alten Bedingungen erneuert. Nur: Sonzogno hatte auch jetzt noch wegen des »riskanten« Stoffes, vor allem des »Mobs« im ersten Bild, Bedenken. Einige Szenen erklärte er glatt für »unmöglich« – kritische Vorbehalte, die aus dem Munde des Verlegers und Scala-Producers nicht leicht wogen. Die Chance einer Revolutionsoper starken Theatereffekts gab den Ausschlag. Das Werk hat eine romantische, der Puccini’schen Bohème vergleichbare Entstehungsgeschichte; sie gehört zum Bild des jungen, nach Erfolg strebenden Maestro. Am 15. August 1894 konnte Giordano mit der Arbeit beginnen. Er verließ das väterliche Haus in Neapel und zog nach Mailand. Um im gleichen Hause wohnen zu können, in dem Illica bis vor Kurzem gelebt hatte, war er bereit, im Erdgeschoß der Via Bramante 39 einen Raum zu beziehen, der einem Bestattungsunternehmer als Lager diente. Hier standen zwischen Statuen und Votivlampen ein Bett, ein Tisch, eine Petroleumlampe, ein Klavier. Dass Andrea Chénier wie Bohème in solch pittoresk romantischer Opernszene geboren wurde, dass beide Werke dem gleichen nationalen Boden entwuchsen und Paris als Schauplatz haben – welches Kuriosum neuerer Opernhistorie! Geschichten auch sonst in Giordanos Leben! Am hübschesten ist sicher jene von 1896, die sein gutes Verhältnis zu Verdi in eine sehr persönliche Sphäre rückt. Seine Hochzeit mit der Tochter des Besitzers des renommierten Mailänder Hotels Spatz (Hotel Milan) war Giordano wichtiger als die New Yorker Premiere seines Chénier; er blieb zu Hause. Denn Verdi lebte nach dem Tod von Frau Giuseppina vorwiegend im Milan, wo man ihm ein behagliches Appartement eingerichtet hatte. Auf höchst praktische Art war Giordano fortan Verdi nahe, eine Art Vertrauter des Maestro.
DRAMATIK UND KOLPORTAGE Die Handlung der Oper ist ein historisches Geschehnis; die Vorgänge der Revolutionsromanze sind frei erfunden. Auch hierin bleibt Giordanos Musikdrama in Tosca-Nähe. Der Dichter und Freiheitskämpfer Chénier, der mit sicherer Witterung die Überlebtheit des alten Adelsregimes durchschaute, widersetzte sich schon bald den Umsturzbestrebungen der Jakobiner, beteiligte sich an der Verteidigung Ludwigs XVI. und unterhielt flotte Beziehungen zu adeligen Damen. Eine zwiespältige Erscheinung! Er wurde noch kurz vor 17
»VOM BLU T E GERÖT ET«
Robespierres Sturz vom Pariser Revolutionstribunal 1794 zum Tode verurteilt. Vor dem Hintergrund von Gavotte, Pastorale, Tribunal und Schafott eine Liebesromanze aufzubauen, war für den Theatermann Illica nicht allzu schwer. Eros triumphiert über den Tod: aus freiem Entschluss besteigt Maddalena de Coigny die Richtstätte, um gemeinsam mit dem Geliebten zu sterben. Zwischen ihnen der Aufrührer und spätere Volkstribun Carlo Gérard, von Edelmut und Opfermut triefend, in unglücklicher Liebe der Komtesse hingegeben. Müssen wir nicht wieder einmal erfahren, wie ungerecht Revolutionen pauschalisieren, es nicht erlauben wollen, dass Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten friedlich in Liebe leben können? In Andrea Chénier geht es, nicht anders als in d’Alberts Revolutionshochzeit, Mascagnis Il piccolo Marat, von Einems Dantons Tod, Poulencs Gespräche der Karmelitinnen und Cikkers Spiel von Liebe und Tod, um die Negativauswirkungen der Revolution im individuellen menschlichen Bereich. Die Jakobiner geraten in ein unscharfes Licht – Hochdramatik und Kolportage nach (naiver) Verismo-Art.
MUSIK: NEUE IMPULSE »Vom Blute gerötet...« Alles, was der Verismo in die Oper einbringt, Leidenschaft, Feuer, Sinnlichkeit, ist bei der Chénier-Musik nochmals zu höchster Wirkung gesteigert. Vergleicht man den Stil mit Mascagnis Urbild, so kommt bei Giordanos lodernder Revolutionsoper viel lyrische Emphase hinzu: eine Gabe, die Stimmen in sinnfälligen affektbetonten Kantilenen emporzureißen. Sicher ist Giordano, gemessen an Puccini, brutaler in der Behandlung eines sieghaften »parlo forte«, breit angesetzter melodischer Spannung. Er scheint bei den vielen expressiven Entladungen der Oper (Tribunalszene) unentwegt den höchsten Gang einzuschalten, während der Lyriker Puccini gern in eine Poesie des Leidens und Vergehens ausweicht. Vom Einfluss Verdis zeugt die Vorliebe für sicher platzierte Arien und Duette. Andrea Chénier ist reich davon; und des Dichters »Un dì all’azzuro spazio«, »Credo a una possanza arcana«, »Sì, fui soldato« und »Come un’ bel dì di maggio«, Maddalenas »La mamma morta« und Gérards »Compiacente a’ colloqui« sowie »Nemico della patria?« prägen sich als Solo-Nummern intensiv ein. Auch von Verdis Tendenz zu melodisch breit verströmenden Schlussduetten (Rigoletto, Aida, Otello) hat Giordano profitiert. Er nimmt sich (im Gegensatz zu Puccini) mit dem Sterben Zeit, lädt sein Liebespaar noch einmal zu üppigem Vokalfeuer ein, das belcantische Element vehement bis zur Neige auskostend. Was für Charakterrollen! Soweit sich bei so viel forcierter Dramatik der Gesang überhaupt ausleben kann, empfängt er ein Maximum an zündender Wirkung. Dennoch: im Bemühen um plastische Deklamation und differenzierten Wohlklang des Orchesters, in der Kunst der oft mit ganz knappen Strichen gezeichneten Comprimarii (Bersi, GräER NST K R AUSE
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fin, Incroyable, Roucher) geht diese südliche Opernmusik über die üblichen Stilmittel des rohen Verismo hinaus. Sie spart nicht an Pastorale, Gavotte, Marseillaise und anderem. Rein musikalisch ist Chénier ein Beispiel dafür, wie eine Oper mit revolutionären Farben dem Verismo neuen, kräftigen Impuls verleiht.
URAUFFÜHRUNG Als die Partitur am 27. Jänner 1896 fertig vorlag (von Mailand war Giordano inzwischen in die Schweiz ausgewichen), vertraute sie Sonzogno dem ScalaChef und Ratgeber Amintore Galli zur Beurteilung an. Sein Veto: »unaufführbar«. Damit war die Uraufführung an der Mailänder Scala, dessen Aureole Giordano im Gegensatz zu Puccinis in Turin uraufgeführter Bohème genießen sollte, ernstlich infrage gestellt. Erst als Freund Mascagni aus Florenz herbeieilte und seine Autorität als »Reihenerster« des Verlagshauses in die Waagschale warf, war Sonzogno bereit, seinen Entschluss zurückzunehmen. Auch sonst war die Stimmung nicht die beste. Massenets La Navarraise und Bizets Carmen waren gerade an der Scala durchgefallen. Der Tenor Garulli kam mit dem Chénier nicht zurecht; man musste Borgatti, keiner der ersten Tenorgarnitur, holen. Mit einigen Tagen Verspätung konnte schließlich die Uraufführung am 28. März 1896 zur Karnevalszeit stattfinden. Rodolfo Ferrari dirigierte, Eveline Carrera sang die Maddalena, Sammarco den Gérard. Ein glänzender Erfolg (gleich Chéniers erste Arie musste wiederholt werden), der sich an weiteren elf Scala-Abenden fortsetzte. An seine Eltern telegrafierte der glückliche Komponist: »Riesenerfolg«, an Mascagni, der ihm immer Mut zugesprochen hatte: »Prophet«. »Einer der schönsten, wohlverdientesten Erfolge«, schrieb der Kritiker von Corriere della Sera. »Mit dem Chénier nimmt Giordano einen wichtigen Platz unter den italienischen Komponisten ein.« Der Triumph setzte sich noch im gleichen Jahr in Genua, Mantua, Brescia, Parma, Turin und New York fort. Anfang 1897 erschien die Oper erstmals in Max Kalbecks Übersetzung auf einer deutschen Opernbühne, in Breslau. Die späte Verbreitung des Chénier wurde weitgehend von zwei Produktionen beeinflusst: der Dresdner Aufführung von 1925 unter Fritz Busch, der für seinen primo tenore Tino Pattiera eine neue italienische Rolle suchte, und dann 1926 an Wiens Oper, mit Lotte Lehmann und Alfred Piccaver in den Hauptrollen. Bald zeigte sich, dass die großen Tenöre ein besonderes Faible für Giordanos Helden zeigten. Gigli sang den Chénier so oft er konnte. Zenatello, LauroVolpi, del Monaco, Corelli, Domingo, keiner der Großen fehlt. Gewiss, Giordanos folgende Opern erreichten nicht den Erfolg des Chénier. Aber Fedora, nach einem Drama Sardous, für das sich 1883 der junge Richard Strauss in Berlin entflammte, zwei Jahre später in Mailands Teatro Lirico mit dem noch jungen, unbekannten Caruso, erzielte in Italien eine 19
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gewisse Popularität. Auch Siberia fesselte 1903 durch eine dem Werk eigene russische Stimmung. Mit dem Einakter Il Re verabschiedete sich Giordano 1929 frühzeitig von der Opernbühne – ein heiterer Abschied, wie vor ihm Verdi. Sein Refugium bei Baveno nannte er nach seiner ihm vielleicht liebsten Oper »Villa Fedora«. Er starb hochbetagt 1948 in Mailand, der Stätte seiner großen Erfolge. Mit Recht durfte eine italienische Zeitung in ihrem Nachruf schreiben: »Er war einer der Unsern, und die Sonne Italiens ist in seinen Melodien, diese Sonne, die unserem Leben Helle und Hoffnung gibt. Er hat uns eine Reihe schöner Opern geschenkt, die wir nicht missen möchten; er war ein Schöpfer und zugleich der legitime Verwalter einer großen Tradition.«
→ KS Jonas Kaufmann als Andrea Chénier, 2018
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Hans Heinz Hahnl
DER LYRIKER ANDRÉ CHÉNIER UND DIE REVOLUTION André Chénier geht es, bleibt man im Gesichtsfeld der Oper, wie Palestrina. Eine Umfrage darüber, wer André Chenier, vielleicht auch, wer Palestrina ist, ergäbe sicher: eine Opernfigur. Der Komponist Palestrina wurde allerdings wiederentdeckt, bei André Chénier aber ist das kaum zu erwarten. Sein Ruhm als Dichter war posthum und relativ kurz. Er war der Lieblingsdichter der Romantiker. Für das große Lesepublikum, auch in Frankreich, ist er ein Name der Literaturgeschichte. Ein Schullesebuchautor, dessen Junge Tarentinerin und dessen Frankreich-Verklärung die Schüler noch vor drei Generationen auswendig lernen mussten. Oh Frankreich, schönes Land, oh edle Gegend, Von Göttergunst zum Glücke du geschaffen, Du fühlst des Nordwinds eisig Grauen nicht; Der Süd verschont Dich mit der Hitze Wut… Und dann die Menge der gewund’nen Flüsse… Die überall an deinen edlen Ufern Das Korn, die Blumen, Gärten, Wälder tränken…
Das geht von den Lippen wie Grillparzers Österreich-Lob. Zum Opernhelden hat André Chénier natürlich prädestiniert, dass er eines der letzten Opfer der Revolutionsguillotine geworden ist. Das Libretto vereinfacht die Situation, ohne sie ganz zu entstellen. Chénier war ein Sympathisant der Revolution, wurde aber schließlich ein entschiedener Gegner ihrer Entartung zur Schreckensherrschaft, der er schließlich selbst zum Opfer gefallen ist. Für das, was H A NS HEINZ H A HN L
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sonst noch an Chénier interessant ist, hat natürlich das Libretto keinen oder nur ganz wenig Platz. Da ist einmal seine Biografie. Er wurde 1762 in Galata bei Konstantinopel als Sohn eines französischen Kaufmannes und einer levantinischen Mutter geboren. Als er drei Jahre alt war, zog man bereits nach Paris. Die Mutter nützte ihre hellenische Herkunft gesellschaftlich: sie wurde Mittelpunkt eines Salons. Der Vater machte Geschäfte in Marokko. André und sein Bruder MarieJoseph, später als Revolutionsdramatiker bekannt geworden – heute würden wir ihn einen engagierten Autor nennen –, besuchten die besten Schulen. André trat 1782 als Kadett in ein Regiment ein, das Adeligen vorbehalten war. Angeblich hatte er eine aristokratische Abkunft vorgespiegelt. Vom Militär hatte er bald genug, als er nicht rasch genug avancierte. Nach einer Reise in die Schweiz und nach Italien wurde er Privatsekretär des französischen Botschafters in London. 1791 kehrte er nach Paris zurück. Sein Verhältnis zur Revolution ist das bei intellektuellen Söhnen aus bürgerlichen und aristokratischen Häusern damals übliche. Er gehörte zu den Feuillants, einer gemäßigten revolutionären Gruppe. Den Jakobinern wurde er bald verdächtig. Um als reaktionär zu gelten, genügte seine Tätigkeit bei dem Diplomaten, die Mitarbeit am Journal de Paris, das als konterrevolutionär galt. Noch verdächtiger machte ihn, dass er weiter Briefe aus London erhielt, wo er drei Jahre gelebt hatte. Mit Recht hat man ihn wahrscheinlich verdächtigt, dass er an der Pressekampagne beteiligt war, mit der Ludwig XVI. gerettet werden sollte. André Chénier, hieß es bald, sei ein Gegner der Republik, ein »aristocrate«, ein »courtisan«, »autrichien«, ein »ennemi du peuple«. Wahrscheinlich war er ein im Grunde unpolitischer Mensch, der von der revolutionären Bewegung in einem bescheidenen Maß ergriffen, von den Folgen aber sehr rasch ernüchtert worden war. Er besuchte weiter aristokratische Freunde und benahm sich unvorsichtig, offenbar weil er den jakobinischen Terror, den angesehene Revolutionstheoretiker längst kritisierten, in seiner politischen Ahnungslosigkeit nicht in seinen Konsequenzen begriffen hatte. Und nach dem Besuch eines Aristokraten, vor dessen Wohnung längst ein Wächter postiert war, wurde er auch verhaftet. Hingerichtet wurde er am 25. Juli 1794 als eines der letzten Opfer der Revolution. Zwei Tage später wäre er befreit worden. Auch der Dichter André Chénier war kein Revolutionär. Man kann die Begeisterung, die seine Lyrik auslöste, als sie 1819 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, heute schwer nachvollziehen. Man muss dazu wissen, wie verknöchert die französische Lyrik im Gegensatz zur damaligen französischen Prosa war. Der alte Kanon der Poesie galt als ehernes Gesetz. »Thematik, Behandlung, Bilderwahl, Stil und Rhythmus waren in eine Form gegossen, welche die meisten Leser auf keinen Fall geändert sehen wollten. Der Respekt vor der Tradition war ganz offensichtlich eine Bedingung ihres poetischen Vergnügens: Allgemeinheiten, die geschickt in ein Gewand der Abstraktion 23
DER LY R IK ER A N DR É CHÉN IER U N D DIE R EVOLU T ION
gekleidet und durch Antithesen, Epigramme und konventionell-elegante Wendungen verziert waren, mussten auf Geist und Ohr vertraut wirken. Es war André Chéniers Wundertat«, fährt Louis Cazamian fort, »der Klassik neues Leben und neue Kraft zu schenken, indem er sie zu ihrer Quelle zurückführte, zur begeisterten Verehrung antiker Vorbilder, zum vertrauten Umgang mit der Natur und zu einem intuitiven Sinn für die reine Form«. Man müsste hinzufügen, indem er ihr seine Mühelosigkeit und Leichtigkeit bei strenger Einhaltung der Formen gab. Ob seine hellenische Abkunft dabei eine Rolle gespielt hat, dass er die sinnliche Anmut der Dichtung wiederentdeckt hat, darüber streiten bis heute die Romanisten. Tatsächlich hat er die Romantiker bezaubert. Chateaubriand hat ihn mit Theokrit verglichen, Victor Hugo nannte ihn einen »Romantiker unter den Klassikern«, Musset, Vigny und die Dichter des Parnasse haben ihn bewundert. Seine Tragödie ist, dass sie ihn bald überflügelt haben. Diese Romantiker-Huldigungen für Chénier haben falsche Erwartungen geweckt. Wenn man André Chénier heute liest, muss man sich mit Louis Cazamian darüber klar sein, dass man die »Stätte eines alten Götter- und Musentempels betritt, die mit kostbaren Marmortrümmern übersät ist. Der schmerzliche Zauber bloßer Skizzen, kurzer Abschnitte oder einzelner Verse erfüllt den Leser mit Bewunderung und Bedauern. Nur wenige vollendete Gedichte lassen uns seine volle Größe ermessen.« Ein wenig erscheint uns das als Widerspruch. Ein Dichter entdeckt in den stürmischen Vorrevolutionsund Revolutionsjahren ausgerechnet die Antike? Ist er aus der Wirklichkeit in die Utopie einer schönen Vergangenheit geflüchtet? Die Meinung darüber ist geteilt. Für Albert Thibaudet ist er schlicht die Vollendung seiner Zeit: Ein Mann, der das Leben liebt, in dessen Werk der elegante Materialismus des 18. Jahrhunderts mit dem antiken Heidentum verschmilzt. Für Thibaudet ist er weder ein Romantiker noch ein Revolutionär, sondern ein Exponent des 18. Jahrhunderts. André Chénier ist nur 32 Jahre alt geworden. Er gehört zu den Jünglingen der Literatur. Wäre er ein großer Dichter geworden, wenn ihm ein längeres Leben beschieden gewesen wäre? Was sich an Fragmenten von seinen geplanten Werken erhalten hat, unterscheidet sich kaum von der Routine des übrigen 18. Jahrhunderts. Man braucht nur einen Blick in seine gerühmten Naturschilderungen zu werfen, um zu verstehen, dass das eine stilisierte Natur ist, eine reglementierte Natur, aber diese Verse haben möglicherweise Lamartine dazu ermuntert, die Hügel von Mâcon, die Landschaft der Provence zu besingen. Er war kein literarischer Neuerer, seine Bewunderer haben an ihm gerühmt, dass er »einen Gipfel reiner Dichtung aufgewölbt hat«, dass sein Vers den Klassizismus eines Ronsard vollendet und bei Vigny, bei Hugo, Mallarmé und Valéry weitertönt. Aber damit ist das Kapitel André Chénier in der Literaturgeschichte noch H A NS HEINZ H A HN L
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nicht abgeschlossen. In den viereinhalb Monaten, die er vor seiner Hinrichtung in Saint-Lazare verbrachte, hat er einige Verse geschrieben, in denen er die gedämpfte Eleganz abgestreift hat. Bisher hatte seiner Lyrik, wie ein führender Kritiker sagte, der »Aufschrei und der Ton eherner Härte gefehlt«. Die Jambes haben ihn. Noch immer in feierlicher, streng eingehaltener Form lehnt er sich gegen sein Schicksal auf, schmäht er die Mörder, erkennt er die Gefahren dieser neuen Herrschaft. Als Saint-Beuve die Jamben 1839 veröffentlicht hat, war die Zeit nicht reif dafür. Für uns ist das der wahre André Chénier. Mit seinen Jamben wird er überleben. Es ist erschütternd, wie hier in einer noch im Angesicht des Todes streng gewahrten Form, die nur ihre spielerische Leichtigkeit verloren hat, das persönliche Bekenntnis durchbricht: Wenn in den Mauern hier des Grauens Vielleicht des Todes Scherge schwarz nach Schatten huscht, umringt von eisigen Grimassen mit meinem Namen diese langen, düstern Gesänge überrascht... Schleift mich der Henker, während meinen Weg umscharen Der Haft betrübte Mitgesellen, Die vor dem grausen Spruch meine Vertraute waren, Jetzt aber fremd sich stellen.
