Opernring 2 | Jänner 2024

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Das MONATSMAGAZIN

KS ERWIN SCHROTT

№ 31

JÄNNER 2024


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INHALTSVERZEICHNIS

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DAS FRAGEZEICHEN HINTER DEM SONNENUNTERGANG SIMONE YOUNG ÜBER LA FANCIULLA DEL WEST

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EIN ASPIRIN GEGEN NIVELLIERUNG FLORIAN BOESCH IM GESPRÄCH

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»ALLES MUSS IN EINEN VAN!« DIE MOBILE JUGENDOPER ELEKTRISCHE FISCHE

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ZAUBERREICH OPER KS ERWIN SCHROTT IM INTERVIEW

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MYTHOS MEDEA? VON SERGIO MORABITO

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.34

DIE MUSIK MACHT SICH PRAKTISCH IMMERFORT SELBSTSTÄNDIG IM GESPRÄCH MIT ARIBERT REIMANN

DEBÜTS

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»THE FOUNDATION IN ORDER TO INNOVATE« WAS BALLETT SEIN KANN

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LEBENSMOTTO: MUSIK SABINE DEVIEILHE IM INTERVIEW

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SCHLAGLICHTER

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PINNWAND


ANDREAS LÁNG IM GESPRÄCH MIT SIMONE YOUNG

DAS FRAGEZEICHEN HINTER DEM SONNENUNTERGANG GI ACOMO P UC CI N IS M EIS T ER PA RT I T U R LA FANCIULLA DEL WEST KEHRT ZURÜCK

Puccinis Œuvre lässt sich in zwei Gruppen gliedern: Auf der einen Seite stehen die unzerstörbar populären Werke Bohème, Butterfly, Tosca, Turandot, und auf der anderen Seite die ungerechtfertigterweise etwas vernachlässigten Stücke wie Manon Lescaut, Trittico oder Fanciulla del West (an der Wiener Staatsoper allesamt im Repertoire!). Insbesondere Das Mädchen aus dem goldenen Westen, wie die Fanciulla hierzulande hieß, ehe die Originalsprachigkeit Einzug hielt, hat einen besonders schweren Stand. Und das, obwohl namhafte Persönlichkeiten wie Anton Webern oder Heinrich Mann eine Lanze für die Partitur brachen. Auch die weltweit gefeierte Dirigentin Simone Young gehört zu den absoluten Bewunderinnen dieses späten Puccini-Opus, das sie seit Beginn ihrer Karriere begleitet. Anlässlich der Wiederaufnahme der hochgelobten Marelli-Produktion im Jänner sprach sie mit Andreas Láng über diese im amerikanischen Goldgräber-Milieu angesiedelte »Western-Oper«. 2


S I M O N E YO U N G Fo t o S A N D R A S T E H

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Giacomo Puccini selbst war stolz auf seine Fanciulla del West, sah in ihr seine bis dahin gelungenste Oper. Trotzdem bleibt das Werk bis heute eine Rarität. Warum?

sy Puccini hatte absolut Recht, die Fanciulla kommt meines Erachtens gleich nach der Bohème! Das Problem ist, dass das Werk schwer zu besetzen ist – man benötigt nämlich gleich drei ebenbürtig hochkarätige Sänger für

die enorm herausfordernden Hauptpartien Minnie, den Räuber Dick Johnson und den Sheriff Jack Rance. Herausfordernd sind aber auch die vielen kleineren Rollen, die aus dem Ensemble besetzt werden müssen, 3


DAS FRAGEZEICHEN HINTER DEM SONNENUNTERGANG

L A FA N C I U L L A D E L W E S T

S z e n e n b i l d , W i e n e r S t a a t s o p e r, 2 0 1 3 Fo t o s M I C H A E L P Ö H N

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DAS FRAGEZEICHEN HINTER DEM SONNENUNTERGANG

genauso der Herrenchor und der hochkomplexe Orchesterpart. Kurzum: Anders als etwa die erwähnte Bohème, die auch in kleineren Häusern auf einem guten Stadttheater-Niveau realisierbar ist, bleibt die Fanciulla aufgrund der Anforderungen immer eine Aufgabe für die allerersten Bühnen. Dazu kommt, dass sich auch die Regisseurinnen und Regisseure schwer tun mit der Geschichte: Das beginnt mit dem Spaghetti-Western-Ambiente, dem man nicht zu sehr anhängen sollte, und endet bei Details wie den beiden amerikanischen Ureinwohnern Billy Jackrabbit und Wowkle, die heute keinesfalls mehr billigen Klischeebildern entsprechen dürfen. Meine erste Fanciulla habe ich in Los Angeles dirigiert – mit unter anderem Plácido Domingo, Catherine Malfitano und Wolfgang Brendel – da ging es hoch her mit zahlreichen, auf echten Pferden reitenden Cowboy-Statisten aus Hollywood, die entweder effektvoll aus den Logen purzelten oder sich als versierte Scharfschützen produzieren konnten. Wildwest pur! So etwas wirkt heute nur mehr unfreiwillig komisch und verstellt zudem den Blick auf die eigentlichen, großen Themen, die hier transportiert werden sollen. Regisseur Marco Arturo Marelli gelang in der aktuellen Staatsopernproduktion der Spagat, einerseits die Geschichte zu erzählen und andererseits das Essenzielle herauszuarbeiten. Das Publikum ist hier nicht der passive Zuschauer eines John-Wayne-Films, sondern fühlt sich, nicht zuletzt durch die zeitliche Versetzung der Handlung, unmittelbar angesprochen. al Was macht denn nun die besondere Qualität dieser Oper aus? sy Eine der großen Stärken Puccinis liegt in seiner Fähigkeit, mit nur wenigen Takten eine bestimmte Atmosphäre auf die Bühnen zu zaubern. Viele kennen den Beginn des dritten Bilds in der Bohème: Flöte, Harfe und ein bisschen Pizzicato der Streicher – scheinbar nichts Aufregendes, und trotzdem fühlt und riecht jeder im Publikum augenblicklich den Schneefall, der auf der Bühne zu sehen ist. Ähnliches finden wir hier in der Fanciulla. Allein die Wirkung, die Puccini am Beginn des dritten Aktes mit den simplen, aber dennoch illustrativen Kontrabassfiguren erreicht, ist für sich gesehen schon genial. Vergleichbares finden wir erst bei Benjamin Brittens Sommernachtstraum wieder. Oder die Pokerszene im zweiten Akt, die ganz viel moderne Filmmusikdramaturgie vorwegnimmt – mit dieser Passage schreibt Puccini Musiktheatergeschichte. Überhaupt ist der Orchestersatz insgesamt phänomenal: Hier transparent kammermusikalisch mit dem feinsten Einsatz diverser Soloinstrumente, was an den späten Strauss oder Korngold erinnert, dort ein reich ausgefüllter, im positiven Sinn wolkenhafter Klang, der aber dennoch im Pianissimo zu erklingen hat, dann wieder die gesamte, beeindruckende Wucht des Orchesterapparats. Und auf einmal duftet es wieder von Debussy und Ravel inspiriert impressionistisch. Es ist die Arbeit eines reifen Genies, die in Tabarro und Suor Angelica ihre Fortsetzung findet. Dazu kommt eine geradezu Shakespeare’sche Charakterisierungskunst: Es gibt kein Schwarz-Weiß, jeder hat Fehler und Vorzüge. Der eine ist bestechlich, der andere behandelt seine Wohltäterin Minnie wie eine fühllose Ware. Alle können selbstlos hilfsbereit gegen den einen und im selben Augenblick unfassbar unbarm5


