Programmheft »Il trittico«

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GIACOMO PUCCINI

IL TRITTICO


INHALT

S.

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DIE HANDLUNGEN S.

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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.

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GIANNI SCHICCHI KOMPONIERT PUCCINI PHILIPPE JORDAN S.

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»LIEBE IST ETWAS, DAS KEINE ZUKUNFT KENNT.« TATJANA GÜRBACA IM GESPRÄCH S.

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DAZWISCHEN MARINA FRENK S.

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EXPERIMENTELLE DREIERDRAMATURGIE ARNOLD JACOBSHAGEN S.

40

DIE GELEHRIGEN KÖRPER MICHEL FOUCAULT S.

44

PUCCINIS LEKTÜREN NIKOLAUS STENITZER S.

52

LYRIK IN DREI FARBEN BRIEFE

S.

54

DER MANTEL DIDIER GOLD S.

58

LEID, LEID, LEID BRIEFE S.

62

DIE KONTROLLE DER TÄTIGKEIT MICHEL FOUCAULT S.

64

GIANNI SCHICCHI: DIE QUELLEN S.

68

DIE VERSELBSTSTÄNDIGUNG DER EINZELNEN TRITTICO-TEILE ANDREAS LÁNG S.

74

HABEN SIE IDEEN? BRIEFE S.

76

GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT JEAN-PAUL SARTRE S.

81

DIE KUNST DER VERTEILUNGEN MICHEL FOUCAULT S.

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SO FREI UND GLÜCKLICH, DASS DU SINGST OTESSA MOSHFEGH S.

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IMPRESSUM


COME È DIFFICILE ESSER FELICI! Wie schwer ist es doch, glücklich zu sein! Giorgetta, IL TABARRO


GIACOMO PUCCINI

IL TRITTICO DREI OPERN in je einem Akt Text GIUSEPPE ADAMI (Il tabarro) GIOVACCHINO FORZANO (Suor Angelica, Gianni Schicchi) Il tabarro nach La Houppelande, Schauspiel von Didier Gold Gianni Schicchi nach La Commedia, Inferno (30. Gesang) von Dante Alighieri sowie dem anonymen Commento alla divina commedia

ORCHESTERBESETZUNG Piccolo / 2 Flöten 2 Oboen / Englischhorn 2 Klarinetten / Bassklarinette 2 Fagotte / 4 Hörner / 3 Trompeten 3 Posaunen / Bassposaune Pauken / Schlagwerk Glockenspiel / Harfe Celesta / Streicher BÜHNENMUSIK Il tabarro 2 Trompeten / Harfe / Autohupe Sirene / große Glocke Suor Angelica Piccoloflöte / 3 Trompeten Glocken in c’, d’, e’, f’, g’ und a’ Bronzenglöckchen / Tavolette / Becken / Orgel Gianni Schicchi Röhrenglocke in Fis

AUTOGRAPH Archivio Storico Ricordi, Mailand URAUFFÜHRUNG 14. DEZEMBER 1918 Metropolitan Opera, New York WIENER ERSTAUFFÜHRUNG 20. OKTOBER 1920 Wiener Staatsoper SPIELDAUER

3 H 30 MIN

INKL. 2 PAUSEN




IL TRITTICO

HANDLUNGEN IL TABARRO Der Schleppkahn des Schiffers Michele liegt in einem Winkel der Seine in Paris vor Anker. Die Arbeiter löschen die letzten Waren, während Michele den Sonnenuntergang betrachtet. Micheles Frau Giorgetta bietet den Arbeitern Erfrischungen an. Der junge Arbeiter Luigi winkt einen Drehorgelspieler heran. Giorgetta tanzt zuerst mit dem trinkfreudigen Tinca, dann mit Luigi. Die fröhliche Szene wird durch Michele unterbrochen. Das Verhältnis zwischen ihm und seiner viel jüngeren Frau ist angespannt. Er erklärt Giorgetta, neben dem älteren Arbeiter Talpa und Tinca auch Luigi weiter beschäftigen zu wollen, der andernfalls verhungern müsse. Talpas Frau Frugola holt ihren Mann ab. Sie träumt davon, ihren Lebensabend in einem Häuschen auf dem Land zu verbringen. Giorgetta schwärmt hingegen vom Pariser Stadtteil Belleville, von wo sie und Luigi stammen. Als alle anderen gegangen sind, ruft Giorgetta Luigi zu sich. Die beiden haben eine Liebesaffäre. Sie verabreden sich für Mitternacht, Giorgetta wird als Signal ein Streichholz anzünden. Michele wirft Giorgetta vor, ihn nicht mehr zu lieben. Er beschwört die Zeit ihres Glücks, das endete, als das gemeinsame Kind starb. Symbol dieses Glücks ist Micheles Mantel, unter dem er seiner kleinen Familie Schutz bieten konnte. Giorgetta lässt Michele mit seinen düsteren Gedanken allein. Er ist überzeugt, dass sie eine Affäre hat und überlegt, wer ihr Liebhaber sein könnte. Als er seine Pfeife anzündet, hält der wartende Luigi das Streichholz für das vereinbarte Zeichen von Giorgetta und betritt den Kahn. Von Michele bedrängt, gesteht Luigi seine Liebe zu Giorgetta. Michele ersticht ihn. Die Leiche wickelt er in seinen Mantel. Giorgetta kommt, um sich bei Michele zu entschuldigen. Michele öffnet den Mantel und Luigis Leiche wird sichtbar.

Vorige Seiten: MICHAEL VOLLE als MICHELE ANJA KAMPE als GIORGETTA JOSHUA GUERRERO als LUIGI ANDREA GIOVANNINI als TINCA DAN PAUL DUMITRESCU als TALPA MONIKA BOHINEC als FRUGOLA KOMPARSERIE der WIENER STAATSOPER (IL TABARRO)

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HANDLUNGEN

SUOR ANGELICA Ein Hof im Inneren eines Klosters. Nach der Abendmesse gibt die Schwester Eiferin einigen Schwestern Bußübungen auf, während die übrigen sich zur Freizeit begeben. Als das Gespräch auf eine verstorbene Schwester kommt, erklärt Suor Angelica, der Tod sei ein schönes Leben, in dem es keine Wünsche mehr gäbe. Die Schwestern sind uneins, ob ihnen weltliche Wünsche erlaubt sind. Die meisten bestreiten, welche zu habe, auch Suor Angelica. Die Schwestern wissen aber, dass Angelica sehnsüchtig auf Nachricht von ihrer Familie wartet. Gerüchten zufolge stammt Angelica aus einer reichen, adeligen Familie und sei zur Strafe ins Kloster geschickt worden. Eine Schwester wurde von Wespen gestochen. Suor Angelica, die den Klostergarten betreut, hat lindernde Mittel zur Hand. Eine Besucherin wird gemeldet: Es ist Angelicas Tante. Sie hat von deren verstorbenen Eltern die Vormundschaft für Angelica und ihre Geschwister übernommen. Nun ist sie gekommen, um Angelica Dokumente über die Aufteilung des Familienvermögens zur Unterzeichnung vorzulegen, weil Angelicas jüngere Schwester heiraten wird. Ihr zukünftiger Mann sei bereit, über die Schande hinwegzusehen, die Angelica über die Familie gebracht habe: Angelica hat einen unehelichen Sohn. Sie bittet die Tante, von ihm zu erzählen. Die Tante erklärt, das Kind sei bereits vor zwei Jahren gestorben. Dann nötigt sie Angelica zur Unterschrift und verlässt das Kloster. Angelica beklagt das Schicksal ihres Kindes, das ohne Mutter sterben musste. Die nichtsahnenden Schwestern beglückwünschen sie zu dem langersehnten Besuch. Nachts vergiftet sich Angelica. Sterbend gerät sie in Verzweiflung über die Todsünde des Selbstmords. Von himmlischen Chören und unerwarteten Erscheinungen umgeben, stirbt sie wie in Verklärung.

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IL TRITTICO

GIANNI SCHICCHI Buoso Donati ist gestorben. Seine Verwandten überbieten sich gegenseitig mit Trauerbekundungen. Besonders laut wird das Geschrei, als Buosos Testament gefunden wird: Der Verblichene hat seinen ganzen Besitz einem Kloster hinterlassen. Der junge Rinuccio schlägt vor, den klugen Gianni Schicchi um Rat zu fragen. Rinuccios Motive sind nicht uneigennützig: Er will Giannis Tochter Lauretta heiraten. Simone und Zita erklären, die edlen Donatis würden sich niemals mit der Familie eines zugezogenen Emporkömmlings wie Gianni Schicchi verbinden. Als Gianni Schicchi mit Lauretta eintrifft, verweigert Zita die Zustimmung zur Hochzeit, weil Lauretta keine Mitgift mitbringe. Der gekränkte Gianni will schon wieder gehen, doch Rinuccio bittet ihn, zumindest einen Blick auf das Testament zu werfen. Lauretta droht überdies mit Selbstmord, sollte die Hochzeit nicht zustande kommen. Gianni Schicchi bestätigt, dass an dem Testament nichts zu ändern ist. Er hat aber eine Idee: Er wird in der Rolle des sterbenden Buoso dem Notar ein neues Testament zugunsten der Verwandten diktieren. Streit entbrennt um die besten Anteile des Erbes, das Haus, die Mühlen von Signa und den prestigeträchtigen Maulesel. Ein Verwandter nach dem anderen nimmt Gianni zur Seite und verspricht ihm eine Belohnung, wenn er zu seinen Gunsten entscheide. Der Notar nimmt das Testament auf. Gianni spricht zwar allen Verwandten ein Erbteil zu. Das Haus, die Mühlen und den Maulesel aber vererbt er an sich selbst – Gianni Schicchi. Die protestierenden Verwandten erinnert Gianni verklausuliert daran, dass ihnen als Mittätern schwere Strafen drohen, sollte der Betrug auffliegen. Als Notar und Zeugen gegangen sind, wirft Gianni die wütende Verwandtschaft aus dem Haus. Lauretta und Rinuccio sind glücklich: Ihrer Hochzeit steht nun nichts mehr im Wege. Dem Publikum erklärt Gianni Schicchi, er sei für diesen Streich in die Hölle geworfen worden. Mit respektvollem Verweis auf den großen Vater Dante bittet er aufgrund der guten Unterhaltung um mildernde Umstände.

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ELEONORA BURATTO als ANGELICA (SUOR ANGELICA)


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UBER DIESES PROGRAMM BUCH Drei Farben. Drei Geschichten. Drei Opern. Ein Abend. Mit seinem als Il trittico – Das Tryptichon – bekanntgewordenen vorletzten Musiktheaterwerk stellte sich Giacomo Puccini gewissermaßen auf den Nullpunkt der Musiktheatergeschichte. Die Trilogie, zu der Giacomo Puccini die drei Einakter Il tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi zusammenfasste, ruft die Anfänge des europäischen Theaters ins Gedächtnis: Wie der Trittico mit dem komischen Gianni Schicchi endet, so endete der tragische Agon, der Tragödientag der großen Dionysien von Athen, ab etwa 500 v. Chr. mit einem heiteren Satyrspiel. Zugleich kommt im Trittico Puccinis Affinität zu einem modernen Phänomen zum Ausdruck: Die episodische Dramaturgie, die den Trittico, wie Puccini-Biograph Dieter Schickling bemerkte, als dramaturgischen Verwandten von Alban Bergs Wozzeck ausweist. Puccini war fasziniert von der Idee, drei inhaltlich und musikalisch voneinander unabhängige Werke nebeneinanderzustellen, die sich im Zusammenspiel der Stimmungen ergänzen sollten.

In seinem Beitrag (ab S. 12) bricht Premierendirigent und Musikdirektor Philippe Jordan eine Lanze für die von Puccini festgelegte Reihenfolge der drei Teile und gibt Einblick in ihre je eigene Klangsprache und kompositorischen Besonderheiten. Der Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen weist auf die doppelte Sonderstellung des Trittico hin: War Puccinis Trilogie-Konzeption in der Musiktheatergeschichte letztlich beispiellos gewesen, so nahmen sich nach der Uraufführung andere Komponisten ein Beispiel an Puccinis Idee. Jacobshagen hebt außerdem die folgenreiche Modernität von Puccinis Klangsprache hervor (ab S. 32). Regisseurinnen und Regisseure stellen sich in der Auseinandersetzung mit dem Trittico häufig die Frage nach einer auch inhaltlichen Verbindung der drei Einakter. Regisseurin Tatjana Gürbaca sieht, wie sie im Gespräch mit Dramaturg Nikolaus Stenitzer (ab S. 18) erläutert, eine strukturelle Verbindung, die in einem Satz der Protagonistin Giorgetta in Il tabarro zum Ausdruck komme: »Wie schwer es ist, glücklich zu sein!« Für Gürbaca erzählen alle drei

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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Werke auf je eigene Weisen von Gesellschaftsstrukturen, die dem Glück des Einzelnen entgegenstehen. Der Auszug eines ihrer Referenztexte, Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft, findet sich ebenfalls in diesem Programmbuch (S. 76). Der Frage nach der Beschaffenheit und der Möglichkeit von Glück nähert sich die Autorin und Schauspielerin Marina Frenk in ihrem Beitrag mit literarischen Mitteln (S. 26). »Ich bestehe auf den drei Farben!«, schrieb Giacomo Puccini 1904 an Luigi Illica, den Librettisten unter anderem von La bohème. Schon damals – 14 Jahre vor der Uraufführung des Trittico in New York – beschäftigte Puccini die Idee einer Einakter-Trilogie. Nikolaus Stenitzer gibt Einblick in die vielen verschiedenen literarischen Vorlagen, mit denen sich Puccini und seine Librettisten im Vorfeld befassten (ab S. 44). Auszüge aus

den schließlich gewählten Vorlagen – der Schicchi-Episode aus Dantes Inferno samt dazugehörigem Kommentar aus dem 14. Jahrhundert sowie Didier Golds Schauspiel La Houppelande (Der Man­ tel) – finden sich auf den Seiten 64 und 54. Welche Art von Eigenleben die drei Trittico-Einakter mitunter entwickelten, beschreibt Andreas Láng an Beispielen aus der Aufführungsgeschichte an der Wiener Staatsoper (ab S. 68). Glück, Freiheit und die Frage, was beidem entgegensteht: So könnte der gedankliche Hintergrund der Neuproduktion von Puccinis Il trittico zusammengefasst werden. Dazu passende Reflexionen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln finden sich in Auszügen aus Michel Foucaults inzwischen klassischem Werk Überwachen und Strafen (S. 40, 62 und 81) und aus Otessa Moshfeghs Roman Lapvona (S. 82).

Folgende Seiten: MICHAELA SCHUSTER als ZITA BOGDAN VOLKOV als RINUCCIO ANDREA GIOVANNINI als GHERARDO ANNA BONDARENKO als NELLA CLEMENS UNTERREINER als BETTO DAN PAUL DUMITRESCU als SIMONE ATTILA MOKUS als MARCO DARIA SUSHKOVA als LA CIESCA KIND der OPERNSCHULE der WIENER STAATSOPER als GHERARDINO KOMPARSE der WIENER STAATSOPER als BUOSO DONATI (GIANNI SCHICCHI)




PHILIPPE JORDAN

GIANNI SCHICCHI KOMPONIERT PUCCINI I. Giacomo Puccini suchte stets nach ungewohnten Formen und Wegen, um sein Publikum zu verführen und zu überraschen. Im Fall vom Trittico bot der dreiteilige Aufbau ganz neue Möglichkeiten: Ein Abend mit unterschiedlichen Werken, die Erzählung von gleich mehreren eigenständigen, abgeschlossenen Geschichten. Man hat gewissermaßen keinen Roman, sondern ein Buch mit Novellen. Aber gerade durch die Verschiedenartigkeit der Themen ist der Gesamtabend ungemein ausgewogen – auch daran erkennt man, was für ein genialer Dramaturg Puccini war. Er ordnete die Stücke so, dass ein logischer dramaturgischer Bogen entstand: Wir haben zuerst das dramatisch-tragische Stück, dann das lyrisch-tragische und zuletzt das komische. Puccini wusste, dass man mit der Tragödie anfangen muss und mit der Komödie enden. Diese dramaturgischen Grundsätze kennen wir seit dem griechischen Theater, und gerade aufgrund dieser tragfähigen klassischen Dramaturgie halte ich es für vollkommen falsch, die Reihenfolge der Stücke zu ändern. Suor Angelica muss also in der Mitte stehen. Denn der Abend entspricht einem Trip-

tychon in einer Kirche – und da ist das Madonnengemälde eben in der Mitte. Ich finde auch, dass man die Stücke nur gemeinsam spielen soll und auch nicht in anderen Kombinationen. Denn nur so, wie Puccini sie erdacht und komponiert hat, können sie ihre volle Wirkung entfalten. – Und dennoch sind es drei unterschiedliche, eigenständige Werke, die durch keine musikalische Klammer verbunden sind. Es handelt sich vielmehr um ein Bukett mit jeweils eigenen, zum Teil höchst unterschiedlichen Aussagen, Emotionen und eigener Musik. Selbstverständlich darf man dabei nicht vergessen, dass in dieser Epoche Einakter an sich enorm beliebt waren. Denken wir nur an Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg, Maurice Ravels Lʼheure espagnole und Lʼenfant et les sortilèges, Alexander Zemlinskys Der Zwerg und Die florentinische Tragödie oder Arnold Schönbergs Von heute auf morgen. Nicht zu vergessen natürlich Salome und Elek­ tra von Richard Strauss. Das Konzept einer Kurzoper lag also in der Zeit. Doch statt nur eine einzelne, nur in Kombination mit anderen Werken aufzuführende Oper zu schaffen, entwickelte Puccini seine eigene Kurzopern-Kombination mit gleich drei Werken.