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DER LY R IK ER A N DR É CHÉN IER U N D DIE R EVOLU T ION
Maurizio Giani
DIE MUSIK VON ANDREA CHÉNIER Will man das musikalische Profil einer Oper beschreiben, die zu den bekanntesten und beliebtesten gehört, ist es vielleicht angebracht, sich mit einer Antiklimax zu schützen und mit einer anonymen Rezension zu beginnen, die in der Musical Times vom 1. Mai 1903 erschienen ist und sich auf die erste englische Inszenierung in Manchester bezieht. Nachdem der Kritiker erklärt hatte, dass »das Libretto nur in den beiden letzten Akten seine dramatische Seite zeigt«, fuhr er fort: »Trotz einiger schöner Musikstücke zeigt die Oper insgesamt keine starken eigenen Charakterzüge. Es gibt eine Menge italienischen Sturm und Drang, Züge von Wagner in Musik und Orchestrierung und auch natürliche Anspielungen auf verschiedene moderne Komponisten.« Sicher, die Meinung ist mehr als ein Jahrhundert alt; wichtig ist dabei jedoch nicht so sehr das restriktive Urteil über die Musik von Giordano, sondern der Vorwurf fehlender Dramatik in den ersten beiden Akten. Tatsächlich kann die Perspektive ganz leicht widerlegt werden, wenn man die vielfältigen stilistischen Register betrachtet, die Giordano in der Partitur gezogen hat, um die Stimmen zu unterstützen, und die Art, in der bei den Gesangsteilen Neu und Alt im durchkomponierten Fluss der Instrumentalteile vermischt werden. Das Neue besteht vor allem im Sprechgesang, der in den Operngesang eindringt, ein typisches Merkmal für das Klima, das Anfang der 1890er Jahre M AU R IZIO GI A N I
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herrschte: der authentische »Schrei« in den Ausrufen verschiedener Personen bis hin zu der »äußerst wichtigen Verhaftung des Andrea Chénier« des Ausrufers im dritten Akt und dem Sprechgesang, der häufig auch in den Gesangsstücken immer wieder auftaucht. In dem Sprechgesang haben wir in erster Linie auf einer Ebene, die wir mit »null Grad« definieren können, die sogenannte Sprechebene; hier beruht der Gesang auf einer einzigen immer wieder angeschlagenen Note, manchmal von bloßen Akkorden gestützt (ein Beispiel dafür sind die Worte von Chénier im zweiten Akt: »Von fremder Seite gehen mir öfters Briefe zu«): eine extreme Form des Rezitativs, das dann in eine komplexere Form übergeht, die offen ist für den im Verismo üblichen Sprechgesang mit klangvoller Begleitung (bereits in der erwähnten Szene, in der Chénier ergänzt: »Nur eine Dame kann so reizend schreiben«) bis hin zu den Ariosi und den mehr oder weniger umfangreichen lyrischen Passagen. Hierunter befinden sich die gefeierten Arien der Oper »Un dì all’azzurro spazio«, »Nemico della patria«, »La mamma morta«, »Come un bel dì di maggio« – in den schwungvollen Melodien sind immer wieder Rezitative zu hören; und wer in ihrer Struktur »üblichen« Relikte entdeckt, stellt fest, dass sie nun eine absolut unübliche Form annehmen und eine ebenso unübliche dramatische Prägnanz. Sowohl das Improvviso als auch »Come un bel dì di maggio« haben eine im Wesentlichen dreiteilige Gliederung. Im Ersten sind zwei »Hymnen an die Liebe« zu finden (zu Beginn des Zweiten erscheint mit den Worten »Ecco la bellezza della vita« das einzig echte Leitmotiv der Oper, das dann mehrfach wiederkehrt), mit einem dazwischengeschobenen Erzählabschnitt (»Mich unter die Beter zu mischen«), frei und in bewegtem Tempo; »Come un bel dì di maggio« folgt hingegen in seinem tonalen Ablauf dem Genre der Romanze, vom trostlosen fis-Moll des Andantino zu Beginn bis zum leuchtenden Ges-Dur des lebhafteren Abschlusses mit einem bewegteren Mittelteil, der den Übergang zwischen den beiden gegensätzlichen Situationen garantiert. Im »Nemico della patria« haben wir zu Beginn und am Ende zwei umfangreiche Deklamationen, die eine in mehrfach aufgeteilte lyrische Oase umrahmen, vom Liedhaften bis hin zur vollen Ausdehnung des Gesangs: eine ganz andere, noch bedeutsamere Symmetrie, da sich in der melodisch gesehen prosaischeren Delamation die schamlose Leidenschaft von Gérard für Maddalena abzeichnet, während die intensive Parenthese im Mittelteil den revolutionären Idealen die Stimme verleiht, für die er gekämpft hat, und den Gewissensbissen, die ihn nun zerreißen. Man könnte sagen, dass Giordano auf den Trümmern der lyrischen Form die Gestalt der »musikalischen Prosa« auf die Arie überträgt. Andererseits verdient das interessante Experiment von Librettist und Komponist Erwähnung, mit dem die »sekundäre Wahrscheinlichkeit« der Szenen verstärkt werden soll, an denen die Chöre beteiligt sind; das dramaturgisch-musikalische Ergebnis führt manchmal zu wahrlich polyphonen Verdichtungen. 27
DIE MUSIK VON A N DR EA CHÉN IER
Man denke nur an den Durchzug der Repräsentanten des Volkes im 2. Akt, in dem Giordano die drei verschiedenen gedrängten Gruppen mit demselben klangvollen Hintergrund vertont – die Masse, Chénier und Roucher, Incroyable und Gérard: der verstohlene Charakter der Gespräche zwischen den beiden Paaren wurde perfekt umgesetzt in einem Kontext allgemeiner Erregung wegen der Anwesenheit von Robespierre und der anderen Revolutionsführer, was jedoch – in kalkulierter Art und Weise – auf Kosten des Verständnisses des Gesagten geht, da bestimmte Teile des Gesprächs zwischen Gérard und seinem Spion, ein Kernpunkt in der Darstellung der Gefühle, die er für Maddalena hegt, praktisch verlorengehen, auch aufgrund der musikalischen Aufmachung, die hier nicht unbedingt ausgezeichnet ist. Etwas Ähnliches geschieht im 3. Akt während des aufgeregten Dialogs vor Gericht zwischen Chénier, Gérard, Fourqier-Tinville und Dumas, durchsetzt von dem Geschnatter der Menge und der mächtigen Figuration mit wiederholten und synkopierten Noten der Blechblasinstrumente und des Schlagzeugs. Wenn sich also die angeblichen Grenzen der musikalischen Erfindungskraft des Komponisten mit klaren Entscheidungen erklären lassen, die den dramaturgischen Gründen Vorrang geben, muss auch gesagt werden, dass die unvergesslichen Melodien in Andrea Chénier eine unwiderstehliche Kraft entwickeln, weil sie relativ selten sind; und es ist auch angebracht, den Scharfsinn von Giordano bei der Suche nach eigenen Inspirationsquellen für einige Erfindungen zu erwähnen, von den wenigen Teilen im Stile von Wagner (von der Gralserzählung aus Lohengrin), die im Improvviso herumgeistern, bis hin zur Sanftheit des geschmeidigen »Vivi ancor! Io sono la vita!« von Maddalena, in dem Chopin nicht nur heraufbeschworen, sondern fast wörtlich zitiert wird (Trio des Scherzo in der Sonate in b-Moll: ein Fall von Kryptomnesie?). In dieser vielschichtigen stimmlichen Realität lässt sich ein sich ständig verändernder Orchesterteppich feststellen, der mit extremer Flexibilität Ton und Farbe wechselt, um sich an die Ereignisse anzupassen, indem sie angekündigt, dupliziert und kommentiert werden, wie eine Art Soundtrack – so wurde das bereits beschrieben. Harmonie und Timbre der Instrumente fungieren alles in Allem als Koeffizienten, die die Kontraste verstärken oder die Spannung des Gesangs intensivieren können. Dies ist einer der faszinierendsten Aspekte der Orchestermusik von Giordano. Als Sinnbild dient in dieser Hinsicht der 1. Akt mit dem sterbenden Ancien Régime , das Geschichte für sich ist, auch wegen der vorhandenen fingierten Elemente des 18. Jahrhunderts – die Figurationen der Harfe, um in bestimmter Art und Weise das Spinett zu imitieren, das in der Szene vom Musiker Fiorinelli gespielt wurde, die Gavotte, die den Tanz begleitet – in einer Epoche, in der man nicht von Aufführungspraxis spricht, sondern in der sogar die Musik des 18. Jahrhunderts zum größten Teil unbekannt war. In den folgenden Akten verzichtet Giordano großenteils auf die leichte und glänzende Instrumentierung des M AU R IZIO GI A N I
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ersten Akts (bis auf die Charakterisierung des Pariser Volkes), verdunkelt das Timbre (bereits mit den Posaunen und Fagotten zu Beginn des 2. Aktes), fügt echte Revolutionsgesänge ein (die Carmagnola, die Marseillaise) und erfindet auf seine Weise die Entscheidungen seiner Vorgänger neu, mit einem emotionalen Ergebnis. Die Idee, das »Liebesmotiv« des Improvviso im Orchester erneut zu präsentieren und es den Soloinstrumenten zu übertragen (Violine, Cello, Horn) hatte illustre Vorgänger, wie bei Wagner in der Walküre oder bei Verdi im Don Carlos; und im Zeichen von Wagner können wir abschließend an den kleinen Geniestreich im 3. Akt erinnern, gleichzeitig eine Hommage an einen unausweichlichen Meister und ein ausgeklügelter metalinguistischer Schachzug: das Schaudern wie mit dem Tristanakkord, das durch das Orchester läuft, kurz bevor Gérard Chénier darauf hinweist, dass Maddalena im Gerichtssaal anwesend ist.
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DIE MUSIK VON A N DR EA CHÉN IER
Hans-Joachim Wagner
DAS PARADIGMA DES HISTORISCHEN VERISMO: ANDREA CHÉNIER
Luigi Illica bot im Jänner 1893 Alberto Franchetti einen Librettoentwurf an, der die Geschichte des französischen Revolutionsdichters André Chénier (1762-1794) zum Inhalt hat. Franchetti erwarb die Rechte, übertrug diese aber im Frühjahr 1894 in einem Akt selbstloser Hilfe an Giordano. Schon im Sommer 1894 begann Umberto Giordano mit der Komposition seiner neuen Oper. Wie die Korrespondenz mit Luigi Illica aus den Jahren 1895 und 1896 belegt, nahm der Librettist jedoch noch während Giordano die einzelnen Akte vertonte grundlegende Änderungen am Text vor, wobei insbesondere die Gestaltung des zweiten Bildes Gegenstand der Diskussion war. Im März 1895 teilte Giordano dem Librettisten über den Fortgang der Arbeit mit: »Ieri ho finito tutto il principio del secondo atto fino al passaggio della carretta dei condannati. Ti garantisco che e roba bella perché e fatta con entusiasmo. Io sono innamoratissimo di questo secndo atto. L’attacco alla Carmagnola deve essere, credo, di grande effetto. Mi è venuto originale il pezzo di Fanchon – [später Bersi, d.A.] – e ciò lo debbo alla originalità die versi e del contrasto. […] Dimenticavo una cosa: ho trovato una bella frase melodica al Duetto d’amore nel secondo atto. Il pezzo non è ancora fatto, ma la frase sì: »Ora dolcissima – benedico il periglio« [später »Ora soave, sublime ora d’amore«, d.A.]. Insomma, di questo secondo atto io sono sicuro, perché mi piace troppo.«1 H A NS-JOACHIM WAGN ER
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Und im Mai 1895 stellte der Komponist fest: »Io credo di finirò presto l’atto. Tutto ciò che ho scritto mi piace molto. Voglio domandarti in questo secondo atto non altro che una sola modifica: invece della canzone del sanculotte »V’è chi si duol del cittadino Iddio, ecc.«, vorrei mettere una ronda per orchestra e dare così una certa importanza e colore alla pattuglia che passa: com’è ora non può essere rilevata, essendovi la canzone del sanculotte e quegli accenditori di finali. Il pezzo l’ho già fatto per orchestra, e siccome è venuto molto carino ci tengo a metterlo nell’opera. Che ne dici?«2 Umberto Giordano konnte die Reinschrift der Partitur am 27. Jänner 1896 abschließen. Die Proben am Teatro alla Scala begannen am 1. Februar; die Uraufführung von Andrea Chénier am 28. März 1896 wurde ein triumphaler Erfolg. Allerdings gab es in der Reaktion des Publikums eine differenzierte Abstufung. Edoardo Sonzogno berichtete in einem Telegramm an Luigi Illica vom 29. März: »Trionfo completo per primo – terzo – quarto atto. Piacque pure secondo. Ventina chiamate artisti e maestro. Volevasi anche librettista. Venite assistere seconda.«3 Gerade jenes Bild, auf dessen Gestaltung Umberto Giordano besonderes Augenmerk gelegt hatte und der ihm der beste der Oper zu sein schien, wurde vom Publikum weniger akklamiert. Wie Luigi Illica im Vorwort zur Partitur und zum Klavierauszug mitteilt, formte er die Figur des Dichters André Chénier auf der Grundlage historisch verbürgter Fakten und unter Zuhilfenahme literarischer Bearbeitungen. Als Vorlagen dienten ihm von Arsène Houssaye (1815-1896) André Chénier – abgedruckt in der Galérie du XVIIIe Siècle. 3° série: Poètes et Philosophes. Paris 1858 –, der Band Poésie de André Chénier précédées d’une notice von M. Henry de Latouche (Nouvelle Edition, Paris 1847), Théophile Gautiers (1811-1871) Portraits et souvenir littéraires (Paris) sowie die Histoire de la société française pendant la Révolution (Paris 1880) von Jules und Edmond de Goncourt. Darüber hinaus sind – darauf hat Mario Morini hingewiesen – weitere literarische Vorbilder zu nennen: das Drama André Chénier ou 90, 92, 94 (Paris 1849) von Jules Barbier; ein »drame en vers, en trois époques«, das im Gefängnis von Saint-Lazare dem Dichter die Muse Aimée de Coigny zur Seite stellt; der zweite Akt des Dramas L’abbesse de Jouarre von Ernest Renan – 1886 ins Italienische übersetzt und im Repertoire von Eleonora Duse; und vor allem die Romanze André Chénier (Paris 1856) von F. Joseph Méry (1798-1867). Von diesen Quellen ausgehend schuf Luigi Illica ein Libretto, das sich durch historische Faktizität auszeichnet und insofern an den Prämissen realistischveristischen Schreibens orientiert ist: Illica rekurriert auf die Historie, ohne in Widerspruch zu den ästhetischen Bedingungen des Verismo zu geraten. Die historische Faktentreue ist in einem ersten Schritt durch die Figur des Dichters André Chénier garantiert. Als Mitverfasser der Verteidigungsrede 33
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Ludwig XVI. und öffentlicher Ankläger der politischen Zustände wurde er am 25. Juli 1794 als eines der letzten Opfer Robespierres durch die Guillotine hingerichtet. Der Dichter Chénier war eine Gestalt, die mit ihren Idealen und ihrer Ästhetik bereits auf die Romantik vorauswies. Sein künstlerisches Ideal fand er in der griechischen Antike, und zugleich setzte er im Geist der Aufklärung und der Wissenschaft auf einen Anschluss der Dichtung an das aktuelle Zeitgeschehen: »Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques.« Darüber hinaus strebte er einerseits die Wiedergewinnung der Spontaneität und Naivität der antiken griechischen Dichter an, und andererseits rückte er – trotz des Plädoyers für die klassische Form – die Inspiration des künstlerischen Subjekts im Sinne der Ästhetik des Sturm und Drang in den Mittelpunkt seiner Poetik: »L’art ne fait que les vers, le cœur seul est poète.« Illica hat in seinem Libretto nicht nur die wichtigen Stationen im Leben von André Chénier auf die Bühne gebracht, sondern auch – beispielhaft im Improvviso und der Rezitation »Un bel dì di maggio« – diese ästhetischen und poetologischen Positionen des Dichters zur Figurenkonzeption genutzt. Während Andrea Chénier in der Oper nach historischen Fakten gestaltet ist, sind mit den ihm zur Seite gestellten Akteuren Carlo Gérard und Maddalena di Coigny zwar keine realen historischen Figuren eingefangen, aber ihr Schicksal ist ein typisches bzw. überindividuelles und insofern ein in gleichem Maße historisch verbürgtes. Gérard ist eine Figur des dritten Standes; ein Mensch, der sich im Ancien Régime als Lakai verdingte, politisches Bewusstsein entwickelte, sich der Unterdrückung durch den Adel widersetzte und während der Revolution zu einem der führenden Köpfe avanciert. Maddalena hingegen ist eine wohlbehütet aufgewachsene junge Adelige, die in den Wirren der Revolution alles verliert, nicht nur ihr Hab und Gut, sondern auch die Kriterien, nach denen sie die Welt beurteilen soll. Andrea Chénier trägt den Untertitel »Dramma di ambiente storico«. Damit ist auf die Singularität der Oper im Kontext des Verismo, der zunächst zeitgenössische Stoffe bevorzugte, verwiesen. Die eigentliche Spezifik der Oper aber liegt in der Tatsache begründet, dass Illica den historischen Stoff nicht wie zahlreiche Opernlibretti des 19. Jahrhunderts im historischen Ungefähr belässt, sondern in den konkreten geschichtlichen Ereignissen der Französischen Revolution verankert. Ferner bleibt das historische Ambiente dem Sujet nicht äußerlich, sondern dringt in sein Innerstes vor. Die Figuren sind Opfer der Revolution, ihr bedingungslos ausgeliefert, und insofern kann der Text als Ausdruck der Positionen naturalistischer Weltsicht gewertet werden. Die Menschen werden nicht als autonome und selbstbestimmte Individuen begriffen, sondern sind in ihrem Denken, Fühlen und Handeln durch die drei Kräfte Milieu, Race und Temperament determiniert. Demgegenüber distanziert sich das Libretto jedoch vom Fortschrittsideal des Naturalismus und von der Vision einer Veränderbarkeit der Welt durch tätiges Handeln des Menschen: Der für den literarischen Verismo signifikante GeschichtsH A NS-JOACHIM WAGN ER
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pessimismus firmiert als inhaltliche Kategorie der Oper; ein Tatbestand, der auf die Beurteilung der in Andrea Chénier wirksamen Gattungstraditionen Einfluss nimmt. Andrea Chénier steht zwar in der Tradition der Revolutionsoper des 18. und 19. Jahrhunderts, nimmt gleichzeitig aber eine besondere Position ein. Sowohl Jean François Le Sueurs La Caverne (1793) und André-Ernest-Modeste Grétrys La rosiére républicaine ou la fête de la vertu (1794), Le congrés des rois (in Zusammenarbeit mit elf weiteren Komponisten, 1794), Joséph Barra (1794) und Denys la tyran, maïtre d’école à Corinthe (1794) – Opern, mit denen die Gattung begründet wurde –, als auch Luigi Cherubinis Les deux journées ou Le porteur d’eau (1800) und Faniska (1806), die Leonoren-Opern und Ludwig van Beethovens Fidelio op. 72 sind von der Idee der Etablierung einer gerechteren Welt getragen, denn die zunächst durch die Tyrannei unterdrückte Freiheit wird stets am Ende in ihr Recht gesetzt. Noch Revolutionsopern des 20. Jahrhunderts – wie II piccolo Marat (1921) von Pietro Mascagni – partizipieren an dieser Idee, greifen aber im Kontext einer Überwindung des innerhalb der Gattung wirksamen, gleichsam abstrakten Freiheitspathos auf konkrete Ereignisse der Französischen Revolution zurück. Umberto Giordanos Andrea Chénier markiert den Beginn dieses auf eine Konkretisierung der Historie abzielenden Traditionsstranges. Allerdings gibt die Oper zugleich mit dem Verzicht auf die Darstellung tatsächlicher Freiheit und dem Geschichtspessimismus, der eine positive Entwicklung von Geschichte hin zu einer freiheitlichen Selbstbestimmung nicht mehr zu erkennen vermag, eine inhaltliche Stoßrichtung vor, die aus der Tradition ausbricht. Für die Darstellung der Vermittlung von Historie und individuellem Schicksal fanden Luigi Illica und Umberto Giordano eine singuläre dramaturgische Lösung. Die großformale Gliederung in vier Bilder statt Akte, die auf eine bildhafte Statik hinweist und innerhalb der veristischen Oper untypisch ist, und der Verzicht auf traditionelle Nummern zugunsten der Szene rücken die dramaturgische Gestaltung von Andrea Chénier in die Nähe der Szenographie eines Kinofilms bzw. in die Tradition der auf szenische Raumwirkung abzielenden Tableaubildung, wie sie in der Grand opéra von Giacomo Meyerbeer und Jacques Fromental Halévy entwickelt wurde. Die interne Gliederung der vier Bilder resultiert aus der jeweiligen szenischen Situation, d.h. der szenische Gestus ist primärer Gegenstand der musikalischen Umsetzung. Folgerichtig bilden die Vergegenwärtigung des Ancien Régime und der Revolutionswirren das dramaturgische Zentrum, während sich gemäß der Idee, dass die Emotionen und Handlungen der Figuren durch das Milieu determiniert sind, die individuelle Kundgabe aus dem szenischen Kontext herleitet. Der musikalisch entworfene historische Raum bildet die Grundlage für die Monologe und Dialoge, ohne dass diese aber – wie schon die Nummern in Mala vita – einer traditionellen Form folgen würden. Sie setzen sich mosaikhaft aus einer Reihung disparater Formsegmente zusammen, die der 35
