Programmheft »Alles und Nichts«

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allesundnichts

Tanzperformance des Tanzlabor-Ensembles

Premiere 19. April 2024

Ankersaal/Kulturhaus Brotfabrik

Eine Kooperation der Wiener Staatsoper, des Wiener Staatsballetts & Tanz die Toleranz

allesundnichts

Projektleitung Katharina Augendopler

Co-Choreographie & Stückentwicklung Katharina Augendopler & Katy Geertsen

Schlagwerk Michael Kahlig, Wilhelm Schultz, Leonhard Waltersdorfer

Live-DJ Jessica Tarbai Kostüm Anna Asamer Projektassistenz Jana Zimmermann

Technik Sophie Rösch, Sebastian Negulescu, Stephan Kugler Grafik Irene Neubert

Das, was man sieht, ist nicht, was ist. Es ist jedenfalls nicht alles.

Das Tanzlabor ist ein partizipatives Communityprojekt, in dem Jugendliche und junge Erwachsene über ein halbes Jahr ein eigenes Tanzstück entwickeln. Am Ende wird dieses zusammen mit dem Bühnenorchester der Wiener Staatsoper und Künstler*innen aus der freien Szene auf die Bühne gebracht. Mitmachen können alle, die Freude und Interesse an Tanz, Bewegung und Theater haben. Alles und Nichts ist bereits das vierte Stück des Tanzlabor-Projekts.

Das Tanzlabor ist eine Kooperation der Wiener Staatsoper, des Wiener Staatsballetts & Tanz die Toleranz und sucht ab Herbst 2024 neue Tänzer*innen.

Tanzen, was bewegt

Das diesjährige Tanzlabor-Ensemble zeigt mit Alles und Nichts ein Stück über das Jetzt, das oft zu laut und diffus ist und einen als Individuum sehr schnell aus der Bahn werfen kann, über die alltägliche Balance, die oft gefunden und im nächsten Moment wieder verloren geht und über die Filterblasen und Echokammern, die Trennlinien in unserer Gesellschaft erzeugen. Das Stück wagt den Versuch, im Chaos wieder zusammenzufinden.

Inspiriert durch den Ballettabend Shifting Symmetries des Wiener Staatsballetts und den damit verbundenen Fragen »Was bringt dich aus der Balance?« und »Wo herrscht schon lange kein Gleichgewicht mehr?« begann im Oktober 2023 der Stückentwicklungsprozess. Zwei Fragen, die von den jungen Menschen zwar unterschiedlich, aber im Kern doch ähnlich beantwortet wurden. Was bewegt und umtreibt, ist die heutige Zeit, in der wir leben.

Theoretisch vernetzt, faktisch aber ganz allein.

»In unserem Stück geht es einerseits um die digitale Welt, wo ständig Unmengen an Informationen auf uns einprasseln und wir diese filtern und für uns einordnen müssen. Und es geht darum, wie sich dieses Gefühl auf die analoge Welt und auf uns selbst überträgt. Damit verbunden auch, wie man sich in der Masse, in der eigentlich alle um einen herum sind, trotzdem sehr einsam fühlen kann«, meint Sophie. Das Ensemblemitglied Nils

beschreibt das Stück so: »For me, the piece is about human relationships and interaction in general. This is very evident in the language of movement and the way the scenes are constructed on stage. Everything is always about how we relate to each other, in movement and emotionally.«

Am Anfang der Stückentwicklung steht nicht viel, gerade das Thema und eine erste Fragestellung. Der Rest kommt mit der Zeit, ist ein ständiger Prozess, ein Entwickeln, Festhalten und Fallenlassen von Ideen. In den wöchentlichen Proben im Kulturhaus Brotfabrik haben die Tänzer*innen viel miteinander diskutiert, reflektiert, tänzerisch improvisiert und ausgehend von ihren eigenen Ideen und Erfahrungen Bewegungssequenzen entwickelt. »Nach und nach haben die Choreographien immer mehr Raum eingenommen, und jetzt merkt man, dass alles zusammenkommt«, beschreibt Tänzerin Anja den künstlerischen Prozess.