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GIANNI SCHICCHI KOMPONIERT PUCCINI

II. Nun stellt sich immer wieder die Frage nach der Zuordnung des Trittico zum musikalischen Verismo. Zweifellos mag manches daran erinnern, doch reicht Puccini in jeder Hinsicht weit über diese Gattung hinaus. Am ehesten empfinde ich noch den Tabarro als veristisch, auch, was die Tonsprache mit den Autohupen, dem Klang der Drehorgel und anderem mehr betrifft. Suor Angelica ist schon deutlich abstrakter, besonders wenn wir an das metaphysische Finale denken, in dem es eben nicht nur um einen realistischen Tod geht. Die angesprochenen Alltagsklänge im Tabarro setzt Puccini ein, um eine besondere Atmosphäre, ein Kolorit zu erschaffen, wie ihm das immer wieder so unvergleichlich gelingt. Er macht das in Tosca, wenn er das Rom um 1800 wiederauferstehen lässt, wir finden in Madama Butterfly Annäherungen ans Japanische oder die Darstellung des amerikanischen Kolonialismus, oder aber es wird in der Bohème mithilfe vieler impressionistischer Farben ein musikalisches Bild von Paris gezeichnet. Auch in Ta­ barro erleben wir ein Paris, wenn auch moderner, zeitgemäßer. Und während ich in Bohème mehr Maurice Ravel höre, also farbigere, brillantere und letztlich auch charakteristischere Klänge, erinnert mich Tabarro stärker an Claude Debussy, die Situation wirkt dunkler, aber auch experimenteller. Dieses Düstere hat freilich seinen klangdramaturgischen Sinn: es spiegelt die schäbige Umgebung, die Kanalboot-Situation, die Armut wider. Es ist übrigens außerordentlich, wie Puccini in dieser Oper das Wasser musikalisch malt. Schon in der kurzen, im 12/8-Takt gehaltenen Einleitung spürt man das Schaukeln, das Unstete – man ist sich des Bodens nicht

mehr sicher. Wenn man will, kann man hier eine Verwandtschaft zum ersten Aufzug von Tristan und Isolde erfühlen, auch dort spürt man das ewig Schwankende – und vor allem denkt man beim Tabarro-Beginn natürlich an Debussys La Mer. Die Drehorgel wiederum ist ein ganz klarer Hinweis auf Igor Strawinskis Petruschka! Die eine Stimme ist einen Halbton höher als die andere, dadurch entsteht der Effekt eines verstimmten Klangs. So wird eine unglaubliche atmosphärische Wirkung erzeugt, die wiederum das Handlungsmilieu illustriert. Man weiß sofort, in welcher Welt man sich befindet – übrigens verwandt mit dem ebenso verstimmten Klavier in Wozzeck. Als genialer Komponist identifizierte sich Puccini mit all seinen Figuren. Nicht anders, als Wagner sich mit Isolde oder Richard Strauss sich mit der Feldmarschallin oder der Salome verbunden gefühlt hat: da ist immer etwas Persönliches drin. Also schwingt in Il tabarro auch das Thema des Älterwerdens, das Puccini wohl beschäftigt hat, wie auch der Gedanke an die verlorene Jugend mit. Aber es gibt noch viel mehr und anderes in dieser Oper: das verlorene Kind, die verpassten Chancen, die Illusionslosigkeit. Trotzdem scheint Michele sich anfangs fast mit seinem Schicksal abgefunden zu haben, die jüngere Giorgetta hingegen schreit nach dem Leben. Und das hört man! Sie ist mit allem noch nicht fertig, es reicht noch nicht! Sie möchte ausbrechen, selbst wenn sie, obwohl mit Luigi bereits verabredet, Michele noch liebt. Luigi wiederum will ebenso aus allem heraus, doch ist ihm Giorgetta als Person wahrscheinlich egal, es könnte jede beliebige Frau sein. Wie Puccini diese Vielschichtigkeit der Motivatio-

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PHILIPPE JORDAN

nen und Gefühle aufgespürt und dargestellt hat, ist einfach überwältigend! Und wie er im Duett von Luigi und Giorgetta zeigt, dass es sich bei ihnen um zwei hoffnungslose Seelen handelt, die Glück suchen und sich dabei finden, ist beeindruckend – und nicht zufällig ist die ganze Szene in Moll geschrieben.

III. Wie schon angemerkt ist eine der Besonderheiten am Trittico, dass Puccini für jedes der Werke eine eigene Sprache findet. Suor Angelica hat vom ersten Takt an eine religiöse Sphäre, es ist fast so, dass der Komponist, wie Wagner im Parsifal, in eine Art Religionsmanie – ich denke hier an den übersteigerten Schluss – gerät. Musikalisch darf das Werk nicht nur »schön« sein, die Glocken am Anfang etwa müssen, vergleichbar mit Berliozʼ Symphonie fantas­ tique, auch etwas Gespenstisches haben. Das Kloster, dieser abgeschlossene Raum, birgt viel Leid, jede der Nonnen hat ihre eigene Geschichte, ihre eigene Last. Der Fokus liegt natürlich auf Angelica und ihrem tragischen Schicksal. Im Finale, im Tod, erlebt sie jedoch eine Verklärung, die unter anderem mit Kinder- und Damenchor, aber auch einem wie Erzengel hinzutretenden Herrenchor ausgestaltet ist. Es wird an dieser Stelle in der Musik eine unglaubliche Kraft spürbar, als ob sich das Tor zum Paradies öffnete. Dieses Finale ist regelrecht gnadenlos in seiner Wirkung, vergleichbar mit dem Tod der Mimì in La bohème. Puccini weiß genau, wo man »draufdrücken« muss, und auch wenn es einem als Dirigenten vielleicht persönlich zu viel ist: Im Moment der Aufführung muss man daran glauben. Denn wenn man das nicht tut oder sogar peinlich berührt ist – dann sollte

man diese Oper lieber lassen. Den mitunter getätigten Vorwurf, dass Suor An­ gelica Kitsch sei, weise ich jedoch ganz entschieden zurück! Dass das Religiöse hier besonders betont wird, muss man aus der Zeit verstehen, denken wir zum Beispiel nur an das Requiem von Gabriel Fauré. Es war einfach eine Epoche, in der Religiosität oftmals eine Note von Weihrauch bekommen hat. Wobei man den Effekt der Szene nicht auch noch durch besonders expressives Spiel zu verstärken versuchen soll. Im Gegenteil! Man muss die Oper einfach geschehen lassen, der Musik den Raum geben und darauf vertrauen, dass sie von selbst schwingt – und man darf ja nicht sentimental werden! Suor Angelica ist ja nicht zuletzt auch ein Vorläufer von Dialogues des Carmélites.

IV. Gianni Schicchi wiederum ist sicherlich irgendwo auch eine Hommage an Falstaff! Sie ist Puccinis erste und einzige Komödie – und dann gleich ein so geniales Werk! Er hat dabei seine Erfahrungen mit einzelnen Opernrollen, etwa mit Benoit und Alcindoro aus La bohème, mit dem Mesner in Tosca oder mit Goro in Madama Butterfly einfließen lassen und zeigt eine unglaubliche Ensemblekunst wie einen besonderen Sinn für Situationskomik! Da spricht wieder der Theatermann, der Theaterpraktiker Puccini. Ich persönlich finde Gianni Schicchi als Komödie sogar noch gelungener als Falstaff ... Wie Puccini die menschliche Verlogenheit beispielhaft darstellt, wie er gleich zu Beginn musikalisch die Seufzer-Motive erklingen lässt, und wie alles, was danach geschieht, übertrieben und wahnsinnig geheuchelt wird – das macht die Oper unglaublich komisch! Fast nichts kann

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GIANNI SCHICCHI KOMPONIERT PUCCINI

man da ernst nehmen. Ohne Zweifel steht Puccini hier in der Traditionslinie der italienischen komischen Oper, der Opera buffa, wie ja jeder große Künstler auf einer großen Tradition fußt! Gianni Schicchi ist ein Höhepunkt dieser Gattung, ebenso wie Die schweigsame Frau von Richard Strauss ein letzter Höhepunkt in der heiteren deutschen Oper ist. Eine der bekanntesten kleinen Arien der Musikgeschichte ist übrigens in Gianni Schicchi zu finden, das »O mio babbino caro« der Lauretta. Inmitten einer parlandohaften Umgebung wirkt diese Arie im Gesamtzusammenhang fast merkwürdig, fast wie ein Monolith, vor allem, wenn man das Tempo unnatürlich langsam nimmt. Hält man sich hier aber an Puccinis Tempovorschriften, sticht sie nicht so heraus, sondern tut dem Stück gut, weil Gianni Schicchi sonst eher auf kleinteilige Motivik auf-

Folgende Seite: MICHAEL VOLLE als MICHELE JOSHUA GUERRERO als LUIGI (IL TABARRO)

baut und wenige typische Puccini-Melodien hat, wie man sie aus seinen früheren Werken kennt. Wir wissen aus dem Entstehungsprozess, dass der Komponist diese Oper mit vergleichbar wenig Mühen schrieb. Und ist es nicht fantastisch, wenn ein Komponist die nötige Erfahrung hat, die Inspiration, die Begeisterung und das Werkzeug? Es muss unglaublichen Spaß machen, wenn eines ganz mühelos zum anderen führt und man sich nicht wie Beethoven mit den Symphonien quälen muss, sondern die Einfälle wie von selbst kommen. Das leitet uns über zu Gustav Mahlers schönem Satz: »Nicht ich komponiere, sondern ich werde komponiert.« Es gibt also eine dem Werk innewohnende Kraft, die sich ihren Weg bahnt. So gesehen wurde Puccini vielleicht auch ein wenig von Gianni Schicchi komponiert!

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KO H AP N FNZAEHI LAER E N D T / Ü B E R D I E R E V O L U T I O N

... DASS KEINER GLÜCKLICH GENANNT WERDEN KANN, DER NICHT AN ÖFFENTLICHEN ANGELEGENHEITEN TEILNIMMT, DASS NIEMAND FREI IST, DER NICHT AUS ERFAHRUNG WEISS, WAS ÖFFENTLICHE FREIHEIT IST, UND DASS NIEMAND FREI ODER GLÜCKLICH IST, DER KEINE MACHT HAT, NÄMLICH KEINEN ANTEIL AN ÖFFENTLICHER MACHT. 16


KOPFZEILE

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NIKOLAUS STENITZER IM GESPRÄCH MIT TATJANA GÜRBACA

»LIEBE IST ETWAS, DAS KEINE ZUKUNFT KENNT« ns

Warum ist es eigentlich so schwer, glücklich zu sein? tg Gute Frage. Vielleicht muss man aber zuerst fragen: Ist der Sinn des menschlichen Daseins überhaupt das Glück? Und was ist Glück? Ich denke, Glück hat mit dem Gefühl von Freiheit zu tun. Selbstbestimmt für sich entscheiden zu können, etwas zu tun, das einen erfüllt. Im Jahrhundert von Puccini ist vor allem für Frauen die Vorstellung von Glück stark an die Idee der Liebe gekoppelt. Einfach, weil das ein Jahrhundert ist, in dem Frauen gar nicht so viele andere Möglichkeiten haben, sich zu verwirklichen. Deswegen handeln Puccinis Geschichten so oft von einer unglücklichen Liebe. Die Grundkonstellation ist immer: Es gibt eine Liebe, die von der Gesellschaft nicht gewünscht ist und verhindert wird. Es sind also, ganz wie bei den französischen Existentialisten, die anderen, es ist die Gesellschaft, die das Glück verhindert, weil es Konventionen gibt, denen der Liebende per se nicht entspricht. Liebe ist etwas Anarchisches, Gesellschaftssprengendes. Liebe bedeutet, dass zwei Leute sich zu einer Zelle

zusammenschließen, die in Wahrheit nirgendwo hineinpasst. ns Giorgettas Satz »Wie schwer ist es doch, glücklich zu sein« aus dem Tabarro hast du für dich als verbindenden Gedanken in den drei Stücken des Trittico fest­ gestellt. Er bestimmt – in Frag­ menten – auch das Bühnenbild, das Henrik Ahr für die Inszenie­ rung entworfen hat. In welcher Weise könnte Liebe die Lösung sein? Wird sie nicht auch inner­ halb der Gesellschaft definiert? tg Ich würde sagen, die persönliche, individuelle Liebe ist ein Gegenkonzept zur Gesellschaft. Wagner führt das eindrucksvoll vor, zum Beispiel im Parsifal, anhand der Gralsritter, die eine allumfassende Liebe suchen – in die allerdings nur Männer einbezogen sind. Und dann Kundry, die anderes sucht, eine persönliche Liebe ... oder der zweite Akt Tristan: Die Liebenden treffen sich nur in der Nacht. Gewissermaßen in einer Gegenwelt. Mir fallen dabei auch Werke von Ingeborg Bachmann ein, Der gute Gott von Manhattan oder Undine geht: Das sind Werke darüber, dass Liebe eine

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»L I E B E I S T E T WA S , DA S K E I N E Z U K U N F T K E N N T«

Kraft enthält, die auch eine Gefahr darstellen kann – für die Liebenden und die Außenstehenden. Undine fordert zum Beispiel ein, dass man für die Liebe eine ganz eigene Sprache finden muss, eine eigene Art zu leben und eine Art, nur in der Gegenwart zu existieren. Liebe ist also eigentlich etwas, das keine Zukunft kennt. Oder, wie Richard Strauss in Elektra sagt: »Liebe tötet.« ns Bei Strauss haben wir es – wie meistens im Opernrepertoire, natürlich auch bei Puccini – mit Frauenfiguren zu tun, die von Männern ausgedacht wurden. Wie würdest du die Frauenfigu­ ren bei Puccini beschreiben? tg Die Frauen bei Puccini sind in jeder Hinsicht angegriffen und angreifbar und zerbrechlich und zart. Aber sie sind auch mit einem unglaublichen Glauben, mit einer unglaublichen Willenskraft, einer unglaublichen Lebenssehnsucht und Energie ausgestattet. Ich würde sagen, das gilt für alle Puccini-Heldinnen. Und ich denke, Puccini ist dabei auch ein sehr guter Chronist seiner Zeit. Er hat insgesamt diesen Druck, den Gesellschaft ausübt, im Trittico – einem Werk, das nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist – besonders weit getrieben. Deswegen ist er schon ganz nah dran an den französischen Strukturalisten: Weil er etwas beobachtet, indem er das in drei ganz verschiedenen Welten durchdekliniert, ja, zum Prinzip erklärt. ns Würdest du sagen, dass die ge­ sellschaftlichen Zwänge das verbindende Thema in den drei Einaktern des Trittico sind? tg Unbedingt. Sie handeln alle drei von Strukturen, in denen man feststeckt und aus denen man nicht herauskommt. Ich finde fantastisch, dass gerade das letzte der drei Stücke, Gianni Schicchi,

diese Struktur im allerengsten und auch allerunentrinnbarsten Sinne formuliert, nämlich in Gestalt der Familie. Der Humor in dem Stück ist so brillant, weil er so pointiert und entlarvend ist. Wir lachen ja häufig aus Verunsicherung oder aus Gegenwehr. Bei Gianni Schic­ chi bleibt einem das Lachen im Hals stecken, man fasst es nicht. Im Tabarro ist die Struktur die Arbeit, die jeder tun muss. Luigi bringt das in seiner Arie drastisch auf den Punkt, indem er sagt, »diese Arbeit verbraucht uns so sehr, dass wir nicht einmal mehr in der Lage sind, zu lieben oder das Leben zu genießen«. Das unglückliche Schicksal Giorgettas und Micheles, ihr Kind verloren zu haben, macht sie innerhalb dieser funktionierenden Arbeitswelt auch zu Außenseitern. Puccini waren die »tinte« wichtig, die verschiedenen Farben in den drei Stücken. Aber das übergreifende Thema kommt umso deutlicher in den Blick, weil die Zeiten und die Umstände, in denen die drei Werke spielen, so unterschiedlich sind. Dadurch zeigt sich, dass das Problem immer das gleiche bleibt: Wir müssen immer mit der Welt um uns herum zurechtkommen, und in den Zusammenhängen, in denen wir uns bewegen, ist es fast unmöglich, Glück zu finden, weil es darin keine Freiheit gibt. ns Du hast den Strukturalismus angesprochen als eine Denkrich­ tung, die für diese Inszenierung bedeutsam ist. Die Annahme ist dabei, dass die Gesellschafts­ struktur – etwa die, die der Ka­ pitalismus vorgibt – Freiheit verunmöglicht. Theorien, die dann als poststrukturalistisch bezeichnet wurden, haben das in Richtung einer sprachlich oder diskursiv hervorgebrachten

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IM GESPRÄCH MIT TATJANA GÜRBACA

Wirklichkeit weitergedacht. Ich habe bei deinen Inszenierungen und auch bei diesem Trittico öf­ ter daran gedacht: Das Unglück, von dem du sprichst, scheint sich in die Körper eingeschrieben zu haben, sie scheinen fast daraus zu bestehen. tg Getriebenheit, manchmal Maschinenhaftigkeit der Körper, das sind tatsächlich Themen für mich. Ich erzähle deswegen Opern, weil ich das Gefühl habe, es geht in ihnen um Geschichten, die für uns nach wie vor gültig sind. Diese Geschichten berühren uns, weil an ihnen etwas nach wie vor nicht abgegolten ist. Für den Trittico gilt das in ganz besonderer Weise. Das Gegenwärtige ist darin sehr greifbar, etwa durch die Arbeitswelt im Tabarro, aber viel mehr als nur die Arbeitswelt, durch die Struktur, in der wir leben. Das auf der Bühne darzustellen ist eine große Herausforderung, ein großes Thema. ns Was ist wichtig, um das zu errei­ chen? tg Was für das Theater, für die Bühne immer gilt: Wenn wir gegenwärtig sein wollen, dürfen wir das nicht verwechseln mit einem Versuch, die Realität eins zu eins nachzubilden. In Turandot, Puccinis letzter Oper, lautet die Zeitangabe: In der Märchenzeit. Daran können wir uns halten: Die Bühne bildet ihre eigene Zeit, ihre eigene Realität aus. Es geht um eine Art von geträumter Realität. Oder wie Verdi sagte: »Die Wirklichkeit kopieren kann eine gute Sache sein, aber die Wirklichkeit erfinden ist viel besser.« Es geht um dieses Erfinden der Wirklichkeit. Es muss eine Wahrhaftigkeit haben, aber es braucht keine Realität oder keinen Realismus. Es geht eher darum, einen Raum zu schaffen, in dem man sich den Zu-

schauer zum Komplizen macht und mit Assoziationen spielt. Und wo jeder in die Lage versetzt wird, sich in den Figuren wiederzufinden, aber jenseits seiner täglichen Lebenswirklichkeit. Ganz aus dem Inneren der Figuren heraus. Deswegen mache ich auch ein Theater, das so stark von den Darstellern, von den Sängerinnen und Sängern ausgeht, denn das ist ja das, was zeitlos und universell ist: unser Fühlen, unser Sein, unser Existieren. Requisiten, Möbel ändern sich. Architekturen ändern sich. Was immer bleibt, ist der Mensch. ns Suor Angelica spielt in einem Kloster. Die Protagonistin muss sich zwangsweise dort aufhalten, weil sie ein uneheliches Kind be­ kommen hat, etwas, das gesell­ schaftlich verboten ist. Ist es bei diesem Sujet schwieriger als bei den anderen, die überzeitliche, aktuelle Dimension zu finden? tg Gerade das Thema, über das wir gesprochen haben, ist hier unheimlich aktuell: Die Einschreibung von bestimmten Strukturen in den Körper. In diesem Fall die Struktur von Schuld und Sühne. Das Thema beschäftigt mich sehr. Obwohl ich mich als durch und durch atheistisch bezeichnen würde, stelle ich immer wieder fest, dass bestimmte katholische Prinzipien oder Gedanken mir – vielleicht von der Familie meiner Mutter herkommend – doch in den Knochen stecken. Gerade die Vorstellung von Schuld. Mein Eindruck ist, dass so etwas über Generationen weiterlebt und dass man es sich auch nicht komplett aus den Knochen schütteln kann. An Angelica als Figur fasziniert mich auch, dass an ihr das Auseinanderfallen von Religion und Glaube erzählt wird. Sie ist eine ganz außergewöhnliche Figur. Sie ist be-