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Komplexität der emotionalen Gestimmtheit der Figuren Ausdruck verleiht. Insofern zeichnet sich die Oper durch eine psychologische bzw. emotionale Wahrheit und Genauigkeit aus, die ihrerseits fest im historischen Rahmen verankert ist: Wahrheit des Gefühls und musikalische Darstellung der historischen Situation sind die beiden Hauptpfeiler der musikalischen Konzeption von Andrea Chénier. Das erste Bild fungiert nach Maßgabe der doppelten inhaltlichen Strukturierung der Oper der musikalischen Darstellung des Ancien Régime und der Exposition der drei Hauptakteure Carlo Gérard, Maddalena di Coigny und Andrea Chénier. Die szenische Situation, in der sich die drei Charaktere entfalten, ist durch ein Fest der französischen Adelsgesellschaft am Vorabend der Revolution gesetzt. Niemand will den Lauf der Geschichte zur Kenntnis nehmen und dass die Aristokratie die explosive politische Situation nicht erkennt, sondern schaurig-schöne Reize angesichts des sich aufbäumenden Volkes empfindet, wird in der Reaktion auf den Bericht des Abbate über die Ereignisse in Paris sichtbar. Fléville – ein drittklassiger Romancier – bemerkt: Passiamo la sera allegramente! Della primavera ai zefiri gentili codeste nubi svaniranno! Il sole noi rivedremo e rose e viole, e udremo ne l’aria satura de’ fior l’eco ridir l’egloghe dei pastori.4 Die Antwort ist ein idyllisches Schauspiel; ein Chor der Schäfer und Schäferinnen, der einen sentimentalen Rokoko-Ton entwirft, auf den die Gäste mit verzückten Ausrufen reagieren. Als Signum einer untergehenden Gesellschaft wird diese musikalisch realistische Schilderung des 18. Jahrhunderts von Giordano im ersten Bild weiter vertieft. Fiorinelli setzt sich ans Clavicembalo, schlägt präludierend eine Folge gebrochener, auf- und absteigender F-DurAkkorde an und intoniert schließlich ein Stück im Stil barocker Cembalomusik, das beredt die Basis für den ersten Dialog zwischen Maddalena und Chénier bildet. Ferner nutzt Giordano das Stilzitat der Settecento-Manier, indem er als Reaktion auf Chéniers Improvviso eine Tanzmusik im Tempo di Gavotta einsetzt. Die Schlussgestaltung des ersten Bildes aber verdeutlicht mit äußerster Schärfe den in der Gavotte aufgehobenen Niedergang des aristokratischen Machtgefüges, den Tanz auf dem Vulkan. Aus dem Hintergrund treten die Bauern unter Führung Gérards mit einem von Trommeln begleiteten Gesang auf. Eine entsetzte und gedemütigte Contessa entlässt den Diener, der seine Livree vom Leib reißt und in die Freiheit geht. Nachdem sich die Anwesenden beruhigt haben, endet das erste Bild mit dem erneuten Einsatz der Gavotte: Die aufkeimende Revolution und die mit ihr verbundene Gefahr für die Aristokratie konnten ein letztes Mal gebannt werden. H A NS-JOACHIM WAGN ER
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Die Festvorbereitung und das eigentliche Fest bilden den Kontext, in dem die drei Protagonisten exponiert werden. Carlo Gérards Monolog »Compiacente a’ colloqui« entwickelt sich übergangslos aus den Anweisungen des Haushofmeister und bildet gleichsam deren Kommentar. In dem inhaltlich und musikalisch dreigeteilten Monolog greift Gérard zunächst voll beißendem Spott den manierierten Konversationsstil der Aristokratie auf, doch der spöttische Tonfall schlägt rasch in Melancholie um, als er seinen alten Vater unter der Last eines Möbelstückes beinahe zusammenbrechen sieht. Der dritte Teil des Monologs hingegen zeigt die selbstbewussten Aspekte seiner Persönlichkeit, den Hass des dritten Standes auf den Adel und die Gewissheit, dass die morbide Gesellschaft eines Tages untergehen wird. Maddalena di Coignys Charakterisierung entwickelt sich aus der zweiten Szene, in der zunächst – von einem transparenten Orchestersatz mit Flöten, Harfe und Streichern begleitet – die Gräfin, Maddalena und Bersi auftreten. Ein kurzes Insieme von Gérard und Maddalena deutet zwar auf die heimliche Liebe Gérards zu der jungen Frau, deren Auftritt aber bringt die soziale und emotionale Distanz zwischen den beiden Figuren zum Ausdruck: Maddalena wird als verwöhntes Mädchen dargestellt, das einzig auf sein Äußeres bedacht ist und sich scherzend über die Etikette empört. Andrea Chénier stellt sich in seinem Improvviso vor. Auf das Drängen von Maddalena hin lehnt Chénier zunächst ab, sein künstlerisches Credo zu formulieren. Als aber in seiner Replik das Wort »Amor« fällt und die ihn umringenden Mädchen spöttisch lachen, hält er eine Verteidigungsrede auf die Liebe, die zugleich Ausdruck seiner literarischen Poetik ist. Dieser Monolog vereint die musikdramaturgischen Hauptmerkmale, die Giordano in Andrea Chénier zur Anwendung bringt. Er entwickelt sich logisch aus dem szenischen Kontext und seine Einzelteile sind nicht traditioneller formaler Geschlossenheit verpflichtet, sondern folgen präzise den unterschiedlichen, im Text festgehaltenen Emotionen. Die Dramaturgie der harten Fügung ist in die geschlossene Form verlegt und zieht eine Kontrastierung, divergierender vokaler Linien nach sich. Das kurze Rezitativ »Colpito qui m’avete« leitet zur Introduktion »Un dì all’azzurro spazio...«, einer B-Dur verankerten und nach C-Dur modulierenden, ausladenden Melodielinie über kontinuierlichem Streichertremolo (A-Teil). Der zweite Teil des Monologs »Su dalla terra« schließt sich nach einer Fermate und durch einen abrupten Wechsel der Tonart von C-Dur nach Es-Dur markiert an. Die Singstimme erhebt sich nun über ausgedehnte Harfenarpeggien zum Cantabile (B-Teil). Der dritte Teil »Varcai degli abituri l’uscio« entwickelt aus einem quasi erzählenden Arioso eine dramatische Deklamation, ein Parlar forte zu spannungsvollen Streichertremoli und chromatisch absteigenden Figuren der Blechbläser. Der D-Teil »In cotanta miseria« ist als melodisches Rezitativ konzipiert, bis sich schließlich die Singstimme zur vollen Kantabilität, zur ›Melodie des langen Atems‹ aufschwingt und der Monolog in einem schwärmerischen Hymnus 37
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kulminiert (»Non conoscete amor«). Der Orchestersatz entwirft als Basis der monologischen Äußerung ein musikalisches Kontinuum, das die kontrastierenden emotionalen Stimmungen trägt und daher nicht autonomen musikalischen Gesetzen gehorcht, sondern in offensichtlicher Verwandtschaft zur Funktion der Musik im Film einen illustrierenden Hintergrund entwickelt: Die Musik folgt weniger der Struktur des einzelnen Textsegments als der darin aufgehobenen Stimmung. Giordano arbeitet schließlich mit motivischen Zellen; Melodien, deren Behandlung sich als Reihung bzw. Sequenzierung beschreiben lässt. Jenseits einer partiellen Verarbeitung treten die motivischen Segmente wie das Motiv bei »Ecco la bellezza della vita« als Chiffre der Liebe zwischen Chénier und Maddalena – z.T. als Reminiszenzen wieder auf, ohne aber im engeren Sinne leitmotivische Funktionen zu übernehmen. Die gleichsam private Atmosphäre der adeligen Gesellschaft im ersten Bild wird in den Bildern zwei und drei durch die Darstellung der Öffentlichkeit ersetzt: Es sind Bilder, die das Volk auf die Bühne bringen und deren dramaturgischer Sinn in der Wiedergabe der Revolutionswirren zu suchen ist; jener Wirren, die das Leben der drei Hauptakteure in ganz unterschiedlicher Weise verändert haben. Das zweite Bild hebt sich mit einer Schilderung der gesellschaftlichen und sozialen Situation in Paris im Jahre 1794 an. Brillante Streicherfiguren und fanfarenartige Trompetenstöße eröffnen die Szene mit dem bunten Treiben auf dem Cours-la-Reine und der Terrasse des Café Hottot. Der Sansculotte Mathieu, der Spitzel Incredibile und Bersi – heimliche Vertraute von Maddalena – vermitteln ein exaktes Bild der Stimmung, die zwischen der Verehrung für den Revolutionär Marat und der Angst vor den diktatorischen Machenschaften Robespierres schwankt. Als ein Karren mit den zur Guillotine Verurteilten vorüberzieht, erreicht das Treiben seinen ersten Höhepunkt: Das Geschrei der Menge, die dem Wagen nacheilt, wird gemäß der veristischen Idee des zitierten Liedes von einem Motiv aus dem im Jahre 1789 entstandenen französischen Revolutionslied »Ça ira« begleitet. In wirkungsvollem Kontrast und als Kehrseite des Jubels konzipiert, kommentiert der Incredibile die Äußerungen Bersis. Sein Entschluss, ihre Beziehung zu Chénier und der unbekannten Frau zu verraten, fällt in einem gleichsam schäbigen Secco-Rezitativ. Aus der Schilderung der gespannten und für das Individuum kaum mehr durchschaubaren Zustände entwickelt sich der Dialog Roucher-Chénier. Chéniers Leben ist gefährdet, er gilt als Feind der Revolution, will aber nicht fliehen, weil es sein Schicksal ist, die Liebe zu suchen. Nicht politisches Handeln, sondern die sich in lyrischer Emphase offenbarende Liebessehnsucht beherrscht seine Gedanken. Der Rückzug in die Privatheit erscheint als einzig möglicher Ausweg aus dem gesellschaftlich-sozialen Dilemma, und darin manifestiert sich zweifellos ein konservativer Zug des Librettos, der dem historischen Dichter und Politiker Chénier nicht entspricht. Dass der Rückzug in die Privatsphäre allerdings unmöglich ist, wird durch die szenischen H A NS-JOACHIM WAGN ER
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Ereignisse verdeutlicht: Noch während des Dialogs drängt die Menge erneut auf die Bühne: »Intanto presso il ponte si accalca gran folla nell’attesa dell’uscita dei Rappresentanti, i Cinquecento. Folla varia, diversa e strana. Tutto il torrente dell’Opinione pubblica è là ad aspettare l’idolo dell’opinione pubblica, la bussola del patriottismo: Massimiliano Robespierre.«5 Eine mehrdimensionale Chor- bzw. Ensembleszene thematisiert die unterschiedlichen Reaktionen auf die Revolution und spannt sie in einer parallelen harten Fügung schroff zusammen. Während das Volk die Revolutionshelden bejubelt, haben Chénier und Roucher nur Spott für die neuen Herren übrig. Gérard und der Incredibile hingegen nutzen die Möglichkeit, über eine Gefangennahme Maddalenas zu sprechen. Chénier sucht das hastige Gespräch mit Bersi, der Botin Maddalenas, das vom Incredibile belauscht wird. Die turbulente Straßenszene versinkt nach und nach in der hereinbrechenden Dunkelheit, deren unheilvolle Atmosphäre musikalisch illustrierend umgesetzt wird. Eine auf- und abschwellende dreitönige Bassfigur der tiefen Streicher, einfache Figuren der übrigen Streicher, Liegetöne der Holzbläser und kurze Trommelwirbel malen das Bild des nächtlichen Paris. Während die Lampenanzünder durch die Straßen ziehen, kommt Mathieu zum Altar von Marat: Er zitiert die »Carmagnole«, ein Lied der Französischen Revolution aus dem Jahre 1792. Luigi Illicas Regieanweisung für diese Szene offenbart seine Interpretation der historischen Ereignisse: »È già sera e col giorno l’apparenza di gaiezza è scomparsa. L’aria stessa apparve livida; il ponte Peronnet assume un aspetto sinistre. Il passo cadenzato delle pattuglie in diverse direzioni completa il terrore. Si, è proprio la Parigi del Terrore!«6 Nach dieser Szene, die aus dem Kontrast zwischen Tumult und nächtlicher Stimmung ihre Wirkung bezieht, tritt Maddalena als Prostituierte verkleidet auf. Sie sucht Chénier, der wenig später erscheint. Während sich die beiden nun zum ersten Mal ihrer gegenseitigen Liebe versichern, werden sie vom Incredibile belauscht, der sich aber bald entfernt, um Gérard herbeizuholen. Das Duett als lyrischer Höhepunkt des Aktes zitiert das Liebesmotiv aus Chéniers Improvviso und führt die beiden Stimmen auf dieser Grundlage zum Liebesschwur bis in den Tod. Entsprechend der dramaturgischen Konzeption der Oper ist das individuelle Glück jedoch nicht von Bestand. Gérard tritt auf, und während Maddalena noch mit Roucher fliehen kann, wird Chénier in einen Zweikampf verwickelt, in dessen Verlauf der Dichter Gérard verwundet. Das vom Incredibile herbeigeholte Volk strömt tumultartig auf die Bühne und fordert Rache für die ruchlose Tat. Gérard aber, der Chénier gewarnt und ihn gebeten hatte, sich um Maddalena zu kümmern, nennt den Namen seines Widersachers nicht. Das Bild schließt mit einem Zitat aus dem ersten Volksauftritt. Während das zweite Bild das permanente Eindringen der geschichtlichen Ereignisse in das Leben der Akteure thematisiert, kommt es im dritten Bild zur direkten Konfrontation mit dem System der Revolution. Mächtige 39
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Blechbläserakkorde zu Beginn – von B-Dur nach F-Dur modulierend – markieren das lastende Gewicht der Zeitumstände. Sie münden in eine Rezitation Mathieus, der über die politischen Ereignisse berichtet und von der Menge Spenden zur Durchsetzung der Ideale der Revolution verlangt. Kaum jemand rührt sich, und erst als Gérard erscheint, um mit ähnlichen Worten, allerdings zu pathetischem Gesang erhoben, Gold und Blut für das Vaterland zu fordern, kommt das Volk bereitwillig dem Ansinnen seines Anführers nach. In einer rührseligen Szene gibt die alte Madelon ihren einzigen noch lebenden Verwandten, ihren halbwüchsigen Enkel, für die Revolution hin. Der Saal leert sich, Gérard bleibt allein zurück, während sich die Menge auf der Straße optimistischer Lebensfreude hingibt. Giordano zitiert Text und Musik der »Carmagnole«; ein Zitat, das in diesem Kontext eine ähnliche Bedeutung gewinnt wie die Gavotte im ersten Bild: Beide Tänze erweisen sich als doppelbödig, als Versuch, vor der konkreten historischen Situation die Augen zu verschließen. In den Dialog zwischen dem Incredibile und Gérard über die Erfolge bei den Ermittlungen nach Chénier und Maddalena di Coigny platzt die gesprochene Nachricht von der Verhaftung des Dichters. Der listige Spitzel kommentiert ironisch, eingefangen in einer Tonsprache, die aus dem musikalischen Umfeld der Revolutionsbilder herausfällt. Formal ist der Kommentar eine reguläre, in sich geschlossene Arie, musikalisch aber wird sie durch den 3/4-Takt, das hüpfende Staccato und den Rekurs auf das komische Parlando der Opera buffa in eine uneigentliche, falsche Sprache gefasst. Als schroffer Kontrast setzt Gérards Monolog »Nemico della patria« ein. Erneut ist es wie im ersten Bild ein inhaltlich und musikalisch mehrteiliger Monolog. Zunächst verfasst Gérard die Anklageschrift gegen Chénier, doch dann versinkt er ins Nachdenken über sein eigenes Verhalten. Die Ideale der Jugend – die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit – sind in den Wirren der Revolution untergegangen, und Gérard wird sich der Triebfeder seines Handelns bewusst: Es ist die Liebe zu Maddalena, die Begierde, sie zu besitzen. Als in dieser Situation Maddalena auftritt, gesteht ihr Gérard seine Liebe. Es ist eine Liebe der Gewalt und des Bedrängens, die Maddalena in einer dramatischen Auseinandersetzung zurückweist, bis sie ihm schließlich ihren Körper anbietet, wenn damit das Leben Chéniers gerettet ist. Gérard ist überwältigt von dieser Opferbereitschaft und lässt von ihr ab. Nun erzählt Maddalena in der Arie »La mamma morta« ihr Schicksal unter den Revolutionswirren. Die düstere Klage über ihr von Hunger und Krankheit gezeichnetes Leben wird von einem äußerst sparsamen Orchestersatz getragen. Erst, als sie ihre Liebe zu Chénier offenbart, erheben sich Orchester und Singstimme zu lyrischer Emphase. Gérard erfährt im Verlauf der Schilderung Maddalenas einen Sinneswandel und will nun alles versuchen, um Chénier zu retten, muss aber erkennen: »La rivoluzione i figli suoi divora« – gefasst in erregten Orchesterpassagen und einem exaltierten Sprechgesang. Der Schlussteil des dritten Bildes ist H A NS-JOACHIM WAGN ER
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der Gerichtsverhandlung gewidmet, und demgemäß nimmt der Chor eine zentrale Rolle ein. Die Menge kommentiert immer wieder die Ereignisse des Tribunals, zischt die Angeklagten nieder, erscheint als blutrünstige, von Gewalt und Rachsucht getriebene, seelenlose Masse. Erst Chénier kann gegen den Vorwurf, Hochverräter und ein Schreiber gegen die Revolution zu sein, Stellung beziehen. Seine Verteidigung »Sì, fui soldato« ist ein deklamatorisch angelegtes Plädoyer fürs Vaterland, das sich nur partiell zu vokaler Emphase erhebt. Gérards Verteidigung von Chénier aber steigert sich in eine exaltierte Dramatik: Gérard offenbart das wahre Gesicht der Revolution: Qui la giustizia ha nome tirannia! Qui è un orgia d‘odi e di vendette! Il sangue della patria qui cola! Siam noi ehe feriamo il petto della Francia! Chénier è un figlio della Rivoluzione! L’alloro a lui, non dategli la morte! La Patria è gloria! Odila, o popolo, là è là patria, dove si muore colla spada in pugno! Non qui dove le ueeidi i suoi poeti.7 Die Menge schreit Gérard nieder, der Gesang schlägt in Sprechen um, von einem rhythmisch-hämmernden Fanfaren-Motiv der Blechbläser und heftigen Figuren der Streicher gestützt. Gérard kann das Todesurteil für Chénier nicht abwenden. Das vierte Bild bildet einen schroffen Kontrast zu den beiden vorangegangenen Revolutionsbildern. Pointiert formuliert finden Andrea Chénier und Maddalena di Coigny in diesem Bild zu sich selbst und zueinander, und dieser Prozess ereignet sich in Verkehrung der tatsächlichen Situation: Angesichts des bevorstehenden Todes offenbaren sie ihre unumschränkte Individualität; eine Eigenständigkeit, die gerade Ursache für das Nichtbestehen in den Revolutionswirren war. Dass die Figuren aus der konkreten Historie herausgelöst sind, hat Giordano nachhaltig durch die musikalische Gestaltung des Schlussbildes unterstrichen. Eine düstere Folge von Molldreiklängen (e-Moll / g-Moll / e-Moll / g-Moll / d-Moll / f-Moll / c-Moll) vergegenwärtigt zwar die ausweglose Situation Chéniers, doch der Dichter ist gleichsam nicht mehr von dieser Welt. Unbeeindruckt rezitiert er seine letzten Verse: »Come un bel dì di maggio«; eine lyrische Emanation, die sich zu emphatisch-passioniertem Gesang erhebt. Die konkrete Historie, die bislang immer wieder in die Privatsphäre eingebrochen ist, firmiert als nur mehr fernes Menetekel: Mathieus »dentro le scene, molto lontano, senza rigore di tempo« intoniert die Marseillaise. Ein letztes Mal dringt die Revolution in die Handlung ein: Maddalena macht sich – als Ausdruck ihrer Individualität – die Funktions 41
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mechanismen des Systems zunutze. Bestechung und Korruption erlauben ihr, gemeinsam mit Chénier in den Tod zu gehen. Angesichts des Todes vereinen sich die beiden Stimmen in einem hymnischen Schlussduett. Im Tod triumphiert die Überwindung der historischen Gebundenheit: »La nostra morte è il trionfo dell’amor!« Der Hymnus auf die Liebe und die Apotheose der Emotion markieren zugleich einen Gegenentwurf zur Unmenschlichkeit der Revolution. Für die Geschichte des musikalischen Verismo ist Umberto Giordanos Revolutionsoper Andrea Chénier in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Die innerhalb der veristischen Dramaturgie programmatische Idee einer realistischen Fundierung der Handlung durch das Zitat präexistenter Musik und deren Montage in den Tonsatz führt im Rahmen des historischen Sujets zum Zitat historischer Musik, die die Historie exakt nachzeichnet und im Blick auf das Gesamtwerk einen dramaturgisch motivierten stilistischen Eklektizismus hervorbringt. Das erste Bild repräsentiert das Ancien Régime mit Zitaten einer Gavotte, eines Cembalostückes und der Rokokoidylle eines Schäferchores. Die Revolutionsbilder zitieren – meist als Bühnenmusik – die Carmagnola, die Marseillaise und das »Ça ira«: Das stilisierte Rokoko und der gespreizte Konversationsstil werden abgelöst von Marsch und Rundtanz. Zugleich übernimmt der Chor eine herausragende Funktion. Dem ätherischen, gleichsam falschen Hirtengesang im ersten Bild steht in den Revolutionsbildern ein Chor gegenüber, der sich als exaltierte Menge geriert und dessen Gesang, zumal im dritten Bild, nicht selten in bloßes Schreien umschlägt. Den Kontrast zwischen dem Ancien Régime und den Revolutionsbildern fasst Giordano schließlich in der Instrumentation: Clavicembalo, Harfe, Flöten und hohe Streicher als Chiffren des musikalischen Rokoko werden in den Revolutionsbildern durch Militärtrommel, Tamtam und Blechbläser, durch Basstrommel, acht kleine Trommeln und Schellen auf der Bühne ersetzt. Der eigentliche Fortschritt aber gegenüber den historischen Opern von Ruggero Leoncavallo, die das Zitat historischer Musik ebenfalls einsetzen, liegt in der dramaturgischen Vermittlung von Historie und individuellem Schicksal. Die Geschichte und mit ihr die zitierte Musik firmieren nicht länger als exotisch-pittoreskes Beiwerk, sondern bestimmen das Handeln und die Emotionen der Figuren: eingefangen in einem permanenten Wechsel von Öffentlichkeit und Privatheit, von Massenszene und individueller Kundgabe, von szenischer Totale und extremer Nahsicht auf das Individuum.