DAS FRAGEZEICHEN HINTER DEM SONNENUNTERGANG

herzig gegen den anderen sein. Rance ist sicherlich ein guter Sheriff, der für Ordnung sorgt, aber seine Brutalität, seine Vergeltungssucht sind beängstigend. Der Tenorheld Dick Johnson ist wiederum trotz allem nur ein Räuber – ob er wirklich nie jemanden umgebracht hat, wie er behauptet, sei dahingestellt. Selbst Minnie, das Vorbild aller, zeigt sich in der Pokerszene als gewiefte Falschspielerin. Und all diese Vielschichtigkeit, diese Ambivalenz finden wir in den dunklen Farben der Partitur wunderbar wieder, in den stetig wechselnden Phrasen und Figuren, den Rubati, dem unentwegten Stop-and-Go in der Musik, die dafür sorgt, dass nur selten mehr als zwölf Takte in einem

jedem Hoffnung gespendet hat. Nicht umsonst hört man vom Chor am Ende dieses »mai più, mai più« – denn Minnie kommt nicht wieder. Ich finde es übrigens beeindruckend, dass Puccini es in der damaligen Zeit gewagt hat, in der Fanciulla einmal kein ganz junges Mädchen als Heroine auf die Bühne zu stellen. Das war absolut unüblich! al Wie amerikanisch ist nun Fanciulla del West? Puccini stellt in einem der Interviews zu diesem Stück fest, den Geist des amerikanischen Volkes eingefangen zu haben. sy Was ist amerikanisch? Wie amerikanisch kann ein Europäer sein? Er kann bestenfalls ein europäi-

GIACOMO PUCCINI

LA FANCIULLA DEL WEST 7. 10. 12. 15. JÄNNER 2024 WIEDERAUFNAHME Musikalische Leitung SIMONE YOUNG Inszenierung, Bühne & Licht MARCO ARTURO MARELLI Kostüme DAGMAR NIEFIND Mit MALIN BYSTRÖM / ROBERTO FRONTALI / YONGHOON LEE / CARLOS OSUNA / DAN PAUL DUMITRESCU / ATTILA MOKUS / THOMAS EBENSTEIN / STEPHANO PARK / JACK LEE / ANDREA GIOVANNINI / KATLEHO MOKHOABANE / CLEMENS UNTERREINER / ILJA KAZAKOV / DARIA SUSHKOVA / NIKITA IVASECHKO / AGUSTÍN GÓMEZ

Tempo durchlaufen. Mit anderen Worten: Die szenische Aktion und die Musik sind so eng verzahnt, dass ich mir eine konzertante Aufführung der Fanciulla gar nicht vorstellen kann. al Die Tenor-Arie im dritten Akt »Ch’ella mi creda« ist gewissermaßen von Puccini nachgereicht worden. Wirkt dieser »Einschub« nicht wie ein Fremdkörper? sy Finde ich gar nicht. Puccini war nicht nur ein genialer Komponist, sondern auch ein genialer Musikdramaturg. Die Arie ist gut platziert – nach der hektischen Jagd auf Dick und vor dem dramatischen Wiederauftritt Minnies – und gibt dem Publikum einen zweieinhalb Minuten dauernden Ruhepol, der sich noch dazu als Schlager eignet. al Fanciulla del West ist keine typische Puccini-Tragödie, ebensowenig eine Komödie à la Gianni Schicchi oder ein Märchen wie Turandot. Was ist es dann? Immerhin haben wir ein Happy End. sy Aber ein Happy End mit einem sehr großen Fragezeichen. Sicher, Dick Johnson und Minnie reiten – hier in Wien schweben sie – gewissermaßen in den Sonnenuntergang davon. So weit, so gut. Was aber mit ihnen weiter passiert, ob sie nicht sehr bald zugrunde gehen, weiß niemand. Und all die anderen, die ganze Goldgräber-Community inklusive dem unglücklich liebenden Sheriff, verlieren mit Minnie ihre Lichtgestalt, die alles zusammengehalten hat, die

scher Amerikaner sein. Sicher haben diese unendlich scheinenden Horizonte der Prärien, die es bei uns so nicht gibt, viele Künstler beschäftigt. Maler, Schriftsteller, Komponisten – denken wir nur an Dvořáks Symphonie Aus der neuen Welt. Aber es war immer der Blick des Europäers, der das ihm ungewohnte Land mit seinen Geheimnissen, die ungewohnten Lichtstimmungen, die unbekannten Völker kulturell verarbeitet hat. Das Thema der importierten europäischen Kultur beschäftigt uns in Australien natürlich ebenfalls. Ich arbeite dort auch mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen, die von den australischen Ureinwohnern abstammen, wobei wir darauf achten, keinerlei kulturelle Übernahme zu betreiben. Diese Möglichkeiten hatte Puccini zu seiner Zeit freilich noch nicht. Eines ist Fanciulla del West aber zu 100 Prozent: Ein echter Puccini. Ein Puccini, der aber so manches vorweggenommen hat, was uns ein bis zwei Generationen später als amerikanischer Sound in den zahllosen Western-Filmmusiken auf niedrigerem Niveau wiederbegegnet. Und an dieser Stelle sollte vielleicht auch noch erwähnt werden, dass Andrew Lloyd Webber sich in seinem Musical Das Phantom der Oper sehr eindeutig aus Fanciulla del West bedient hat. Das heißt, viele, die dieses Musical kennen, wissen gar nicht, dass sie zugleich schon eine zentrale Melodie aus einer Puccini-Oper gehört haben. 6


L A FA N C I U L L A D E L W E S T

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Nachdem Puccini David Belascos Stück The Girl of the Golden West in Amerika gesehen hatte, erwarb er sich die Rechte, um das Schauspiel zur Oper umarbeiten zu dürfen. Aus dem vieraktigen kalifornischen Goldgräber-Melodram rund um Minnie und ihren geliebten, den gesuchten Räuber Dick Johnson, schuf Puccini die dreiaktige Oper La fanciulla del West. Die aktuelle Inszenierung an der Wiener Staatsoper stammt von Marco Arturo Marelli. Ihn bestachen das Milieu, die Andersartigkeit des Stoffes, verglichen mit früheren Puccini-Werken sowie die musikalische Sprache, die der Komponist für dieses Werk entwickelt hatte und so befreite er die Szene vom klischierten WildwestAmbiente, verlegte die Handlung ins Heute und konzentrierte sich auf die soziale Welt der mittellosen Minenarbeiter, die auf der beschwerlichen Suche nach ihrem Lebensunterhalt die Sehnsucht nach etwas Glück nicht vergessen haben.