Während einige der 16 jungen Tänzer*innen in der Kindheit getanzt haben und sich nun nach längerer Zeit wieder damit beschäftigen, gibt es auch ein paar, die zum ersten Mal an einem Tanzprojekt teilnehmen oder aber nun Tanz an der Universität studieren.

Anja beschreibt das Ensemble folgendermaßen: »Im Tanzlabor kommen unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Backgrounds für eine gemeinsame Sache zusammen. Menschen, die ich wahrscheinlich sonst nicht getroffen hätte. Und das Tanzen verbindet einfach. Man lernt viel über sich, aber auch über die Personen, die mit einem jede Woche im Proberaum stehen, sich in das Projekt reinschmeißen, diskutieren, tanzen und etwas zusammen entwickeln.«

»For me, the process had a really big social impact because I was new to Vienna. Thanks to this project, I really got to know people. I have something to look forward to. Every Thursday was really nice and low-key in the sense that it wasn’t hard to take that step and come here. And creatively, I’ve enjoyed the process. I really like how the movements come from the dancers. We took everything from our improvisations and made a piece out of it.«, meint Nils, der im Herbst 2023 für sein Tanzstudium von Belgien nach Wien gezogen ist.

Auf die Frage, was sie sich selbst aus dem Projekt mitnehmen kann, antwortet Sophie:

»Mein tänzerisches Können hat sich sehr weiterentwickelt, einfach dadurch, dass ich davor noch nie so intensiv trainiert habe. Und persönlich auch die Erkenntnis, dass Leute, die man noch nicht gut kennt, einem ganz schnell ganz wichtig werden können. Vielleicht auch dadurch, dass wir uns körperlich schnell nahekamen, brauchte man auch ein gewisses Vertrauen, und dieses Vertrauen kam irgendwie ganz natürlich.« Und Nils ergänzt: »Coming together with such different people has helped me to get out of a certain mindset or certain habits when dancing or choreographing. It really pushed me beyond my limits.«

Das, was man sieht, ist nicht, was ist.

Es ist jedenfalls nicht alles.

Nach sechs Monaten feiert das Stück nun Premiere. Musikalisch begleitet wird das Ensemble von einem Schlagwerktrio des Bühnenorchesters der Wiener Staatsoper und Live-DJ Jessica Tarbai. Die Kostüme stammen von Anna Asamer.

Auf die Frage, warum sich jemand das Stück anschauen sollte, antwortet Anja: »Ich würde sagen, dass das Projekt deswegen so spannend ist, da eben praktisch (noch) keine*r von uns Profitänzer*in ist und wir trotzdem so etwas Großes auf die Bühne stellen können. Darauf bin ich richtig stolz.«

– Text Katharina Augendopler

Vom Alles zum Nichts

»Ich glaube, was mir in zwei Wochen komisch vorkommen wird, ist, dass auf einmal alles vorbei ist und man sich nicht mehr wöchentlich trifft. Das war jetzt doch schon sechs Monate eine Regelmäßigkeit im Alltag.«

Nach einer Zeit des Schwitzens, des Reflektierens, des Lachens und vor allem des Tanzens geht nun langsam eine intensive Probenphase zu Ende. In einer letzten Atempause – bevor es mit vollem Tempo in die Endproben geht – blickt das TanzlaborEnsemble nochmals auf die vielen gemeinsam verbrachten Stunden zurück.

Wenn ihr an das Schlagwort »Choreographie« denkt, was fällt euch spontan dazu ein?

Victoria Anstrengend! (alle lachen)

Lena Die verschiedenen Teile sind schon anspruchsvoll. Man muss sich viel merken.

Viktoria Aber sie sieht halt auch gut aus.

Marieke Wir dürfen selbst viel einbringen, was ich sehr schätze.

Victoria Die Choreographien sind aus unseren Improvisationen entstanden.

Viele unserer Bewegungen sind drin.

Amin Sie nehmen unsere Ideen mit.