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»L I E B E I S T E T WA S , DA S K E I N E Z U K U N F T K E N N T«

stimmt gläubig, aber ich weiß nicht, ob man ihren Glauben als Religiosität bezeichnen kann. Es ist ein Glaube an eine ewig beständige, mütterliche Liebe. Und sie ist unglaublich frei als Figur. Das beginnt im Grunde schon mit dem Kind, das sie bekommt, gegen die Regeln der Gesellschaft. Als sie zur Strafe ins Kloster kommt, findet sie innerhalb des Klosters wiederum Sinn für sich, sie leistet Hilfe, spendet Trost. Und schließlich entscheidet sie selbst über ihren Tod. Das ist Existentialismus pur. Es ist der große Konflikt zwischen Camus und Sartre, wie die Grenzen der Freiheit zu definieren sind. Für Sartre bleibt dem Menschen selbst unter allergrößten äußeren Zwängen immer noch ein Rest von Freiheit und Verantwortung. Angelica bekommt durch den Opernschluss Recht mit ihrer Entscheidung. Sie wird nicht bestraft für den Selbstmord, sondern sie erlebt Tod und Verklärung. Das erzählt die Musik ganz deutlich. ns Gianni Schicchi ist mit seiner Kleinteiligkeit und seiner ge­ nauen dramaturgischen Kom­ position herausfordernd für die Regie. Was ist wichtig, wenn du so ein Stück inszenierst? tg Ich finde, je präziser die Fantasie zu einer Szene im Vorfeld ist, desto mehr Freiheit hat man letztlich auf der Probe. Je sicherer man versorgt ist und je öfter man alles schon durchdacht hat, desto mehr kann man auf der Probe loslassen und zuschauen und anfangen zu spielen, das ist der Punkt, den ich suche. Gianni Schicchi ist als Stück sehr speziell, es bringt viel italienische Kulturgeschichte mit, die Figur des Gianni kommt ja aus Dantes Göttlicher Komödie, ist ein Geist in der Vorhölle, und gleichzeitig eine typische italienische Arlecchino-Figur aus der Commedia dell’arte. Bei uns

steht er aber auch für den Ausbruch aus verkrusteten Strukturen, er wird zu einer politischen Figur. Wenn Rinuccio das blühende Florenz beschreibt, dann meint er die intellektuellen und künstlerischen Impulse, die aus einer neuen Generation hervorgehen – den Menschen, die sich um Gianni Schicchi herum versammeln. Damit formuliert er einen mutigen Gegenentwurf zu Nepotismus, Geldgier und Heuchelei – wie sie in der Familie Buoso Donatis anzutreffen sind. Darüber hinaus ist Gianni Schicchi für mich aber auch eine Musik, die ich mir oft aufgelegt habe, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, weil ich sie einfach so mag. Schon wenn es losgeht, dieses Sekund-Motiv mit den Synkopen, das ist eigentlich wie Rock ’n’ Roll. Das triggert ganz physisch etwas in mir. Und dann die vielen Wagner-Bezüge: Wie Zita, Nella und Ciesca Schicchi umgarnen, erinnert sehr an Alberich mit den drei Rheintöchtern, und Rinuccio und Lauretta entpuppen sich am Ende als entfernte Verwandte von Tristan und Isolde. ns Tabarro ist vielleicht das ex­ tre­me szenische Gegenteil von Gianni Schicchi. Hier gibt es am Beginn ein atmosphärisches Ta­ bleau, aber die Szenen, in denen die Geschichte vorangetrieben wird, sind lange Dialoge – zwi­ schen Michele und Giorgetta, zwischen Giorgetta und Luigi. Worauf achtest du beim Insze­ nieren, damit kein szenischer Leerlauf entsteht? tg Auf den Subtext. Jeder Satz, der gesagt wird, funktioniert auf mehreren Ebenen. Es gibt eine ganz reale Ebene, auf der Giorgetta zum Beispiel sagt: »Deine Pfeife ist ausgegangen.« Das kann aber auch bedeuten, mit dir

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IM GESPRÄCH MIT TATJANA GÜRBACA

ist nichts mehr los, aus dir kommt kein einziger guter Gedanke mehr raus, und das kann natürlich auch stark erotisch konnotiert sein, zu sagen, deine Pfeife brennt nicht mehr. Jeder Satz ist so ein kleiner Fallstrick, und das verlangt einfach, dass man sehr genau mit den Sängerinnen und Sängern über Untertexte redet. Das Spiel auf der Bühne ist dann der Ausdruck des Subtextes, den man zeigen will. Als Opernregisseure leben wir grundsätzlich immer davon, dass wir aus zwei Ebenen eine dritte finden müssen. Wir haben die Ebene des Textes und wir haben die Ebene der Musik, und manchmal sagen beide Ebenen gar nicht unbedingt das Gleiche. Oder, wie man so schön sagt: »Der Ton macht die Musik«, also: Die Musik macht den Text. Und daraus zu finden, was ist da eigentlich gemeint, was wird gesagt, wie wird es gesagt und warum wird es gesagt, zu wem wird es gesagt: daraus entsteht dann die Szene. ns In deinem Trittico hat das Spiel viel Raum, die Sängerinnen und Sänger stehen in Henrik Ahrs ar­ chitektonischem Bühnenraum gewissermaßen auf dem Präsen­ tierteller. War das der Gedanke dahinter, diese Art von freiem Bühnenraum zu wählen? tg Ja. In den Stücken des Trittico, vor allem auch im Tabarro findet so viel zwischen den Figuren statt. Darum sind die Opernsängerinnen und Opernsänger hier auch wirklich aufgefordert, wie Schauspielerinnen und Schauspieler zu denken und zu handeln. Die Feinheit, die so entsteht, verlangt nach einem Raum, der diese ganz intimen feinen Gesten, Details, Blicke extrem herausstellt und nach vorne bringt. Darum bin ich so dankbar, dass Henrik Ahr diese Bühne gebaut hat: Das ist ein Raum, der

das auch so ausstellt, und in dem das nicht verloren geht. Henriks Bühnen haben immer das Potenzial, zu Seelenräumen oder zu einer Metapher zu werden. Zum anderen schätze ich, dass es Architekturen sind, die auch etwas sehr Reales und Greifbares haben und unglaublich präzise Fokus schaffen. Und die Sänger und Sängerinnen nach vorne schieben und in den Mittelpunkt stellen. ns Du hast beschrieben, was an Suor Angelica inhaltlich, philo­ sophisch interessant für dich ist. Dramaturgisch gilt das Stück als das Schwächste unter den drei Einaktern, darum viel­ leicht auch als dasjenige, das am schwierigsten zu inszenieren ist. Wie siehst du das? tg Mich interessiert an der Geschichte, dass sie so weit von jedem Opernklischee weg ist insofern, als es keine klassische Liebesgeschichte gibt. Es geht immer um die Frau und ihr Kind, aber es geht nicht um den Mann, der dieses Kind gezeugt hat. Er taucht gar nicht auf, ihn gibt es nicht, er ist völlig uninteressant. Wir erfahren auch an keiner Stelle, unter welchen Umständen dieses Kind gezeugt wurde. Und nicht nur wird von dem Mann in dieser Welt nichts erzählt – es gibt dort überhaupt nur Frauen. Das ist so eine seltsame Schwesternschaft. Innerhalb dieser Frauenwelt sind aber absolut alle Gefühle möglich: Freundschaft, Liebe, Fürsorge, Hass, Eifersucht, Konkurrenz. Dass selbst eine so enge Welt das alles zulässt, das finde ich großartig. Und ich finde, es liegt auch eine Modernität darin, erst einmal genau zu beschreiben, was zwischen Menschen stattfindet. Auch jenseits von irgendeiner Liebesgeschichte. Jede dieser Nonnen, die in diesem Kloster ist, hat irgendeine Vor-

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geschichte. Und es gibt Liebesszenen in diesem Stück, die ich universell finde. Dabei geht es darum, dass es etwas gibt, das einem niemand, auch nicht die Struktur, von der wir gesprochen haben, wegnehmen kann. Dass es eine ganz, ganz große menschliche Sehnsucht danach gibt, Liebe zu geben oder Liebe zu empfangen, Berührung zu geben, Berührung zu empfangen. Und dass das überlebt oder bleibt. Das wäre das Universelle daran. ns Das klingt wie die tröstliche Mo­ ral aus dem Trittico. Wie passt das zu der unausweichlichen Gesellschaftsstruktur im Sinne Jean-Paul Sartres? tg Ich glaube, die Pointe ist, dass es in unserer aller Hand liegt, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen – oder zu einem erträglichen Ort. Das Thema der Liebessehnsucht, das Angelica hat, taucht in dem Stück in mehreren Variationen immer wieder auf. Ich habe mich immer gefragt, was es mit dieser Tante, mit dieser Fürstin auf sich hat, die man oft so irrsinnig kalt sieht. Eigentlich ist das ja die Figur, die es in der Hand hätte, so etwas wie Verzeihung oder Nähe zu gewähren. In der Vorbereitung habe ich viel darüber nachgedacht, ob man mit dieser Figur aus dem Stück eine zusätzliche Dimension gewinnen kann. Ob man über die Möglichkeit zu verzeihen sprechen kann, die Möglichkeit, trotz allen Schmerzes, den man in diesem Leben nicht vermeiden kann, sich etwas zu schaffen, was das Leben lebenswert macht oder erträglich macht. Ich habe vor genau 20 Jahren hier in Wien an der Volksoper Luigi Dallapiccolas Prigioniero inszeniert. Darin wird sehr klar erzählt, dass Freiheit an sich gar nichts wert ist, wenn sie nicht mit einem anderen Menschen, einem Gegenüber geteilt wird.

ns Der Mensch, das animal sociale. tg Genau. Es ist mit die Grundvoraussetzung für Glück oder Erfüllung, dass man etwas teilen kann oder sich mitteilen kann. Und das begegnet mir in Suor Angelica wieder in ähnlicher Weise. Der Prigioniero ist ein Gefangener in einem Gefängnis und begegnet dann seinem Inquisitor, der erst eine ganze Zeit lang vorgibt, ein Vertrauter und ein Freund zu sein. Ich finde die Konstellation zwischen Angelica und Fürstin eigentlich sehr ähnlich. Diese im Kloster eingesperrte junge Frau und dann die Tante, die dahin kommt, wie der Inquisitor. Mir geht es nicht darum zu sagen, dass die Tante umgekehrt eigentlich Angelicas Freundin ist. Sondern eher darum, dass eine Person, die auf eine andere Person zukommt, erst einmal beide Potenziale in sich birgt: Feind oder Vertrauter zu sein. ns Können wir für uns als Resü­ mee ziehen, dass die drei Stücke des Trittico das Potenzial jeder Begegnung beschreiben, einen Freund oder Feind zu treffen? tg Das Resümee ist grundsätzlich, dass unser menschliches Dasein darin besteht, uns mit anderen Menschen auseinandersetzen zu müssen. Was uns wieder zum Thema Glück und Freiheit bringt, und zur Illusion von Freiheit. Wir sind nicht ins Nichts hineingeboren, sondern wir sind in bestimmte Zusammenhänge geworfen, aus denen wir nicht herauskönnen und mit denen wir umgehen müssen. Es liegt aber in unserer Hand, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

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MARINA FRENK

DAZWISCHEN Für mich hatte Glück immer etwas mit Freiheit zu tun. Wenn ich mir Glück als eine Stadt vorstelle, die durch eine Brücke mit einer anderen Stadt namens Freiheit verbunden ist, dann versuche ich, diese Brücke gedanklich so schnell zu überqueren, als gäbe es sie gar nicht, obwohl sie sehr lang ist. Ich denke sie mir weg, schlucke sie hinunter, »überfliege« sie, hetze atemlos auf die andere Seite. Es ist eine instabile Hängebrücke mit einem Geländer aus altem, geflochtenen Seil und teils schon morschen Holzlatten, in viel zu großen Abständen zu einander angelegt. Hält man sich mit den Händen am Seilgeländer fest, gibt das nur einen losen Halt. Wenn ich diese Brücke überqueren will, kann ich mein Körpergewicht nicht in die unterspannten Seile legen, sie sind nicht fest, wie es ein Geländer aus Holz oder Stein wäre, sie sind weich und verbiegen sich nach unten, wenn die Hand zu viel Druck hineinlegt. Versuche ich mich zu zentrieren, indem ich mich mit den Handflächen am Geländer abstütze, schwenkt das Geländerseil nach rechts und links aus, wackelt und lässt sich nicht stabilisieren, während meine Beine das Gleichgewicht zu halten versuchen trotz des zu weiten Abstandes zwischen den Holzlatten, der Körper schon beinahe einen Spagat vollzieht, um das Luftloch unter sich zu überwinden, nicht daneben zu treten und ins Leere zu fallen. Dort ist etwas Unbekanntes. Es ist kein tiefes Wasser, auch keine Wolken, keine Erdgrube und kein Sumpf – nichts Natürliches. Es ist etwas Beängstigendes dort unter dem Körper, der versucht,

die Brücke von Glück nach Freiheit oder andersherum zu überqueren, weil es eben leer ist. Ich kann die Beschaffenheit dessen, was sich da unten befindet, nicht beschreiben, kann nicht einmal wirklich sagen, ob es sich dabei um ein »Unten« handelt. Vielleicht ist das, was ich zwischen den zu weit auseinandergerissenen Beinen sehe, die sich mit den nackten Füßen auf dem teils rauen, teils feuchten Holz zu halten versuchen, gar nicht unten, sondern oben oder dahinter, nur ist eben nicht klar von wo aus oben oder hinter was? Was ist da um mich herum auf dieser Brücke, und wo lande ich, wenn ich falle? Mein Atem pulsiert und zittert, wenn ich versuche, das zu verstehen, stockt – keine Antwort. Der Abstand zwischen diesen Holzlatten auf der Brücke könnte die Länge des menschlichen Lebens sein + des Versuches, den Abstand durch Gleichgewicht zu überwinden, während Mensch sich zwischen dem Glück und der Freiheit befindet, und sich je nachdem, von wo aus Mensch kommt, immer weiter von dem einen entfernt, ohne zu wissen, wie weit das andere noch weg ist – dazwischen. »Meine Gedanken sind unabhängig von mir und sabotieren mich ständig«, denkt Mensch auf der Brücke. Mensch schwenkt kurz mit dem vorderen Fuß zu weit nach vorn auf der Latte aus, es zieht in den Muskeln der inneren Oberschenkel, die versuchen, standzuhalten, damit kein Sehnenriss entsteht. Mensch klammert sich mit den Handflächen fest, das Seil reibt an der weichen Haut, irgendwann gibt das sicher Blasen.

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DAZWISCHEN

Mensch verharrt so in der unbequemen Haltung, hält sich fest mit Füßen und Händen, Gedanken und Seele, und stellt sich vor, dass alles ganz anders sein könnte. Mensch hätte nach einer anderen, stabileren Brücke Ausschau halten können, oder sich per Flug auf die andere Seite bringen lassen können, oder den undurchsichtigen Weg unten/ oben/dahinter/daneben wagen können, um nicht diese Brücke überqueren zu müssen. »Es muss doch, verdammt nochmal, noch einen anderen Weg als diese Brücke von Glück nach Freiheit oder von Freiheit nach Glück geben, oder nicht?«, fragt sich Mensch, und zieht das hintere ausgestreckte Bein nach vorn, während das vordere die Fußsohle nach innen krümmt, sodass sich ein fast schon physiologisch unmöglicher Bogen in der Sohle formt, und drückt gleichzeitig mit den nackten Zehen in das Holz der Latte, wobei sich winzige Splitter in die Haut hineinarbeiten. Der Menschenrumpf verharrt so mit den voneinander weit ausgestreckten Beinen beinahe schon horizontal in der Luft, während Hals und Kopf versuchen, gerade zu bleiben, die Ausrichtung nach oben nicht zu verlieren, damit die Augen weiterhin nach vorn schauen können, irgendeinen Weg irgendwohin sehen, und nicht diese Leere oberhalb oder unterhalb des Menschen, diese Leere, die nicht einmal aus Luft besteht und keine Farbe hat – sie könnte alles sein. Glück kann auch alles sein, und Freiheit auch. »Gibt es Menschen mit Gedanken, die den Menschen, der sie verursacht, lieben?«, fragt sich Mensch und überwindet das nächste Loch. Geschafft! Festhalten, durchatmen. »Wann hat das angefangen und wann hört es auf? Sollte ich lieber die

Richtung wechseln? Das ändert irgendwie auch nichts ...«, denkt Mensch. »Es ist ganz einfach, unglücklich zu sein: Den eigenen Atem in die Mangel nehmen ... Vergangenes aus der Tiefkühltruhe holen und unaufgetaut in großen, eiskalten Stücken hinunterwürgen, sich wundern, warum es wie ein Stein im Bauch liegt und sämtliche inneren Organe nach unten drückt, sodass sie platzen und das Blut aus allen unteren Körperöffnungen tropft. Vertuschen, dass man ausläuft ... Saufen, um die Flüssigkeiten nachzufüllen, alles: Salzwasser, flüssige Seife, Cognac, Mundspülung, den Rest trübes Wasser aus dem Hundenapf, Pfütze. Dann krankhaft nachfüllen, voll machen, bloß nichts verlieren. Oder andersherum: unentwegt die Arme ausstrecken nach einer Zukunft, die gleichmäßig, richtig und ordentlich ticken soll wie ein Uhrwerk, die perfekt, leise und leblos funktionieren soll, bis eine andere Zeit anbricht, in der es keine Uhren mehr geben wird, eine Zeit, die nie vergehen wird, in der es uns endlich gelingt, Fleisch und Haut und Hirn so zu präparieren, dass niemand mehr ›beendet‹ werden muss, eine Zeit ohne Beerdigungen, eine Zukunft, in der es überhaupt keine Rituale mehr geben wird, weil die Zeit ausgelaufen sein wird wie das Blut aus den unteren Körperöffnungen und nicht mehr nachgetankt werden kann, weil die Ressourcen beendet sein werden, alle, die steinigen, kohligen, holzigen, sandigen, flüssigen, gasigen, gemüsigen und geistigen Quellen. Denken, dass Pläne ein Zeichen für Positivität und Gesundheit seien, und nicht für Verwirrung und Größenwahn. Das Gefühl haben, man sei mächtig und für nichts verantwortlich. Zu schnell sein ... wollen. Erwarten, dass der nächste Tag etwas

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anderes bringt als weiterhin verstreichende Zeit. Ruhe als Recht betrachten. Überhaupt alles Mögliche als Recht ansehen, wovon andere Menschen nicht einmal träumen, weil sie kein Recht haben zu träumen, nicht einmal unbewusst, gar nicht mehr, Menschen, die nur die Realität haben, an der nichts geändert werden kann. Vergessen, an alle anderen Kreaturen zu denken, an jedes einzelne Lebewesen auf dem Planeten, das nicht man selbst ist. Wichtig sein, einzigartig, individuell, unersetzlich, intelligent, ideologisch, dogmatisch, verbissen, stur, einsam, allein, noch alleiniger«, denkt der zwischen den Latten hängende Mensch. »Es ist auch ganz einfach, glücklich zu sein: Keine Fragen stellen... Nichts ändern wollen ... Sich nirgendwohin sehnen außer an den Ort, an dem man gerade ist, außer an diesen hier... Nähe und Zartheit aushalten. Dem Geschmack von Essen mehr Zeit geben und viel Wasser trinken. Morgens um fünf Uhr das Fenster öffnen und auf die relative Stille der Stadt hören. Dem Menschen, den man liebt und auch sich selbst im Spiegel ernsthaft und ohne Ausweichen eine Minute lang in die Augen blicken ... Die Hand des Kindes in der eigenen Hand drücken. Öfter schweigen, aber weniger verschweigen. Täglich offen an die Möglichkeit des eigenen Todes denken und jeder einzelnen Angst in sich selbst den Mittelfinger zeigen. Viel küssen, um genügend Bakterien auszutauschen! So langsam lesen, dass man wirklich etwas versteht. Dem Verstehen weniger Bedeutung beimessen ... Einfach etwas tun, ohne es zu hinterfragen oder optimieren zu wollen. Gescheiterte Beziehungen das sein lassen, was sie nun einmal sind: gescheitert. So oft

versagen, dass es so wirkt, als sei eine weitere Niederlage schon physikalisch nicht mehr möglich. Begreifen, dass es keine Freiheit gibt, weil die Gedanken ein Eigenleben haben. Erkennen, dass absolut nichts kontrollierbar und Manipulation immer nur vorübergehend ist, weil die Zeit zerfließt«, denkt Mensch in unbequemer breitbeiniger Position auf dieser Brücke und gleich reißt die Sehne des inneren Oberschenkels bei dem Versuch ... ja, was für einem Versuch eigentlich? Was versucht Mensch da bei dem Experiment, glücklich zu sein? Sich selbst zu beweisen, dass nicht alles umsonst ist, wie im Urlaub, der einen ankotzt und nervt, den man aber trotzdem durchzieht, um hinterher erzählen zu können, die freie Zeit sei optimal genutzt worden, auf keinen Fall nutzlos verstrichen, auf keinen Fall verbraucht, sondern umgewandelt in Energie und Lebensfreude, was Mensch halt so empfinden sollte, um sagen zu können: »Ich bin glücklich«? Vielleicht wären die anderen weniger Hölle, wenn ich aussprechen könnte: Ich bin unglücklich. Vielleicht wäre ich selbst nicht die Hölle, wenn es mir nicht gleichgültig wäre, ob ich glücklich oder unglücklich bin. Wäre ich dann frei? Wer will schon ernsthaft und ehrlich darüber nachdenken, ob das eigene Leben wirklich etwas mit »Glück« zu tun hat, oder nur einen Kompromiss darstellt, ein Provisorium, eine Unabänderlichkeit, oder sogar einen unfreiwilligen Zwang?