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KOP F Z E I L E

EIN ASPIRIN GEGEN NIVELLIERUNG F LOR I A N BOE S CH Fo t o C L E M E N S FA B RY

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OLIVER LÁNG IM GESPRÄCH MIT FLORIAN BOESCH

Es gibt eine wiederkehrende Klage in der Kunstwelt, die sich über eine sukzessive Nivellierung in ihren Disziplinen beschwert. Stimmt der Befund? Werden wir immer gleicher, immer flacher, immer mehr Mainstream? Oder ist das nur eine typische O tempora, o moresLeier, wie sie seit der Antike gepflogen wird? Florian Boesch, Musiker, Charismatiker und Denker, stellt sich dieser Frage.

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EIN ASPIRIN GEGEN NIVELLIERUNG

ol

Man hört so oft, dass früher alles außergewöhnlicher, mutiger, persönlicher war. Also, dass wir uns auf hohem Niveau immer mehr auf einen akzeptierten, ungefährlichen, stabilen Das-darf-man-Zustand einengen. Ist das so? fb Ein spannendes Thema! Ich versuche einen ganz persönlichen Zugang: Vor einigen Tagen war ich hier in der Staatsoper in der Turandot, da erlebt man in einer großen Repertoire-Oper die Spitzen der Musikwelt: Asmik Grigorian ist einzigartig und schafft es, auf ihrem Gebiet ihre Disziplin zu transformieren und zu erweitern. Jonas Kaufmann ist ebenso einzigartig, ein Tenor, der das deutsche, italienische und französische Fach über so lange Zeit dominiert und auch noch ein wirklich relevanter Liedsänger ist: das hatten wir so noch nie. Und der Regisseur Claus Guth ist ein Weltmeister, der eine grandiose Produktion geschaffen hat. Und das alles findet innerhalb des berühmten Opernzirkus statt, in dem die Künstlerinnen und Künstler dauernd von A nach B reisen und laufend unterwegs sind. Wo bleibt da eine Nivellierung? ol Sicherlich nicht in besonderen Häusern wie der Wiener Staatsoper. Aber vielleicht gibt es an anderen Orten mitunter eine Tendenz der allgemeinen Gleichmachung? Das Außerordentliche wäre dann die Ausnahme. Eine Momentaufnahme, die blendet. fb Ich würde ja beinhart behaupten, dass Spitzenkunst immer die Ausnahme ist. Sonst wäre sie nicht die Spitze. Und die gibt es zu jeder Zeit. Wir alle suchen diese Ausnahmen; wir versuchen, diejenigen zu finden, die spektakulär, herausragend, eben besonders sind. Aber geht es uns jetzt um jene, die besondere Künstlerinnen und Künstler sind, oder um jene, die besonders sind im Beherrschen einer Fertigkeit? ol Um beide. fb Ganz allgemein gibt es keinen gigantischen Künstler, keine phänomenale Künstlerin ohne eine außerordentliche Beherrschung des Handwerks. Umgekehrt geht das schon: Es existieren unendlich viele großartige Handwerkerinnen und Handwerker, die dennoch keine Kunst machen. Wenn das NurHandwerkliche Kunst würde: dann wäre das eine gewisse Nivellierung. Aber mir fällt noch eine weitere Kategorie ein, die heute für viel Verwirrung sorgt: die Meisterschaft in Likes auf den sozialen Plattformen. Also: Wie beliebt ist man in dieser Medienwelt? Das kann schon, ganz brutal gesagt, zu einer Nivellierung führen, nämlich dann, wenn Institutionen anfangen, den Likes entsprechend zu casten. Nicht die Staatsoper. Aber andernorts. ol Warum eine Nivellierung? Warum ist »beliebt« keine gültige Kategorie? fb Weil es nun einmal a priori die Aufgabe von Kunst und Kultur ist, etwas vorzulegen und nicht, sich danach zu richten, was die anderen wollen. Die

F LOR I A N BOE S CH Fo t o s O L I V E R K A R T A K

»Ich würde ja beinhart behaupten, dass Spitzenkunst immer die Ausnahme ist. Sonst wäre sie nicht die Spitze.«

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EIN ASPIRIN GEGEN NIVELLIERUNG

Auseinandersetzung mit dieser Frage muss schon in der Erziehung und Ausbildung beginnen, im Sinne von: Woran orientieren wir uns? Was ist Erfolg, und was ist er in der Social-Media-Welt? Und was bedeutet das für mich? Denn wenn jemand dort viele Likes hat, denken sich andere: So muss ich mein Leben

auch leben! Die Wirkmächtigkeit dieser Werkzeuge ist enorm. Und sie ist brutal und gefährlich, weil sie unter einer Camouflage daherkommt. ol Wie aber wird man zu einer oben genannten Ausnahme? Denkt sich ein Florian Boesch: Ich suche mir etwas Besonderes und kultiviere das? Oder macht er einfach, was er macht – und hofft, dass das Persönliche dann ausreichend überzeugend und tragfähig ist? fb Diese Frage ist gut. Aber es funktioniert in Wirklichkeit nur, wenn das Bemühen nicht einzig darin besteht, sich abheben zu wollen. Wie schreibt Rüdiger Safranski zum Thema Schopenhauer? »Man sollte das Selbst geschehen lassen. Selbstgeschehenlassen und nicht Selbstaneignung ist das Geheimnis des Schöpferischen.« Sobald eine oder einer eine Besonderheit oder Ausnahmestellung forciert, ist das bereits Selbstaneignung. Man muss es einfach

geschehen lassen. Denn das Besondere, Individuelle, das hat jeder Mensch ohnedies in sich. Das Herausragende eine*r Künstler*in besteht nun darin, dem Gehör zu schenken und zu folgen, es zu entwickeln und den Mut aufzubringen, es zu präsentieren im Sinne von: »Das ist es, das ich zu sagen habe!« Goethe lässt Torquato Tasso sprechen: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.« Das ist es! Dass man, wenn man auf sein Menschsein und die Humanität gestoßen wird, nicht verstummt, sondern etwas damit macht und es bekennt: im Theater, in der Oper, im Konzertsaal. Und dieses Bekenntnis ist das Persönliche, Nicht-Nivellierte, Individuelle. Und genau das ist es, das uns als Zuschauer interessiert. ol In alten Aufnahmen erlebt man immer wieder Künstler*innen, die technisch nicht ganz lupenrein, aber umso persönlicher spielen und singen. Vielleicht ist der Drill in Richtung Perfektion Gift für die Kunst? Vielleicht war Karajan, bei all seiner künstlerischen Größe, zu perfekt? Hat das womöglich – natürlich nicht bei ihm, aber seinen schwächeren Nachahmern – zu einer Nivellierung geführt? fb Wir sind ungefähr gleichaltrig und Sie sind auch in Wien in den 1970er Jahren aufgewachsen. Wir erinnern uns: Die Stadt war damals total grau. Aber: Es entwickelte sich eine Subkultur. Eine Gegenreaktion. Und so ist es ja immer, in allem. Umso stärker ein Zustand, desto klarer entsteht ein Gegenpol. Und aus genau solch einer Gegenreaktion entwickelte sich ein Künstler namens Nikolaus Harnoncourt, der nicht ertragen konnte, wie viele mit Musik umgingen. Und der dem eine Wahrhaftigkeit und Wahrheit entgegensetzte. Was nun das technisch Perfekte anbelangt: Man muss heute einfach härter, genauer, besser arbeiten als früher. Arbeiten, arbeiten, üben, üben! Das ist vielleicht manchmal nervig, doch je besser man technisch ist, desto freier ist man auch: Man muss weniger über das Wie nachdenken und kann sich mehr dem Inhaltlichen widmen. ol Doch wenn man 8000mal dieselbe Passage übt, geht da nicht irgendwann das kreative Feuer aus? fb Ohne Arbeit geht es nicht, weil unser Beruf einfach zu schwer ist und weil die Entwicklung zu einem Standard geführt hat, den wir nicht mehr herunterschrauben können. Aber ich glaube nicht, dass etwas durch ein »Zuviel« verloren gehen könnte. Nehmen Sie den Pianisten Víkingur Ólafsson, der ein Jahr lang nichts anderes spielt als Bachs Goldberg-Variationen. Er schenkt sich dieses Jahr und will ganz bewusst einen Tunnel, will einen unabgelenkten Blick auf nur ein Werk. Das er sicherlich nicht wenig übt. Und: Sein Bach ist eine Offenbarung, ich habe seit Guldas Bach-Interpretationen nichts Vergleichbares gehört. Gleichzeitig ist Ólafsson bei 11