Viktoria Das war eigentlich voll faszinierend zu sehen, dass aus dem, was wir in kleinen Gruppen erarbeitet haben, dann irgendwann ein Stück entstanden ist.

Victoria Ich finde es super, dass trotz der unterschiedlichen Vorerfahrungen eine gemeinsame Choreographie getanzt wird. Das finde ich so toll.

Laura Ich sehe ganz viele Elemente, die von uns gekommen sind. Und Kathi und Katy schaffen dann tatsächlich, dass es wie eine Choreographie aussieht...

Sophie … wie Puzzleteile, die sie dann zusammensetzen.

»Aufwärmen«

Sophie Es ist jedes Mal was anderes! Über ein halbes Jahr – wirklich beeindruckend, dass sie sich jedes Mal etwas Neues haben einfallen lassen.

Laura Es ist auch ein bisschen spielerisch.

Valentina Aber manchmal auch herausfordernd und anstrengend.

Lena Ich mag die Musik dazu.

Amin Die Musik von… wie heißt sie?

Victoria Taylor Swift.

Amin Nein! Dua Lipa. (alle lachen)

Lena Es passt immer zur Stimmung.

Und wie ist die Stimmung so?

Amin Gut!

Sophie Irgendwie sehr harmonisch.

Victoria Am Anfang so lala… und nach dem Aufwärmen gut!

Amin Genau!

Katarina Davor ist man immer so faul. Nach dem Aufwärmen wird es besser und besser, und am Ende ist man voller Energie.

Eva Davor war ich oft erschöpft. Wenn es Donnerstagabend ist, habe ich eine lange Woche hinter mir. Durch die Tanzlaborprobe habe ich Kraft getankt, und sie hat mir geholfen, meinen Alltag vor der Tür zu lassen, sich hier auszuprobieren und auf das gemeinsame Tanzen zu fokussieren. Danach ging es mir meistens sehr viel besser.

Sophie Währenddessen war man wirklich nur hier. Also ich habe über nichts anderes nachgedacht, und das ist wirklich selten, dass man mit dem Kopf nur bei einer Sache ist.

Lisa-Marie Und manchmal haben wir auch am Anfang so einen »Check«. Da wird gefragt, wie wir uns fühlen, und dann am Ende noch mal. Da hat man dann auch ein körperliches

Bewusstsein dafür gekriegt, dass es für alle eine Veränderung gemacht hat, dass man sich gerade zwei Stunden ausgepowert hat. Also im positiven Sinne.

»Tanzstil«

Carla Wenn Freund*innen fragen, was wir da tanzen, sage ich immer: »Irgendwas zwischen zeitgenössischem Tanz und Tanztheater.«

Valentina Ich komme aus dem Ballett, und das hat damit nicht so viel zu tun.

Für mich war es anfangs eine Herausforderung, aber mittlerweile fühle ich mich super.

»Hierarchien«

Marieke Wenn, dann nur sehr flache. Also ich denke, dass man in zwischendurch schon eine Person braucht, die was sagt und koordiniert. Aber das sind sehr, sehr flache Hierarchien, sodass wir auch alle was einbringen und sagen können.

Lisa-Marie Also ich glaube, alle fühlen sich gerade der Projektleitung gegenüber sehr wohl, Dinge anzusprechen. Und das ist, denke ich, bei Tanzprojekten nicht immer so einfach, zwischen Trainer*innen und Tänzer*innen so eine Ausgeglichenheit zu bewahren.

Viktoria Ich finde, dass Kathi und Katy auch mit uns auf einer Ebene sind. Also klar, man hat Respekt. Aber es funktioniert.

Das Tanzlabor gibt Raum für…?

Katarina Creativity.

Amin Motivation.

Katarina Freedom.

Marieke Perspektiven.

Amin Freundschaft.

Marieke Entwicklung.

Jana Zimmermann

Amin Bewegung.

Victoria Herausforderung.

Viktoria Loslassen vom Alltag.

Katarina Etwas Neues zu machen.

Amin Neues bauen.

Lisa-Marie Individualität.

Sophie Stärke.

Valentina Entfaltung.