glück ist einfach liebe banal jeder weiß, wie komplex liebe ist niemand weiß, woraus sie besteht

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DAZWISCHEN

jeder versucht, ihre konsistenz zu erfühlen schon ganz am anfang versuchte ich die mutterliebe zu ertasten sie war versteckt indirekt pauschal ehrlich und behütend unpersönlich ist das nun meine konsistenz geworden? einfachheit ist ein ehrliches lächeln jetzt, wo ich schreibe, lächle ich ende des sommers der wind ist hörbar der Innenhof grünt über vor grün grünes glück das meine ich nicht politisch politik ist kein glück, wirklich nicht eine glück bringende politik ist schon lange überfällig damit es keine orte mehr gibt mit einer realität, die nicht verändert werden kann eine realität ohne phantasie ist eine phantasie, die nicht realisiert werden kann das glück entzieht sich es bleibt emanzipiert und unsichtbar im lächeln nicht korrumpierbar vielleicht ist die einzige gleichwertige chance, die alle menschen besitzen, zufällig glücklich zu werden sie ist unverkäuflich, damit niemand weiß, was sie kostet – diese chance es gibt keine konvention, die gegen das glück spricht (nur als folge von gesetzen, aber es gibt kein klar ausformuliertes politisches gesetz, das besagt: glück ist verboten) immerzu dazwischen greifen hölle

Seite 24/25: PATRICIA NOLZ als LEHRMEISTERIN DER NOVIZEN ELEONORA BURATTO als ANGELICA CHOR der WIENER STAATSOPER (SUOR ANGELICA) Folgende Seite: MICHAELA SCHUSTER als ZITA SERENA SÁENZ als LAURETTA AMBROGIO MAESTRI als GIANNI SCHICCHI DAN PAUL DUMITRESCU als SIMONE (GIANNI SCHICCHI)


KOPFZEILE

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K EONP E S FC ZA E I/ L V EO M G L Ü C K S E L I G E N L E B E N

GLÜCKSELIG KANN AUCH DER GENANNT WERDEN, DER UNTER GÜTIGER LEITUNG DER VERNUNFT WEDER BEGEHRT NOCH FÜRCHTET.

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ARNOLD JACOBSHAGEN

EXPERIMENTELLE DREIERDRAMATURGIE Il trittico beschreitet eine retrospektive Zeitreise von Puccinis Gegenwart zurück bis ins hohe Mittelalter: Während der erste Teil Il tabarro im zeitgenössischen Paris des frühen 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, begeben wir uns in Suor Angelica zunächst ins späte 17. Jahrhundert, um schließlich in Gianni Schic­ chi im Florenz des Jahres 1299 zu landen. Die Konzeption eines solchen Einakter-Triptychons, wie sie Puccini über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelte, und für die Giuseppe Adami und Giovacchino Forzano drei stilistisch äußerst unterschiedliche Textbücher lieferten, war in der Operngeschichte ohne Vorbild. Am ehesten ließe sich Jacques Offenbachs Les Contes d’Hoffmann (1881) als möglicher Präzedenzfall in Betracht ziehen: In dieser Oper werden drei voneinander unabhängige Episoden als Einzelakte in eine Rahmenhandlung um den Protagonisten E. T. A. Hoffmann gestellt. Doch darüber hinaus bestehen keine nennenswerten Gemeinsamkeiten. Angesichts der außergewöhnlichen Konzeption des Trittico mag die anscheinende Mühelosigkeit überraschen, mit der Puccini die künstlerische Umsetzung des ambitionierten Projekts gelang. Jede der drei Opern wurde innerhalb weniger Monate komponiert. Il tabarro vollendete er bereits im November 1916. Mit der Komposition von Suor Angelica begann er unmittelbar nach der Premiere seiner parallel entstandenen Oper La rondine im April 1917 und vollendete die Instrumentation im September. Anschließend

nahm er die Arbeit an Gianni Schicchi auf, deren Komposition Anfang 1918 abgeschlossen wurde. Puccinis Trittico sollte Schule machen: Nur wenige Jahre nach der Uraufführung griffen Repräsentanten der musikalischen Moderne wie Paul Hindemith, Gian Francesco Malipiero und Ernst Krenek das dreiteilige Einaktermodell auf, und auch Carl Orff verknüpfte seine drei szenischen Kantaten Carmina Burana, Catulli Carmina und Trionfo di Afrodite nachträglich unter dem Titel Trionfi zu einem heterogenen Triptychon.

VERSPÄTETER VERISMO: IL TABARRO Il tabarro ist eine melodramatische Dreiecks- und Eifersuchtstragödie aus dem Unterschichtsmilieu, die in rasantestem Erzähltempo und in einer einzigen geschlossenen Szene auf ihr schreckliches Ende hinstrebt. Doch im Unterschied zu Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana und anderen VerismoSchockern behandelt Puccinis Oper nicht etwa die patriarchalischen Verhältnisse und archaischen Männlichkeitsrituale rückständiger sizilianischer Bauern, sondern schildert mit schonungsloser Härte die Realität moderner Großstadtmenschen. Schauplatz ist einmal mehr die Metropole Paris, allerdings weder jene der Liebenden von Montmartre wie in La bohème noch die der Champagnerseligkeit von La rondine. Vielmehr begeben wir uns an die dunkle Peripherie der Seine, wo Heerscharen von Tagelöhnern damit be-

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EXPERIMENTELLE DREIER-DRAMATURGIE

schäftigt sind, aus Schleppkähnen all die Waren und Rohstoffe zu entladen, derer die Vergnügungshauptstadt so dringend bedarf. Formal besteht die Oper aus zwei Teilen etwa gleicher Länge, deren erster als Exposition fungiert, während sich die dramatische Eifersuchtshandlung im zweiten Teil vollzieht. Die Orchestereinleitung am Beginn des Werkes setzt sofort mit dem ersten der drei zentralen Hauptthemen der Oper ein, das ruhig im 12/8-Takt und in kontinuierlicher Achtelbewegung den Flusslauf der Seine symbolisiert. Dass Puccini hierbei vorzugsweise auf eine modale Harmonik zurückgreift, verleiht dem geschilderten Milieu zugleich empathische Würde und archaische Distanz. Die soziale Welt der »kleinen Leute« wird sogleich als Geräuschkulisse des modernen Industriezeitalters pointiert, indem der Komponist zunächst eine Schiffssirene und später eine Autohupe in das Stimmungsbild montiert. Die ersten Textzeilen in Il tabarro gehören Giorgetta, die aus ihrem alternden Gatten mit der erloschenen Pfeife nicht schlau wird: »O Michele? Bist du es nicht leid, in die untergehende Sonne zu starren?« Dass ihre resignative Sicht auf Michele sexuell konnotiert ist, verbalisiert sie kurz darauf ausdrücklich: »Aus deiner Pfeife kommt kein weißer Rauch mehr raus!« Der gesamte Dialog zwischen Giorgetta und Michele scheint um Alltägliches zu kreisen, das jedoch immer wieder existenzielle Erfahrungen bereithält – etwa, wenn Michele sie zu küssen versucht, sie sich aber abwendet und er sodann mürrisch zum Laderaum hinuntersteigt. Eine formale Verdichtung erfährt dieser Dialog durch die vielfältigen Überlagerungen von szenischer Musik (Lied der Löscher, Brindisi, Wal-

zer und Canzonetta), die mittels Montagetechnik in den buchstäblichen »Fluss« der Seine-Introduktion eingefügt ist. Beim Auftritt eines Leierkastenmanns wird das zweite Leitmotiv der Oper eingefügt. Dabei handelt es sich um einen fragmentarischen Basso ostinato, dessen (Be-)Dürftigkeit die Staccato-Artikulation und die langen Pausen unterstreichen, von denen er durchsetzt wird. Diese Bassfigur gewinnt durch ihr Auftreten in unterschiedlichen Situationen und stark variierender Klanglichkeit als »Schicksalsmotiv« leitmotivische Funktion in einem sehr umfassenden Sinne, denn sie unterlegt gegen Ende des Werks auch die leidenschaftlichsten Ausbrüche der unglücklichen Liebenden. Die auf Chopins Walzer op. 34 Nr. 1 anspielende Melodie des Leierkastenmanns wird durch permanent parallelgeführte verminderte Oktaven getrübt. Vermutlich wurde Puccini zu dieser »verfremdeten« Darstellung durch Igor Strawinskis Pe­ truschka (1911) angeregt, ein Werk, das er wenige Jahre zuvor in Paris kennengelernt hatte. In der Canzonetta des Liedverkäufers zitiert Puccini im Refrain (»È la storia di Mimì«) seine eigene frühere Paris-Oper La bohème und stellt sich damit ganz bewusst in eine Reihe mit Mozart und Wagner, die in Don Gio­ vanni (1787) und Die Meistersinger von Nürnberg (1868) ähnlich prominente Zitate aus ihren jeweils unmittelbar vorangegangenen Opern Le nozze di Figaro (1786) und Tristan und Isolde (1865) integriert hatten. Kaum ist Michele in den Laderaum hinabgestiegen, erhält Luigi die Gelegenheit, in einer nur zweiminütigen, hochemotionalen Arie sein schweres Schicksal zu beklagen (»Hai ben ragione, meglio non pensare«). Anders

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als die beiden männlichen Hauptrollen hat Giorgetta zwar keine eigene Arie, aber gleichwohl die umfangreichste Gesangspartie zu bewältigen. Ähnlich wie Minnie in La fanciulla del West (1910) ist auch Giorgetta nicht nur fast über die gesamte Spieldauer hinweg szenisch präsent, sondern sie interagiert auch am meisten mit den anderen Bühnenfiguren und ist deren zentrale Ansprechpartnerin. Im zweiten Teil der Oper kommen nur noch die drei Protagonisten zu Wort, wobei Giorgetta kurz nacheinander erst mit Luigi und dann mit Michele im Duett porträtiert wird. Der Kontrast zwischen dem leidenschaftlichen, dreiteilig angelegten Liebes­duett und der anschließenden episodisch strukturierten Konfrontation mit ihrem Ehemann könnte nicht größer sein. Vergebens erinnert der Kapitän seine Frau an die vergangenen glücklichen Zeiten und ihr verstorbenes Kind. Die Erwähnung des Mantels, mit dem Michele sie einst wärmte, deutet voll tragischer Ironie auf das furchtbare Ende voraus. In der anschließenden großen Soloszene wird Michele von tiefster Verzweiflung geplagt. Mit Luigis Auftritt überschlagen sich die dramatischen Ereignisse. Ähnlich wie das »Schicksals-Thema« erfährt auch das »Mantel-Thema« in seinen Erscheinungsformen eine ex­ treme Steigerung in Klanglichkeit und Dynamik, die bei der Offenbarung des Mordes am Ende des Stückes ihren grausigen Höhe- und Endpunkt erreicht.

MYSTISCHES ERLÖSUNGSDRAMA ODER SAKRALKITSCH? An Suor Angelica scheiden sich die Geister womöglich noch mehr als an jeder

anderen Puccini-Oper. Doch diese Ambivalenz ist Teil des Konzepts, welches der Komponist in seinem Triptychon verfolgte: Die ästhetischen Extrempositionen, welche die drei Einakter auszeichnen, rechtfertigen ihre außergewöhnlichen Mittel. Die Tragödie einer Nonne, die innerhalb der Klostermauern Selbstmord begeht, nachdem sie vom Tod ihres Kindes erfahren hat, war innerhalb der Opernliteratur ohne Vorbild. Die beiden engen Puccini-Weggefährten Guido Marotti und Ferruccio Pagni haben betont, dass sich Puccini zu dieser Zeit auch persönlich stark verändert und wieder dem christlichen Glauben zugewendet habe: »Ein diffuses religiöses Empfinden, eine unbewusste Glückseligkeit hatte vom Jahre 1917 an bis zu seinem Tode nach und nach von ihm Besitz ergriffen. Selbst sein Gesicht hatte sich verändert: Anstelle des schlauen und spöttischen Ausdrucks von einst erschien jetzt öfters auf ihm der Glanz strahlender Güte.« Seine Schwester Iginia lebte als Ordensschwester bei den Augustinerinnen im Kloster Vicopelago in der Nähe von Lucca, und Puccini besuchte sie mehrfach, um tiefere Einblicke in das Leben eines Frauenklosters gewinnen zu können: »Er brachte Opfergaben für die Madonna und Süßigkeiten für die frommen Schwestern mit, vor allem aber ging er in die Klosterkirche, um die Orgel zu spielen, so wie er als Knabe in den Kirchen von Lucca gespielt hatte. Die Nonnen waren immer um ihn herum und verehrten ihn, als wäre er ein Heiliger.« Dramaturgisch unterscheidet sich Suor Angelica von dem sich rasant in »Echtzeit« entfaltenden Vorgängerwerk durch eine zyklisch-bildhafte Zeitkonzeption. Forzano hat das Libretto als Stationendrama in sieben Abschnitte

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EXPERIMENTELLE DREIER-DRAMATURGIE

eines »Kreuzwegs« untergliedert und mit Überschriften versehen: 1. Das Gebet (La preghiera), 2. Die Züchtigungen (Le punizioni), 3. Die Erbauung (La ricreazione), 4. Die Rückkehr von der Gabensammlung (Il ritorno dalla cerca), 5. Die Tante Fürstin (La zia principessa), 6. Die Gnade (La grazia), 7. Das Wunder (Il miracolo). Besonders typisch für die religiöse Aura in Suor Angelica ist der Rekurs auf eine kirchentonal gefärbte Harmonik sowie vor allem die planmäßige Verwendung von Orgelpunktstrukturen, die Puccini als lang ausgehaltene Töne, als Tonrepetitionen und als wiederholte Formeln weitaus häufiger als in allen seinen anderen Opern einsetzt. Die im gesamten Werk ausgeprägte statische Tendenz des Orchestersatzes in Form von Mixturen, Ostinati und Bordunen illustriert das unabänderlich eintönige Klosterleben. Diese Monotonie setzt musikalisch bereits bei geschlossenem Vorhang mit dem Ertönen der Kirchenglocken ein, die sodann in zarte Orchesterklänge eingebettet werden und spätestens mit dem Ave-MariaChor aus dem Inneren der Kirche das Publikum einzulullen beginnen. Überdies mischt sich der Glockenklang mit Vogelgesang aus der Ferne, welchen virtuose Figurationen der Piccoloflöte (»ottavino interno«) vergegenwärtigen. Und auch die Solostimme der Protagonistin hören wir zunächst hinter der Bühne. Doch anders als beim ersten Auftritt von Mimì (La bohème) oder Tosca, die sich ebenfalls zunächst nur stimmlich von Ferne ankündigen und hierdurch die Spannung auf ihren Auftritt erhöhen, werden wir am Beginn von Suor Angelica vor allem mit der Einund Ausgeschlossenheit der Klosterbewohnerinnen konfrontiert.

Bei aller Gegensätzlichkeit ähnelt Suor Angelica dem Tabarro formal darin, dass sich ebenfalls eine zweiteilige Gesamtanlage abzeichnet, wobei mit dem Auftritt der Fürstin die persönliche Tragödie ihrem Ende zustrebt. Die respektgebietende Principessa fällt als einzige große Altpartie in Puccinis Œuvre auch stimmlich aus dem Rahmen. Vor allem aber ist ihr Auftritt musikalisch und instrumentatorisch in eine Finsternis gekleidet, die beinahe das Blut in den Adern gefrieren lässt. Unnatürlich und insofern gewissermaßen »unmenschlich« präsentieren sich auch ihre Gesangslinien. So besteht die wenig kantable »Melodie«, die ihre spirituelle Verbindung mit Angelicas toter Mutter suggeriert, aus drei aufeinanderfolgenden aufsteigenden Quarten und damit einer in Puccinis Vokalstil singulären Intervallkonstellation. Auf den Abgang der Fürstin folgt die berühmte Arie Angelicas (»Senza mamma«). Auch ihr hat Puccini eine Ostinato-Struktur unterlegt, die indes nicht nur aus Motivzellen, sondern aus drei parallelgeführten Klängen (d-Moll, G-Dur, a-Moll) und deren Sequenzierungen besteht. Als retardierendes Moment greift Puccini vor der großen Schlussszene auf die Konvention des sinfonischen Intermezzos zurück. Dass bei der Darstellung des »Wunders« am Ende des Werkes der außergewöhnliche Klangapparat mit Trompeten, Glocken, Becken, zwei Klavieren, Orgel, Knabenchor und gemischtem Chor (der die einzigen in dieser Oper beteiligten Männerstimmen umfasst) hinter die Bühne versetzt wird, entrückt die mystische und übersinnliche Dimension buchstäblich der szenischen Realität und verklärt die erlösenden Halluzinationen der Sterbenden.