EIN ASPIRIN GEGEN NIVELLIERUNG

Liederabenden unglaublich spontan: Wenn ich zum Beispiel während einer Aufführung eine Phrase anders anlege, ändert er sein Klavierspiel augenblicklich und antwortet mir musikalisch sofort. Eine intensive Konzentration auf einen Aspekt führt also nicht automatisch zu einer Nivellierung. ol Um noch einmal zurückzublicken: Es gab eine Zeit vor den berühmten »Fächern« und Schubladen. Eine Sängerin, ein Sänger konnte nach Herzenslust Rollen ausprobieren. Eine Maria Jeritza musste sich weniger einen Kopf machen, was jetzt ihr spezielles Fach ist. fb Eine Maria Jeritza hatte für die Entwicklung ihrer Karriere Jahrzehnte Zeit. Heute möchte man, dass eine Rosenkavalier-Sophie maximal 24 Jahre alt ist, weil sie in der Oper 15 ist. Ein solches Denken schränkt vieles ein… Ich bin da eher für eine Offenheit: Wer weiß, was Asmik Grigorian noch alles singen wird. Wir wissen nur: Es wird grandios sein! ol Betrifft diese Offenheit auch die Werke an sich? Richard Strauss hat Mozarts Idomeneo stark bearbeitet und 1931 in Wien aufgeführt. Heute würde man solche Adaptierungen sehr naserümpfend betrachten. fb Ich finde es interessant, wenn man sich manchem Werk auf mehreren Arten nähern kann: Historisch unglaublich präzise und genau im Kontext der Entstehungszeit, oder aber sehr frei, mit Umstellungen, Bearbeitungen, vielleicht sogar als Pasticcio. Die Nivellierung bestünde hier in der Falle, die Diversität nicht ausreichend zu feiern und zu fördern. Ein Nebeneinander von Dingen, die sich auch widersprechen können, macht es aus! Wir brauchen ein Spannungsfeld, in dem ein kultureller Diskurs stattfindet und in dem sich ein junger Mensch entscheiden kann: interessiert mich dieses oder jenes? ol Sie waren ein Nikolaus-Harnoncourt-Künstler: Würde er das auch so sehen? Gab es da nicht eine gewisse historische Strenge? fb Das ist ein Irrtum! Das Grandiose an ihm war, dass er eine mächtige Meinung und Idee einer Sache hatte. Dann wurde geprobt und im Konzert bekam man von ihm einen Blick, der lautete: So, jetzt du! Mit anderen Worten: Er hat nicht das exerziert, was geplant und studiert wurde, sondern er hat einfach gemeinsam mit uns Musik gemacht. Mit aller Freiheit! Und er wäre nicht der Musiker gewesen, der er war, wenn er

nicht so offen gewesen wäre. Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte: Vor einigen Jahren traf ich seine Frau, die wunderbare Alice Harnoncourt, und gestand ihr, dass ich mit Ólafsson einen nicht kitschigen, aber sehr romantischen Bach aufführen möchte, mit einem modernen Klavier. Also keine historisch informierte Aufführung. Und sie antwortete ganz selbstverständlich: »Bach hochromantisch? Aber natürlich!« ol Fazit? fb Wir brauchen eine umfassende Bildung, damit sich Kunst nicht einem oberflächlichen Gesellschaftsgehabe unterwirft. Wenn wir zu faul dafür sind und sagen: Es gibt doch eh Instagram, uns einer pseudo- und nicht profunden Oberflächenabbildung der Gesellschaft und des Individuums verschreiben – dann sind wir selbst schuld und das finde ich unerträglich. Daher finde ich, dass alle Studierenden – und Lehrenden! – an den Kunstuniversitäten verpflichtend auch kulturphilosophische Vorlesungen absolvieren sollen. Das hat für mich mit der Aufgabe der Künstler*innen in der Gesellschaft zu tun. Ich sage das ganz hochtrabend: Wir haben für die Gesellschaft die Frage zu erörtern: Wer sind wir? Dieses Wer sind wir? produziert einen Wertekatalog, der wiederum von der Gesellschaft auf die Politik übertragen werden muss. Die Politik soll dann verhandeln, wie wir miteinander leben. Sie selbst aber hat keine Werte zu etablieren. Auch die Philosophie nicht. Die wirkliche Frage des Wer sind wir und was resultiert daraus? ist die Aufgabe der Kunst. Genau dafür sind wir da! Und dann brauchen wir uns auch keine Sorgen um allfällige Nivellierungen machen. Exklusiv für Mitglieder des Offiziellen Freundeskreises der Wiener Staatsoper: Am 13. Jänner 2024 findet im Rahmen von Dialog am Löwensofa um 14.30 Uhr eine weiterführende Diskussion zu diesem Thema statt. Gäste: Simone Young & Florian Boesch → wiener-staatsoper.at/foerdern

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KATHARINA AUGENDOPLER & KRYSZTINA WINKEL

»ALLES MUSS IN EINEN VAN!« ELEKTRISCHE FISCHE – MIT EINER MOBILEN J UGENDOPER AUF TOUR DURCH DIE BUNDESLÄNDER

Es ist ein Anliegen und Bekenntnis der Wiener Staatsoper, ihren Besucher*innen ausgezeichnete und einzigartige Opern- und Balletterlebnisse im Haus am Ring zu bieten. Auch wenn die Staatsoper bereits ein breites Kinderopern- und seit letzter Saison auch ein Jugendopernprogramm in Wien anbietet, welches im Rahmen eines Schulausflugs von Klassen aus ganz Österreich besucht wird, bleibt anderen Schüler*innen der Genuss eines Staatsopern-Live-Erlebnisses aufgrund der Entfernung oftmals verwehrt. Das möchte die Wiener Staatsoper ändern.