Carla Raum zum Erforschen.

Eva Exploration, Erfahrung, vertiefendes Verständnis eines kreativen Prozesses… Was ich so besonders finde, ist, dass es wirklich diesen Anspruch hat, dass wir was Schönes, Künstlerisches zusammen produzieren, aber gleichzeitig mit einem ganz besonderen Zugang. Ich habe das Gefühl, wir können uns als Individuen einbringen.

Sophie … und wachsen trotzdem als Gruppe zusammen.

Das Tanzlabor ist eine Kooperation der Wiener Staatsoper, des Wiener Staatsballetts und Tanz die Toleranz. Einige von euch kannten diese Institutionen bereits, einige auch nicht. Nachdem ihr nun am Ende des Probenprozesses seid: Von welcher Seite habt ihr die Institutionen nun kennengelernt?

Victoria Von Innen. (lachen)

Also erstens: In der Wiener Staatsoper proben – das war ein Traum, der erfüllt wurde. Und zweitens, dass es auch so professionell ist. Die Kostüme, das Licht, dann bekommen wir einen Trailer, und, und, und. Man fühlt sich wie ein*e professionelle*r Tänzer*in.

Für jemanden, der gerne tanzt, ist das einfach »wow«. Wenn man jetzt zur Oper geht – wir gehen ja alle zusammen – versteht man auch mehr Dinge. Man weiß, wie es ist einen Auftritt vor Publikum zu haben und wie es sich backstage anfühlt.

David Ja, ein anderes Gefühl! Schön, dabei zu sein.

Lena Ich finde es eigentlich lustig, denn ich hatte davor so gar keine Tanzerfahrung… und dann gleich so.

Viktoria … und dass man eben so richtig viel von der Oper mitbekommt. Dass es heißt, okay, wir dürfen uns Kostüme von der Oper ausborgen. Das fühlt sich besonders an und ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals bei so einem Projekt mitmachen kann. Und dass es eigentlich so einfach ist mitzumachen.

Victoria Bei anderen Akademien, steht man, wenn man etwas nicht gut kann, ganz weit hinten in der letzten Ecke. Hier ist es gar nicht so! Sie machen das immer toll und respektvoll, ebenso die Korrekturen. Auch wenn man sich von der Staatsoper vielleicht denken könnte, dass sie eben strenger sind. Aber es ist sehr relaxed.

Marieke Ich finde, dass sie den Outreach-Instagramkanal auch sehr gut machen. Es werden kleine Auszüge aus den Proben gefilmt und Stories gepostet.

Valentina Also dadurch, dass das Projekt eine Kooperation mit dem Staatsballett und der Staatsoper ist, dachte ich, alles wäre viel klassischer. Ich kannte die Räumlichkeiten im Kulturhaus Brotfabrik und langsam merke ich, dass das Tanzlabor viel mehr das ist, was auch dieser Ort verkörpert. Dieses Miteinander und das Inklusive. Das finde ich sehr schön! Und dass man auch so als Gemeinschaft zusammenwächst.

Sophie Das Selbstbewusstsein sagen zu können: »Ich habe für ein Projekt der Wiener Staatsoper getanzt« ist schon so, WOW! Die Kombi mit Tanz die Toleranz und enge Zusammenarbeit aller – das hat auch sehr viel für unser Gemeinschaftsgefühl getan.

Aus einer Kooperation wird das Tanzlabor – aus den wöchentlichen Treffen eine Alltäglichkeit für die Teilnehmer*innen. Zusammenwachsen, Freund*innen finden und wieder loslassen.

Wie es nach der Aufführung für die Individuen des Ensembles weitergeht?

Nun rückt »Alles und Nichts« bereits in vielerlei Hinsicht näher.

– Interview & Text Jana Zimmermann

Wir sind alles

Leere leitet uns, ausweitendes Ticken in uns

Ein Beben

Rennen

Vergessen

In mir verbrannt, verbannt

Halt mich, halt inne, auseinander

Welchen Bahnen folgen wir?

Folgen uns, finden wir uns

Spiegeln uns in Bahnen

Verbieg mich in den Boden in mich selbst.