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ARNOLD JACOBSHAGEN

DIE EINZIGE KOMISCHE OPER Mit Gianni Schicchi leistete Puccini seinen einzigen Beitrag zur Geschichte der italienischen Opera buffa – einer musiktheatralischen Gattung, die seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts immer wieder für tot erklärt wurde und im heutigen Repertoire nur noch durch wenige Werke Mozarts, Rossinis und Donizettis vertreten ist – sowie die beiden »Solitäre« Falstaff und Gianni Schicchi. Tatsächlich hatte Verdis Fal­ staff um 1900 in Italien eine anhaltende Buffa-Renaissance ausgelöst, aus deren Fahrwasser allerdings nur Gianni Schic­ chi überlebt hat. Werke wie Le donne cu­ riose (1913) von Ermanno Wolf-Ferrari, Madame Sans-Gêne (1915) von Umberto Giordano oder La via della finestra (1919) von Riccardo Zandonai wären auch für heutige Opernspielpläne eine sehr willkommene Bereicherung. Dantes Göttliche Komödie, die eine kurze Episode über den historischen Florentiner Ritter Gianni Schicchi deʼ Cavalcanti enthält, zählte zu Puccinis Lieblingsbüchern, und mehrfach verfolgte er im Laufe der Jahre den Plan, aus diesem Werk einen Opernstoff zu gewinnen. Aber sein Librettist Forzano stützte sich nicht primär auf den italienischen Dichterfürsten, sondern auf einen anonymen Dante-Kommentar aus dem 14. Jahrhundert, den Pietro Fanfani 1866 für seine Ausgabe der Divina Come­ dia transkribierte. Zudem modellierte er seine Hauptfiguren im Stile der Commedia dell’arte und porträtierte Gianni Schicchi als Arlecchino, dessen Tochter Lauretta als Colombina, Buosos Schwager Betto Di Signa als Zanni und seinen Cousin Simone als Pantalone. Auch die komischen Figurentypen des Arztes

und des Notars übernehmen wichtige Rollen. Dass Forzanos Libretto gleichwohl eine moderne Originalschöpfung ist, offenbart sich in vielen makabren Details wie der szenischen Präsenz einer Leiche, die zum Zweck der Testamentsfälschung umstandslos in den Nebenraum verfrachtet wird. Auch wenn Puccini vor Gianni Schic­ chi das Repertoire der komischen Oper noch mit keinem Werk bereichert hatte, sollte nicht vergessen werden, dass sich komische Szenen, Situationen und Charaktere in einigen seiner Opern finden. Am deutlichsten ist dies in La bohème der Fall, aber auch der Mesner aus Tosca verkörpert einen typischen Buffobass, und La rondine, Puccinis angeblicher Flirt mit der Gattung der Operette, lag auch noch nicht lang zurück. Allerdings stand er mit Gianni Schicchi vor völlig anderen Herausforderungen, die vor allem der ungewöhnlichen Struktur des Librettos geschuldet sind. In gewisser Weise präsentiert sich das gesamte Werk als eine einzige gewaltige Ensembleszene der fünfzehn am Stück beteiligten Figuren, von denen alle nahezu ununterbrochen auf der Bühne anwesend bleiben. Selbst Laurettas berühmte Kurzarie »O mio babbino caro« steht nicht für sich isoliert, sondern erweist sich als Bestandteil der übergeordneten Ensemblestrukturen. Indes erzeugt die ständige Präsenz der Figuren keinerlei Statik, denn es ist die Musik, der es gelingt, die Bewegung und Aktion des Dramas am Laufen zu halten. Puccini kompensiert die szenische Uniformität vor allem durch extreme Besetzungsunterschiede und äußerste Flexibilität in der Orchesterbehandlung. Seine motivisch-thematische Arbeit beruht auf kurzen melodischen Zellen, die einem kontinuierlichen Repetiti-

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EXPERIMENTELLE DREIER-DRAMATURGIE

ons- und Variationsprozess unterworfen werden. Das gesamte erste Drittel der Oper zeigt mit diesen großflächig konzipierten Ostinatostrukturen ein Höchstmaß an motivischer Vereinheitlichung. Das suggestive Insistieren auf solchen Elementarstrukturen beeindruckt im Kontext der musikalischen Moderne durch ein erhebliches Innovationspotenzial. Die motorischen Repetitionen antizipieren nicht nur die futuristische Maschinenmusik der

1920er Jahre, sondern sind später vor allem in der Filmmusik aufgegriffen worden. Namentlich der bekennende Puccini-Bewunderer Bernard Herrmann entwickelte die »hypnotische Repetition« in Vertigo (1958) und anderen Kompositionen für Alfred Hitchcock zu einer genuin filmmusikalischen »Blaupause«. Somit erweist sich Puccini auch in seiner einzigen komischen Oper als ein würdiger Repräsentant der musikalischen Moderne.

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Folgende Seiten: MICHAEL VOLLE als MICHELE ANJA KAMPE als GIORGETTA KOMPARSERIE der WIENER STAATSOPER (IL TABARRO)




MICHEL FOUCAULT

DIE GELEHRIGEN KORPER Gewiss gab es seit langem viele Disziplinarprozeduren – in den Klöstern, in den Armeen, auch in den Werkstätten. Aber im Laufe des 17. und 18. Jahr­hunderts sind die Disziplinen zu allgemeinen Herrschaftsfor­men geworden. Sie unterscheiden sich von der Sklaverei, da sie nicht auf dem Besitz des Körpers beruhen; das ist ja gerade die Eleganz der Disziplin, dass sie auf ein so kostspieliges und gewaltsames Verhältnis verzichtet und dabei mindestens ebenso beachtliche Nützlichkeitseffekte erzielt. Sie unter­scheiden sich auch vom Domestikentum – einem dauerhaften, umfassenden, massiven, nicht-analytischen und schrankenlo­sen Herrschaftsverhältnis, das auf dem Einzelwillen des Herrn, seiner »Laune«, beruht. Ebenso unterscheiden sie sich vom Vasallentum – einem hoch codierten und bedeutungsrei­chen Unterwerfungsverhältnis, das aber Abstand hält und sich weniger auf Körpertätigkeiten als auf Arbeitsleistungen und Huldigungsrituale bezieht. Schließlich unterscheiden sie sich von der Askese und der klösterlichen Zucht, die eher Entsa­gung als Vermehrung des Nutzens zu fördern haben, und, auch wenn sie Gehorsam gegenüber einem andern einschlie­ßen, doch wesentlich auf eine Steigerung der Herrschaft eines jeden einzelnen über seinen Körper abzielen. Der historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzi­gen Mechanismus den Körper um so gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt. So formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Ver-

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DIE GELEHRIGEN KÖRPER

haltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine »politische Anatomie«, die auch eine »Mechanik der Macht« ist, ist im Entstehen. Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt. Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen). Mit einem Wort: sie spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits eine »Fähigkeit«, eine »Tauglichkeit«, die sie zu steigern sucht; und anderseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung um. Wenn die ökonomische Ausbeutung die Arbeitskraft vom Produkt trennt, so können wir sagen, dass der Disziplinarzwang eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander verkettet.

Aus ÜBERWACHEN UND STRAFEN. DIE GEBURT DES GEFÄNGNISSES, 1975

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Folgende Seiten: ELEONORA BURATTO als ANGELICA (SUOR ANGELICA)




NIKOLAUS STENITZER

PUCCINIS LEKTUREN AUF DEM WEG ZUM »TRITTICO« Am 28. Juni 1904 – »um ein Uhr nachts« – schreibt Giacomo Puccini einen relativ langen Brief an Valentino Soldani. Dieser Brief ist ein großer Glücksfall für das Verständnis von Puccinis bis heute ungewöhnlichem, ja beispiellosem Werk Il trittico. Bei näherer Betrachtung ist er aber noch deutlich mehr, denn er enthält neben Erwägungen und Bewertungen von Sujets und Autoren und Äußerungen künstlerischer Verzweiflung auch ein fragmentarisches Manifest von Puccinis Musiktheater. Der Adressat Soldani war zu diesem Zeitpunkt in erster Linie als Autor historischer Dramen bekannt, später sollte er sich als Filmproduzent und -autor einen Namen machen. Der Durchbruch war ihm mit dem dramma storico I Ciompi (1903) gelungen, und offenbar hatte er dieses Werk Puccini als Opernstoff vorgeschlagen, ebenso wie ein anderes historisches Drama, Calendimaggio (1901). In seinem Brief lobt Puccini Calen­ dimaggio, schränkt aber zugleich ein, dass ihm eigentlich etwas anderes vorschwebe, das er nicht richtig erklären könne. Er sucht etwas »Moderneres«, schränkt aber ein: »forse«, »vielleicht«, er weiß nicht recht. Und habe er, Soldani, eigentlich Pelléas et Mélisande von Maeterlinck gelesen? Oder irgendetwas von Gorki?

Erstaunlich, wie freimütig der Komponist dem Autor, der ihm gerade eigene Stücke vorgelegt hat, rät, die Werke anderer Autoren zu lesen. Aber aus dem Brief ist die Fieberhaftigkeit der Suche Puccinis nach Stoffen zu spüren. Er klagt, er erlebe eine Zeit der Nervosität, die ihm den Schlaf raube, weil er nicht das finden könne, was er suche. Was aber wäre das? Vielleicht so etwas wie La bohème, schreibt Puccini weiter, »das Tragische und das Sentimentale, mit dem Komischen vermischt«. Aber auch wieder anders, in einem anderen Rahmen und auch anders abgestimmt: »Weniger süße Sentimentalität und mehr herzzerreißende Dramatik.« Gegen Ende des Briefes wird Puccini dramatisch: Er schreibe zusammenhangslos, »mit brennendem Kopf und verlorener Seele, verzweifelt auf der Suche nach dem, was ich will und nicht benennen kann! Ich sehne mich nach etwas Großem, etwas Neuem, etwas nie Gesehenem – werde ich es finden?« In Puccinis Korrespondenz finden sich nicht wenige Briefstellen wie diese, die die Neigung des Komponisten zum Pathos erweisen. Die Verzweiflung über die Schwierigkeiten bei der Suche nach Sujets erscheint aber glaubwürdig – auch mit Blick auf den weiteren Verlauf dieser Suche.

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PUCCINIS LEKTÜREN

Im intensiven Briefwechsel mit Luigi Illica, dem langjährigen Wegbegleiter, der mit Giuseppe Giacosa die Libretti zu La bohème, Tosca und zuletzt Madama Butterfly geschrieben hatte und, ebenfalls zusammen mit Giacosa, schon an Puccinis erstem Welterfolg Manon Lescaut beteiligt gewesen war, ist der Ton knapper, pragmatischer, man kennt sich. Puccini schlägt hier vor und verwirft dort, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Die Erstfassung der Madama Butterfly war am 17. Februar 1904 im Teatro alla Scala uraufgeführt worden; etwa drei Wochen danach, am 10. März 1904, schreibt Puccini an Illica, er habe ihm »einiges zu Poe, Kipling, Gorki« geschickt. Es ist der Beginn einer musiktheatralen Expedition, die erst vierzehn Jahre später mit der Uraufführung des Trittico an der Metropolitan Opera in New York an ihr unvorhersehbares Ziel kommen sollte. Die Korrespondenz zwischen Illica und Puccini konzentriert sich bald auf Maxim Gorki. In den Novellen und Erzählungen des russischen Dichters findet Puccini etwas, das ihn anspricht. Er habe auch die Novellen von Tolstoi und Turgenjew besorgt, schreibt er am 22. September 1904 an Illica – vielleicht hatte der Librettist diese Lektüre angeregt? –, aber beide hätten nicht den besonderen Ton, »den Geschmack«, der ihn an Gorkis Novellen anzieht. »Man muss sich wirklich an diese halten«, resümiert der Komponist. Warum Puccini Gorkis frühe Dramen nicht in Betracht zieht, ist unbekannt, zumindest von Nachtasyl war seit 1903 eine italienische Übersetzung verfügbar. Eindeutig geht aus den Briefen die zunehmende Faszination des Komponisten für die nach und nach entstehende Idee hervor, drei unter-

schiedliche Geschichten zu einem Werk zu verbinden – vielleicht sieht er hier die Möglichkeit, etwas »Neues, noch nie Gesehenes« zu schaffen. Die Briefe zwischen Illica und Puccini aus dem Jahr 1904 zeugen davon, wie Ideen entstehen und vergehen, wie Kombinationen erwogen und wieder verworfen werden und wie zunehmend die Schwierigkeiten deutlich werden, die das spektakuläre Projekt des späteren Trittico mit sich bringt. Luigi Illica empfiehlt die Kombination von Gorkis Novellen Der Khan und sein Sohn und Die Holzflößer mit der Erzählung 26 und eine. Um die Holzflößer ringen die beiden eine Weile; Illica macht sich offenbar besonders stark für das Sujet, Puccini konstatiert Schwierigkeiten für die szenische Umsetzung. Sein Gegenvorschlag ist Makar Tschudra, die erste Erzählung, die Maxim Gorki veröffentlicht hatte (1892). Zwischenzeitlich ist sogar schon ein Titel für die Trilogie gefunden: Racconti delle steppa, nach dem Erzählband, der 1903 bei Salvatore Romano in Neapel erschienen ist. Aber auch die neue Kombination will sich nicht recht fügen. Den Grund dafür macht Puccini nicht explizit, aber indirekt hat er ihn schon einmal formuliert: Von jenen Elementen, die Puccini im Brief an Soldani für die Bohème beschreibt und aus denen sich schließlich, Jahre später, auch tatsächlich der Trit­tico fügen wird, sind das »Sentimentale« und das »Tragische« in Maxim Gorkis Texten fast im Überfluss zu finden. Aber die Mischung mit dem Komischen ließ sich aus dem Werk des späteren sowjetischen Staatsdichters, der sich das Pseu­donym »Der Bittere« gewählt hatte, nicht herstellen. 26 und eine erzählt die Geschichte von sechsundzwanzig Bäckern, die in einem lichtlosen, stickigen Keller ihrer

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NIKOLAUS STENITZER

Arbeit nachgehen. Die einzige Freude dieser als schmutzig und von Krankheiten geplagt beschriebenen Gestalten ist das tägliche Erscheinen des Stubenmädchens Tanja – die »eine« –, das sich mit Gebäck beschenken lässt. Die idealisierte Tanja lässt die vom Erzähler als völlig abgestumpft und verroht gezeichneten Arbeiter zeitweise sanfter und freundlicher werden. Als Tanja von einem neuen Brötchenbäcker, einem ehemaligen Soldaten, verführt wird, zerbricht das Idealbild, die Bäcker beschimpfen und verfluchen Tanja und verlieren den einzigen Lichtblick in ihrem fortan vollkommen eintönig stumpfen Dasein. Die kurze Novelle Der Khan und sein Sohn ist eine Fabel auf Liebe und Macht – die beiden titelgebenden Figuren, ein tatarischer Khan und sein Sohn, lieben dieselbe Frau. Der Konflikt kann nur durch einen rituell anmutenden Mord an der Frau gelöst werden – der Khan, der das nicht erträgt, tötet sich ebenfalls, der Sohn tritt seine Nachfolge als Khan an. Die von Luigi Illica als dritter Teil vorgeschlagenen Holzflößer weisen eine ähnliche Konstellation, aber einen anderen Ausgang auf. Silan Petrow und sein Sohn Mitrij arbeiten als Holzflößer. Silan hat Mitrij gegen seinen Willen – er macht sich nichts aus Frauen – mit der lebenslustigen Marja verheiratet, die anschließend, von Mitrij verschmäht, die Geliebte Silans geworden ist. Aus dieser demütigenden Situation will Mitrij durch Flucht entkommen, doch die Erzählung suggeriert, dass der Ausweg aus der Situation ein tragischer sein wird. Puccini wies diesen Stoff Illica gegenüber in einem kurzen Brief vom 24. September 1904 mit den Worten »Ich

bestehe auf den drei Farben« zurück – verständlicher- und richtigerweise. Die Verbindung der beiden zunächst gesetzten Stoffe mit den Holzflößern hätte das Werk zu einer Palette von Grau- und Schwarztönen werden lassen. Für den Trittico könnte der Eindruck dieses verworfenen Stoffes trotzdem eine Rolle gespielt haben, weist er doch atmosphärisch wie dramaturgisch einige Ähnlichkeiten zu Didier Golds La Houppelande auf, das zur Vorlage für Il tabarro werden sollte, den ersten Teil des Trittico in seiner endgültigen Gestalt. 1904 war der Weg zum Trittico allerdings noch weit (und La Houppelande noch gar nicht geschrieben). Während er mit Illica Stoffe wälzte und diskutierte, drängte Puccini seinen Librettisten immer wieder, Maxim Gorki direkt zu kontaktieren – der russische Dichter sollte den fehlenden dritten Teil neu schreiben. Aus unbekannten Gründen scheint Illica dieser Aufforderung aber nicht nachgekommen zu sein. Am 10. Oktober 1904 nimmt Puccinis Enthusiasmus noch einmal Fahrt auf: »Gorki – Gorki!«, beginnt er einen Brief an Illica: Er habe von einer außerordentlichen Komödie Gorkis gehört, die bisher nur in Russland und Lemberg aufgeführt worden sei (vermutlich Sommergäste), und schlägt vor, danach zu suchen. Die Idee scheint aber nicht weiterverfolgt worden zu sein. Leidenschaftlich wird der Komponist noch einmal zum Ende des Briefes, wiederum mit Verweis auf die Probleme, einander ergänzende Stimmungen in den Sujets zu finden, mit denen er und Illica sich beschäftigten: »Man kann alles vertonen, vom Bahnfahrplan bis zu Sardous Dante [Drama in fünf Akten von Victorien Sardou und Émile Moreau, 1903], aber hier geht es darum, mich selbst

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PUCCINIS LEKTÜREN

zu bestätigen, und wie macht man das mit einem Thema, das niemand mit der Seele fühlen und mit Farben und Kontrasten faszinieren kann?« Die dramatischen Töne, die der Komponist hier anschlägt, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die intensive und aufwendige Suche nach passenden Sujets für Puccini nichts Ungewöhnliches war. Aus seinen Korrespondenzen entsteht eher der Eindruck, dass das Abwägen und Verwerfen von Autoren wie von Vorlagen eine produktive Kraft in Puccinis künstlerischen Prozessen darstellt. In der Gorki-Phase beschäftigten er und Illica sich etwa intensiv mit einer Oper nach Victor Hugos Notre Dame de Paris; auf dem langen Weg zum Trittico wurden – teils als eigenständige Projekte, teils als Vorlage für einen der drei gesuchten Einakter – zahlreiche Stoffe erwogen: Oscar Wildes Florentine Tragedy (später in der deutschen Übersetzung von Max Meyerfeld durch Alexander von Zemlinsky vertont) stand ebenso lange Zeit hoch im Kurs wie die Zoccoletti (Two little wooden Shoes) der britisch-italienischen Schriftstellerin Ouida, für die Ricordi sogar die Rechte ersteigerte und ein Libretto begonnen wurde. Mit dem symbolistischen, dann faschistischen Avantgardisten Gabriele d’Annunzio korrespondierte Puccini intensiv, der Dichter brachte immer wieder einen Kinderkreuzzug ins Spiel, auch im Zusammenhang mit dem Trittico-Projekt (den ersten Librettoentwurf bezeichnet Puccini gegenüber Sybil Seligman allerdings als »kleines, unförmiges Mons­ trum« und beendet kurz darauf die Zusammenarbeit). Anfang 1912 finden sich in Puccinis Korrespondenz wiederum Spuren der Auseinandersetzung mit »Farben und

Kontrasten«. An Sybil Seligman berichtet der Komponist, er habe »etwas Heiteres« entdeckt (vermutlich Anima Alle­ gra, ein Libretto Adamis, das schließlich Franco Vittadini vertonen sollte) und sei nun auf der Suche nach dem kontrastierenden »Leid, Leid, Leid«. Als Puccini im Mai 1912 in Paris eine Aufführung von Didier Golds Schauspiel La Houp­ pelande sah, war es – wie zuvor mit Belascos Madame Butterfly und The Girl of the Golden West – ein Theatererlebnis, das ihn davon überzeugte, den richtigen Stoff gefunden zu haben. Hier stand ihm das tragische Element, die düstere Farbe, die er gesucht hatte, deutlich vor Augen. Es ist interessant, dass sich in dem Drama, das zu Il tabarro werden sollte, tatsächlich Elemente finden, die Puccini schon in den schließlich nicht zum Zug gekommenen Gorki-Erzählungen gefunden hatte: Wie in Der Khan und sein Sohn und auch in den Holzflößern geht es um eine Dreiecksgeschichte zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann und einer jüngeren Frau. Mit den Holzflößern hatte La Houppelande sogar die Szenerie auf dem Wasser gemeinsam. Die Bitterkeit des Löschers Louis/Luigi schließlich erinnert an die Kellerbäcker in 26 und eine. La Houppelande hatte gegenüber Gorkis Erzählungen allerdings den großen Vorteil genuin theatraler Qualitäten: Eine spannungsreiche Dramaturgie und gut ausgearbeitete Dialoge, außerdem viele kleine Details und Nebenschauplätze. In dem eingangs zitierten Brief an Soldani schrieb Puccini über die Notwendigkeit, im Musiktheater zu »lyrisieren« und zu »poetisieren«: »Man muss sich gewisse kleine Situationen zunutze machen, die dann musikalisch groß werden und die im Schauspiel vielleicht quasi unbedeutend wären ...« Diese kleinen