D a s E n s e m b l e b e i m Wo r k s h o p i m R a h m e n d e r Vo r p r o b e n Fo t o M I C H A E L P Ö H N

In Koproduktion mit Jeunesse – Musikalische Jugend Österreichs und dem niederländischen Partner Oorkaan hat die Wiener Staatsoper nun eine mobile Jugendoper in Auftrag gegeben. Der Jugendroman Elek­ trische Fische von Susan Kreller und dessen Schauspielbearbeitung von Barbara Kantel und Branko Janack bilden die Vorlage für die Neuentwicklung, die ab Jänner 2024 auf Tour durch die Bundesländer gehen wird. Die junge Komponistin Hannah Eisendle schrieb die Musik: Sie komponierte

für Cello, Percussion, Klarinette sowie zwei Stimmen, Sopran und Tenor. Ergänzt hat Eisendle diese Klangwelt durch elektronische Soundscapes. Das Besondere: Die Trennlinien von Instrumentalist*innen und Darstellenden verschwimmen. Alle fünf Künstler*innen sind unter der Regie der niederländischen Regisseurin Kenza Koutchoukali als Performer*innen auf der Bühne. Unter dem Vorzeichen, »dass alles in einen Van passen muss«, konzipierte Mah­shad Safaei eine mobile Ausstattung. Und worum geht es in dem Werk? Elektrische Fische erzählt die Geschichte der 13-jährigen Emma, die mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern von Dublin in einen kleinen Ort in Mecklenburg-Vor­pommern ziehen muss. Der abrupte Orts­ wechsel bereitet ihr großen Kummer, sie vermisst ihre Großeltern, die englische Sprache und auch die von zu Hause gewohnten Teesäckchen, die in Deutschland ganz anderes aussehen. Gemeinsam mit ihrem neuen Schulfreund Levin schmiedet sie einen Plan, wieder zurück in ihre Heimat zu kommen. Das Meer als Verbindung und Trennung der beiden durch Emmas Lebensgeschichte verbundenen Orte bekommt auf einmal eine weitere Bedeutung, als Levins Mutter in den Fluten zu ertrinken droht und Emma im richtigen Moment reagiert. Elektrische Fische handelt von Umbrüchen, Heimweh, Familie und Freundschaft und sucht Antworten auf die Fragen »Was bedeutet Heimat für dich?« und »Welche Rolle spielen die Menschen um dich herum, damit du dich zu Hause fühlen kannst?« Premiere feiert die mobile Jugendoper am 26. Jänner 2024 in Zwettl. Weitere Aufführungen sind im April in Gmunden und ab der nächsten Saison in weiteren Bundesländern Österreichs zu erleben. Die gute Nachricht: Auch Wiener*innen müssen nicht mehr allzu lange auf das Stück warten. 13


E RW I N S C H RO T T Fo t o T H O M M Y M A R D O

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OLIVER L ÁNG IM GE SPR ÄCH MIT KS ERWIN SCHROT T

ZAUBER- REICH OPER KS Erwin Schrott ist ein kleines Universum für sich. Man kennt ihn in erster Linie – natürlich – als Opernsänger. Aber auch als Solist in Konzerten. Er besticht als charismatischer Darsteller. Und nicht zuletzt als ebenso fokussierter wie engagierter Gesprächspartner, der das Detail wie auch das Umfassende in der Musik anspricht. Als Giovanni da Procida steht er nun in der Wieder­ aufnahme von Verdis großformatiger Oper I vespri siciliani abermals auf der Staatsopernbühne. Und machte sich im Interview Gedanken über die Oper – aber auch über die Musik und den Kulturbetrieb als solchen. 15


ZAUBERREICH OPER

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Sie sangen die Rolle des Procida vor über zehn Jahren zum ersten Mal. Im Grunde ist die Figur also ein alter Bekannter. es Zehn Jahre sind im Grunde genommen nichts, um eine komplexe Figur wie Procida zu entwickeln und die Technik zu verfeinern, die die einzigartige Musik von Verdi fordert. Seit Beginn der Auseinandersetzung mit diesem Meisterwerk habe ich die Entscheidung getroffen, die Rollen, die ich gegenwärtig und zukünftig singen möchte, sehr sorgfältig auszuwählen. Wobei: Ein Repertoire sorgfältig, mit Präzision und Bescheidenheit zu wählen war mir seit Be-

cida war ohne Zweifel eine Schlüsselfigur in einer Zeit, die die Welt, in der wir heute leben, geprägt hat. Während meiner Suche, ihn zu verstehen und kennenzulernen, entdeckte ich interessante historische Schichten, die mir seine Motivationen für die Revolution klar machten. Ich entdeckte Parallelen zwischen den Herausforderungen unserer und der damaligen Zeit – und das macht diese Figur heute so lebendig. Sein eröffnendes »O tu, Palermo«, das die Liebe und den Stolz auf das eigene Land und die Kultur verkörpert, führt ihn in die Handlung ein. Ich erkannte, dass wir auch heute Menschen mit den-

GIUSEPPE VERDI

I VESPRI SICILIANI 13. 16. 19. 22. JÄNNER 2024 WIEDERAUFNAHME Musikalische Leitung CARLO RIZZI Inszenierung, Ausstattung & Licht HERBERT WERNICKE Mit IGOR GOLOVATENKO / JOHN OSBORN / ERWIN SCHROTT / RACHEL WILLIS-SØRENSEN / SIMONAS STRAZDAS / HANS PETER KAMMERER / SZILVIA VÖRÖS / NORBERT ERNST / TED BLACK / MICHAEL ARIVONY

ginn meiner Karriere ein leitender Grundsatz. Diese Herangehensweise bot mir die Möglichkeit, tiefer in jede musikalische Nuance einzutauchen und mir jene Zeit zu nehmen, die es braucht, jedes einzelne Wort ebenso akribisch wie einen Diamanten zu formen. So will ich jede Aufführung zu einem einzigartigen Erlebnis für das Publikum machen! Diese künstlerischen Entscheidungen bestimmen nicht nur meine stimmliche Reise, sondern auch den Respekt, die Empathie und das Verständnis bei der Interpretation von Charakteren wie Procida, Scarpia, Méphistophélès. Es war mir immer wichtig, meine Stimme gesund zu halten und dennoch in der Lage zu sein, in jeder Vorstellung hundert Prozent zu geben. Dafür aber brauche ich viel Zeit zum Lernen: Selbst wenn ich denke, dass ich auf dem richtigen Weg bin, werde ich wahrscheinlich immer wieder von vorne anfangen, um aus meiner Komfortzone auszubrechen und neue Möglichkeiten zu erforschen. Es gibt immer Raum für Verbesserungen, daher gibt es immer die Notwendigkeit zu lernen, zu lernen und zu lernen. ol Was hat Ihnen Procida als Bühnencharakter beigebracht? es In Procida fand ich eine Kraft, eine inspirierende Figur, ja, eine Offenbarung, die über historische Grenzen hinausgeht und in das Innerste des menschlichen Geistes vordringt. Er war einer, der alles für Gerechtigkeit und Freiheit gab. Und die Bedeutung von Freiheit und Gerechtigkeit hat sich im Laufe der Zeit nicht stark verändert, auch heute würden Menschen alles dafür opfern. Er könnte also durchaus eine exponierte Rolle in unserer heutigen Welt spielen. Ob wir ihn nun als politischen Guru oder als seltsamen Charakter wahrnehmen: Pro-