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1: »Gestern habe ich den ganzen Anfang des zweiten Aktes bis zum Vorbeifahren des Karrens mit den Verurteilten fertig gestellt. Ich versichere Dir, dass er wirklich gut geworden ist, weil darin viel Begeisterung steckt. Ich liebe diesen zweiten Akt. Das Anstimmen der Carmagnole muss, glaube ich, von großer Wirkung sein. Das Stück der Fanchon – [später Bersi, d.A.] – ist mir wirklich gut gelungen, weil die Verse und der Kontrast etwas ganz Besonderes sind. […] Ich vergaß noch: Ich habe für das Liebesduett im zweiten Akt eine schöne melodische Phrase gefunden. Das Stück ist noch nicht geschrieben, dafür aber die Phase: »Ora dolcissima – benedico il periglio« [später »Ora soave, sublime ora d’amore«, d.A.]. Kurzum, mit dem zweiten Akt bin ich mir sicher, weil ich ihn einfach zu schön finde.« 2. »Ich glaube, dass ich mit dem Akt bald fertig sein werde. Alles, was ich geschrieben habe, gefällt mir sehr gut. Ich möchte Dich in diesem zweiten Akt nur um eine Änderung bitten: Anstelle des Liedes des Sansculotten »V›è chi si duol del cittadino Iddio, ecc.« möchte ich eine Ronde für Orchester einfügen und damit der vorbeimarschierenden Patrouille eine gewisse Bedeutung und Farbe verleihen: So wie sie jetzt ist, wird sie durch das Lied des Sansculotten und diejenigen, die das Finale zünden, überdeckt. Ich habe das Stück bereits für Orchester geschrieben, und da es sehr hübsch geworden ist, möchte ich es unbedingt in die Oper einfügen. Was meinst Du dazu?« 3 Vollständiger Triumph für den ersten - dritten - vierten Akt. Erfreulich auch zweite. Zwanzig Hervorrufe für die Künstler und den Maestro. Man verlangte auch nach dem Librettisten. Kommen Sie uns daher zu Hilfe. 4 Lasst uns den Abend fröhlich verbringen! Die lauen Frühlingswinde werden diese Wolken vertreiben. Wir sehen die Sonne wieder, und Rosen und Veilchen, und wir hören in der mit Blumenduft gesättigten Natur, die Weisen des Schäfers! 5 Inzwischen drängt sich bei der Brücke eine große Menge Volkes zusammen in der Erwartung, die Repräsentanten der Fünfhundert herauskommen zu sehen. Allerlei verlaufendes und sonderbares Gesindel. Der ganze Schwarm, der die öffentliche Meinung macht, um ihr Idol zu begrüßen, den Kompass des Patriotismus, Maximilien Robespierre. 6 Es ist bereits Abend und mit dem Tag ist der Anschein von Fröhlichkeit verschwunden. Die Luft selbst erscheint fahl, die Peronnet-Brücke nimmt ein unheimliches Aussehen an. Die Schritte der Patrouillen in verschiedenen Richtungen vervollständigen den Schrecken. Ja, es ist tatsächlich das Paris des Terrors! 7 Das ist eine Orgie des Hasses und der Rache! Das Blut des Vaterlandes wird hier verschüttet! Wir selbst zerfleischen die Brust Frankreichs! Chénier ist ein Sohn der Revolution! Er verdient Lorbeeren nicht den Tod! Hoch unser Vaterland! Hört, das Vaterland ist dort, wo man mit dem Schwert in der Faust fällt, nicht hier, wo man die eigenen Dichter ermordet!
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Maximilien de Robespierre
UNSERE FEINDE VERBERGEN SICH ÜBERALL Wenn die Tugend zu Friedenszeiten allein die Kraft der demokratischen Regierung ausmacht, so gilt für eine Revolution, dass sich diese Kraft gleichermaßen aus der Tugend und dem Terror speist: Ohne die Tugend ist der Terror verderblich und ohne Terror ist die Tugend ohnmächtig. Der Terror ist nichts anderes als die rasche, strenge und unbeirrbare Justiz. Der Terror ist damit ein Ausfluss der Tugend.
Sobald die Macht des Hofs gebrochen, die Nationalrepräsentation aus Neuwahlen hervorgegangen und eine Nation versammelt ist, wird das öffentliche Wohl gesichert sein. Bürger, wollen Sie eine Revolution ohne Revolution? … Die Septembermassaker waren eine Volksbewegung … Jene Empfindlichkeit, die beinahe stets nur um die Feinde der Freiheit bangt, ist mir verdächtig. Diejenigen unter Euch, die keine Jakobiner sind, sind auch nicht richtig tugendhaft. Ich behaupte, dass, wer immer in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, denn die Unschuld hat von der öffentlichen Überwachung nichts zu befürchten. Unsere Feinde verbergen sich überall. Sie sind mit Rat und Tat in unseren Verwaltungen, in den Sektionen der Versammlungen vertreten; sind in unsere Clubs eingesickert, ja, sie nahmen selbst im Heiligtum der Nationalrepräsentation Plätze ein; sie verfolgen, und werden dies immer tun, die Gegenrevolution nach ein und demselben Plan.
→ KS Anna Netrebko als Maddalena, 2019
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Rotraud A. Perner
DAS ELENDE VERGNÜGEN, ANDERE SCHLECHTER ZU FINDEN ALS SICH SELBST »Französische Revolution: die große Dekapitation« oder »Das große Köpferollen«
Gewalt wurzelt im Vergleich: man sieht andere Menschen oder auch Tiere in ihrem Verhalten und »schaut ab«: Man ahmt vor allem dann nach, wenn man dabei gute – seelenwärmende – Gefühle bekommt oder diese den anderen neidet. Seit der Entdeckung der von ihnen sogenannten Spiegelneuronen durch italienische Neurophysiologen (Giacomo Rizzolatti und andere) in den 1990er Jahren kennen wir diesen Mechanismus: wenn man sich mit solch einem unbewussten Vor-Bild identifiziert, werden nicht nur die gleichen Wahrnehmungs-, sondern auch Handlungsnervenzellen aktiviert. Um diesen Nachahmungsreizen entsagen zu können, braucht es Bewusstwerdung der eigenen Bedürfnisse (z.B. Hunger nach Anerkennung durch andere) und Motivationen (z.B. Hunger nach Rache). Immerhin liegen hier auch verinnerlichte und vielfach bewährte Beeinflussungsstrategien verborgen. Sie werden als »Werbung« – egal, ob für Produkte und Dienstleistungen, sexuelle mitgemeint, oder politische Parteien – trivialisiert und damit verharmlost. ROT R AU D A. PER N ER
Reizhunger Es gibt viele Arten von Hunger (oder Appetenz): nach Speisung, nach Aufmerksamkeit, Zuwendung, körperlicher Nähe... nach Sicherheit und in deren Gefolge nach Wissen und Macht. Sucht man bei all diesen »Anreizen« das Einigende, so findet man Hunger nach Zuwachs an Energie. Je mehr man sich leer (unbefriedigt, benachteiligt, ohnmächtig etc.) fühlt, desto drängender werden die Impulse, das eigene Energieniveau – und damit den inneren Wärmepegel – zu steigern. Die schnellste Problemlösung bieten alkoholische Getränke als quasi Flucht an die »stillende« Mutterbrust. Sie machen erst warm (erweitern die Blutgefäße), dann hitzig (streitlustig) und zuletzt dösig (abgestumpft). Und sie können süchtig machen. Das nächstschnellste Aufheizen geschieht durch Teilhabe an einer erregten Menge bzw. Person, mit der man sich identifiziert – oder die man gleichsam als Sparringpartner bekämpft. Auch dies kann Suchtcharakter (und bei Entbehrung Entzugserscheinungen) bekommen. Wenn man einander real oder auch nur gedanklich frontal gegenübersteht, kann man die »gegnerische« Energie spüren; jeder Gedanke ist ja ein chemisch-elektrischer Prozess und führt zu messbaren Veränderungen (Auf- oder Abladungen) des elektrischen Hautwiderstands. Wie man darauf reagieren kann oder auch will, hängt vom »erlernten« Repertoire an Verhaltensmustern ab und damit einerseits von Erziehung, Indoktrination und sonstigen Beeinflussungen (z.B. durch audio-visuelle Vorbilder) und andererseits von kritischer Selbstreflexion und ethischer Positionierung. Biologisch erklärt sich diese aufsteigende »Glut« als Adrenalinausschüttung: der Körper macht sich kampf- bzw. paarungsbereit (und das kann auch ohne konkreten Anlass in der Gegenwart geschehen, wenn sich etwa übermäßig viele Phantasien von Ermangelung aufgestaut haben). Für beide Arten von Aktivität braucht der Organismus mehr Energie, nämlich zur Überwindung von Grenzen – der eigenen Ausgangs-Befindlichkeit (z.B. einer depressiven Grundstimmung) wie auch für Beschleunigung von Bewegung oder zur Erhöhung von Schlag- und Stoßkraft oder des Stimmvolumens, aber auch der Grenzen des sogenannten Guten Benehmens oder des Strafgesetzes. (Anstand bedeutet ja auch, an Grenzen anzustehen!)
Grenzüberschreitungen Grenzüberschreitungen werden durch das Eintauchen in eine weitgehend anonyme Masse erleichtert. Sich allein in eine Hitze des Gefechts zu begeben, birgt hingegen vielerlei Risiken: man ist bekannt, erkannt oder zumindest identifizierbar, man kann unmittelbar zu Schaden kommen, verantwortungspflichtigen Schaden anrichten, straf- und zivilrechtliche Folgen zu tragen 47
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haben oder geächtet und aus der sozialen Gemeinschaft gedrängt werden. All diese Bedrohlichkeiten verschwinden, wenn gemeinschaftlich »über Grenzen gegangen« werden darf oder dies im Nachhinein entschuldigt wird. Manche Menschen suchen durchaus bewusst die Zugehörigkeit zu »elitären« Gruppierungen, die mörderische Exzesse befürworten oder gar ritualisieren – und manche schaffen sie sich in einer Wahnwelt (wie vermutlich Franz Fuchs oder Anders Behring Breivik). Diese Grenzen sind fließend. Die bewertende Einordnung liefert oft erst die Geschichtswissenschaft. Eliten verorten sich selbst sozial »oben« (und blicken auf »Untermenschen« herab) oder »unten« (und bekämpfen »die da oben«). Grenzen trennen. Grenzen schränken ein. Grenzen fordern zur Überwindung heraus. Grenzen schaffen Ordnung/en – im Vorhinein wie im Nachhinein. Unsere Urgrenze ist unsere Haut. Sie umschließt das Innen des physischen Körpers und reagiert auf das Außen wie auf das Innen, und manches davon ist »zum aus der Haut fahren« – wenn die innere Hitze zu groß wird oder umgekehrt die Notwendigkeit, die lähmende innere Kälte zu vertreiben. Bis wir in unserer Entwicklung fähig sind, das Äußere als Fremdes zu erkennen und das »Fremdeln« (den Widerstand dagegen in der »Acht-Monats-Angst« des Noch-nicht-Einjährigen) zu überwinden, braucht es Zeit und geduldiges Ausharren der Bezugspersonen, wenn das Kleinkind das kurzfristige Weglaufen aus der engen sozialen Geborgenheit »übt«. In diesem Alter – so um das Ende des zweiten Lebensjahres – ist die Muskulatur des Kindes stark genug, seine Körperwaffen einzusetzen (beißen, schlagen, zwicken – treten geht meist noch nicht aufgrund mangelnder Körpergröße). Das Kind ist unbewusst grausam und verletzend. Je nach Erziehungsstil werden die Folgen abgemahnt und mögliche Kraftdosierung geboten werden – oder man trainiert die Wildheit bzw. lässt »verwildern«. Als Teil einer größeren Anzahl erregter Menschen werden späterhin bei vielen Menschen solche emotionalen Erfahrungen aus frühester Kindheit wiederbelebt: sie spüren den Impuls zur körperlichen Aktivität – zum Hinlaufen, Hingreifen, Hinschlagen (beispielsweise beim Besuch von Fußballspielen) und äußern diesen im zivilisierten Idealfall in Anfeuerungs-, Jubeloder Buhrufen. Klare Frontbildungen spiegeln dabei die seinerzeitige Situation des Grenzen austestenden Kleinkinds gegenüber seinen Erziehungspersonen wider. Da wir alle solche Situationen im Erinnerungsspeicher haben, sind wir leicht zu kulturellen, sozialen, religiösen, politischen etc. und auch nationalen Frontstellungen zu verlocken. Dazu zählt auch die Verleugnung (oder Rationalisierung als »Nur zu deinem Besten!«) eigener gelegentlichen sadistischen Impulse. Einschränkungen überwinden zu wollen entspricht dem ungezügelten individuellen Wachstumsstreben und ist eigentlich ein Zeichen von GesundROT R AU D A. PER N ER
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heit und Vitalität – außer, »die Gesellschaft« definiert die konkrete Ausprägung als antisozial bzw. asozial, was sie dann zugunsten der Teilhabe an der sozialen Gemeinschaft mit Ersatzangeboten (oder Hierarchisierung) zu regulieren versucht.
Ersatzangebote »Das Fest der Martern« nannte der französische Philosoph Michel Foucault (1926 – 1984) öffentliche Foltern und Hinrichtungen. Zurschaustellung, Pranger, Halseisen, Peitsche und Brandmarkung waren als »Zugabe« die Regel bei allen Verurteilungen zur Galeere bzw. für Frauen zu Zuchthaus. Er schreibt: »Die peinliche Strafe ist eine Technik und hat nichts mit einer gesetzlosen Raserei zu tun. Um eine Marter zu sein, muss die Strafe drei Hauptkriterien entsprechen: sie muss einmal eine bestimmte Menge an Schmerzen erzeugen, die man, wenn schon nicht messen, so doch abschätzen, vergleichen und ordnen kann; der Tod ist eine Marter, sofern er nicht einfach den Entzug des Lebensrechts darstellt, sondern Anlass und Abschluss einer kalkulierten Abstufung von Schmerzen: von der Enthauptung – die alle Schmerzen auf eine einzige Geste und einen einzigen Augenblick reduziert und damit den Nullpunkt der Marter bildet – über den Galgen, den Scheiterhaufen und das Rad bis zur Vierteilung, welche die Schmerzen beinahe ins Endlose steigert; die Todesmarter ist die Kunst, das Leben im Schmerz festzuhalten, indem sie den Tod in ›tausend Tode‹ unterteilt und vor dem Erlöschen der Existenz ›the most exquisite agonies‹ erreicht.« Die Marter als »quantifizierte Kunst des Schmerzes« hat jedoch Regeln, wonach Intensität, Dauer, Ansatzpunkt am Körper etc. mit der Schwere des Verbrechens, der Persönlichkeit des Verbrechers und dem Rang seiner Opfer in Beziehung gesetzt wird. Reale Marter kann also unter die »darstellenden Künste« eingereiht werden – analog zu anderen visuellen Performances. Die Frage, die sich dabei erhebt, lautet: auf welche Reaktion des »Publikums« wird dabei gezielt? Nur Erregung? Bestätigung des eigenen Verhaltens (bzw. der eigenen Recht-Sprechung)? Mitgefühl? Widerstand (s. Milgram-Experiment)? Oder Verrohung? (All das gilt auch für Boxkämpfe, Stierkämpfe, Autorennen und HardcorePornographie sowieso.) Heute muss man das Ziel des kommerziellen Erfolgs dazu zählen, wie Guy Debord in Die Gesellschaft des Spektakels betont: »Im Bild der glücklichen Vereinheitlichung der Gesellschaft durch den Konsum ist die reale Teilung nur bis zum nächsten Nichterfüllen im Konsumierbaren aufgeschoben. Jedes besondere Produkt, das die Hoffnung auf eine blitzschnelle Abkürzung darstellen soll, um endlich ins gelobte Land des Konsums zu gelangen, wird der Reihe nach zeremoniös als die entscheidende Einzelheit hingestellt.« Und auch den Trend, Erfolge »toppen« zu wollen, was Debord ebenfalls (1967!) 49
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voraussah: »Der Prestigecharakter kommt diesem beliebigen Produkt nur dadurch zu, dass es als offenbares Mysterium der Produktionsfinalität für einen Moment ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gestellt wurde. Der Gegenstand, der im Spektakel ein Prestige hatte, wird vulgär, sobald er bei diesem Konsumenten und gleichzeitig bei allen anderen eintritt.« Der französische Dämonologe Roland Villeneuve (1922 – 2003) zitiert den Literaturkritiker Thierry Maulnier (1909 – 1988), Folter sei die Perversion des Mitleids wie Obszönität die Perversion der Scham sei.