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NIKOLAUS STENITZER

Situationen, sogenannte »controscene«, hatten etwa schon in La bohème in jener Vielfarbigkeit resultiert, die Puccini in seinem Brief als Objekt seiner Suche beschrieb. Dass La Houppelande diese Qualität mitbrachte, muss zu seiner Entscheidung für den Stoff beigetragen haben. Golds Drama gab Puccini einerseits detailreiche Szenen an die Hand, eine Qualität, die er sehr schätzte. Zum anderen ist auch der im Tabarro noch weiter ausgearbeitete (und großartig auskomponierte) Spannungsbogen bereits vorhanden. Details und Hintergründe werden wohldosiert preisgegeben: Das Verhältnis zwischen Michel und Georgette ist belastet, aber nicht zerbrochen; erst nach einer ganzen Weile stellt sich heraus, dass Georgette ein Verhältnis mit Louis, einem Arbeiter, hat und sich so tröstet; der symbolhafte Mantel verklammert die verschiedenen Stationen im Leben der beiden Eheleute, bis er zum Leichentuch für den ermordeten Liebhaber wird. Gegenüber den fabelartigen Erzählungen Maxim Gorkis hatte Puccini hier das »moderne« Drama gefunden, das nicht auf eine Schlussmoral hinsteuert, sondern seine Figuren durch ihr Leben zu begleiten scheint, sodass das Publikum tatsächlich mit verschiedenen Auswegmöglichkeiten rechnen kann. Giuseppe Adamis Bearbeitung sollte schließlich das noch als sensationelles »Grand Guignol« angelegte Stück Didier Golds, in dem neben einer teils etwas groben Figurenzeichnung auch noch ein zusätzlicher Mord auffällt (Le Goujon, im Trittico Tinca, ermordet seine Frau), in ein ernstes, konzentriertes Drama überführen. Die Entdeckung der gesuchten »tragischen« Farbe änderte den Umgang mit dem Trittico-Projekt (das Puccini

selbst nie so bezeichnen wollte): Nun wurden – nach einer Unterbrechung, die La rondine (UA 1917) geschuldet war – jene Farben gesucht, die den Tabarro ideal ergänzen würden. Damit schlug die Stunde des noch relativ unbekannten Giovacchino Forzano, der Puccini mit Gianni Schicchi (nach einer Episode aus Dantes Inferno und einem dazugehörigen anonymen Kommentar aus dem 14. Jahrhundert) und seinem eigenen Szenario Suor Angelica zu überzeugen vermochte. Dass der Komponist sich für das Sujet entschied, das schließlich neben der gesuchten »sentimentalen« eine starke »mystische« Farbe enthält, erscheint überraschend: Etwas Vergleichbares findet sich im Werk Puccinis sonst nicht. Biographen verweisen auf Puccinis Vertrautheit mit dem klösterlichen Ambiente. Seine Schwester Iginia lebte seit Langem als Augustinernonne im Monasterio della Visitazione in Vicopelago bei Lucca, wo ihr Bruder ein gerngesehener Gast war. Zudem wird berichtet, dass Puccini mit fortschreitendem Alter seinen bekannten Zynismus streckenweise gegen eine gewisse Milde ausgetauscht hatte, die ihn auch der Religion gegenüber aufgeschlossener und ernsthafter werden ließ (vgl. dazu auch den Beitrag von Arnold Jacobshagen auf S. 32 in diesem Programmbuch). Aber ähnlich wie im Fall des Tabarro gibt es auch zu Suor Angelica eine gewissermaßen atmosphärische Spur zu einer früheren literarischen Beschäftigung des Komponisten. Im eingangs zitierten Brief an Valentino Soldani erwähnt Puccini auch dessen Margherita – gemeint ist dessen Mysterium in einem Akt Margherita di Cortona (1904), das Puccini offenbar zusammen mit den beiden anderen historischen Dramen erhalten hatte. Der Komponist lobt ei-

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PUCCINIS LEKTÜREN

nige Details an dem Stück, erklärt aber, »nicht an das Mittelalter zu glauben« – schließlich suchte er zu diesem Zeitpunkt »etwas Modernes«. Wie beschrieben kam die Zusammenarbeit zwischen dem Dramatiker und dem Komponisten nie zustande; einige Wochen, nachdem Puccini den Tabarro zum ersten Mal in einem Brief an Luigi Illica erwähnt hatte, im Februar 1913, schrieb Puccini aber an Soldani und bat, ihm ebenjene Margherita noch einmal zu schicken. Er wollte prüfen, ob es sich zum Tabarro fügen könnte. Die Geschichte der historischen Margherita di Cortona (1247–1297) unterscheidet sich in Details von Suor Angelica, die Gemeinsamkeiten sind aber unübersehbar: Eine junge Frau gerät »in Sünde«, bekommt ein uneheliches Kind und landet im

Kloster. Der entscheidende Unterschied – Margherita wünscht sich den Ordenseintritt und wird zunächst abgewiesen, Angelica wird strafweise ins Kloster gesteckt – hatte dramaturgische Konsequenzen, die für Puccini bestimmt eine Rolle gespielt haben. Gemeinsam ist beiden Werken aber die in Puccinis Werk außergewöhnliche spirituell-mystische Dimension. Valentino Soldani brachte auch das offenbar passende Sujet kein Glück, die Librettisten des Werks, das am 14. Dezember 1918 in New York zur Uraufführung kam, hießen Giuseppe Adami und Giovacchino Forzano. Soldani und seine Margherita bleiben eine Episode auf Puccinis langem literarischen Weg zu Il trittico.

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Folgende Seiten: SERENA SÁENZ als LAURETTA BOGDAN VOLKOV als RINUCCIO KOMPARSERIE der WIENER STAATSOPER (GIANNI SCHICCHI)




BRIEFE

LYRIK IN DREI FARBEN AN VALENTINO SOLDANI Acqui Terme, 29. Juni 1904, ein Uhr nachts Liebster Soldani, [...] Haben Sie jemals Pelléas et Mélisande von Maeterlinck gelesen? Haben Sie irgendwelche Novellen von Maxim Gorki gelesen? Ich glaube, darin werden Sie das finden, was ich mir wünsche. Ach, wenn wir ein wenig zusammen sein könnten, wie es geplant war!! Ich erlebe eine Zeit der Nervosität, die mir den Schlaf raubt – und all das nur, weil ich nicht finde, was ich will – manchmal denke ich an eine Sache wie Bohème – das Tragische und das Sentimentale mit dem Komischen gemischt (und ich denke, dass dieses Genre noch einmal erneuert werden müsste), sicherlich mit anderen Sitten und Gebräuchen und damit auch anderen Atmosphären – weniger süße Sentimentalität und mehr erschütterndes Drama [im Original verwendet Puccini hier das französische Wort »dechirante« – erschütternd, herzzerreißend, Anm.]. An das Mittelalter glaube ich nicht, soviel ich auch gelesen und nachgedacht habe, es hat mich nie bewegt, abgesehen von ein paar Szenen, die in sich wirkungsvoll waren und die mich angezogen haben (vom Ort und der Zeit der Handlung her) – Ihre Margherita hat mir sehr gefallen [Soldani hatte Puccini auch sein historisches Drama Margherita di Cortona zugesandt, Anm.], was mich wirklich beeindruckt hat, war der Auftritt des Mönchs mit dem Aufwirbeln der nassen Pergamente und der Respekt, den er Margherita ein-

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LY R IK IN DR EI FA R BEN

flößte, dann die Schlussszene, als sie den Schmuck und die reichen Gewänder zurückgibt. Man muss über die Lyrik im Musiktheater nachdenken – so viel wie möglich poetisieren, lyrisieren, bestimmte kleine Situationen ausnutzen, die dann musikalisch großartig werden und im Prosatheater vielleicht fast keine Rolle spielen würden ... Ich schreibe unzusammenhängend, mit einem brennenden Kopf und einer verlorenen Seele, verzweifelt auf der Suche nach dem, was ich will und was ich nicht sagen kann! ... Ich sehne mich nach etwas Großem, etwas Neuem, etwas Aufregendem, etwas, das ich noch nie gesehen habe – werde ich es finden? wenn wir uns nur treffen könnten! Ich fahre nach Torre del Lago – für vierzehn Tage – Wenn Sie mitkommen und etwas Zeit mit mir verbringen könnten! Viele Grüße Ihr GPuccini

AN LUIGI ILLICA Mailand, 24. September 1904 Lieber Illica – ich habe die Hölle im Haus!!! Mut und vorwärts! Ich war bei Giacosa und habe ihm unsere Idee der drei Geschichten und auch schon den Inhalt der beiden ersten erzählt – 26 und eine und Der Khan und sein Sohn [zwei Erzählungen von Maxim Gorki, Anm.] – er ist begeistert von der Idee. Er fand 26 und Eine großartig – und er sagte, er werde nun auch Gorkis Werke lesen – Alles läuft also bestens. Also vorwärts, lass uns die Leonardi et comp. in Arbeit ertränken. – Ich bestehe auf den drei Farben – Ich lese Khan noch einmal, und als drittes die Roma-Geschichte? [Makar Tschudra, Gorkis erste Veröffentlichung, Anm.] Die Holzflößer [eine weitere Erzählung Gorkis, von Adami favorisierte, Anm.] sind praktisch unmöglich für die Bühne – das versichere ich dir. Schreibe mir alles an die Casa Ricordi, dein GPuccini

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DIDIER GOLD

DER MANTEL SZENE V

GEORGETTE, LOUIS

GEORGETTE Mein kleiner Louis, mein Junge, mein Liebling! ... Louis will sich ihr nähern. Nein! Bleib ein wenig entfernt, falls er wieder heraufkommt! LOUIS Was macht er? GEORGETTE Die Arbeit ist getan, er überprüft den Laderaum, sieht nach, ob noch etwas vorzubereiten ist vor der morgigen Ladung. Ah! Als er mir gesagt hat, dass er dich behält, wollte mich mein Herz ersticken ... Und doch tat ich so, als würde es mich nicht interessieren. Es ändert nichts, hätte er dich nicht mehr eingestellt, würden wir uns trotzdem treffen; aber so ist es mir lieber. Du gehst, du kommst, ich sehe dich ein wenig, das ist alles! ... Es ist egal, wenn er den Hauch einer Ahnung bekäme, würde er uns beide umbringen! LOUIS großspurig Ich habe keine Angst! GEORGETTE umarmt ihn Ich weiß doch, du bist mein großer Junge, mein Liebster, mein Kleiner nur für mich! Wenn ich an gestern denke, werde ich verrückt! LOUIS Und wenn er aufgewacht wäre? Wacht er niemals auf in der Nacht? GEORGETTE Er ist gewohnt, dass ich sehr spät komme und gehe! Weißt du, als unser Kind noch lebte, bin ich oft aufgewacht; seit es tot ist, habe ich nichts mehr ... ich finde keinen Schlaf mehr! ... Michel versteht das übrigens gut und lässt mir meinen Raum ... aber sprechen wir nicht mehr von alldem, sonst haue ich sofort von hier ab! LOUIS unwillkürlich Das wäre ein dreckiges Ding!

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DER MANTEL

GEORGETTE Nur wegen dir mache ich es nicht, vor allem jetzt, wo du bleibst ... sag, gestern, mein Kleiner, da war sie schön, unsere Liebe ... du kannst von hier die kleine Ecke sehen, das Ruder ... das aussah wie ein schlafender Baum ... Wir hatten es doch gut! Ah! Wenn du wolltest, würde ich mit dir fliehen, in den Faubourg; du müsstest nicht mehr arbeiten, du bist zu süß ... ich würde Geld für uns beide verdienen ... wir hätten nichts als Glück ... nur willst du nicht! LOUIS mit blinder Aufrichtigkeit Ich bin ehrlich! GEORGETTE Und dafür liebe ich dich! LOUIS Nein, ich könnte nicht ... Wenn du mich an dich drückst, bin ich nicht mehr derselbe; bei den anderen war mir das egal! GEORGETTE drückt sich an ihn Es tut mir gut, wenn du das sagst! LOUIS macht sich los, vorsichtig Pass auf, sage ich dir! GEORGETTE drängend Also heute Abend, wie gestern, ja? Ich lasse den Steg draußen; ich bin immer diejenige, die ihn einholt, es besteht keine Gefahr, dass er ihn anrührt. Hast du die Turnschuhe? LOUIS hebt einen Fuß Ja. Das gleiche Signal? GEORGETTE Ja, das gleiche. Hast du ihn gut sehen können, den kleinen Schein des Streichholzes? LOUIS Sicher! GEORGETTE Als ich den Arm hob, schien es mir, als würde ich einen Stern entzünden ... unseren Stern, den unseres Glücks, so zerbrechlich wie es! Es gibt Augenblicke, in denen sage ich mir, dass das nicht von Dauer sein kann! LOUIS ernst Das wäre vielleicht besser! GEORGETTE lebhaft Was sagst du? ... ängstlich Du denkst schon ...

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DER MANTEL

LOUIS sie erneut wegschiebend Gib acht, ich sage es dir noch einmal! Wir werden sehen! ... Wir werden darüber reden! GEORGETTE unruhig Aber du kommst heute Abend, sicher? LOUIS den Kai erreichend Ganz sicher! GEORGETTE Dann denken wir jetzt nur an dieses Glück! ... mein Junge ... mein Kleiner ... Michel steigt aus dem Laderaum herauf

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ANJA KAMPE als GIORGETTA (IL TABARRO)


KOPFZEILE

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BRIEFE

LEID, LEID, LEID AN SYBIL SELIGMAN

vermutlich Anfang 1912

Jetzt, wo ich etwas Heiteres haben kann [wahrscheinlich die später wieder verworfene komische Oper Anima Alle­ gra, eventuell auch La rondine, Anm.], halte ich nach dem Gegensatz Ausschau – Leid, Leid, Leid, das ist das Wesentli­che im Leben. Ich möchte moralische Leiden beschreiben, ohne Blut oder heftige Dramatik.

AN GIUSEPPE ADAMI Torre del Lago, 23. Oktober 1915 Lieber Adamino, ich habe mich einstweilen an La Houppelande gemacht. Ist es Ihnen recht, dass wir an die Arbeit gehen und das Textbuch durchsehen? Ich glaube, wenn Sie hier wären, ließe sich alles in einer Woche erledigen. Dann könnten Sie auch die Rondine fertigmachen, und wir würden ernstlich über die Zoccoletti sprechen. Insbesondere über den dritten Akt. Ich getraue mir, den Tabarro in wenigen Wochen zu machen, und glaube, das wür­de eine gute Sache werden. Schon aus Gründen des Kontrasts liegt mir das (scheint mir) im Augenblick besser als die Zoccoletti. Antworten Sie mir, ob Sie wollen, ob Sie können, ob Sie Lust haben, auf ein paar Tage hierherzukommen. Herzliche Grüße von ...

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LEID, LEID, LEID

AN GIUSEPPE ADAMI

Torre del Lago

Lieber Adamino, da bin ich wieder, zurückgekehrt von der seltsamen und faszinierenden Maremma. Eine wilde Landschaft, primitiv, weit abgelegen von aller Welt, in der sich der Geist wahrhaf­tig ausruhen kann und der Körper neue Kräfte sammelt (aber nur im Winter). Ich habe mich auf der Schnepfenjagd und in diesen Räuberwäldern herrlich unterhalten. Ich höre, dass Sie wegen der Komödie noch warten wollen. Das ist keine schlechte Idee. Umso mehr, als Sie sie zur Fastenzeit gefeilt und noch einmal durchdacht (falls sie das nötig hatte) herausbringen werden; und außerdem sind Sie der oberste Richter. Ich arbeite ein bisschen am Tabarro. Ich habe das Finale (an den Fluss) geschrieben. Aber (o je, sagt Adami) ich brauche Verse. Die Zeit ist kurz. Herzliche Grüße an alle von Ihrem ... Weihnachten sehen wir uns.

AN GIUSEPPE ADAMI Torre del Lago, 2. September 1915 Lieber Adamino, ich bin wieder hier und arbeite an der Instrumentation des Tabarro (zweiter Teil). Wegen der Verse des Monologs werden wir uns später verständigen. Augenblicklich lässt sich’s gut arbeiten, weil es wieder kühl geworden ist. Und was machen Sie Schönes? Arbeiten Sie? Über die Rondine-Angelegenheit kann ich Ihnen noch gar nichts sagen. Der Tabarro wird in einem knappen Monat fertig. Und dann? Haben Sie nichts? Ideen, Vorschläge, Entwürfe? Ich habe eine kleine schlichte Idee, aber ich fürchte, es wird nichts daraus werden. Ich erzähle Ihnen später davon. Herzliche Grüße ... Grüße an Tito [Ricordi], wo ist er?

Seite 60: MICHAELA SCHUSTER als FÜRSTIN KOMPARSERIE der WIENER STAATSOPER (SUOR ANGELICA) Seite 61: MONIKA BOHINEC als ÄBTISSIN ELEONORA BURATTO als ANGELICA (SUOR ANGELICA)




MICHEL FOUCAULT

DIE KONTROLLE DER T TIGKEIT

Aus ÜBERWACHEN UND STRAFEN. DIE GEBURT DES GEFÄNGNISSES, 1975

Die Zeitplanung ist ein altes Erbe. In den klösterlichen Gemeinschaften hatte sich ein strenges Schema entwickelt, das sich rasch ausbreitete. Seine drei Elemente – Festsetzung von Rhythmen, Zwang zu bestimmten Tätigkeiten, Regelung der Wiederholungszyklen – tauchten in den Kollegs, den Werk­stätten, den Spitälern wieder auf. Von alten Mustern ausge­hend, setzten sich die neuen Disziplinen mühelos durch; die Erziehungshäuser und die Fürsorgeeinrichtungen setzten das Leben und die Regelmäßigkeit der Klöster fort, an die sie oft angeschlossen waren. Die Strenge der Fabrikzeit hielt lange an einer religiösen Gangart fest; die Reglements der großen Manufakturen des 17. Jahrhunderts legten die Übungen fest, welche die Arbeit skandieren sollten: »Alle Personen ... die am Morgen zur Arbeit erscheinen, waschen sich zuvor die Hände, opfern ihre Arbeit Gott auf, machen das Kreuzzei­chen und beginnen dann zu arbeiten.« (Artikel I des Reglements für die Fabrik von Saint-Maur). Und im 19. Jahrhun­dert, da man in der Industrie die Landbevölkerung einsetzt, greift man zur Gewöhnung an die Werkstattarbeit auf Kon­gregationen zurück; man sperrt die Arbeiter in »Kloster-Fa­briken« ein. Die große Militärdisziplin hat sich in den prote­stantischen Armeen eines Moritz von Oranien und Gustav Adolf herangebildet – und zwar in einer Zeitrhythmik, die durch Frömmigkeitsübungen skandiert war. Und viel später noch sagte Boussanelle, die Armee müsse einige »der Voll­ kommenheiten des Klosters« haben. Jahrhundertelang wa­ren die religiösen Orden Meister der Disziplin: sie waren die Spezialisten der Zeit, die großen Techniker des Rhythmus und der regelmäßigen Tätigkeiten. Die Verfahren der zeitlichen Reglementierung werden von den Disziplinen übernommen und modifiziert.