Relationen, Kombinationen & kollektive Kreativität

Im Tanzlabor stehen junge Menschen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen gemeinsam mit Profis der Wiener Staatsoper und der freien Szene auf der Bühne. Mitmachen kann jede*r. Ohne Auditions bildet sich im Herbst ein Ensemble aus jungen Menschen, die eins verbindet: Neugier und Interesse an Tanz, sowie Commitment, in den nächsten Monaten wöchentlich an einem neuen Stück zu arbeiten. Neben Bewegungen, Choreographien und inhaltlichen Schwerpunkten, die es zu finden gilt, stellt sich auch sehr schnell die Frage, wie dieses neue Stück klingen soll. Darüber, aber auch wie das Bühnendesign, das Licht oder die Kostüme aussehen könnten, wird in der Mitte des Stückentwicklungsprozesses diskutiert.

Die Idee, klanglich in die Welt des Schlagwerkes – analog wie elektronisch – einzutauchen, hat sich vor allem durch die Auseinandersetzung mit Informationsüberfluss, digitalen und analogen Relationen von Menschen und Daten, sowie alltäglichen Algorithmen, also Handlungsabfolgen, die wiederholbar sind und zu einer erwartbaren Lösung führen, ergeben. Der Wunsch nach einer Palette aus atmosphärischen Klängen und rhythmisch strukturierten und verschachtelten Stücken wurde deutlich. Drei Schlagwerker des Bühnenorchesters der Wiener Staatsoper – Michael Kahlig, Leonhard Waltersdorfer und Wilhelm Schultz – spielen nun in Alles und Nichts einerseits einen Teil der Komposition trio per uno von Nebojša Jovan Živković, andererseits eine Komposition von Leonhard Waltersdorfer selbst, das Stück Colours für Vibraphon und Marimbaphon, sowie eine Improvisation auf einem Set-Up bestehend aus Bass-Drum, Snare-Drum, Bongos und Becken. Verflochten werden diese Stücke mit elektronischen, teilweise sphärischen Beats von österreichischen Künstler*innen wie HVOB oder Marco Kleebauer, live adaptiert und aufgelegt von DJ Jessica Tarbai.

DJ Jessica Tarbai
»Im Tanzlabor finden ganz unterschiedliche Menschen zusammen, die ihre eigenen persönlichen Fähigkeiten und Ideen zum Ausdruck bringen«
– Jessica Tarbai

In Alles und Nichts wird ein Wechselspiel der analogen und digitalen Welt, teilweise direkt und dann wieder in abstrakter Form im Tanz und in der Musik erlebbar. Die beiden Welten, die in unserer heutigen Zeit nicht mehr wirklich voneinander getrennt werden können und sich ständig aufeinander beziehen und beeinflussen, werden ebenso deutlich, wie die Verbindungen der Tänzer*innen und Musiker*innen auf der Bühne. Obwohl alle Mitwirkenden unterschiedliche künstlerische Vorerfahrungen mitbringen, braucht es alle als gleichwertige Künstler*innen, um das Stück Alles und Nichts aufzuführen. Und darum soll es schlussendlich auch gehen, um Begegnungen, Austausch und einen gemeinsamen kreativen Prozess, wo jede*r sich einbringen kann, denn jede auch vermeintlich kleine Idee kann etwas Richtungsweisendes werden.

– Text

Katharina Augendopler

Von Linien, Ebenen und Dimensionen: die Mathematik des Körpers

Der kreative Prozess für ein partizipatives Community-Projekt wie dem Tanzlabor beinhaltete den Einsatz verschiedener Improvisationstechniken, die den Tänzer*innen durch Choreographinnen aus ihren eigenen Erfahrungen vermittelt wurden. Mein Hintergrund beinhaltet eine Ausbildung in zeitgenössischem Tanz am Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance in London, wo ich Laban Movement Analysis (LMA) studierte. Aufgrund des übergreifenden Themas unseres Projekts, »Shifting Symmetries«, habe ich mich entschieden, Aspekte dieser Methodik in unseren Prozess zu integrieren. Einige dieser Sequenzen haben das Stück Alles und Nichts geformt.