Gefühlsverrohung Bei vielen Jugendlichen kann man beobachten, wie sie bei erstmaliger Konfrontation mit dem Grauen (etwa in Horrorfilmen) versuchen, sich durch Lächerlichmachen gegen die aufkeimende Gefühlsüberflutung abzugrenzen. Wer sich unbewusst oder auch bewusst davor schützen will, vom Mitleiden ergriffen zu werden, findet eine Abwehrmöglichkeit darin, sich der Front der Täter anzuschließen. Mitleiden wird vielfach subjektiv als Schwäche verstanden: der westliche Mensch neigt zum Denken in Gegensätzen (»entweder – oder«) und verfehlt damit die Balance der Vollständigkeit (»sowohl – als auch«). Mitleiden galt traditionell als weibliche Tugend und wurde durch bildhafte Darstellungen (der klagenden Marien am Kreuze Jesu, begleitet nur vom androgynen Johannes) und Leitgedichte (wie Schillers Glocke oder Droste-Hülshoffs Einfältige Frau) propagiert, während sich der soldatische Mann möglichst ohne Gefühlsregung für Gott, Kaiser und Vaterland aufopfern sollte. (Gefühle hätten ja zur Desertion führen können.) Wem es an diesem sogenannten Mannesmut fehlte, konnte mit List (und Tücke) kompensieren. Impulse von wahrem Mut, sich Zwang und Gruppendruck zu widersetzen, sollen auf diese Weise von vornherein abgewehrt werden. Wiederum zeigt sich die Gewalt des Vergleichs: die Macht der Inszenierung (ob Prozession, Filmpremiere oder sonst ein »Mega-Event«) bietet den Sog in Masse und damit die Chance auf ein orgastisches Entgrenzungserleben, nur eben nicht in liebendem Bezug auf ein antwortendes Du. Solange Pier Paolo Pasolinis Verfilmung von de Sades 120 Tage von Sodom verboten war, gestattete sich einzelne Zuschauer das »Schauern« des Ekels. Nach dem freien Verkauf als DVD übten sie sich in Konkurrenz zu anderen Erstzusehenden in der überlegenen Position des emotional unbewegten »Connaisseurs«. (Erfahrung aus etlichen Seminaren zum Thema Pornographie.) Dabei bieten gerade die Schlussszenen, in der einer der »Stützen der Gesellschaft« wie auch sein »Adjutant« sich aus sicherer Distanz »von oben herab« an der Folterung eines Jünglings erregen und dazu masturbieren, Ansatz für die Erkenntnis, dass Schmerz – auch mitgefühlter Schmerz – in Lust kippen kann. Die Wiener Kulturwissenschaftlerin Gabriele Sorgo vertritt in ROT R AU D A. PER N ER
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ihrem Buch Martyrium und Pornographie die These, dass die Märtyrerdarstellungen in den katholischen Kirchen gleichzeitiges Büßen und Genießen ermöglichen: »Das Heldentum wird vergeistigt, statt Samen spritzt, ähnlich der Ejakulation, das Blut aus den Hälsen der Enthaupteten.«
Gefühlsverbote Wenn Gefühlsregungen als Schwäche definiert und verboten werden, suchen sie sich andere Wege, um zum Ausdruck zu kommen: Gewalt – gegen sich wie gegen andere – ist nur einer davon. Zu den anderen zählen u.a. die Sublimierungen in Kunst und Kommerz. Hinrichtungen kann man im Gefolge von Foucault zu beiden zählen. Die Begründungen als Opfer für beleidigte Gottheiten (Monarchen mitgemeint), logische Konsequenz missglückter Ordale, Strafe für Verräter oder Abschwörverweigerer, Seelenrettungsaktionen oder einfach nur Entsprechung eines tatsächlichen oder nur behaupteten Volkswillens erweisen sich als Rationalisierungen eigener unbewusster Bedürfnisse, diejenigen zu beseitigen, die Angst machen – Angst, weil sie für geliebter, begabter, wissender, stärker, mächtiger, kurz, in irgendeinem Detail für besser gehalten werden. Statt nachzufühlen, ob man wirklich konkurrieren und die dazu nötigen Kompetenzen erwerben will, oder lieber geradeaus blickend am eigenen Individuationsweg arbeiten will, werden Aktionen zur sozialen, psychischen oder physischen Zerstörung durchgeführt und in zahlreichen Modellen virtuell vorgeführt. Fragen und Anleitungen zu Gegenmodellen werden nicht gestellt. Wen wundert’s also, dass Alexithymie – die Unfähigkeit, eigene wie fremde Emotionen mitzufühlen, laut der Weltgesundheitsorganisation WHO in Europa im Zunehmen begriffen ist. Ich weiß von etlichen meiner Klienten und Klientinnen, dass ihnen grausame Szenen in Filmen helfen, überhaupt noch etwas zu fühlen. Ist also das Zusehen bei spektakulären Hinrichtungsszenen eine Art Selbstheilungsversuch auf der Suche nach dem verlorenen Gefühl?
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DAS ELEN DE V ERGN ÜGEN A N DER E SCHLECH T ER Z U FIN DEN A LS SICH SELBST
Erwin Ringel
WIE BEENDET MAN EINE REVOLUTION?
Jahre vor der Erstürmung der Bastille hat Rousseau geschrieben, dass höchste Vorsicht geboten sei, wenn sich einmal die Masse einer Idee bemächtige. Von Le Bon und Freud wissen wir, dass diese Masse sich durch eine ungeheure Beeinflussbarkeit kennzeichnet, da ihre Emotionalität jeden Verstand beiseiteschiebt, dass das Gewissen des Einzelnen in dem kritiklosen Über-Ich der Menge untergeht, welches wesentlich von dem (oder von den) Führer(n) beeinflusst wird, etwa nach dem Motto: »Führer, befiel, wir folgen dir.« Es ist schwer zu sagen, ob der immer rasendere (im doppelten Sinne des Wortes) Verlauf der Revolution auf das Kommando ihrer großen Köpfe hin zustande kam oder ob nicht diese Personen unter dem immer radikaleren Druck der Menge handelten, bis es sie selber den Kopf kostete: denn es gibt bei dem Verhältnis zwischen Führern und Masse sicherlich eine Wechselwirkung. Eines ergibt sich jedenfalls: Die beste Methode, eine Revolution zu beenden, ist, ihre Führer zu vernichten. So wurde es bei der Französischen Revolution gemacht und später auch bei der Russischen, bis hier Napoleon und dort Stalin »die Ernte« des Unternehmens für einige Zeit in ihre Scheunen führen konnten. Jedenfalls ist bei Beendigung von Revolutionen immer die große Stunde des Todes gekommen. Man könnte dazu auch mit dem General des Spanischen Bürgerkrieges Queipo de Llano sagen: »Viva la muerte!«. Und in der Tat dürfte man im Hinblick auf die Trias »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, was die »Gleichheit« betrifft, geradezu von einer »Gleichberechtigung« auf den Tod hin sprechen, fast auf ein Recht der eignen Auslöschung. In diesem Sinne schrieb Michel Blanchot über die große Französische ERW IN R INGEL
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Revolution: »Jeder Bürger hat gleichsam ein Recht auf den Tod; der Tod ist nicht das Urteil, das ihn ereilt, sondern die Essenz seines Rechts; und wenn er umgebracht wird, so nicht darum, weil er schuldig wäre, sondern des Todes bedarf, um sich als Bürger zu bestätigen: in tödlicher Vernichtung gebührt ihm die Freiheit… der Tod, wie ihn der Terror vollzieht, ist nicht nur Züchtigung aufrührerischer Fraktionen, sondern scheint, einmal zum unausweichlichen, gleichsam gewollten Schicksal aller geworden, die Arbeit der freien Menschen selbst zu sein… Der Schrecken jedoch, den die Revolutionäre verkörpern, rührt nicht vom Tode, den sie geben, sondern von jenem Tode, den sie sich selber geben, her.«
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W IE BEEN DET M A N EIN E R EVOLU T ION?
DIE GUILLOTINE UND DR. JOSEF IGNACE GUILLOTIN
Dr. Josef Ignace Guillotin, Arzt und Politiker, stellte als Deputierter am 10. Oktober 1789 in der konstituierenden Versammlung den Antrag, die Todesstrafe in einer für alle Stände gleichen, humanen Form zu vollstrecken. Er schlug die Hinrichtung vermittels einer »Köpfmaschine« vor. Man beauftragte den Sekretär der Chirurgischen Akademie, Dr. Antoine Louis, mit der Anfertigung eines Gutachtens, nach dessen Eingang ein Modell der »Köpfmaschine« angefertigt wurde. Dieses Modell wurde Louis XVI. vorgeführt, worauf dieser das diesbezügliche Gesetz am 25. März 1792 bestätigte. Die »Köpfmaschine« wurde zunächst nach ihrem Gutachter »Louisette« oder »Petit Louison« genannt. Die Bezeichnung »Guillotine« wurde erst später gebräuchlich. Die ausübende Gewalt wurde nunmehr autorisiert, den erforderlichen Kostenaufwand, der auf 7,000.000 Livres geschätzt wurde, zu decken, um diese »nützlichen« Maschinen in ganz Frankreich aufzustellen. 56
DIE ZWECKMÄSSIGKEIT EINER » KÖPFMASCHINE « » Jedermann weiß, dass schneidende Werkzeuge wenig Wirkung thun, wenn sie senkrecht treffen. Denn wenn man sie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, so sieht man, dass es bloß mehr oder minder feine Sägen sind, welche man glitschend auf den Körper wirken lassen muss, den sie trennen sollen. Man würde mit einem Beil oder Schwert, dessen Schneide geradlinig wäre, nicht mit einem einzigen Streiche ein Haupt abschlagen können, aber mit einer convexen Schneide, wie bey den alten Streitäxten, wirkt der geführte Streich nur senkrecht im Mittelpunkt des Halbmessers, und das Instrument, indem es eindringt, hat glitschend auf den Seiten eine schiefe Wirkung, und erreicht so sicher seinen Endzweck. Wenn man den Bau des Halses betrachtet, von welchem die Wirbelsäule das Mittel ausmacht, die aus verschiedenen Beinen besteht, deren Verbindung Übereinander-Falzungen bildet, sodass man keine Fuge auszuspähen im Stand ist, so kann man unmöglich auf eine schleunige und völlige Trennung gewiss rechnen, sobald man solche einem Vollzieher anvertraut, dessen Geschicklichkeit durch moralische oder physische Ursachen einem Wechsel unterworfen bleibt. Es wird zur Unfehlbarkeit der Procedur nothwendig erfordert, dass solche von mechanischen unveränderlichen Kräften abhange, deren Stärke und Wirkung auf das genaueste bestimmt werden könne. Man hat diese Todesart in England eingeführt. Der arme Sünder wird auf den Bauch zwischen zwei Pfähle oder Pfosten gelegt, die oben durch ein Querholz verbunden werden, von welchem man das convexe Beil auf den Hals herabfallen lässt. Es ist bekannt, dass seine Kraft sich in dem Maße der Höhe multiplicirt, aus welcher er herab fällt. Man kann also leicht eine ähnliche Maschine verfertigen, deren Wirkung unfehlbar seyn wird. Die Enthauptung wird alsdann dem Geiste und Wunsche des neuen Gesetzes gemäß in einem Augenblick vollbracht.« Ausgefertigt zu Paris den 7. März 1792 Louis, beständiger Secretär der chirurgischen Academie Aus: Revolutions-Almanach von 1793, Göttingen
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Philipp Blom
FREIHEIT UND LUXUS Der große aufklärerische Autor Voltaire wird immer wieder als Schutzheiliger der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte und der Toleranz gerühmt, tatsächlich aber hielt sich seine Verteidigung der Freiheit in gewissen Grenzen, die vor allem durch eines markiert wurden: durch Geld. Denn dieser moderne Sokrates war reich, so reich, dass er auf Schlössern lebte, sein Vermögen im großen Stil an Aristokraten verlieh und in den Überseehandel investierte. Am Beispiel Voltaires lässt sich zeigen, wie die Aufklärung es trotz ihres universellen ethischen Anspruchs schaffte, sich mit dem eigenen Vorteil zu arrangieren. Voltaires Beziehungen zu seinen aristokratischen Klienten und Mäzenen, unter ihnen Friedrich II. von Preußen, spiegeln ein typisches Dilemma vieler Intellektueller im 18. Jahrhundert. Sie brauchten Verbindungen zum Adel, um unbehelligt schreiben zu können und oft genug auch um ein Einkommen zu haben, sahen sich aber durch ihre Nähe zu despotischen Herrschern kompromittiert. Auch Diderot musste nach Sankt Petersburg reisen, um seiner Gönnerin Katharina der Großen zu danken. Allerdings trat er seinen Besuch in der ehrlichen (wenn auch naiven) Hoffnung an, tatsächlich politische Reformen gestalten zu können und schämte sich für seine Leichtgläubigkeit, nachdem ihn die Zarin aller Illusionen beraubt hatte und er wieder nach Paris zurückgekehrt war. Der alte Herr in Ferney wurde von solchen Skrupeln nicht geplagt. Er machte sich von Anfang an keine Illusionen. Er schrieb darüber, dass an jedem Sack Zucker, der aus den Kolonien kam, Blut klebte, aber er investierte in Plantagen und wusste, wie sein Geld sich vermehrte. Er war sich bewusst, dass die Compagnie des Indes, in der er erhebliche Geldanlagen hatte, ihre enormen Profite auf dem Rücken von afrikanischen Sklaven erwirtschaftete, und er hatte Argumente parat, diese Praxis zu rechtfertigen: »Wir kaufen ausPHILIPP BLOM
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schließlich Farbige als Haussklaven. Man wirft uns diesen Handel vor. Ein Volk, das seine eigenen Kinder verkauft, ist noch verdammenswerter als der Käufer. Dieser Handel zeigt auch unsere Überlegenheit; derjenige, der einen Meister akzeptiert, wurde geboren, ihn zu haben.« Selbst schuld, befand der Philosophenkönig bei Durchsicht seiner Dividenden. Sklaverei war ein Unglück, gewiss. Er selbst hatte in seinen Romanen Zadig und Candide bewegend darüber geschrieben. Wirklich tragisch aber war es eigentlich, wenn es Weiße betraf, denn: »Ich sehe Menschen, die mir den Farbigen weit überlegen scheinen, wie diese Farbige es den Affen gegenüber sind, und die Affen gegenüber den Austern ...« Zwar war es im 18. Jahrhundert durchaus nicht ungewöhnlich, an eine Hierarchie der Menschenrassen zu glauben und daraus moralische Berechtigungen abzuleiten, aber auch damals gab es Denker, bei denen persönlicher Vorteil und persönliche Überzeugung nicht so unmittelbar benachbart und von solider Ignoranz umrahmt waren. Nicht anders als Kant und Hegel nach ihm schrieb Voltaire mit dem größten Selbstvertrauen über Kontinente, die er noch nie, elegant beschuht, betreten hatte und deren Sprachen und Kulturen er nicht kannte. Es ist ein häufiger Fehler der Geschichtsschreibung, die moralischen Prinzipien vergangener Perioden nach den eigenen Kriterien zu verdammen. Voltaires Haltungen zeigen ihn als Kind seiner Epoche, aber fast zur selben Zeit, als er die Sklaverei verteidigte, schrieben Guillaume Raynal und Denis Diderot in der Histoire des deux Indes (1770) anonym als leidenschaftliche Gegner von Sklavenhandel und kolonialer Unterdrückung. Moralische Horizonte einer Epoche mögen allumspannend sein, aber sie sind nicht unbeweglich und es ist eben die Aufgabe der Philosophie, sie zu verstehen und auszuweiten. Auch Voltaire konnte dezidiert humanistische, edle Töne anschlagen. Alle Menschen seien Brüder, schrieb er, Kinder desselben Gottes. Nur waren eben nicht alle Kinder ebenbürtig. Die Natur mochte sie gleich gemacht haben, die Gesellschaft aber machte sie ungleich: »Auf unserem armseligen Globus ist es unmöglich, dass Menschen, die in Gesellschaften leben, nicht in zwei Klassen geteilt sind: eine der Reichen, die kommandiert, und die andere der Armen, die dient.« Auf seinem Landschloss fiel es Voltaire nicht schwer, sich mit dieser unabänderlichen Tatsache abzufinden, auch wenn die aufgeklärte Ethik gerade auf der Gleichheit aller Menschen aufbaute. Diese schönen Ideen waren letztlich nichts als erbauliche Kalendersprüche: Jeder Mensch hat im Grunde seines Herzens das Recht, sich allen anderen gleich zu dünken. Folgt daraus, dass der Koch eines Kardinals seinem Herrn befehlen darf, ihn auch zu bedienen? Der Koch kann sagen: »Ich bin ein Mensch, genau wie mein Herr.« Als ich geboren wurde, schrie ich, wie er. Er wird sterben wie ich, in den gleichen Qualen, mit denselben Zeremonien. Wir verrichten beide unsere animalischen Bedürfnisse. Wenn mal die Türken 59
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nach Rom kommen, werde ich Kardinal und er wird mein Koch: er wird mir das Mittagessen bereiten! Hier aber bremst Voltaire seinen egalitären Furor entschieden ein: »Diese Rede ist richtig und vernünftig. Aber bis der Großtürke kommt und Rom einnimmt, muss der Koch kochen: oder die menschliche Gesellschaft ist verdreht.« […] Voltaire war ein Intrigant, der immer wieder versuchte, potenzielle Konkurrenten in Paris abzusägen und seine Reputation zu schützen. Er war ein Rassist (bevor der Rassismus erfunden war), ein Apologet der Sklaverei und profitierte direkt und wissentlich von Sklavenarbeit. Er suchte die höfische Gesellschaft und war der Bankier und Vertraute von Adeligen, die Toleranz und Menschenrechte mit Füßen traten. Er war ein Snob und ein Zyniker, der argumentierte, man solle das Volk nicht bilden, sondern mit frommen Märchen und mit Staatsmacht in Schach halten. Er war auch ein großer Schriftsteller und ein wichtiger Anwalt eines liberalen Denkens. Als junger Mann hatte Voltaire drei Jahre in England verbracht, nachdem er am Hof von Versailles einmal zu viel über einen Aristokraten gelästert und dessen Potenz infrage gestellt hatte. Dieser erzwungene Aufenthalt war ein Schlüsselerlebnis für den Philosophen. Auch wenn die englische Küche ihn kalt ließ, war er tief beeindruckt von der herrschenden relativen Meinungsfreiheit, von der konstitutionellen Monarchie, von der Börse, die er als den eigentlichen Tempel des Landes beschrieb, von der oft durch Pessimismus gekennzeichneten Pragmatik der Engländer. Nur Wirtschaftswachstum konnte eine Gesellschaft offener, toleranter, liberaler und friedlicher machen, war er überzeugt. So konnte materielle Gier zum Motor des Wohlstands werden, der Markt funktionierte auch als soziales Korrektiv und belohnte die Tüchtigen. Kaufleute, nicht die Adeligen, waren die eigentlichen Helden der Gesellschaft. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie solche Ansichten im absolutistischen und standesverliebten Frankreich gelesen wurden. Für heutige Leser allerdings ergibt sich eine bemerkenswerte Parallele zur neoliberalen Wirtschaftstheorie, die zwar an den Universitäten inzwischen aus der Mode gekommen, auf politischer und kultureller Ebene aber noch immer sehr stark spürbar ist. Wie sich die Bilder gleichen. Voltaire, der erste Neoliberale? Die Ähnlichkeit ist kein Zufall, denn die Ideologie des freien Marktes ist ein Echo der rationalistischen, deistischen Aufklärung nach dem Zuschnitt Voltaires. Beide teilen Grundannahmen wie die Rationalität des Individuums, die individuelle Freiheit, die Toleranz des Marktplatzes, die selbstregulierende Kraft des rationalen Handelns und die meritokratische Elite, die politische und wirtschaftliche Geschicke ganzer Kontinente lenkt. Allerdings wird durch den Markt jeder dieser Werte ökonomisch interpretiert. Die Rationalität wird zur Rationalisierung, die Freiheit zur Deregulierung, die Elite zum Boardroom und Tugend zu wirtschaftlichem Erfolg – ein denaturiertes Spiegelbild der moderaten Aufklärung. PHILIPP BLOM
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Voltaire hat diese Entwicklung nicht vorausgesehen und er würde die Banker von heute wohl heimlich verachten, was ihn allerdings nicht daran hindern würde, Geschäfte mit ihnen zu machen. Vielleicht würde er heute diskret in Waffengeschäfte investieren, solange die Produkte in obskuren Bürgerkriegen weit entfernt von Europa verschwänden. […] Als großer Stilist bleibt Voltaire immens zitierbar und sein Genie dafür, Dummheiten aufzuspießen, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Seine Philosophie taugt aber nicht dazu, gegen die gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart anzudenken. Eine Toleranz, die nur die Toleranz des Marktplatzes ist, eine Aufklärung, die einer Elite vorbehalten bleibt, ein Freiheitsbegriff, der die Schwachen für ihr Los verantwortlich macht und eine Vernunft, die durch Aberglaube regiert, können weder im ideellen Kampf gegen religiöse Fundamentalismen noch für das Hinterfragen einer durchökonomisierten Gesellschaftsvision nützen. Nach Voltaires Ansicht lohnte es sich nicht, nach der idealen Welt zu streben, nach dem El Dorado, das er in Candide beschrieben hatte, in dem alle Menschen zufrieden sind, in dem es keine Priester und keine Dogmen gibt und alle genug zu essen haben – das wird immer illusorisch bleiben. Schlimmer noch: Es wäre ihm langweilig dort. Erst Unterschiede machen das Leben interessant. Dem Einzelnen bleibt nur, wie Candide selbst und seinem Schöpfer, der von der stoischen Antike inspirierte Rückzug ins Privatleben, cultiver son jardin. Nicht als Kämpfer für die Freiheit, sondern als Kleingärtner werden wir glücklich – wenn wir denn ein Stück Land besitzen.