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TONI MORRISON / SEHR BLAUE AUGEN

»WOLLT IHR EINEN PENNY?« ER HIELT UNS EIN BLANKES GELDSTÜCK HIN. FRIEDA SENKTE DEN KOPF, ZU ERFREUT, UM ZU ANTWORTEN. ICH GRIFF DANACH. ER SCHNIPPTE MIT DAUMEN UND ZEIGEFINGER, UND DER PENNY VERSCHWAND. WIR ERSCHRAKEN, WAREN ABER GLEICHZEITIG ENTZÜCKT. WIR DURCHSUCHTEN IHN VON OBEN BIS UNTEN, STECKTEN DIE FINGER IN SEINE SOCKEN, INS RÜCKENFUTTER SEINES JACKETTS. WENN GLÜCK VORFREUDE MIT GEWISSHEIT IST, DANN WAREN WIR GLÜCKLICH.

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DANTE ALIGHIERI

INFERNO. DREISSIGSTER GESANG Weder in Theben noch in Troja erlebte man je so schreckliche Raserei, die nicht gegen Tiere, sondern gegen menschliche Gliedmaßen wütete, wie ich es nun bei zwei fahlen, nackten Schatten mit ansehen musste, die schnappend herumrasten, gerade wie die Schweine, die aus dem Koben ausbrechen. Der eine sauste auf den Alchimisten Capocchio zu, schlug ihm die Hauer ins Genick und schleifte ihn mit, dass sein krätziger Bauch auf dem rauen Boden kratzte. Und der Mann aus Arezzo, der schlotternd dabei stand, rief mir zu: »Dieser Kobold ist Gianni Schicchi. Tollwütig läuft er herum und richtet die anderen übel zu.« »Oh«, rief ich zurück, »hoffentlich schlägt der andere dir nicht auch die Zähne hinten rein! Sei so gut und sag mir, wer das ist, bevor er sich davonmacht.« Und er zu mir: »Das ist die alte Seele der schänderischen Myrrha, die ihrem Vater außerhalb der rechten Liebe zur Freundin wurde. Sie ging hin und sündigte so mit ihm, in der täuschend gewählten Gestalt einer anderen, wie der Gianni, der dort läuft, sich erfrechte, um die Königin der Herde zu ergattern, sich als Buoso Donati auszugeben, dessen letzten Willen zu diktieren und beurkunden zu lassen.

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ANONIMO FIORENTINO

KOMMENTAR ZU DANTES COMMEDIA Dieser Gianni Sticchi [sic] gehörte zur Familie Cavalcanti in Florenz, und man erzählt sich von ihm folgende Geschichte: Als Messer Buoso Donati von einer tödlichen Krankheit ereilt wurde, wollte er sein Testament machen, denn es schien ihm, er schulde anderen Leuten ziemlich viel. Sein Sohn Simon aber versuchte, ihm das auszureden, so lange, bis er starb. Als er tot war, hielt Simon dies zunächst geheim, weil er fürchtete, sein Vater könnte zu Lebzeiten doch noch ein Testament gemacht haben. Alle Nachbarn behaupteten dies ja. Unschlüssig, wie er war, ging Simon zu Gianni Sticchi, klagte ihm sein Leid und bat ihn um einen Rat. Dieser Gianni nun verstand sich vorzüglich darauf, jedermann nachzumachen [contraffare], sowohl mit der Stimme als auch mit den Bewegungen, und am besten Messer Buoso, mit dem er gut bekannt war. Deshalb sagte Gianni zu Simon: »Lass einen Notar kommen und sag ihm, Messer Buoso will sein Testament machen. Ich lege mich in sein Bett, ihn schieben wir dahinter, ich decke mich gut zu, ziehe seine Nachtmütze über und diktiere das Testament so, wie du es willst. Natürlich muss auch für mich etwas dabei herausspringen.« Simon war es einverstanden. Bevor alle beisammen waren, stieg Gianni in das Bett, dann stellt er sich schwer krank, macht mit täuschend ähnlicher Stimme Messer Buoso nach und beginnt zu diktieren: »Ich vermache 20 Soldi den Werken der Heiligen Reparata und fünf Lire den Minderbrüdern, weitere fünf den Predigerbrüdern«, und verteilt so einiges für den lieben Gott, aber nicht eben reichlich. Dies gefiel Simon recht gut. »Und ich hinterlasse«, fuhr Gianni fort, »fünf­hundert Florinen dem Gianni Schicchi«. Daraufhin rief Simon dem Messer Buoso zu: »Das

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KOMMENTAR ZU DANTES COMMEDIA

braucht nicht ins Testament, ich gebe sie ihm selber, ganz wie Ihr es bestimmt.« –»Simon, lass mich das machen, wie ich es haben will. Dir hinterlasse ich immer noch so reichlich, dass du zufrieden sein kannst!« Aus Furcht sagte Simon nichts darauf. Gianni fährt fort: »Und dem Gianni Schicchi hinterlasse ich auch mein Maultier.« Messer Buoso hatte nämlich das beste Maultier von ganz Toskana. »Ach, Messer Buoso«, rief da Simon wieder, »der macht sich aus dem Maultier gar nichts, er hat es nie besonders gemocht.« – »Was Gianni Schicchi besonders mag, weiß ich besser als du«, war die Antwort. Simon wird immer wütender und hält kaum noch an sich, aber aus Angst bleibt er still. Gianni diktiert weiter: »Außerdem übermache ich Gianni Schicchi hundert Florinen, die mir mein Nachbar Soundso noch schuldet. Für alles Übrige setze ich meinen Sohn Simon zum Universalerben ein, mit der Auflage, alle Verfügungen binnen vierzehn Tagen zu vollstrecken, widrigenfalls das gesamte Erbe an die Minderbrüder von Santa Croce fällt.« Als das Testament fertig ist, gehen alle Anwesenden ihrer Wege. Gianni steigt aus dem Bett und sie legen Messer Buoso wieder hinein. Bald darauf erheben sie das Klagegeschrei und verkünden, Messer Buoso sei gestorben.

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AMBROGIO MAESTRI als GIANNI SCHICCHI DAN PAUL DUMITRESCU als SIMONE KOMPARSERIE der WIENER STAATSOPER (GIANNI SCHICCHI)


KOPFZEILE

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ANDREAS LÁNG

DIE VERSELBST- ST NDIGUNG DER EINZELNEN TRITTICO-TEILE AM BEISPIEL DER WIENER STAATSOPER Es ist vielleicht nicht ganz falsch, wenn man aus dem Wort »Theaterpraxis« auch eine Art Kapitulation vor den Schwierigkeiten und (pekuniären) Erfordernissen des Alltags heraus­liest. Ein genauerer Blick in die Aufführungsgeschichte – etwa der Wiener Staatsoper – zeigt jedenfalls, dass es mit den oft beschworenen »besseren Zeiten«, in denen die Intentionen von Komponist und Librettist stets gewahrt blieben, nicht weit her ist. So kann man – um nur ein Beispiel heranzuziehen – nur schwer annehmen, dass es im Sinne Giuseppe Verdis war, dessen (gekürzten) Rigoletto mit ein oder zwei Balletten zu kombinieren, wie das auf der Bühne der Staatsoper im 19. Jahrhundert wiederholt geschah. Zumal mit diesen Kombinationen keinerlei tiefergehende dramaturgische Überlegungen verbunden waren, sondern lediglich eine einfache Milchmädchenrechnung: Bietet man an einem Abend etwas für Opern- und Ballettliebhaber an, wird die Auslastung zufriedenstellen, und damit auch die Einnahme. Wie unbekümmert die Einheit des Puccini’schen Trittico vor diesem Hintergrund immer wieder geopfert wurde, liegt auf der Hand. Gehorcht die seit Langem und international gängige Gepflogenheit, Mascagnis Cavalleria rusticana und Leoncavallos Pagli­ acci an einem Abend aufzuführen, durch die

veristische Verwandtschaft der beiden nicht abendfüllenden Werke noch einer künstlerischen Logik, so folgte die Herauslösung einzelner Teile aus der Gesamtheit des Trittico meist Grundsätzen, die banalsten Ursprungs waren: Ein bekannter publikumswirksamer Sänger, der etwa den Gianni Schicchi ›draufhatte‹, wünschte sich auch noch den Tonio in Pagliacci – so schnell konnte man gar nicht schauen, wie diese beiden Stücke im Paket angeboten wurden. Oder: Die Direktion wollte dem Publikum kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Staatsopern-Ausweichquartier Volksoperngebäude einen »lustigen« Abend anbieten und kombinierte daher Peter Corneliusʼ Barbier von Bagdad und eben Puccinis Gianni Schicchi – Tabarro und Suor Angelica hatten da definitiv keinen Platz. Dazu passt, dass im Laufe der Aufführungsserien die Reihenfolge der beiden gezeigten Stücke geändert wurde. Hörte das Publikum zunächst Gianni Schicchi vor der Pause und danach das weniger wirkungsvolle Cornelius-Stück, entließ man nach wenigen Vorstellungen die Zuschauerinnen und Zuschauer mit Schiccis Worten »Se stasera vi siete divertiti, concedetemi voi ... l’attenuante« des Erbbetrügers. Ganz generell war es – wie auf vielen anderen Bühnen – der abschließende Komö-

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DIE VERSELBSTSTÄNDIGUNG DER EINZELNEN TRIT TICO -TEILE

dien-Teil des Triptychons, der auch in Wien eine Art Eigenleben entfaltete. Aber der Reihe nach. Zunächst brachte die Wiener Staatsoper (damals gemeinhin als Operntheater bezeichnet) bereits im Oktober 1920, also nicht einmal zwei Jahre nach der New Yorker Weltpremiere, den gesamten Trittico als österreichische Erstaufführung heraus – den damaligen Gepflogenheiten entsprechend auf Deutsch. Die Direktion des Hauses war natürlich stolz, die Novität so rasch in den Spielplan aufgenommen zu haben, und so scheute das Operntheater trotz der angespannten allgemeinen Wirtschaftslage nach dem Ersten Weltkrieg auch keine Kosten. Das ging so weit, dass man teure, wirkungsvoll ausgeleuchtete Bühnenbilder mit kolossalen Ausdehnungen schuf und sogar Giacomo Puccini selbst – dessen (hohe) Aufenthalts- und Reisespesen übernehmend – für die Probenarbeit nach Wien brachte. Der Komponist dankte dies mit einem exzessiven Probeneinsatz seinerseits, wobei er sich sowohl in Besetzungsfragen einmischte – Maria Jeritza übernahm nur auf Puccinis Wunsch die Giorgetta im Tabarro – als auch in die von ihm im Wesentlichen als gut befundene Inszenierungsarbeit Wilhelm Wymetals. Der Erfolg der Premiere war gewaltig, und die Besucherzahlen, trotz stark erhöhter Kartenpreise, die höchsten Erwartungen übertreffend. Interessant das Fazit Julius Korngolds in seiner ausführlichen Besprechung in der Neuen Freien Presse: »Muss wirklich unter den Einaktern gewählt werden? Vereint ergeben sie jedenfalls den abwechslungsreichsten Theaterabend.« Anderthalb Jahre lang folgte die Staatsoper dieser Devise und den Puccini’schen Vorstellungen einer Gesamtschau des Dreiteilers. Doch schon im Jänner 1922 musste der Mantel den »Alt-Wiener Tanzbildern« Die Jahreszeiten der Liebe weichen (ein Szenario von Heinrich Regel zu Musik von Franz

Schubert), und noch einmal anderthalb Jahre später blieb vom gesamten Trittico nur mehr Gianni Schicchi übrig, den man mit Alexander Zemlinskys Zwerg vereinte. Die Überlegung dabei: Die Erstaufführung des unbekannten Einakters benötigte erstens eine Ergänzung zum vollwertigen Abend und zweitens ein Zugpferd – für beides schien Gianni Schicchi am geeignetsten. Ähnliches wiederholte sich 1925 und 1928: Einmal sollte die Puccini-Komödie Marco Franks kurzem Opernzweiakter Bildnis der Madonna auf die Auslastungssprünge helfen, dann Strawinskis Oedipus Rex. Durch die bald erfolgte Kombination gleich zweier Erfolgsgaranten – nämlich Pagliacci und Schicchi beziehungsweise Cavalleria und Schicchi – hatte die Direktion schließlich endgültig Farbe bekannt: zum finanziellen Erfolg. Dass die Staatsoper anlässlich des Besuchs des Deutschen Reichskanzlers Wilhelm Marx und seines Außenministers Gustav Stresemann einen Abend zusammenstellte, der aus zwei Balletten ( Jahreszeiten der Liebe sowie G’schichten aus dem Wienerwald mit Musik von Johann Strauß Sohn) sowie Gianni Schicchi bestand, sagt übrigens viel über die Popularität des Puccini’schen Operneinakters aus. Eine Wiederaufnahme des Trittico 1931 vereinte die drei zusammengehörigen Stücke auf der Bühne der Staatsoper wieder – wenn auch nur für kurze Zeit, denn schon 1932 suchte man Suor Angelica vergebens und fand stattdessen ein Ballett nach Schumanns Carnaval. Und wenig später blieb erneut nur Gianni Schicchi auf dem Spielplan – gemeinsam mit dem Ballettklassiker Coppelia, der Josephs Legende von Hofmannsthal/Kessler/ Strauß oder eben Pagliacci. Suor Angelica, die von den drei Teilen an der Staatsoper am seltensten aufgeführte Oper, kam aber immerhin einmal ebenfalls zu besonderen Ehren: Zur Totenfeier für Puccini am 14. Dezember 1924 gab man in einer Festmatinee nach dem Mozart-Requiem die-

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DIE VERSELBSTSTÄNDIGUNG DER EINZELNEN TRIT TICO -TEILE

sen zweiten Teil aus dem Trittico, der von allen Puccini-Werken sowohl von der Länge als auch vom Inhalt her am passendsten erschien. Erst mehr als vier Jahrzehnte später, am 11. Februar 1979, kam es im Zuge der Neuproduktion des Trittico in der Inszenierung Otto Schenks und unter der Leitung Gerd Albrechts zu erneuten Aufführungsserien aller drei Werke. Und diesmal wurde die vorgesehene Abfolge nur zweimal unterbrochen, indem man den Mantel mit Pagliacci zusammenbrachte – aber ansonsten konnte Trittico als Einheit gesehen und verstanden werden. Ganz anders rund 20 Jahre später: Am 2. Oktober 2000 fand Arnold Schönbergs Oratorium Die Jakobsleiter seine szenische Erstaufführung – nach der Pause folgte eine Neuproduktion von Gianni Schicchi. Dem Regisseur und Bühnenbildner Marco Arturo Marelli gelang es dabei, die beiden völlig unterschiedlichen Werke inhaltlich aufeinander zu beziehen. Symbolisierte die große, den gesamten Bühnenraum einnehmende Escher’sche Treppe die von Schönberg thematisierte Unendlichkeit im Zyklus einer ewigen Wiedergeburt aller Menschen, die ihr Gepäck der gemachten Erfahrungen zu tragen haben, so sollte die Gianni Schicchi-Produktion mit dem übergroßen Koffer auf ebendieser Stiegenarchitektur gewissermaßen eines dieser vielen Leben in Nahaufnahme widerspiegeln. Schwierig wurde es nur, als man dieses stimmige und funktionierende dramaturgische Konzept gelegentlich sprengte und statt Die Jakobsleiter wahlweise Pagliacci oder Cavalleria am Abendzettel stand ... Dass Gianni Schicchi an der Wiener Staatsoper, aber auch an der Wiener Volksoper, wo man dieses Stück eben-

falls in zahllosen passenden und unpassenden Zusammenführungen anbot, bis zur aktuellen Neuproduktion des Tritt­ ico im Oktober 2023 somit eine deutlich höhere Aufführungsdichte aufweist als die beiden anderen Werke, ist evident. Aber auch, dass viele im Publikum bei dieser Produktion mit Tabarro und Suor Angelica eine Erstbegegnung erleben und damit überhaupt erstmals die Möglichkeit haben, Puccinis vorletzte Schöpfung als Ganzes zu sehen und zu hören.

Seite 72/73: MICHAELA SCHUSTER als ZITA BOGDAN VOLKOV als RINUCCIO ANDREA GIOVANNINI als GHERARDO ANNA BONDARENKO als NELLA CLEMENS UNTERREINER als BETTO DAN PAUL DUMITRESCU als SIMONE ATTILA MOKUS als MARCO DARIA SUSHKOVA als LA CIESCA KOMPARSE der WIENER STAATSOPER als BUOSO DONATI (GIANNI SCHICCHI)


KO A LB PE FR ZE T I CL AE M U S / D E R M Y T H O S D E S S I S Y P H O S

SISYPHOS JEDOCH LEHRT UNS DIE HÖHERE TREUE, DIE DIE GÖTTER LEUGNET UND FELSEN HEBT. AUCH ER FINDET, DASS ALLES GUT IST. DIESES UNIVERSUM, DAS NUN KEINEN HERRN MEHR KENNT, KOMMT IHM WEDER UNFRUCHTBAR NOCH WERTLOS VOR. JEDER GRAN DIESES STEINS, JEDES MINERALISCHE AUFBLITZEN IN DIESEM IN NACHT GEHÜLLTEN BERG IST EINE WELT FÜR SICH. DER KAMPF GEGEN GIPFEL VERMAG EIN MENSCHENHERZ AUSZUFÜLLEN. WIR MÜSSEN UNS SISYPHOS ALS EINEN GLÜCKLICHEN MENSCHEN VORSTELLEN.

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BRIEFE

HABEN SIE IDEEN? AN GIUSEPPE ADAMI Torre del Lago, 2. Mai 1916 Lieber Adamino, ich habe bis zu dem Punkt instrumentiert, wo die Komposition aufhört. So habe ich jetzt ein Gutteil des Tabarro beendet. Und es ist etwas Gutes herausgekommen, ich bin sehr zufrieden. Nun vorwärts! Aber es sind noch Änderungen nötig, eine ganze Menge. – Inzwischen werde ich mich an das Duett von Giorgetta und Michele machen, das sich gut anlässt – dann verabreden wir, wann wir uns treffen. Geben Sie mir Nachricht. Herzliche Grüße an Sie und alle ...

AN GIUSEPPE ADAMI

Torre del Lago, 29. Mai 1916

Lieber Adamino, Tito ist in Paris und fragt bei mir an, ob die Änderungen gelungen sind. Ich habe ihm bejahend geantwortet, und in der Tat sind sie ausgezeichnet, wie ich Ihnen telegrafierte. Aber wir müssen ernstlich an ein neues Sujet denken. Das ist ein Stachel, der mir ewig im Herzen sitzt! Aber soviel ich auch gestern und heute nachgedacht und mir den Kopf zerbrochen habe, es fällt mir nichts Gescheites ein. Es ist traurig, sogar sehr traurig, denn die Zeit verfliegt ... Ich erwarte Ihren versprochenen Brief. Grüße für Sie, Ihre Frau und das Kleine ...

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HABEN SIE IDEEN?

AN GIOVACCHINO FORZANO Mailand, 1916 Ich habe Tito ganz angelicanisch vom Gift im Salat und dem goldenen Regen erzählt, und er war erstaunt. Ich werde dir morgen wieder schreiben. Hier ist es kalt und um sieben schon dunkel, so dass man mit den Fußgängern zusammenstößt, denn die Lich­ter sind nicht so golden wie in der kleinen Kirche von Angelica. Von jetzt an ist alles Unangelische für mich unwichtig.