Rudolf Laban (1879-1958) wurde in Österreich-Ungarn geboren und zeichnete sich als Tänzer, Choreograph und Tanz-/Bewegungstheoretiker aus. Als prägende Figur in der Entwicklung des modernen europäischen Tanzes hat Laban mit seinen Beiträgen den Status des Tanzes als Kunstform erhöht.

Laban leistete Pionierarbeit bei der Entwicklung des Community Dance und versuchte, die Rolle der Tanzvermittlung zu verändern, indem er seine Überzeugung betonte, dass Tanz für jeden zugänglich sein sollte. LMA ist eine Methode, mit der die Bewegungen des menschlichen Körpers konzeptualisiert, beschrieben und bewertet werden können. Labans Klassifizierung von Bewegungen umfasste zwei Hauptkomponenten: Eukinetik, d.h. Efforts, und Choreutik, d.h. Space Harmony.

Während unseres Prozesses haben wir mit einer der Ideen von Space Harmony gearbeitet: wir bewegen uns durch die Ebenen in unserem Körper und im Raum. Wenn zwei räumliche Kräfte miteinander verschmelzen, bilden sie Ebenen. Wenn wir horizontale und vertikale Dimensionen kombinieren, bilden wir die vertikale Ebene, die Türebene (dunkleres Grün). Ebenso ergibt die Verbindung von horizontaler und sagittaler Dimension die horizontale oder Tischebene (hellgrün). Die dritte Ebene, die sich aus den vertikalen und sagittalen Dimensionen ergibt, wird als Sagittalebene oder Radebene (violett) bezeichnet.

Die Diameter sind die Linien, die die gegenüberliegenden Ecken dieser Ebenen miteinander verbinden, wobei jede Ebene zwei Diameter besitzt, die sich in der Mitte schneiden. Wenn sich die Ebenen treffen,

schneiden sich alle Diameter im Mittelpunkt des Körpers. Die Verbindung der Ecken der Ebenen bildet das Icosahedron (rote Linien). Laban hat sich viele Möglichkeiten ausgedacht, die Bewegungen durch das Icosahedron zu ordnen. Unsere Tänzer*innen lernten die A-Scale, eine dieser Bewegungsordnungen. Anschließend hatten sie die Aufgabe, ihre eigene Bewegungsordnung durch das Icosahedron zu schaffen und diese durch den Raum zu bewegen.

In der A-Scale haben wir die transversale Bewegung entdeckt, bei der man sich von einer Richtung in einer Ebene durch eine zweite Ebene zu einer Richtung in der dritten Ebene bewegt. Dabei bewegen wir uns zwischen dem Mittelpunkt des Körpers und der Peripherie der Kinesphäre.

Obwohl wir uns von einer Ebene zur anderen bewegen – jede Ebene ist zweidimensional – durchqueren wir alle Ebenen und Dimensionen, wobei wir das Gleichgewicht durch die organische Körperorganisation aufrechterhalten. Das Gefühl, durch diese räumlichen Richtungen zu navigieren, Dimensionen zu addieren und zu subtrahieren, kann ein spielerisches Gefühl des herausfordernden Gleichgewichts hervorrufen – zurück in die eigene Mitte gezogen zu werden, um dann wieder aus der Balance zu geraten. Damit sind wir wieder bei unserem Thema »Shifting Symmetries« angelangt – im Körper oder im Raum im oder aus dem Gleichgewicht zu sein.