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Angela Pachovsky
GUSTAV MAHLER UND ANDREA CHÉNIER – ZWISCHEN REVOLUTION UND REAKTION Gustav Mahler ist uns als einer der innovativsten Dirigenten seiner Zeit geläufig, akribisch in seinen Einstudierungen, unerbittlich in seinem Urteil über Künstler und Komponistenkollegen. Aus seiner reichhaltigen Korrespondenz geht hervor, dass er sich über rein musikalische Belange hinaus oft bis ins kleinste Detail um Regie, Personenführung, Ausstattung und Kostüme kümmerte. Sein besonderes Interesse galt dem Werk Richard Wagners, wobei er viele Opern erstmals ohne Striche aufführte, weiters der Wiederentdeckung von Opern W. A. Mozarts und Beethovens Fidelio. Mit der Interpretation italienischer Opern hingegen wird Mahler kaum in Verbindung gebracht. Im Zuge seiner Kapellmeisterkarriere, die ihn zunächst an mehrere Theater der Habsburger-Monarchie führte, stand auch das italienische Opernrepertoire auf dem Programm – in Laibach, Olmütz und Prag waren es in erster Linie Werke von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi. 1888 wurde Mahler Direktor der königlichen Oper in Budapest, wo er erstmals mit der damals noch jungen Strömung des Verismo in Berührung kam. Am 26. Dezember 1890 leitete er u.a die erste außeritalienische Aufführung von Mascagnis Cavalleria rusticana (in ungarischer Sprache), die besondere Beachtung fand und den durchschlagenden Erfolg dieser Oper auch auf deutschsprachigen Bühnen vorbereitete. A NGELA PACHOVSK Y
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Erstaufführung in Hamburg Im Herbst 1891 wurde Mahler schließlich als Erster Kapellmeister an das Hamburger Stadttheater engagiert. Der als »italoman« geltende Theaterdirektor, Bernhard Pollini, war der damals zeitgenössischen italienischen Oper gegenüber sehr aufgeschlossen, sodass Hamburg eine wichtige Vorreiterrolle in der Rezeption dieses Repertoires im deutschen Sprachraum einnahm. Pollini bewies ein gutes Gespür für Stimmen und investierte viel in den Aufbau eines »Sängerstarsystems«, das für den Operndirigenten Mahler ausgezeichnete Voraussetzungen bot. Dennoch kam es bereits nach kurzer Zeit zu künstlerischen Meinungsverschiedenheiten – sei es, was die Probenplanung betraf, oder Mängel in Bezug auf die Ausstattung, die Regie oder den Zustand des Orchesters, alles Punkte, die einen Perfektionisten wie Mahler künstlerisch unbefriedigt lassen mussten. Mahlers Dirigierrepertoire wurde jedenfalls während seiner Hamburger Zeit durch neueste italienische Bühnenwerke erweitert: Den Beginn machte die deutsche Erstaufführung von Puccinis Erstlingswerk Le villi, gefolgt von den Mascagni-Opern L’amico Fritz und I Rantzau, Cristoforo Colombo von Alberto Franchetti, Leoncavallos Bajazzo, A Santa Lucia von Pierantonio Tasca sowie als eine seiner letzten Hamburger Premieren am 5. Februar 1897 Umberto Giordanos Andrea Chénier. Andrea Chénier war am 28. März 1896 in der Mailänder Scala uraufgeführt worden. Die Hamburger Aufführung war streng genommen nicht die deutsche Erstaufführung, denn nur wenige Tage zuvor, am 28. Jänner 1897, wurde das Werk in Breslau erstmals in deutscher Sprache gespielt, und zwar in der Textfassung des späteren Brahms-Biographen Max Kalbeck. Zwei Tage später fand auch am königlichen Opernhaus in Budapest eine Chénier-Premiere statt. Sowohl in Breslau als auch in Budapest fanden jedoch nur wenige Reprisen statt. In Hamburg war die Titelrolle mit dem von Mahler sehr geschätzten Tenor Wilhelm (»Willy«) Birrenkoven besetzt, sein Gegenspieler Carlo Gérard mit Leopold Demuth, ebenfalls einer von Mahlers Lieblingssängern. Die Maddalena sang der junge Star der Hamburger Oper, Anna von Mildenburg, mit der Mahler zu jener Zeit auch eine amouröse Verbindung hatte. Anna von Mildenburg war zu Beginn der Saison 1895/96 im Alter von knapp 23 Jahren und praktisch noch ohne Bühnenerfahrung von Pollini an das Hamburger Stadttheater engagiert worden und hatte sehr erfolgreich als Brünnhilde in der Walküre debütiert. Mahler, der ihr außerordentliches Talent sofort erkannt hatte, studierte mit ihr laufend neue Rollen ein und arbeitete nicht zuletzt an ihrer Bühnenpräsenz, zumal ihre darstellerischen Fähigkeiten anfänglich noch zu wünschen übrigließen. Anna von Mildenburg entwickelte sich in diesen Jahren zu einer der ersten »Singschauspielerinnen« des 20. Jahrhunderts im dramatischen Fach. In der Hansestadt fand Andrea Chénier begeisterte Aufnahme. Der 63
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bekannte Musikkritiker Ferdinand Pfohl hob im Hamburger Fremdenblatt die packende Handlung und die moderne Tonsprache hervor. Darüber hinaus wurden auch die darstellerischen und stimmlichen Leistungen der Hauptdarsteller sowie die geschmackvolle Inszenierung lobend hervorgehoben, um abschließend mit der Bemerkung zu enden: »[…] Über den starken äußeren Erfolg des Werkes ward schon berichtet; an seiner Lebensfähigkeit kann nicht gezweifelt werden, ob aber das düstere Sujet sich in der Gunst der Opernfreunde behaupten wird, erscheint zweifelhaft […]« In der umfangreichen Korrespondenz Mahlers aus jener Zeit sucht man vergeblich nach Aussagen zu diesem Werk, was vermutlich damit zusammenhing, dass er damals intensiv damit beschäftigt war, seine Berufung als Direktor der Hofoper in Wien durchzusetzen. Tatsächlich hatte er nur wenige Wochen vor der Chénier-Premiere seinen Hamburger Vertrag zum Saisonende gekündigt, am 15. April schließlich erfolgte der Vertragsabschluss mit Wien.
Andrea Chénier in Wien Wie es scheint, dürfte der Erfolg der Hamburger Erstaufführung Mahler bewogen haben, bereits zu Beginn seiner zweiten Spielzeit in Wien 1898/99 konkrete Schritte zu setzen, um Andrea Chénier zur Wiener Erstaufführung zu bringen. Es liegt nahe anzunehmen, dass er vorhatte, zumindest zwei Hauptrollen wieder mit Anna von Mildenburg und Leopold Demuth zu besetzen, die beide seit dieser Saison an der Hofoper engagiert waren. Am 20. Jänner 1899 erfolgte die Approbation des deutschen Textbuches von Max Kalbeck durch die Zensurbehörde, wobei lediglich gefordert wurde, zwei kürzere Textpassagen im 1. Akt zu streichen oder »[…] wenn die musikalische Sprache dies vielleicht gestatten sollte, in ihrer Tendenz zu mildern.«1 Die erste betraf den Monolog von Gérard im ersten Akt: (»T’odio, casa dorata! / Ich verachte dich, goldenes Haus«), die zweite die Anfangspassage der Contessa (»Ah, quel Gérard! ... L’ha rovinato il leggere! ... / Gérard! ... Das kommt vom Bücherlesen her!«). Welche Formulierung genau den Anstoß erregt hatte, wird nicht genau ausgeführt – es scheint aber in ersterer die teils heftige Wortwahl, in der zweiten die karikaturhafte Darstellung des Adelsstands das Motiv gewesen zu sein. Mahler erstellte daraufhin einen Finanzplan für Andrea Chénier, reichte diesen wie üblich beim Obersthofmeisteramt ein und musste feststellen, dass er mit seinem Konzept auf unerwartete Schwierigkeiten stieß. Vom 26. April 1899 datiert ein umfangreiches Schreiben von Mahler an den Ersten Obersthofmeister Rudolf Fürst von und zu Liechtenstein, in dem der Operndirektor ausführlich verschiedene Missstände aufzeigte. Unter anderem beschwerte 1 HHSta, Hofoper 1899. A NGELA PACHOVSK Y
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sich Mahler über Mängel bei Ausstattung und Kostümen der gespielten Werke sowie über oftmals nicht nachvollziehbare Entscheidungen bezüglich seiner Programmvorschläge – so seien etwa Carl Maria von Webers Oberon und Richard Wagners Rienzi von oberster Stelle mit der Bemerkung »dafür bin ich nicht« knapp und ohne weitere Begründung abgewiesen worden. In weiterer Folge enthält dieses Schreiben die einzige uns heute bekannte persönliche Stellungnahme Mahlers zu Andrea Chénier: »[…] Zunächst einiges über die Ausstattungsfrage. Allem leeren Decorationspomp von Herzen feind, muß ich doch auf das künstlerisch Nothwendige, aber auch, wenigstens theilweise, auf die heutigen, nun einmal gesteigerten Anforderungen des Publicums, insofern sie auch künstlerisch nicht unberechtigt sind, Bedacht nehmen. Nimmt sich die begehrte Summe von 10.000fl. für André Chénier, eine den abend füllende [sic!] Oper, hoch aus, so ist andererseits zu bedenken, daß das Werk eine der wirkungsvollsten neueren Opern ist und nach menschlichem Ermessen (verbürgen läßt sich dergleichen nie), den dafür gemachten Aufwand überreich lohnen wird. Das Werk erfordert etwas mehr an Ausstattung, verdankt aber auch dieser einen großen Theil seiner Anziehungskraft. (Es handelt sich übrigens nicht um Prunk, sondern um die Wirkung lebendiger historischer Bilder u. dgl.) […]«2 Wie aus weiteren Dokumenten hervorgeht, bestand hinsichtlich der Ausstattung in diesem Fall die besondere Schwierigkeit aufgrund der Revolutionsszenen, da man für dieses für die Hofoper neuartige Sujet die erforderlichen »historisch genauen« Requisiten und Kostüme erst herstellen hätte müssen und nicht wie sonst aus dem Theaterfundus bestücken konnte. Die Aufführung von Andrea Chénier wurde zunächst auf einen »geeigneteren Zeitpunkt« verschoben, der – wie wir heute wissen – auch nach der Ära Mahler noch länger auf sich warten ließ. Die Wiener Erstaufführung erfolgte schließlich 1909 am »Kaiser Jubiläums-Stadttheater« (der heutigen Volksoper), an der Staatsoper wurde Andrea Chénier erstmals am 28. Jänner 1926 gegeben. Anstelle von Giordanos Revolutionsdrama wurde im Mai 1900 dessen Fedora an der Hofoper aufgeführt. Die Wiener Erstaufführung mit Gemma Bellincioni in der Titelrolle fand unter der musikalischen Leitung von Franz Schalk statt und war ein großer Erfolg. Das Wiener Schicksal von Andrea Chénier ist allerdings kein Einzelfall. Tatsächlich hatte es dieses Werk anfänglich nicht leicht, sich auf den deutschsprachigen Opernbühnen durchzusetzen – was im bürgerlich geprägten Hamburg gut funktioniert hatte, konnte bei einem aristokratisch dominierten Publikum leicht als Geschmacklosigkeit empfunden werden. Eine gewisse Reserviertheit gegenüber dem Revolutionsstoff geht auch aus Aufführungsberichten der Budapester Erstaufführung in der Wiener Presse hervor: »[…] Giordano’s neueste Oper bewegt sich in reinlicherer Atmosphäre als Mala vita, ist trotzdem aber doch nur auf Sensation angelegt […] Von Sans2 HHSta, Hofoper 1899
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culotten, Jacobinern, Girondisten wimmelt es auf der Bühne […] zum Schlusse sogar der Gefängnishof von Saint-Lazare – wo die Verurteilten den Weg zum Schaffott antreten. Eine derartige Staffage ist auf der Opernbühne neu, die aufregenden spectakulierenden Volksscenen bieten den Nerven eine scharfe Anregung, dem Auge aber einen ungewohnten, fesselnden Reiz […]«3 Dass Mahler das Potenzial von Andrea Chénier, bekanntlich heute Giordanos meistaufgeführte Oper, erkannt und sich für eine Aufführung an der Hofoper eingesetzt hatte, stellt jedenfalls ein hohes Ausmaß an Weitblick unter Beweis – es bleibt freilich unserer Spekulation überlassen, ob eine Realisierung nach seinem Konzept diesem Werk bereits zu einem früheren bleibenden Erfolg verholfen hätte. Literatur (Auswahl): Henri-Louis de La Grange, Gustav Mahler, Oxford – New York 1995 Josef-Horst Lederer, Verismo auf der deutschsprachigen Opernbühne 1891-1926, Wien – Köln – Weimar 1992 Franz Willnauer, Gustav Mahler und die Wiener Oper, Wien 1979 Franz Willnauer, Gustav Mahler. Die Hamburger Jahre, Hamburg 2011
3 Österr. Musik- und Theaterzeitung, 1897, Nr. 14
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André Chénier → Die junge Gefangene
Noch wohnt in meiner Brust die Lust am süßen Schein. Vergebens engen mich des Kerkers Mauern ein, Die Hoffnung leiht mir ihre Schwingen. Es taucht die Nachtigall sich doppelt frei und froh Ins wolkenlose Blau, wenn sie dem Netz entfloh, Und lässt ihr schmetternd Lied erklingen.