selben Prinzipien finden könnten, und dies macht deutlich, dass die Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit eine ewige Fackel ist, die mit ihrem Licht unser ganzes Dasein erleuchtet. ol Es gibt eine französische und eine italienische Version der Oper. Was sind die Stärken der italienischen Version, die an der Wiener Staatsoper erklingt? es Ich lade die Leserinnen und Leser dieses Magazins ein, in beide Versionen einzutauchen und sich in beide Fassungen zu vertiefen. Ich lade Sie alle ein, die einzigartige sprachliche Reise in jeder Darbietung zu erleben und beiden Versionen zu erlauben, Sie emotional zu überraschen. Lassen Sie Ihre Ohren die Feinheiten unterscheiden und entdecken – und Sie werden feststellen, dass es nicht darum geht, welche besser ist. Es geht um den magischen Tanz zwischen Worten und Musik. Die italienische Version mit ihrer leidenschaftlichen Resonanz kann Sie in eine andere emotionale Welt ziehen als die französische Fassung, in der sprachliche Feinheiten eine besondere Melodie erschaffen. Genießen Sie also beide Versionen, lassen Sie die Schönheit von Sprache und Musik verschmelzen. Sie bieten eine Symphonie von Unterschieden, die das Gesamterlebnis bereichert. ol In dieser Oper gibt es nicht einen oder zwei Hauptcharaktere, sondern vier. Ändert das etwas an Ihrer Herangehensweise? In dem Sinne, dass Sie eher wie in einem Netzwerk agieren müssen? es Teamarbeit macht einen Traum wahr! Für mich hat diese Handlung einen fesselnden Effekt, wie ein »Heist-Film«, etwa Ocean’s Eleven. In Ves­ pri wird man in eine Welt eingeführt, in der jeder 16


ZAUBERREICH OPER

E RW I N S C H RO T T a l s E S C A M I L L O i n C A R M E N Fo t o M I C H A E L P Ö H N

KS ERWIN SCHROTT Es ist fast 25 Jahre her, dass Erwin Schrott an der Wiener Staatsoper debütierte: als Banquo in Giuseppe Verdis Macbeth, man schrieb das Jahr 1999. 2024 kann er auf einhundert Staatsopern-Abende zurückblicken, ist Träger des Kammersänger-Titels und gestaltete im Haus am Ring zahlreiche wichtige Partien: Enrico VIII. in Anna Bolena, Escamillo in Carmen, Scarpia in Tosca, Figaro und Graf Almaviva in Le nozze di Figaro, Leporello in Don Giovanni, Alidoro in La cenerentola, Méphistophélès in Faust und Dulcamara in Lʼelisir dʼamore. Geboren in Montevideo, stand Schrott schon als Kind auf der Opernbühne, bevor er seine offizielle Karriere in Umberto Giordanos Andrea Chénier eröffnete. Der Preisträger zahlreicher Wettbewerbe ist Exklusivkünstler bei Sony Classical (sein Album Rojotango erreichte 2011 weltweite Anerkennung und wurde mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet). Engagements führen ihn um die ganze Welt, neben seiner Arbeit als Opernsänger widmet er sich Wohltätigkeitsorganisationen, die Kindern in Not helfen.

Charakter etwas Besonderes mitbringt. Da gibt es die edle und mitfühlende Elena, den leidenschaftlichen und idealistischen Arrigo, den konfliktbeladenen und emotionalen Guido di Monforte und den rachsüchtigen, vergeltungsbereiten, be-

rechnenden und moralisch zweideutigen Procida. Jede und jeder von ihnen trägt mit ihren bzw. seinen Emotionen und Fähigkeiten dazu bei, eine fesselnde Geschichte zu erzählen. Aber die wahre Magie liegt in der Zusammenarbeit dieser Charaktere, die zusammenwirken wie eine gut geölte Maschine. Wenn ich an I vespri siciliani denke, erkenne ich, wie wunderbar die Handlung ist, so zeitgemäß, dass wir leicht Bezüge zu unserer soziopolitischen Umgebung von heute finden könnten. Der einzige Unterschied zwischen einem guten Film und I ves­ pri siciliani ist, dass auf der Opernbühne die Schauspielerinnen und Schauspieler auch singen können – und wie! (lacht) Jede Live-Aufführung ist wie eine Zeitmaschine, die es uns ermöglicht, Geschichte vor unseren Augen lebendig werden zu lassen, und uns vielleicht die Gelegenheit gibt, nicht dieselben Fehler zu machen und unsere Gegenwart und Zukunft hoffentlich zu verbessern. Mit den Worten meines geliebten Autors Isaac Asimov: »Das Traurigste an 17


E RW I N S C H RO T T als SCA R PI A in TOSCA Fo t o M I C H A E L P Ö H N


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der heutigen Zeit ist, dass die Wissenschaft Wissen schneller sammelt als die Gesellschaft Weisheit.« ol Sie sangen mit neun Jahren den Hirten in Tosca, die Oper hat also immer Ihr Dasein geprägt. Was aber ist ihr Zweck? Soll sie die Menschen unterhalten? Sie in andere Gedankenwelten entführen? Politisch wirken? es Die Oper ist eine universelle und gewaltige Kraft, die die Grenzen einfacher

es Das Geschenk der Oper ist universell, ein Schatz, der auf uns alle wartet. Geduld, aufmerksames Zuhören, Demut und das Freisetzen unserer Vorstellungskraft sind der Schlüssel, um ihre grenzenlose Natur neu zu entdecken. Ich bin überzeugt, dass die Stärkung der eigenen Widerstandskraft gegenüber externen Etikettierungen, das Vermeiden von Klatsch und die Priorisierung des persönlichen Wachstums entscheidend sind, um diese Tür zu öffnen. Wagen Sie die Reise, auf der Sie Wahrheiten ent-