Die Improvisation hat ermöglicht, dass die Tänzer*innen aus gewohnten Mustern ausbrechen und einzigartige Bewegungen erkunden. Ihre Beiträge waren von unschätzbarem Wert und führten zu fesselnden langen Linien, wie im ersten Duo des Stücks Alles und Nichts, sowie zu vielfältigen dynamischen Bewegungen und räumlichen Mustern, die sich durch das gesamte Stück ziehen. Dass die Tänzer*innen diese und viele andere improvisatorische Herausforderungen von Anfang an mit ganzem Herzen angenommen haben, war es für uns Choreographinnen ungemein bereichernd, wie sich ihre kreativen Beiträge im Laufe der Entwicklung des Stücks zu einem Ganzen zusammenfügen. – Text Katy Geertsen

Kostümbildnerin Anna Asamer über ihren künstlerischen Zugang im Stück Alles und Nichts

Die Kostüme aus modifizierter Alltagskleidung visualisieren durch ihre metallisch glänzenden Oberflächen, angelehnt an die verführerische Strahlkraft eines Smartphone Bildschirms, die Verflechtungen des »analogen Ichs« mit dem »digitalen Ich«. Um mit anderen zu kommunizieren, ziehen wir unser »digitales Ich« über und sehen unser Gegenüber, das »digitale Andere« in seiner reduzierten, auf Selbstrepräsentation ausgelegten Form.

Digitale zwischenmenschliche Beziehungen, ihre Kommunikationsinhalte, Reichweite bzw. Sichtbarkeit werden durch den Algorithmus bestimmt. Die Kostüme verbildlichen durch ihre vibrierenden Linien und Wellen die Vielzahl an simultanen Wahrnehmungsreizen, die sich überlagern, überschneiden oder aneinander vorbeilaufen. Bei der Formfindung wurden analoge Skizzen durch den Output bildgebender KI ergänzt, das Ergebnis ist eine Synthese aus analogem und digitalem Denken.

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Anna Asamer Amin Khawary Anja Jendrysiak Carla Gessing David Paltinger Eva Louisa Ostermair Katarina Pancic Katharina Augendopler Katy Geertsen Laura Coral Lena Schmiederer Marieke Wierenga Nils de Greef Sophie Janning Valentina Heinz Victoria Bernal Viktoria Hetzendorfer Lisa-Marie Kramer Marlene Zeman

Augen zu

Augen auf

Augen zu

Ich frag dich: Hey, kannst du bitte warten?

Du sagst: ...

Ich lauf dir nach

Hol dich ein

Nein – doch nicht

Ich erreich dich nicht

Außer Atem – du nicht

Du bist immer nur weit weg

Laufen, Stehen

Und –

Gleich wieder los

Ich will eigentlich nur allein sein

Eigentlich wieder umkehren

Ich mach dir trotzdem alles nach

Augen zu

Augen auf

Augen zu

Und ich seh das alles grad vor mir

Wie ich dich seh

Und

Du mich anschaust

Du mich durchschaust

Wieder wegschaust

Wie uns alle anschauen

Alle durchschauen

Alle wegschauen

Später wieder -

Ich frag dich: Hast du heute schon

was vor?

Du sagst: ...

Und ich wart noch kurz

Noch ein bisschen länger

Noch ein bisschen

Wieder nichts

Zeit loszulassen

Zeit weiterzumachen

Tick tick tick

Zeit rennt

Eins und zwei und drei und vier

Swipe

Links links und wieder links

Und du bist wieder Nichts für mich

Auch du bist wieder Nichts für mich

Und ich bin wieder Nichts für dich

Augen zu

Augen auf

Ich lass sie auf

Ich frag dich: Was hast du?

Du sagst: Nichts.

Ich frag: Alles ok?

Du sagst: ...

Ich halte dich

Du sagst nichts

Alles ist gesagt

– Marieke Wierenga

Ein herzliches Dankeschön geht an den Offiziellen Freundeskreis der Wiener Staatsoper für die Unterstützung und das Möglichmachen des Projekts. Weiterer besonderer Dank geht an Krysztina Winkel, Carlos Chamorro, Margarete Krenn-Arnold, Sophie Rösch, Stephan Kugler, Sebastian Negulescu, Saskia Schneider, Robert Eisenstein, Franzi Kreis & Lukas Beck. Redaktion Katharina Augendopler, Katy Geertsen, Jana Zimmermann Bilder Ashley Taylor Medieninhaberin Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Hersteller Walla & Co Druckerei GmbH, Neutorgasse 9, 1010 Wien

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