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MIT HERZBLUT KOMPONIERT
Umberto Giordano im Gespräch
Im Jänner 1926, anlässlich der Erstaufführung von Andrea Chénier, weilte der Komponist Umberto Giordano in Wien. Im Neuen Wiener Journal war einige Tage vor der Premiere ein Interview mit dem Komponisten zu lesen. In der Halle des Grand Hotels treffe ich den berühmten Maestro. Groß, breit in den Schulten, eleganter Weltmann, das regelmäßige männlich-schöne Gesicht erinnert im Schnitt, im Ausdruck der sprechenden Augen an Puccini, seinen großen Landsmann. Nichts typisch Italienisches ist an ihm, der Südländer verrät sich in keiner Äußerlichkeit. Der Eindruck, den seine vornehme, gemessene Art macht, ist: Thomas Mann, wenn Komponist wäre... Umberto Giordano, der zur Erstaufführung seiner Oper André Chenier an der Staatsoper nach Wien kam, kennt unsere Stadt schon seit vielen Jahren. Zum ersten Mal besuchte er Wien anlässlich der Theaterausstellung im Jahre 1892, wo im Ausstellungstheater seine Oper Mala vita gegeben wurde. Die Hauptinterpreten seines Werkes waren damals Gemma Bellincioni und der Tenor Roberto Stango. Dann kam er 1899 über Einladung Gustav Mahlers, um der Erstaufführung seiner Oper Fedora beizuwohnen. Die Trägerin der Titelrolle war wieder die Bellincioni, der Kapellmeister ein junger Dirigent, den Mahler sehr empfahl – Franz Schalk, der Direktor von heute. In Worten höchster Anerkennung spricht der Meister von dieser seinerzeitigen Wiedergabe seines Werkes. Seit damals kam Giordano mehrere Male nach Wien, aber bloß auf der Durchreise, zum Vergnügen, – »um mich nur den Schönheiten der alten Kultur widmen und die wundervolle Umgebung Wiens genießen zu können«– wie er sich ausdrückt. Diesmal folgte er der Einladung Direktor Schalks. Der Meister hörte bisher zwei Proben und ist begeistert. Leider spielt die Tücke des Objekts dem Komponisten einen argen Streich. Piccaver ist erkrankt, die Aufführung muss verschoben werden. Der Maestro, der begreiflicherweise davon nicht sehr begeistert ist, verbirgt seine Verstimmung sehr gut und geht mit gutem Humor über das Missgeschick hinweg. Mit Enthusiasmus spricht er von dem, was er bisher gesehen und gehört hat: »Womit beginnen? Über Schalks Orchesterleitung, über die Philharmoniker, über die Regie, über die Sänger, kann man ja nur in Superlativen sprechen! Die Inszenierung des jungen Doktor Wallerstein aus Frankfurt ist ausgezeichnet. Da ist ein neues großes Talent, das Beachtung verdient. Die Darstellung ist einzig schön. Ihre Sänger sind herrlich, besonders Lotte Lehmann und Dr. Schipper. Alle Partien, auch die kleinsten, finde ich mit allerersten Künstlern besetzt. Man ist vom Klang dieser Stimmen berauscht! Und außerdem, was nicht sehr häufig vorkommt, sind sie ausgezeichnete Schauspieler. Meine Oper Andrea Chénier ist vor dreißig Jahren zum erstenmal über die Bretter gegangen und Toscanini bereitet an der Mailänder Scala in nächster Zeit eine Jubiläumswiederholung vor. Im alten Österreich wurde diese Oper 69
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nur in Prag gegeben und auch dort war der Dirigent – Franz Schalk.« »Werden Sie, verehrter Meister, bei der Premiere in Wien anwesend sein, die ja hoffentlich nur für kurze Zeit verschoben ist?« »Das kann ich heute noch nicht sagen. Sehen Sie, am gleichen Tag wie in Wien sollte meine Oper La cena delle beffe (Das Mahl der Spötter) im Constanzitheater in Rom zum erstenmal aufgeführt werden. Über meine Bitte wurde die römische Premiere um acht Tage verschoben und ich fürchte nun, dass ich gerade dadurch um den Genuss der Wiener Premiere komme. Hoffentlich ist es doch möglich, dass die Verlegung beider Premieren so erfolgt, dass ich, wie ich so gerne möchte, in Wien und in Rom anwesend sein kann.« Ist das Textbuch zum Mahl der Spötter nach dem Drama von Sem Benelli bearbeitet?« »Nein. Ich habe das Werk, wie es ist, mit Ausnahme ganz weniger Striche durchkomponiert. Die Uraufführung an der Scala brachte mir einen großen Erfolg: Die Oper wurde bisher an mehr als vierzig Theatern in Italien, Spanien, Nord- und Südamerika gegeben. Jetzt bereitet der Kapellmeister Vitale die Erstaufführung in Rom vor.« »Wird die Oper nicht ins Deutsche übertragen?« »Doch, aber man sagt mir, dass der Schluss für Nordländer zu krass sei. Ich möchte aber behaupten, dass es in der Musik nur eine Sprache gebe, genauso wie – in der Liebe.« Der Meister lächelt und fährt fort: »Jawohl. Musik und Liebe sind eines. Wenn man Musik nicht mit seinem Herzblut komponiert, wird nichts daraus. So wie es im Grunde nur eine Art von Liebe bei allen Völkern gibt, so gibt es auch nur eine Art von Musik, die auf der ganzen Welt gefallen kann, nämlich gute Musik. Ich behaupte, dass eine französische Oper ebenso in Amerika gefallen muss, wie eine deutsche in Italien oder umgekehrt. Wenn die Musik eben gut und echt ist.« »Woran arbeiten Sie jetzt, Maestro?« »An einer komischen Oper. Der König. Das Libretto stammt von Forzano, ist aber nicht nach der gleichnamigen Komödie von Caillavet und Flers bearbeitet. Sie spielt im 17. Jahrhundert in Frankreich. Nach meinen Premieren in Wien und Rom fahre ich nach Santa Margherita, wo ich arbeiten will. Früher hatte ich ein kleines Haus in Bareno am Lago Maggiore, mein Nachbar bewohnte das berühmte ›rote‹ Schloss. Mein Nachbar war nämlich«, fährt er lachend fort, »der Likörfabrikant Branca – ja so ist eben unser Schicksal: Der Likörfabrikant bewohnt Paläste, der Künstler muss mit einem kleinen Häuschen zufrieden sein.« Wieder wendet sich das Gespräch den Proben in der Wiener Oper zu, von denen der Meister zu schwärmen beginnt. Trotzdem er bisher nur zwei gesehen hat, ist er voll befriedigt und zuversichtlich. Immer wieder erwähnt er das herrliche Orchester und findet für die Künstler und ihren Leiter Schalk die überschwänglichsten Worte der Anerkennung und des Dankes… UMBERTO GIOR DA NO IM GE SPR ÄCH
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André Chénier → Die junge Gefangene
Ach, fern noch liegt das Ziel, das ich erwandern muss! Den ersten Ulmen kaum vorüber schritt mein Fuß, Die längs dem Pfade Schatten spenden. Am wunderreichen Mahl des Lebens hab ich kaum Die Lippen noch genetzt und kaum genippt vom Schaum Des vollen Kelchs in meinen Händen.
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Oliver Láng
VOM PUBLIKUM GELIEBT Anmerkungen zur ersten Andrea Chénier-Produktion an der Wiener Staatsoper Eine kleine Zeitungsnotiz in der Neuen Freien Presse im Oktober 1925, die Wiener Staatsoper betreffend. Als kommende Premieren werden die Erstaufführung von Modest Mussorgskis Boris Godunow angekündigt, danach die Doppelpremiere von Wilhelm Grosz’ Sganarell und Das höllisch Gold von Julius Bittner. Anfang Jänner dann, so liest man, wird Andrea Chénier folgen, mit Lotte Lehmann, Alfred Piccaver und Emil Schipper. Nur wenige Tage später gastiert der Bariton Mattia Battistini (ein sehr gerne gesehener Gast in Wien) im Konzerthaus, am Programm neben anderen auch eine nicht näher bezeichnete Arie aus Andrea Chénier. Und nicht nur er bringt die Oper auf die Konzertbühne, viele seiner Kolleginnen und Kollegen widmen sich den beliebten Arienabenden mit populären Werken. Dass Battistini neben Verdi und Leoncavallo auch die in Wien bisher nur an der Volksoper erklungene Giordano’sche Oper singt, dass immer wieder Arien und Duette aus dem Andrea Chénier zu hören sind, zeigt eine Popularität des Revolutionswerks. In den unterschiedlichsten Besetzungen begegnet man also Carlo Gérard, Andrea Chénier und Maddalena, in hoch besetzten Konzerten, bei Liederabenden, in Opernschul-Veranstaltungen. Besonders auch das geplante Wiener Premierenpaar, Alfred Piccaver und Lotte Lehmann, bringt in den späten 1920er Jahren in gemeinsamen oder solistischen Konzerten immer wieder auch ein wenig Andrea Chénier auf die Konzertbühne. Ein kurzer Blick zurück: 1909 war Andrea Chénier erstmals in Wien zu hören gewesen, wie bereits angemerkt an der Volksoper, natürlich auf Deutsch gesungen, die Übersetzung lieferte Max Kalbeck. Das Publikum nahm die Oper dankbar an, so mancher Kritiker weniger. Giordano war zu dieser Zeit OLI V ER LÁ NG
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kein Unbekannter mehr in Wien, Mala vita war 1892 im temporär errichteten Theater der Wiener Musik- und Theaterausstellung im Prater zu erleben gewesen, im Jahr darauf auch im Theater an der Wien. Und die Fedora hatte Gustav Mahler an der Hofoper herausgebracht, an der Volksoper konnte man auch noch Fedora und Siberia erleben. Nun endlich Andrea Chénier auch an der Staatsoper: Ende 1925, Anfang 1926 verdichten sich in Wien die Pressemeldungen zur kommenden Premiere. So liest man etwa im Neuen Wiener Journal eine Kurzzusammenfassung der bisherigen Staatsopern-Problemgeschichte inklusive Zensurlegende (siehe Seite 62) und bekommt die Eckdaten der aktuellen Produktion geliefert: »… Unter der Direktion Mahler sollte dann André Chenier gegeben werden, doch die Hoftheaterzensur legte ein Veto ein, weil sie Vorgänge aus der französischen Revolution nicht auf der Opernbühne dulden wollte und besonders der im zweiten und vierten Bild über die Szene rollende Henkerskarren – im letzten Akt beladen mit den Opfern der Guillotine – Anstoß erregte. Das Werk verschwand vom Novitätenprogramm, ebenso wie es mit einer Oper von Leoncavallo, Die Medicäer geschehen ist, deren Aufführung ebenfalls an dem Einspruch des in der monarchischen Zeit allmächtigen Obersthofmeisteramtes scheiterte. Ein Auftritt, der in einer Kirche spielte, machte dieses Werk für Wien unmöglich. Nun kommt André Chenier spät, aber doch in erstklassiger Besetzung der Hauptrollen zur Ausführung. Die Premiere verspricht aber noch besonderes Interesse, weil zwei neuen Männern die Ordnung und Belebung der Szene anvertraut wurde: Professor Holzmeister von der Akademie der bildenden Künste, der Erbauer des Wiener Krematoriums, wird die Dekorationen malen und die Schauplätze herstellen; und auch der anstößige Henkerkarren wird auf die Bühne kommen. Als Spielleiter wird der Regisseur des Frankfurter Opernhauses Wallerstein zum erstenmal in Wien tätig sein. Von dem Erfolg seiner künstlerischen Arbeit soll dann seine definitive Berufung als Oberregisseur des Operntheaters abhängen. Dieser wichtige Posten ist seit langem unbesetzt.« Doch die Premiere, die für den 20. Jänner geplant war, wird verschoben, die Zeitung Die Stunde mutmaßt, dass die Hauptdarsteller mit dem Rollenstudium noch nicht fertig waren. Am 13. Jänner findet jedenfalls die erste Orchesterprobe statt, und wieder ist es das Neue Wiener Journal, das seinen Leserinnen und Lesern einen Blick ins Opernhaus zu bieten hat. »Der neue Oberregisseur der Staatsoper Herr Dr. Lothar Wallerstein hat bei der gestrigen ersten Orchesterprobe der neuen Oper André Chenier, deren Erstaufführung bevorsteht, folgende Ansprache an die Mitglieder des Orchesters gehalten: ›Vielen Dank für Ihren freundlichen Empfang. Ich freue mich, an einem Institut arbeiten zu können, dessen Orchester ich mit Recht das beste der Welt nennen kann. Es wäre mir größte Genugtuung, hier auf der Bühne dieselbe Harmonie bei den verschiedenen ausgezeichneten Faktoren – den Solisten, dem Chor und Ballett, dem technischen Personal – zu erzielen, wie 75
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sie täglich aus Ihren Reihen herausklingt. Durch die natürliche Begabung aller Beteiligten, häusliches Studium und intensive Probenarbeit wird dieses Ziel zu erreichen sein. Ich bin überzeugt, im Streben nach diesem Ziel, das würdig den Traditionen dieses Hauses ist, auch Ihre Sympathie zu gewinnen.‹ (Lebhafter Beifall.)« Der Staatsopern-Premierentermin wird schließlich auf den 23. Jänner festgelegt, die finale Besetzung veröffentlicht – und in Aussicht gestellt, dass der Komponist selbst zu den Schlussproben und der Premiere nach Wien kommen werde. Doch die für den 21. Jänner anberaumte Generalprobe muss aufgrund einer Erkrankung Alfred Piccavers ebenso verschoben werden wie die Premiere. Man verhandelt mit Tino Pattiera als Einspringer, neuer Premierentermin: 28. Jänner. Während Pattiera nach Wien reist, probiert man im Haus am Ring ohne Tenor weiter. Anekdotisch witzelt eine Zeitung darüber, wie Wallerstein und der Dirigent der Neuproduktion, Franz Schalk, alternierend die Titelpartie spielen und singen: »Unter den Opernmitgliedern bestehen bereits ernste Differenzen über die Frage, wer den schöneren Tenor hat, ob Herr Wallerstein oder Herr Schalk.« Zuletzt muss noch einmal umbesetzt werden. Auch Pattiera, der bei der Generalprobe brillieren konnte, verkühlt sich unmittelbar vor der Premiere und muss passen, der dritte Erstaufführungs-Tenor ist Trajan Grosavescu, der kurzfristig für den Einspringer einspringt. Julius Korngold, Vater des Komponisten Erich Wolfgang Korngold und erster Musikkritiker der Neuen Freien Presse, widmet der Premiere eine dem Anlass entsprechende ausführliche Besprechung, in der er sich auf jene von der Wiener Erstaufführung 1909 bezieht. Wie zu seiner Zeit üblich, referiert Korngold zunächst ausführlich über die Oper, die ihn nicht überzeugt. Es ist »keines jener gehaltvollen Werke, die nach längerer Zeit neue Eindrücke wecken und die alten zu überprüfen drängen, ist es überdies, in der Blütezeit des Verismus (1894) entstanden, ein zugleich mit dieser Richtung selbst endgültig abgestempeltes«. Und doch, Korngold gesteht dem Werk Positives zu, wenn er etwa über das Schlussduett Maddalena/Chénier schreibt: »Der rein gesangliche Effekt jedoch bleibt nicht aus. Und schon aus solcher Gesanglichkeit fließen, wie anerkannt werden muss, unzweifelhafte Wirkungen in André Chenier, denen sich jene gesellen, die dem Theatersinn, der szenischen Schlagfertigkeit des Komponisten entsprungen.« Immer wieder wird in den Rezensionen der Vergleich mit Puccini vorgenommen. »Alles in allem eine Vorstudie zu Puccinis Tosca aus 1896! Merkwürdig übrigens, wie heute alle diese Jungitaliener, all diese Mascagnis und Leoncavallos, die Giordanos und Puccinis usf. einander gleich scheinen. Wir hören und sehen sie gleichsam nur mehr durch das Sprachrohr und durch die Brillen Puccinis.« (Erwin Felber, Wiener Morgenzeitung) Hoch gelobt wurden Bühnenbild und Inszenierung, Wallersteins Arbeit ob ihrer Genauigkeit, Musikalität und Seriosität gepriesen. Ebenso positiv rezensiert wurde die OLI V ER LÁ NG
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musikalische Seite der Aufführung. Lotte Lehmann brillierte als Maddalena, Grosavescu bestand tadellos in der Titelpartie und auch Emil Schipper fand große Zustimmung. Das Publikum, so betonen die Zeitungen, war »dankbar«, sprich: glücklich über Musik und Produktion, die bis 1937 im Repertoire blieb. Und besonders eifrige Wiener Operngeherinnen und Operngeher konnten noch im Februar 1926 gleich drei Weltklasse-Chéniers in kürzester Abfolge hören: den nunmehr gesundeten Tino Pattiera, den Premieren-Sänger Trajan Grosavescu und schließlich auch den ebenfalls wiederhergestellten Alfred Piccaver, der bis heute die Staatsopern-Chénier-Aufführungsstatistik mit Abstand anführt.
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Elsa Bienenfeld
DIE OPER SIEGT Zur ersten Aufführung von Andrea Chénier an der Staatsoper
Das Leben dichtet mit dunkler glühenden Farben, als sie gemeinhin einer Librettistenphantasie zu Gebote stehen, und auch die Liebestragödie, die André Chénier im Kerker von Saint-Lazare erlebte, spann sich in Wirklichkeit über sinnlich kräftigere Untergründe und seelisch zartere Bindungen. Madame Madeleine de Coigny, gleichzeitig eingekerkert, war die Seelengeliebte, an die André Chénier die schönen Verse seines Gedichtes La jeune captive richtete, das seinen Namen weit über die Zeiten trug. Die Legende hat den Namen des Dichters mit dem der schönen Madeleine verbunden. In Wirklichkeit aber war Madeleine weder ein unberührtes junges Mädchen noch hat sie das Schicksal Chéniers geteilt. Sie war die geschiedene Gattin des Duc de Fleury und stand, fünfundzwanzigjährig, zwischen einer bereits mit zahlreichen Liebesabenteuern erfüllten Vergangenheit und einer mit noch zahlreicheren Liebesabenteuern zu erfüllenden Zukunft. Eine grande amoureuse, wohlgeeignet, einen Künstler zu entflammen. Ihre Ehe erlitt die erste Trübung, als ihr Gatte erfuhr, dass sie in dem Herzog von Lanzun einen feurigen Liebhaber gefunden. Eine Reise nach Italien sollte das vergessen machen, doch hier ward ein englischer Lord, Malmesbury, der Nachfolger des Herzogs. Als sie gegen Ende 1793 nach Paris zurückkehrte, war die Revolution in vollem Gange. Kaum angelangt, wurden sie und ihr Freund, der Lord Malmesbury, ins Gefängnis geworfen, wo beide der Gnade eben jenes Herzogs von Lanzun ausgeliefert wurden, der indes General der republikanischen Armee geworden war. Madeleine, eine der schönsten Frauen ihrer Zeit, wurde von der Malerin Vigée-Lebrun in ihren Memoiren mit den glänzendsten Farben geschildert. ELSA BIEN EN FELD
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Während der Lord verurteilt und enthauptet wurde, schmachtete Madeleine im Gefängnis und während der Dichter die verführerische Mitgefangene mit idealisierenden Blicken betrachtete, spann sich zwischen ihr und einem sonst ganz unbekannten und unbedeutenden Charles Mouret de Montrons eine Liebesbeziehung an, mit dem sie aus dem Gefängnis entfloh. Solche Dichtung, die das Leben selbst gedichtet, hat weder in Luigi Illica noch in Giordano den künstlerischen Gestalter gefunden. Wohl aber zogen beide aus dem reichen Stoff eine packende Oper; eine Musikoper. Die seltsam schillernde Liebesgeschichte des Dichters wurde zwar in eine konventionelle Liebesgeschichte zwischen Operntenor und Opernliebhaberin umgebogen; die Schreckenstragödien eines aufgewirbelten hysterischen Volkes nur als Milieuaufputz verwendet: aber an die bunten Szenen konnte sich Musik hängen und in der einfachen Liebesgeschichte durfte sich just jene musikalische Erotik entladen, die auf der Opernbühne ewig wirksam bleibt, solange Oper gespielt und angehört wird. Der erste Akt spielt im Schloss von Madeleines Mutter, in einem reichen französischen Schloss, in dem Fest auf Fest folgt, während vor den Fenstern der hungernde dritte Stand schon zu murren beginnt. Während die Gavotte getanzt wird, erscheint Chénier, singt sein Freiheitslied, bricht das murrende Volk ein – und die Gavotte geht weiter. Keineswegs ein origineller Opernakt, aber mit der Hand des treffsicheren Theatermusikers geführt. Der zweite Akt spielt auf einem Platz in Paris. Die Revolution ist in vollem Gange, Gesindel treibt sich herum. Kokotten und Bettler. Madeleine, die den Freiheitsschwärmer verhöhnt hatte, fühlt sich schon zu ihm hingezogen. Das erste große Liebesduett explodiert, und mit dem ersten hohen As, das der Tenor erreicht, hat die Oper, hat der Begriff »Oper« bedingungslos gesiegt. Der dritte Akt spielt vor dem Revolutionstribunal im Hof des Gefängnisses. Er gehört dem Bariton und ist ein ScarpiaAkt. Der Bariton heißt hier Gérard, war Diener im Schlosse Madeleines, liebt sie und will sie besitzen. Neuerliches Duett zwischen Sopran und Bariton (edle Entsagungsszene). In einem Andantino – Duett mit Stretta – siegt die Oper zum zweitenmal. Sie siegt ein drittes Mal in diesem Aktschluss, indem Chénier, bei plötzlich einbrechender Stille inmitten einer lärmenden Volksszene, von den Richtern zum Tod verurteilt wird. Sicher absichtliches, leicht durchschaubares, aber trotzdem unentrinnbares Theater, dieses plötzliche tonlose: »tot«... Die Oper siegt entscheidend im vierten Akt. Die Liebenden auf dem Karren, der sie zum Tode führt, noch einmal in einem Liebesduett vereinigt, noch einmal schwelgend in seligen Herzen, in schmachtenden Symphonieakkorden, in einem letzten hohen B vereinigt – ja, diese Oper siegt, sie muss siegen, sie muss unwiderstehlich siegen. Sie siegt, weil der Zauber der Menschenstimmen auf der Bühne siegt. Giordano steht als Musiker zwischen den Zeiten. Sein Aufstieg fiel mit dem Mascagnis und Leoncavallos zusammen, doch er war näher verwandt mit jenen Cilèa, Franchetti und Smareglia, die das Wagner’sche Accompa 79
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gnato auf die italienische Oper übertragen wollten. Sangbare Melodik hüllt die vier Akte ein, warm unterfüttert mit einer massigen Harmonik und einem kompakten Orchester. Aber auch die schlanke Degenführung Puccinis ist ihm nicht fremd. Auch er kennt die aufreizende Kraft der Pause, den brutalen Akzent, den unerwarteten Angriff eines einzelnen Instrumentaleffekts. Der Meister der Tosca war der Raffiniertere. Aber Giordanos Phrasen, unter derselben Sonne gereift, erzielen pucciniähnliche Wirkungen. Die Oper siegte, weil sie im Zeichen Puccinis siegte. Die Aufführung war brillant; in jeder Hinsicht auf bravourmäßiger Höhe. Für Piccaver angesetzt und als Triumph für ihn bestimmt, wurde sie zu einem überraschenden Erfolg für den in letzter Stunde einspringenden Grosavescu. Die Pracht, die Ausdauer und die Schönheit dieser Tenorstimme wurde an diesem Abend entdeckt. Beglückend Lotte Lehmann als Madeleine, in der Unschuld ihrer Erscheinung und der zauberschönen, ans Herz rührenden Stimme. Dramatisch prächtig, obschon nicht ganz im Belcanto Dr. Schipper, der seine Szene gleichwohl hoch emporhob. Unter den vielen Nebenpartien auffallend gut Frau Kittel, Fräulein Paalen und die Herren Zec, Madin, Wolken und Gallos. Direktor Schalk war selbst am Pult und sorgte für eine ungewöhnlich beschwingte Aufführung. Die Überraschung des Abends war die Inszenierung und die Regie. Beides auf zwei neue Männer zurückzuführen: Dr. Lothar Wallerstein, Klemens Holzmeister. Die Phantasie der Szenenbilder, die (nur eine Spur zu viel!) gelöste Beweglichkeit der Chorgruppen erregte Aufsehen. Der Beifall war ungewohnt stürmisch. Begrüßte man einen neuen Komponisten, eine neue Tonsprache? Nein, man schwelgte in längst bekannten Klängen, in einer unproblematisch geliebten Musik: man schwelgte bei Giordano in – Puccini.