»Die Oper ist eine universelle und gewaltige Kraft, die die Grenzen einfacher Unterhaltung überwindet.« Unterhaltung überwindet. Persönlich war und ist sie für mich eine transformative Reise, der Anfang von allem. Sie wirkt wie ein Zauber. Dieser Zauber ergriff meine gesamte Existenz und schuf in den Kammern meines intellektuellen Wachstums viel Platz, indem er in diesen leeren Räumen ein Echo erklingen ließ, das einen einfachen Refrain wiederholte: »Erfülle mich mit Musik, mit Liebe und Respekt für sie.« Seit meiner von meiner Mutter geleiteten Annäherung an die Oper hat sich alles verändert. Nicht nur, weil ich im zarten Alter auf die Bühne trat, sondern aufgrund der tiefgreifenden Wirkungen, die sie auf mich hatte. Sie diente als Katalysator für gewaltige Veränderungen, öffnete Türen sowohl in meinem Universum als auch für die Menschen rund um mich. Der Himmel und seine Musik zerstreuten die dunklen Wolken und leuchteten verborgene Ecken aus. Sie enthüllten unzählige Sterne, von denen jeder ein Universum des Wissens barg und führten mich zu brillanten Persönlichkeiten, zu Weisheit, zu Fragen mit Antworten, die darauf warteten, gesucht zu werden. Jeder Stern bildete eine Konstellation, die mich zu so vielen Autoren, Dichtern, Malern und Bildhauern brachte, von denen jede und jeder wiederum Welten in meiner Geisteswelt schuf. Dies ist das Geschenk, das die Oper für mich bereithielt, und es ist ein Geschenk, das ich gerne mit allen teile, die die Chance nutzen möchten, mit der besten und vollständigsten Kunstform vertraut gemacht zu werden. ol Eine universelle Kunst also.

decken, mit Menschen in Verbindung treten, Vorlieben erkunden und die Fülle des Lebens erforschen. Oper hilft, sich mit allen Facetten der menschlichen Erfahrung zu verbinden. Ich betrachte sie als einen großartigen Zugang zu wertvollem Wissen, das nicht so verunreinigt ist wie die Fehlinformationen, die uns die alltägliche Unterhaltung vorsetzt. Für mich ist sie ein Katalysator für Selbsterkenntnis und Selbstverbesserung. Jede Aufführung wirkt wie ein kultureller Spiegel, oder genauer wie ein Kaleidoskop. Nicht nur wegen dem, was auf der Bühne passiert, sondern auch wegen dem, was hinter den Kulissen geschieht, indem es Bestrebungen, Konflikte und das komplexe Mosaik unserer gemeinsamen Realität reflektiert. Die Oper hat mein Bewusstsein für die Welt auf tiefgreifende Weise verändert: hinsichtlich der menschlichen Verfassung und gesellschaftlicher Dynamiken. Sie war ein Pass zu zunächst verborgenen Dimensionen des Denkens und der Emotionen, eine Reise durch Kulturen und historische Epochen, die meine Perspektive auf die Welt, in der wir leben, bereichert hat. ol Sie nannten die Musik einmal auch einen Pass zur Freiheit. es Musik öffnet Türen zu einer multidimensionalen Befreiung. Diese Freiheit ist nicht auf äußere Ketten beschränkt, sondern entfaltet sich in unseren Emotionen und in den unbekannten Weiten des menschlichen Geistes. Es ist eine Freiheit, die nur die Musik bieten kann und die Bar19


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rieren der physischen Welt überwindet. Eine Freiheit, die uns in die Welt der Vorstellungskraft eintauchen lässt, wo unser Geist durch ein wie von Magritte geschaffenes, mit lebendigen Klängen erfülltes Universum wandert. In der Welt der Musik nimmt die Frei-

in ihr Inneres; sie verdient es, denn nur die Kunst und die Wissenschaft erhöhen den Menschen bis zur Gottheit.« Und wer weiß, vielleicht werden wir durch das Göttliche auch jene Freiheit erreichen, auf die ich mich beziehe. Möchten Sie ein Beispiel für

E RW I N S C H RO T T a l s D U L C A M A R A i n L’ E L I S I R D ’A M O R E Fo t o M I C H A E L P Ö H N

heit verschiedene Formen an: Es ist die Freiheit des Ausdrucks, die es Emotionen gestattet, frei zu strömen. Die Überschwänglichkeit der Freude, die Tiefe der Trauer oder die stille Introspektion der Kontemplation: jede Emotion ist frei und zulässig. Es ist die Freiheit, sich zu verbinden und Verknüpfungen zu schaffen, die Sprachen und Kulturen überschreiten. Sie schafft eine universelle Sprache, die in allen Herzen auf der ganzen Welt widerhallt. Die Freiheit, die die Musik uns schenkt, ist eine Reise nach innen, eine Pilgerfahrt zum Kern unseres eigenen Seins. Es ist ein inspirierter und erleuchteter Ort des Ausruhens, wo Harmonien und Melodien zu Leitlichtern werden, die den Weg zur unermesslichen Ausdehnung des menschlichen Geistes weisen. In diesen Pass schreibe ich ein Zitat von Beethoven: »Fahre fort, übe nicht allein die Kunst, sondern dringe auch

diesen Pass? Ein siebenjähriges Kind aus Uruguay, das nachts mit seinem Vater Autos wäscht, um Essen auf den Tisch zu bringen. Es hört währenddessen Mozart und träumt davon, seine Musik eines Tages in Wien zu singen. Meine Eltern haben mich mehrmals in der Staatsoper in Don Giovanni und Le nozze di Figaro auftreten sehen. Ich habe meinen Pass bekommen. ol Wie steht es um die musikalische Freiheit? Wie viel gestatten Sie sich? Heute sind wir mitunter streng, wenn es um »Werktreue« geht. Zu streng? es Die musikalische Freiheit muss ein Gleichgewicht zwischen der Würdigung der Absichten des Komponisten und einer interpretatorischen Kreativität finden. Einerseits ist es eine Pflicht, die Wünsche des Komponisten zu respektieren, andererseits 20


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birgt eine allzu pedantische und rigide Haltung in Bezug auf Konventionen Risiken. Ich denke, es ist fair, hier einen Mittelweg zu suchen, der der Aufführung Leben einhaucht. Dieser könnte vielleicht eine dynamische Musikszene sichern, die sowohl Tradition als auch Innovation respektiert. Die Frage aber, ob wir in der heutigen Herangehensweise an die »Werktreue« zu streng sind, bleibt subjektiv. Das Publikum, mit seinen vielfältigen Blickwinkeln und Vorlieben, ist da letztendlich Schiedsrichter. ol Man hat das Gefühl, dass Sie auf der Bühne unglaublich präzise und fokussiert sind. Ist das bewusst erlernt? Oder ein Talent? es Ich habe verschiedene Techniken gelernt, aber die Präzision und Fokussierung gehen Hand in Hand mit meiner Intuition und den vielen Stunden, die ich täglich übe. Ich kombiniere gerne die Lehren des Stanislawski-Systems mit praktischen Techniken, die auf meinen eigenen Erfahrungen basieren. Emotionales Gedächtnis und sensorisches Bewusstsein sind Teil meines Bühnenlebens und helfen mir, präzise Emotionen zu kanalisieren. Die Laban-Bewegungsanalyse hat mir geholfen, eine bessere Perspektive auf meine Bewegungen zu bekommen und mein eigenes körperliches Ausdrucksvermögen auf der Bühne zu verstehen. In letzter Zeit habe ich begonnen, mit der Meisner-Technik zu arbeiten, um mich auf ehrliche und spontane Reaktionen zu konzentrieren. Es ist eine Technik, die ich ungemein hilfreich finde, und ich würde sie jedem und jeder empfehlen, der oder die Authentizität in der Darbietung sucht. Ich betrachte jede Aufführung, sei es auf der Bühne oder auf der Leinwand, als Möglichkeit zum Lernen, zum Anpassen, zum Wachsen und zur Integration neuer Ansätze. ol Mirella Freni hat Ihnen am Anfang Ihrer Karriere geraten, Geduld zu haben. Welchen Rat haben Sie heute für junge Sängerinnen und Sänger? es Geduld ist Ihr größter Verbündeter, und sie ist einer der wichtigsten Schlüssel in fast allem, denn Geduld ist die große Schwester der Bescheidenheit, und Bescheidenheit ist der Weg zum persönlichen Wachstum. Nehmen Sie sich viel Zeit, um Ihre Fähigkeiten zu verfeinern. Widmen Sie jeder Übung zu Hause dieselbe Energie, die Sie auf die Bühne aufwenden werden. Erweitern Sie Ihren Horizont, indem Sie nicht nur bei Musikerinnen und Musikern, sondern auch bei intelligenten und inspirierenden Menschen aus anderen Bereichen Rat suchen. Investieren Sie in Ihre Bildung, nicht nur in Bezug auf Musik, sondern in verschiedenen Aspekten des Lebens. Widmen Sie sich der Meditation, körperlichen Aktivitäten und kehren Sie in Ihren freien Momenten zu Ihren Büchern und Übungen zurück. Rüsten Sie sich mit Finanzkompetenz aus. Das Leben ist unvorhersehbar und niemand kann eine lange und erfolgreiche Karriere garantieren. Es hängt viel von