AN GIUSEPPE ADAMI Torre del Lago, 27. Juli 1916 Lieber Adami, Es regnet, Gott sei Dank! Ich erhielt die Änderungen. Einige sind gut, andere nicht. Aber das macht nichts. Es sind Kleinigkeiten, die wir in einer Viertelstunde in Ordnung bringen werden. Haben Sie Ideen? Ich suche, aber finde nichts. Und die Komödien? Und das Leben? Was für ein klägliches Leben führt man doch! Ich habe diesen Monat in einem schrecklichen Zustand verbracht! Was für eine zwecklose Sache ist doch die Kunst! Aber für uns ist sie eine Notwendigkeit, für Geist und Körper! Herzliche Grüße an alle ...

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J EA N-PAU L SA RT R E

GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT FÜNFTE SZENE (AUSZUG) GARCIN Ich bin zu früh gestorben. Man hat mir nicht die Zeit gelassen, meine Taten auszuführen. INÉS Man stirbt immer zu früh – oder zu spät. Und nun liegt das Leben da, abgeschlossen; der Strich ist gezogen, fehlt nur noch die Summe. Du bist nichts andres als dein Leben. GARCIN Schlange! Du hast für alles eine Antwort. INÉS Komm! Komm! Verlier nicht den Mut. Es sollte dir leichtfallen, mich zu überzeugen. Such nach Argumen­ten, streng dich an! Garcin zuckt die Ach­ seln. Na? Na? Ich hatte dir gesagt, dass du verletzbar bist. Oh! Wie du jetzt büßen wirst. Du bist ein Feigling, Garcin, ein Feig­ling, weil ich es so will. Ich will es so, hörst du, ich will es! Und trotzdem, sieh doch, wie schwach ich bin, ein Hauch; ich bin nichts als der Blick, der dich sieht, als die­ses farblose Denken, das dich denkt. Er geht mit offenen Händen auf sie zu. Ha! Sie öffnen sich, diese großen Männerhände. Aber was erhoffst du denn? Gedanken lassen sich mit Händen nicht fangen. Komm, du hast keine Wahl. Du musst mich überzeugen. Ich halte dich gefangen. ESTELLE Garcin! GARCIN Was? ESTELLE Räche dich! GARCIN Wie?

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GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT

ESTELLE Küss mich, du wirst sie jaulen hören. GARCIN Das stimmt tatsächlich, Inés. Du hältst mich ge­fangen, aber ich dich auch. Er beugt sich über Estelle. INÉS stößt einen Schrei aus Ha! Feigling! Feigling! Ja! Lass dich von Frauen trösten. ESTELLE Jaul nur, Inés, jaul nur! INÉS Was für ein schönes Paar! Wenn du seine große Flosse auf deinem Rücken sehen könntest, die das Fleisch und den Stoff knetet. Er hat feuchte Hände; er schwitzt. Er wird einen blauen Abdruck auf deinem Kleid hinterlas­sen. ESTELLE Jaul nur! Jaul nur! Drück mich stärker an dich. GARCIN Sie wird platzen. INÉS Aber ja, drück sie stärker, drück sie! Vermischt eure Körperwärme. Das ist was Schönes, die Liebe, nicht, Gar­cin? Das ist mild und tief wie der Schlaf, aber ich werde dich am Schlafen hindern. GARCIN macht eine Gebärde ESTELLE Hör nicht auf sie. Nimm meinen Mund; ich ge­höre ganz dir. INÉS Na los, worauf wartest du? Tu, was man dir sagt. Garcin, der Feigling, umarmt Estelle, die Kindesmörde­ rin. Worum wollen wir wetten? Wird Garcin, der Feig­l ing, sie küssen? Ich sehe euch, ich sehe euch; ich bin ganz allein eine Menge, die Menge, Garcin, die Menge, hörst du? Murmelnd: Feigling! Feigling! Feigling! Feigling! Du fliehst umsonst vor mir, ich lasse dich nicht los. Was suchst du auf ihren Lippen? Das Verges­sen? Aber ich werde dich nicht vergessen. Mich musst du überzeugen. Mich. Komm her, komm! Ich warte auf dich. Du siehst, Estelle, er lockert seine Umar­mung, er gehorcht wie ein Hund ... Du wirst ihn nicht kriegen!

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J EA N-PAU L SA RT R E

GARCIN Wird es denn nie Nacht? INÉS Nie. GARCIN Du wirst mich immer sehen? INÉS Immer. GARCIN lässt Estelle los und macht einige Schritte im Zimmer; er nähert sich der Bronzefigur Die Bronze­figur ... Er streichelt sie. Tja, das ist der Moment. Die Bronzefigur ist da, ich betrachte sie, und ich begreife, dass ich in der Hölle bin. Ich sage euch, alles war vorge­sehen. Sie hatten vorgesehen, dass ich vor diesem Kamin stehen und meine Hand auf diese Bronzefigur drücken würde, vor all diesen auf mich gerichteten Blicken. All diesen Blicken, die mich auffressen ... Er dreht sich plötzlich um. Ha! Ihr seid nur zwei? Ich dachte, ihr wäret mehr. Er lacht. Also das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt ... Wisst ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost ... Was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nö­tig, die Hölle, das sind die anderen. ESTELLE Liebster! GARCIN stößt sie zurück Lass mich. Sie ist zwischen uns. Ich kann dich nicht lieben, wenn sie mich sieht. ESTELLE Ha! Dann wird sie uns eben nicht mehr sehen. Sie nimmt das Papiermesser vom Tisch, stürzt sich auf Inés und sticht auf sie ein. INÉS wehrt sich lachend Was machst du, was machst du, bist du verrückt? Du weißt doch, dass ich tot bin. ESTELLE Tot? Sie läßt das Messer fallen. Pause INÉS hebt das Messer auf und sticht wild auf sich ein: Tot! Tot! Tot! Weder Messer noch Gift, noch Strick. Es ist schon geschehen, verstehst du? Und wir sind für immer zusammen. Sie lacht

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GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT

ESTELLE lacht schallend Für immer, mein Gott, ist das ko­misch! Für immer! GARCIN sieht beide an und lacht Für immer! Sie lassen sich jeder auf sein Sofa fallen. Langes Schwei­ gen. Sie hören auf zu lachen und sehen sich an. GARCIN steht auf Also, machen wir weiter. Vorhang

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Folgende Seite: MICHAEL VOLLE als MICHELE KOMPARSERIE der WIENER STAATSOPER (IL TABARRO)


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MICHEL FOUCAULT

DIE KUNST DER VERTEILUNGEN Der Disziplinarraum hat die Tendenz, sich in ebenso viele Parzellen zu unterteilen, wie Körper oder Ele­ mente aufzuteilen sind. Es geht gegen die ungewissen Vertei­lungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Indivi­duen, gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung: eine Antidesertions-, Antivaga­bondage-, Antiagglomerationstaktik. Es geht darum, die An­wesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzustel­len; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann; die nützlichen Kommunikationskanäle zu installieren und die anderen zu unterbrechen; jeden Augenblick das Verhalten eines jeden überwachen, abschätzen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und die Verdienste zu messen. Es handelt sich also um eine Prozedur zur Erkennung, zur Meisterung und zur Nutzbarmachung. Die Disziplin organi­siert einen analytischen Raum. Und auch dabei knüpft sie an ein altes architektonisches und religiöses Verfahren an: die Zelle der Klöster. Auch wenn seine Abteilungen nicht äußerlich realisiert werden, ist der Raum der Disziplinen im Grunde immer zellenförmig. Der Körper und die Seele müssen einsam sein, sagte eine bestimm­te Askese: sie müssen sich zumindest zeitweilig der Versu­chung und der Strenge

Gottes aussetzen. »Der Schlaf ist das Bild des Todes, der Schlafsaal ist das Abbild des Grabes ... Obwohl die Schlafsäle gemeinsam sind, sind die Betten so angeordnet und durch Vorhänge so abgeschlossen, dass die Töchter aufstehen und zu Bett gehen, ohne sich zu sehen.« (Reglement pour La communaute des filles du Bon Pasteur; zit. in: Delamare, Traite de Police, III, V, S. 507.)

Aus ÜBERWACHEN UND STRAFEN. DIE GEBURT DES GEFÄNGNISSES, 1975

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OTESSA MOSHFEGH

SO FREI UND GLUCKLICH, DASS DU SINGST Ohne die Kirchenglocken besaßen die Tage im Dorf einen schwermütigen Zauber. Die Leute von Lapvona wachten nicht mehr im Morgengrauen zum Beten auf, sondern schliefen, bis die Hähne krähten, und manche schliefen gern noch länger und standen erst auf, wenn ihnen die Knochen wehtaten, weil sie zu lange im Bett gelegen hatten. Die Dorfbewohner streck­ten und reckten sich, begrüßten die Sonne, dann aßen und tranken sie und traten vor die Tür, um ihren fröhlichen, neuen, blondgelockten Nachbarn einen guten Morgen zu wünschen. Es läuteten keine Glocken, um anzuzeigen, dass es Zeit war, zum Mittagessen von den Feldern nach Hause zu gehen. Die Leute kamen und gingen, ganz wie es ihnen gefiel. All das er­zählte Grigor Ina, als sie in der Sonne im Garten saßen und zu­sammen rauchten. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel besser ich schla­fe«, sagte er, »seit ich weiß, dass meine Zeit mir selbst gehört, nicht der Kirche«. »Ausgezeichnet, Grigor«, sagte Ina und atmete den Rauch tief ein. Grigor hatte eine Pfeife mitgebracht, die er aus Rosen­holz selbst geschnitzt hatte. »Du darfst die Pfeife behalten«, sagte er. »Danke. Sie gefällt mir. Ich kenne die Vögel, die in dem Busch wohnen. Sind sie schon zurückgekehrt nach dem Win­ter?«

»Ja, sie sind wieder da.« »Und singen sie?« »Ja.« »Das ist gut.« »Ina.« Grigor zögerte. Er wusste nicht mehr, wie er mit ihr reden sollte, seit ihr Aussehen sich so drastisch verändert hatte. Für Grigor hatte es den Anschein, als hätte das Christkind das Rad der Geschichte zurückgedreht. Wie war so etwas möglich? Am besten war es wohl, wenn er ganz offen aussprach, was er auf dem Herzen hatte. »Du wirkst so verändert, Ina«, sagte er. »Ich habe mich auch verändert«, antwortete sie. »Ich bin jetzt Mutter.« Grigor sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füll­ten. »Endlich habe ich selbst ein Kind«, sagte sie. Grigor merkte, wie vor Angst ein Nerv an seinem Kiefer zuckte. Was war mit der Nonne? Er konnte die Frage nicht stel­len. Er atmete den Rauch ganz tief ein, hielt die Luft an und ließ die Frage auf sich beruhen. »Ich dachte, die ganze Kirche wäre korrupt«, sagte er. »Aber du meinst, Christus gibt es wirklich?« »Vergiss die Kirche.« »Ich versuch’s. Wusstest du, dass Ivans Männer sie abgerissen haben?« Ina war das egal. Sie wischte sich die Tränen ab, lehnte sich mit dem Rücken an die steinerne Mauer des Schlosses

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SO FREI UND GLÜCKLICH, DASS DU SINGST

und ließ die Hände auf ihrem runden Bauch ruhen. Die Bienen, Li­bellen und Schmetterlinge schienen im Garten für sie zu tan­zen und summten ihr ein schönes Frühlingslied. Grigor sah, dass Feuchtigkeit aus ihren Brustwarzen ausgetreten war. Ihre Brüste waren schwer. »Ich gebe dem Christkind Milch, ich halte es auf dem Arm, ich singe ihm was vor. Ich mache alles«, sagte sie. »Schön, schön«, erwiderte Grigor. »Du musst so glück­lich sein.« Und er sah, dass es stimmte. Er wollte Ina weiter davon erzählen, wie Ivans Männer die Kirche auseinander­ge­-nom­men und die Steine benutzt hatten, um einen großen Brunnen mit einer Fontäne auf dem Marktplatz zu bauen. Er hatte Ina mitteilen wollen, dass er auch glücklich war, weil er wahre Freiheit gefunden hatte. Er wollte ihr erzählen, dass er sich wie neugeboren fühlte. Aber als sie nun neben ihm saß, wurde Grigor klar, dass er ihr das alles nur verkünden wollte, um die Leere zu füllen, die herrschte, seit so viel verschwun­den war. Es war einsam in Lapvona. Es gab keine Kirche und auch keinen nennenswerten Gott mehr. Niemand betete. Alle redeten nur über sich selbst. Hätte Grigor es nicht erwähnt, hätten sie das Christkind schon lange vergessen. Niemand glaubte, dass es sich um den wahren Messias handelte, weil niemand mehr an den Erlöser glaubte. Aber Grigor hatte nicht völlig aufgegeben. Etwas Heiliges gab es noch. In diesem Au­genblick wurde ihm klar, dass das Heilige Ina selbst war. »Ich liebe dich«, sagte er zu Ina und reichte die Pfeife an sie weiter. Sie sah ihn mit einem milden, rätselhaften Gesichtsaus­druck an. »Ich würde dich ja wieder saugen lassen«, antwor­ tete Ina, »aber meine Milch gehört jetzt Christus.«

Sie nahm Grigors Hand und übertrug ihm so etwas von ih­rer göttlichen Kraft. Grigor spürte, wie ihre Kraft durch die Haut in sein Fleisch und seine Knochen eindrang. Sie breitete sich in seiner Hand und seinem Arm aus, floss über seine Schulter und Brust und machte an seinem Herzen Halt. Ihm war mit einem Mal sehr heiß. Er atmete tief ein. »Was machst du mit mir, Ina?«, fragte er. »Öffne dein Herz«, sagte sie. »Das ist leider gebrochen.« »Würdest du mir aufmachen, wenn ich an deine Tür klopfte?« »Natürlich würde ich das.« »Auch wenn die Tür kaputt wäre?« »Ich würde es versuchen.« Mittlerweile pulsierte Grigors ganzer Arm. Sein Herz pochte laut und stark. Ina griff auch nach seiner anderen Hand. Er konnte sich nicht gegen Ina wehren. Sie überwältigte ihn, und die Kraft Gottes floss in seinen Körper wie ein Ausschlag, der sich auf seiner Haut ausbreitete, und er spürte, wie sein Herz immer größer wurde und dann aussetzte. Er wartete, dass es wieder anfing zu schlagen. Er blickte Ina in die Augen. »Wenn du Gott nicht in dein Herz lässt, stirbst du«, sagte Ina. »Das bringt die Menschen um. Nicht Alter oder Krank­heit. So, und jetzt mach auf.« »Willst du mich umbringen?«, fragte Grigor. Ihr Händedruck wurde stärker. » Soll ich?«, fragte sie. »Nein«, antwortete Grigor, ohne nachzudenken. Ina lächelte. Sein Herz schlug wieder, langsam und gleichmäßig. Ina küsste ihn auf die Wange. Es war geschehen. Er errötete. Ina steckte die Rosenholzpfeife in ihren Ausschnitt und stand auf.

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SO FREI UND GLÜCKLICH, DASS DU SINGST

»Komm, ich zeige dir das Kind«, sagte sie. Sie half Grigor auf die Füße und küsste ihn wieder. Hand in Hand traten sie durch die Küchentür ins Schloss. Marek war fast auf dem Berggipfel angekommen. Er war selbst erstaunt über seine Kraft und Ausdauer. Anfangs hatte ihm der Säugling die Energie gestohlen, aber jetzt schien er ihn an­z utreiben, damit er es bis oben zu den Klippen schaffte. Er drückte das Kleine ans Herz und sah zu Boden, ob er seine alten Fußabdrücke noch fand, aber es war nichts mehr zu se­hen. Plötzlich erblickte er in den Zweigen eines Forsythienbu­sches Jacobs alten Bogen und dann, noch ein Stück weiter, ganz oben auf der Klippe, Jacob selbst. Es war nicht sein Geist, auch nicht sein Grab, nur sein Skelett. Die Knochen waren rei­nes Weiß und zu einem Haufen zusammengeschoben. Der Schädel fehlte. Marek vermutete, dass er die Klippe herunter­gerollt war oder dass ein Geier ihn abgerissen und irgend­wohin mitgenommen hatte, wo er sich ungestört daran laben konnte. Jude musste den Leichnam als Opfer dort abgelegt haben, dachte Marek. Er musste gehofft haben, Gott damit zu besänftigen. Das Baby drehte sich in Mareks Jacke. Marek blickte hinun­ter in sein Gesicht und drückte es an sich. Es stimmte, dass ein Kind etwas sehr Wertvolles war. Es gab niemanden, der von der Schönheit eines Babys nicht hypnotisiert wäre. Das Kind war so perfekt und klein. Es zu werfen, wäre einfach. Marek knöpfte seine Jacke auf und holte das Baby heraus in die Sonne. Es lächelte und streckte die Händchen nach dem Gesicht sei­nes Bruders aus.

»Hab keine Angst«, sagte Marek. »Der Tod ist nicht das Ende. Du wirst auferstehen. Die Vögel im Himmel sind Engel. Du musst nicht bei diesen Ungeheuern auf der Erde wohnen. Dort oben hast du es viel besser. Du wirst schon sehen, du wirst schon sehen. Im Himmel bist du so frei und glücklich, dass du singst.«

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MICHAELA SCHUSTER als FÜRSTIN KIND der OPERNSCHULE der WIENER STAATSOPER (SUOR ANGELICA) Übernächste Seite: KATLEHO MOKHOABANE als LIEDERVERKÄUFER (IL TABARRO)


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KH T OE PO FZ D EOIRL EW . A D O R N O / M I N I M A M O R A L I A

NICHT BLOSS DIE OBJEKTIVE MÖGLICHKEIT – AUCH DIE SUBJEKTIVE FÄHIGKEIT ZUM GLÜCK GEHÖRT ERST DER FREIHEIT AN. 87


AMBROGIO MAESTRI als GIANNI SCHICCHI (GIANNI SCHICCHI)

IMPRESSUM GIACOMO PUCCINI

IL TRITTICO SPIELZEIT 2022/23 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion SERGIO MORABITO & NIKOLAUS STENITZER Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz IRENE NEUBERT Lektorat MARTINA PAUL Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE / ORIGINALBEITRÄGE Nikolaus Stenitzer: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) / Nikolaus Stenitzer: Über dieses Programmbuch / Philippe Jordan: Gianni Schicchi komponiert Puccini – »Liebe ist etwas, das keine Zukunft kennt.« / Nikolaus Stenitzer im Gespräch mit Tatjana Gürbaca / Arnold Jacobshagen: Experimentelle Dreierdramaturgie / Marina Frenk: dazwischen / Andreas Láng: Die Verselbstständigung der einzelnen Trittico-Teile am Beispiel der Wiener Staatsoper ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Nikolaus Stenitzer: Puccinis Lektüren auf dem Weg zum Trittico. Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrages aus Opernring 2, No. 27, September 2023 / Michel Foucault: Die gelehrigen Körper, Die Kunst der Verteilungen, Die Kontrolle der Tätigkeit, alle aus: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen von Walter Seitter © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1976 / Dider Gold: Der Mantel, aus dem Französischen übersetzt von Nikolaus Stenitzer / Dante: Inferno, Dreißigster Gesang sowie Anonimo Fiorentino: Kommentar zu Dantes Inferno, übersetzt von Hartmut Köhler, © 2021 Philpp Reclam jun. Verlag GmbH / Jean-Paul Sartre: Geschlossene Gesellschaft, aus dem Französischen von Traugott König, Copyright © 1949, 1954 by Rowohlt GmbH, Hamburg, Copyright © der neuen Übersetzung 1986 / Otessa Moshfegh: Lapvona. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger, © Otessa Moshfegh 2022, © der deutschen Ausgabe Carl Hanser Berlin 2023 BILDNACHWEISE Coverbild: Chema Madoz, Sin Título, 2004 © Bildrecht, Wien 2023 / Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin / Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Die Produktion wird gefördert von


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