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Johann Wolfgang von Goethe → Sie waren die Herren des Tages
» Sie pflanzten mit Lust die munteren Bäume der Freiheit, Jedem das Seine versprechend, und jedem die eigne Regierung. Hoch erfreute sich da die Jugend, sich freute das Alter, Und der muntere Tanz begann um die neue Standarte […] Aber der Himmel trübte sich bald. Um den Vorteil der Herrschaft Stritt ein verderbtes Geschlecht, unwürdig, das Gute zu schaffen. Sie ermordeten sich und unterdrückten die neuen Nachbarn und Brüder und sandten die eigennützige Menge. Und es prassten bei uns die Obern und raubten im großen, und es raubten und prassten bis zu dem Kleinsten die Kleinen; Jeder schien nur besorgt, es bleibe was übrig für morgen. Allzu groß war die Not, und täglich wuchs die Bedrückung; Niemand vernahm das Geschrei, sie waren die Herren des Tages «
Oliver Láng
ZWISCHEN SÄNGERGLANZ UND MASSENSZENEN Die Premiere der aktuellen Produktion im Spiegel der Presse
Die Direktionen Egon Seefehlners – 1976 bis 1982 und 1984 bis 1986 – standen für eine Öffnung der Wiener Staatsoper in vielerlei Hinsicht. So forcierte Seefehlner unter anderem das, was heute »Vermittlungsarbeit« genannt wird, setzte seit Jahrzehnten erstmals wieder eine Produktion für Kinder im Großen Haus an und platzierte die Wiener Staatsoper etwa mit damals spektakulären Gastspielunternehmen auch jenseits der engen Stadtgrenzen. Ebenso kümmerte er sich um ein möglichst breit aufgestelltes Repertoire, wenig Gespieltes sollte nun auch zum Zug kommen – man denke nur an die Staatsopern-Erstaufführung von Hector Berliozʼ Les Troyens in seiner Direktionszeit. Zusätzlich setzte er auf das Massenmedium der damaligen Zeit, das Fernsehen, und forcierte Übertragungen von Opernaufführungen – auch live. Nach der live gesendeten Carmen-Premiere 1978 folgte mit Andrea Chénier eine zweite publikumswirksame Oper, die nicht nur im Theater, sondern zeitgleich auch OLI V ER LÁ NG
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im Fernsehen zu erleben war, übrigens im Rahmen der Eurovision grenzüberschreitend. Zwölf Millionen Schilling, so berichtete der Kurier, hatte den ORF diese Übertragung gekostet, parallel im Fernsehen und via Hörfunk, sodass gewiefte Opernfreunde das Bild mit dem besseren Radioton kombinieren konnten. Vor allem aber bot man eine technische Neuerung: Über den Teletext waren erstmals deutsche Untertitel abrufbar, die einzelnen Rollen wurden sogar durch unterschiedliche Schriftfarben markiert. Die Wahl von Andrea Chénier als Premierenproduktion – 1965 hatte die letzte Chénier-Aufführung im Haus am Ring stattgefunden – zielte in Richtung umfassender Repertoirepflege; schon lange hatte Seefehlner diese Produktion geplant, die allerdings verschoben werden musste und erst am 30. April 1981 Premiere feierte. Im Zentrum des Opernabends standen – zumindest – zwei Sänger: Plácido Domingo in der Titelpartie und Piero Cappuccilli als Carlo Gérard. Letzterer sang übrigens auf Wunsch des ORF (und in dieser Serie ausschließlich am Premierenabend), und er hatte, so wollte es Gerhard Mayer in der Wochenpresse wissen, nur zwei Proben absolviert. Und doch: »Wo das Idealgespann der italienischen Oper, Plácido Domingo und Piero Cappuccilli, gemeinsam auf der Bühne stehen, wird Oper zum großen Ereignis«, las man in der Furche. Ein Ereignis, das einen fast halbstündigen Premierenapplaus nach sich zog. Entsprechend hingerissen zeigten sich die Rezensenten: »Was soll man über Piero Cappuccillis Jahrhundertbariton noch sagen, wo er doch anlässlich des letztjährigen Attila schon alle Superlative verbraucht hat?« (Oberösterreichische Nachrichten). Und die Süddeutsche Zeitung: »Auch wurde der Schurke Gérard von Piero Cappuccilli mit so mächtiger stimmlicher Fülle vorgeführt, dass man angesichts der in bester Fußballstimmung tobenden Stehplätze meinen mochte, nun könnte die Oper nicht weitergehen.« Ebenso wurde der Tenor gefeiert, »seine Kantilenen, der Schmelz seines Pianos, nicht zuletzt seine Leidenschaft als Freiheitsdichter und als Liebender ließen den Beifallspegel in der Staatsoper bis an die Grenze steigen«, las man in der Tiroler Tageszeitung. Auch Gabriela Beňačková (Maddalena) und Nello Santi, der schon in den 1960er Jahren eine Chénier-Vorstellung im Haus am Ring dirigiert hatte, erhielten in weiten Teilen Zustimmung. Die Geister schieden sich in puncto Inszenierung, die von etlichen Rezensenten positiv besprochen wird. Auch diesmal strich man Otto Schenks große Handwerkskunst gerade in Bezug auf den Chor hervor: »Seine Liebe galt den Massenszenen, in denen jeder Chorist sein eigenes kleines Spiel detailverliebt vorführte« (Süddeutsche); »Otto Schenk inszenierte klug und sozusagen sparsam, in den sehr schönen Bildern von Rolf Glittenberg war einerseits das Drama dargestellt und andererseits den kostbaren Hauptdarstellern kein Zwang angetan, sie konnten genau dort schmettern, wo ihnen zumute war – das ist keine Einschränkung der Leistung Schenks, der Andrea Chénier wohl auch als das nimmt, was es ist.« (Franz Endler, Die Presse). Doch waren einige im Zuschauerraum nicht immer mit Schenks szenischer Sicht einverstanden und 83
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versahen den Regisseur auch mit Buh-Rufen. Dass im ersten Akt auf dem Vorhang großflächig Giovanni Paolo Paninis Gemälde »Fête musicale« aus dem Jahr 1747 zu sehen ist, verwunderte wiederum Gerhard Mayer und ließ in ihm die Frage reifen, »wieso die so sichtlich modebewusste Gräfin ihren Salon mit einer so altmodischen Vorlage dekoriert hat. Solcher Historismus ist eher eine Errungenschaft des späteren 19. Jahrhunderts.« Bis zur Wiederaufnahme 2022 gingen seither 120 Aufführungen durchs Land, deutlich mehr als in den drei vorhergehenden Produktionen (1926erProduktion: 30 Vorstellungen; 1955er-Produktion: acht Vorstellungen; 1960erProduktion: 22 Vorstellungen). Dass dieser Giordano-Abend seine Energie bis heute auch aus den glänzenden Besetzungen nimmt, hat die Wiener Aufführungsgeschichte jedenfalls hinlänglich bewiesen.
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André Chénier → Die junge Gefangene
Ich bin im Frühling erst. Die Ernte noch zu sehn, Möcht ich von Kreis zu Kreis mein Jahr vollendend gehn, So wie die Sonne dort im Blauen. Der Lilie bin ich gleich, die, frisch vom Tau geweckt, Vom schlanken Stiel den Kelch hinauf ins Frührot streckt. Des Abends Strahl auch möcht ich schauen.
DA SPRICHT DER POET, NICHT DER MENSCH KS Jonas Kaufmann im Gespräch
Gustav Mahler war begeistert von Giordanos Andrea Chénier – als Direktor der Hofoper durfte er das Werk allerdings nicht bringen. Also wich Mahler auf Fedora aus. Puccini hingegen gehörte nicht zu Mahlers Lieblingskomponisten. Was hat Giordano, speziell Andrea Chénier, was Puccini nicht hat? Was zeichnet diese Partitur aus? J. KAUFMANN Nicht nur Mahler, auch andere große Dirigenten sind Puccini eher ablehnend gegenüber gestanden. Der Grund dafür ist, denke ich, dass Puccini für ihr Empfinden zu gewollt die Emotions-Knöpfe des Publikums gedrückt hat. Es ist so offensichtlich, dass er sein Publikum ganz gezielt in der Hand hat – weshalb man die Wirkung seiner Musik oft mit Filmmusik vergleicht, wo ja sehr plakativ mit den Gefühlen der Zuschauer gespielt wird.
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Gerade die Oper Andrea Chénier gehört zu den großen »SängerOpern«, also zu jenen Werken, um die sich die größten Sänger aller Generationen stets bemüht hatten (anders als etwa bei einem Simon Boccanegra). Inwiefern haben sich hier bestimmte Traditionen entwickelt, die vielleicht nicht notiert sind, aber dennoch gewissermaßen zur Interpretation dazugehören? Ich habe immer wieder festgestellt, dass sich im Laufe der Aufführungsgeschichte bestimmte Traditionen herausgebildet haben, die nicht im Sinne des Komponisten sind, sondern eher im Sinne des Sängers – entweder, um schwierige Stellen zu entschärfen, oder um eine Zirkusnummer vorzuführen. Im Fall von Andrea Chénier ist genügend Stoff vorhanden, den man als Sänger auskosten kann, da muss man sich keine Extras überlegen. JK
Der Tenor kann in dieser Oper auf eine Reihe von (relativ kurzen) Arien verweisen: Worin unterscheiden sich diese? JK Das »Improvviso« würde ich jetzt nicht als kurz bezeichnen, das ist sogar einer der längsten Titel im Verismo-Repertoire. Es ist der stürmische, aufrührerische Monolog eines Freiheitskämpfers. Die zweite Tenor-Szene, im Duett mit Roucher, ist Ausdruck einer romantischleidenschaftlichen Liebe, die dritte ist die Verteidigungsrede des zum Tode Verurteilten, der gegen Willkür und Lüge aufbegehrt. Und die letzte, unglaublich zärtliche Solo-Szene ist der berührende Abschied eines großen Künstlers von dieser Welt.
Maddalena macht eindeutig eine Entwicklung durch, Gérard ebenfalls. Aber gilt dies auch für Andrea Chénier? Oder bleibt er durchgehend, unabhängig von allen äußeren Veränderungen, der gleiche romantische Idealist? Was erzählt die Musik von seinem Charakter? JK Musik und Text zeichnen eine Figur mit vielen Facetten: Den jugendlichen Idealisten, der kein Blatt vor den Mund nimmt; den ehemaligen Revolutionär, der sich versteckt halten muss; den Liebhaber und Dichter; und schließlich das politische Bauernopfer. Wobei Chénier nicht in Verbitterung stirbt, sondern angesichts seiner Hinrichtung geradezu aufblüht, weil der gemeinsame Tod mit der Geliebten zum Schönsten gehört, was er sich vorstellen kann.
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Im zweiten Bild besingen Maddalena und Chénier bei ihrem ersten Zusammentreffen seit Ausbruch der Revolution ein »vereint bis in den Tod« (»Fino alla morte insiem«). Sie werden auch am Ende vereint in den Tod gehen (»Viva la morte insiem«). Aber wäre es im zweiten Bild nicht angebrachter vom Leben zu sprechen, als gleich einen Tod anzunehmen, in den man gemeinsam gehen möchte? Die Todessehnsucht ist natürlich etwas hoch Romantisches. Für jemanden, der sich in seiner Literatur vergräbt und in Worten Erotik empfindet, ist die Vorstellung eines gemeinsamen Todes das Höchste der Gefühle. Da spricht der Poet, nicht der Mensch. JK
Liebt Chénier Maddalena von Anfang an? Oder überhaupt jemals? Oder: Ab wann liebt er sie, gibt es einen Moment, an dem er entzündet wird? Man hat das Gefühl, dass Chénier die Liebe an sich sucht – er bleibt in Paris, um eine ihm Unbekannte kennenzulernen, auch auf die Gefahr hin, getötet zu werden. Er macht es aber nicht, um einer konkreten Person willen. Was ist das für eine Einstellung? Was treibt ihn ganz grundsätzlich an? JK Ich bin mir nicht sicher, ob es eine körperliche Beziehung ist, die er sucht. Im ersten Akt verliebt er sich in Maddalena, ist aber extrem enttäuscht, als er feststellt, dass auch sie dem Snobismus der Aristokratie verfallen ist. In der Szene mit Roucher brennt er für eine Unbekannte, mit der er eine intensive Brieffreundschaft pflegt und die er unter allen Umständen kennenlernen muss. Als er dann erfährt, dass diese Unbekannte, die sich »Speranza« nennt, Maddalena ist, geht für ihn in Erfüllung, wovon er nicht zu träumen wagte.
Es ist interessant, wenn man Cavaradossi und Andrea Chénier vergleicht: Cavaradossi wartet in Verzweiflung auf die Hinrichtung und denkt an die Liebe zu Tosca. Andrea Chénier scheint nicht sonderlich verzweifelt zu sein und besingt in seiner letzten Arie die Poesie. Kann man bei so einem Verhalten im Falle von Chénier überhaupt von Verismo sprechen? JK Ich weiß nicht, ob man das so direkt vergleichen kann. Trotz Polizei-Terror in Rom sind wir in Tosca weit entfernt von einer Situation, wie sie der junge Chénier während der Französischen Revolution erlebt: da werden Tag für Tag massenweise Leute verhaftet und öffentlich hingerichtet, und ich denke, dass man in einer solchen Extrem-Situation schon eine Art Todessehnsucht entwickeln kann.
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Kennt Chénier überhaupt das Gefühl der Angst? Bei seiner Verurteilung stört ihn vordringlich, dass seine Ehre beschmutzt wird, am Schluss meint man sogar, einen Triumphator vor sich zu haben. JK Wie heißt es so schön: Wer Angst hat im Wald, der pfeift. Ein bisschen trifft das auf seinen Monolog im dritten Bild zu, wenn er vor dem Tribunal seine Ehre verteidigt, für sein Vaterland spricht und für den Urgedanken der Revolution. Dass ihm Angst nicht fremd ist, wird ja schon darin deutlich, dass er sich nicht nur um sich Sorgen macht, sondern auch um Maddalena. Da merkt man schon, dass sein Herz noch sehr am Leben hängt.
Wäre Chénier als Charakter in einem »normalen« Leben überhaupt ein interessantes Gegenüber für eine Frau? Macht ihn nicht erst sein Schicksal zu etwas Besonderen? JK Die Ausnahmesituation, in der sich Chénier befindet, macht es schwierig zu beurteilen, wie er sich in einem »normalen« Leben verhalten würde. Die Gründe und Motive, warum sich Maddalena in ihn verliebt, sind sicher nicht die einer »normalen« jungen Frau.
Chénier ist ein Dichter, Cavaradossi ein Maler – sie sind also beide Künstler. Ist es rein vom Darstellerischen her nicht schwieriger, einen Künstler zu mimen als z.B. einen ägyptischen oder venezianischen Feldherrn? Wie bringt ein Künstler einen Künstler auf die Bühne, ohne ihn zu überzeichnen und trotzdem diesen Aspekt zu berücksichtigen? Oder ist die Tatsache, dass Chénier ein Dichter ist, in Wahrheit nebensächlich? JK Ich sehe keinerlei Schwierigkeiten darin, auf der Bühne einen Künstler zu verkörpern. Ich denke, dass ich mich eher in die Lage eines Künstlers hineinversetzen kann als in die eines Feldherrn. Von dessen Welt bin ich sicher weiter entfernt als von der eines Malers oder Dichters.
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Das Wasser in d er Oper.
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Impressum
Umberto Giordano ANDREA CHÉNIER Spielzeit 2022/23 Wiederaufnahme (Premiere der Produktion: 30. April 1981) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Oliver Láng, Andreas Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Oliver Láng: Über dieses Programmbuch, Vom Publikum geliebt, Zwischen Sängerglanz und Massenszenen – Angela Pachovsky: Gustav Mahler und Andrea Chénier ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Handlung, in: Andrea Chénier-Programmheft der Wiener Staatsoper, 1981 – Ernst Krause: »Vom Blute gerötet«, in: Andrea Chénier-Programmheft der Wiener Staatsoper, 1981 – Hans Heinz Hahnl: Der Lyriker André Chénier und die Revolution, in: Andrea Chénier-Programmheft der Wiener Staatsoper, 1981 – Maurizio Giani: Die Musik (ursprünglich: La musica – Übersetzung von Interlingua), in: Andrea Chénier-Programmheft der Mailänder Scala 2017 – Hans-Joachim Wagner: Das Paradigma des historischen Verismo, in: Fremde Welten: die Oper des italienischen Verismo, Stuttgart [u.a.]: Metzler Musik, 1999 – Rotraud A. Perner: Das elende Vergnügen, andere schlechter zu finden ist sich selbst, in: Dantons Tod-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2018 – Erwin Ringel: Wie beendet man eine Revolution, in: Unbewusst – höchste Lust, Kremayr & Scheriau, Wien, 1990 – Philipp Blom: Freiheit und Luxus, in: Die Welt aus den Angeln, Carl Hanser Verlag, München, 2017 – Gespräch mit Umberto Giordano, in: Das neue Wiener Journal, Jänner 1926 – Elsa Bienenfeld: Die Oper siegt, in: Das neue Wiener Journal, Jänner 1926 – KS Jonas Kaufmann im Gespräch mit Andrea Láng: Da spricht der Dichter, nicht der Mensch, in: Opernring 2, Magazin der Wiener Staatsoper, November 2022 – Die Übersetzung der Ausschnitte aus La Jeune Captive (Die junge Gefangene) von André Chénier (1794) stammen von Emmanuel Geibel, in: Die Lyra des Orpheus, Paul Zsolnay-Verlag, Wien
BILDNACHWEISE Coverbild: CRACKED EGG © Annika Lischke, Fotografie Jens Bösenberg Szenenbilder Seite 2, 3, 21, 30, 31, 45, 52, 53, 72, 73: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
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