Ihren unermüdlichen Anstrengungen ab, gepaart mit einer Prise Glück. Der einzige wahre Weg, unsere Reise zu gestalten, besteht in unserer Hingabe, Widerstandsfähigkeit und der Bereitschaft, sich anzupassen. Vermeiden Sie Personen, die Erfolg haben, zu kritisieren, und widerstehen Sie der Verführung von Klatsch. Verstehen Sie, dass mit wachsendem Erfolg auch das dazugehörige Getuschel und Gerede zunehmen. Denken Sie daran, dass der Erfolg nicht fordert, irgendeinen Aspekt Ihrer selbst zu kompromittieren. Bewahren Sie Ihre Werte, erkennen Sie kleine Triumphe an, und wenn bedeutende Meilensteine erreicht werden, feiern Sie sie, indem Sie zu wohltätigen Zwecken beitragen. Studieren Sie konsequent, nützen Sie Ihre Zeit, um Ihr Handwerk zu verfeinern. Ein einziges Zitat des Genies Isaac Asimov spiegelt meine gesamte Philosophie wider: »Leute denken, dass Bildung etwas ist, das sie abschließen können.« Wir sind nie fertig, nutzen Sie Ihre Zeit weise. Zu guter Letzt erkennen Sie an, dass Ihr Privatleben nicht der Öffentlichkeit präsentiert werden muss. Statt intime Details preiszugeben, konzentrieren Sie sich darauf, Aspekte Ihrer künstlerischen Reise zu teilen. Betrachten Sie soziale Medien als Werkzeug, um Ihre Präsenz als der Künstler zu verstärken, der Sie behaupten zu sein. Ich würde sie nicht zu einer Plattform für die Präsentation von körperlicher Attraktivität machen: schließlich ist die Oper keine Modeschau. Das vollständige Interview, auch in englischer Sprache, finden Sie auf → wiener-staatsoper.at

INHALT I VESPRI SICILIANI Sizilien ist unter französischer Herrschaft, doch regt sich Widerstand. Herzogin Elena und der junge Arrigo, ein Liebespaar, wünschen sich Freiheit für ihr Land, doch wird jeder aufkeimende Tumult vom Gouverneur Monforte unterdrückt. Da kehrt der Freiheitskämpfer Giovanni da Procida aus dem Exil heim und plant einen Aufstand, den Elena und Arrigo freudig begrüßen. Doch Monforte eröffnet Arrigo, dass er dessen Vater sei – und stürzt den jungen Sizilianer so in Gewissensnöte. Mehr noch: Arrigo rettet seinem Vater Monforte bei einem Anschlag das Leben. Die familiäre Versöhnung und das Eheglück von Arrigo und Elena werden von Procida verhindert, der mit dem Läuten der Hochzeitsglocken das Zeichen für den Aufstand gibt.

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DEBUTS HAUSDEBÜTS I VESPRI SICILIANI

DON GIOVANNI

MEDEA

14. JÄN. 2024

13. JÄN. 2024

CARLO RIZZI Musikalische Leitung Carlo Rizzi zählt zu den weltweit führenden Operndirigenten und ist ein gerne gesehener Gast an den renommierten Häusern und bei Festspielen. Er ist als Opern- wie als Konzertdirigent gleichermaßen gefragt. Rizzi studierte am Konservatorium in Mailand und war nach seinem Abschluss als Korrepetitor an der Scala tätig. Seine Dirigentenlaufbahn begann 1982. Inzwischen hat er ein Repertoire von mehr als hundert Opern – von »Klassikern« bis zu Raritäten. 2019 wurde er Musikdirektor von Opera Rara, einer in Großbritannien ansässigen Organisation, die sich der Wiederbelebung wichtiger Werke widmet. Seit 2015 ist er Ehrendirigent der Welsh National Opera. Darüber hinaus tritt er regelmäßig an der Mailänder Scala, am Royal Opera House, Covent Garden in London, am Teatro Real Madrid, beim Rossini Festival in Pesaro, in Zürich, Berlin, Paris, Chicago, Brüssel sowie an der Metropolitan Opera in New York auf – um nur seine wichtigsten Wirkungsstätten zu nennen.

CHRISTIAN VAN HORN Don Giovanni Christian Van Horn ist weltweit an zahlreichen großen Opernhäusern aufgetreten, darunter an der Metropolitan Opera in New York, der Lyric Opera of Chicago, der San Francisco Opera, der Santa Fe Opera, der Los Angeles Opera, der Canadian Opera Company, an der Pariser Oper, der Bayerischen Staatsoper, in Rom, Stuttgart und Salzburg. Zu seinen Opernrollen gehören die Titelpartien in Don Giovanni und Le nozze di Figaro, weiters singt er Nick Shadow in The Rake’s Progress, Méphistophélès in Faust, Claggart in Billy Budd, die Vier Bösewichte in Les Contes d’Hoffmann, Escamillo in Carmen, Alidoro in La cenerentola, Banquo in Macbeth und Gesler in Guillaume Tell. Außerdem wirkte er in wichtigen Uraufführungen und amerikanischen Erstaufführungen mit. Auch als Konzertsänger ist er erfolgreich und gefragt, so trat er u.a. mit dem New York Philharmonic, dem Chicago Symphony Orchestra, dem Concertgebouw Orchestra und den Berliner Philharmonikern auf. Höhepunkte dieser Spielzeit sind u.a. seine Auftritte an der New Yorker Met und in Chicago.

NICOLE CHEVALIER Medea Die gebürtige US-Amerikanerin Nicole Chevalier ist eine international gefragte Sängerin und tritt unter anderem bei den Salzburger Festspielen, dem Festival dʼAix en Provence, sowohl am Royal Opera House, Covent Garden als auch der English National Opera im Coliseum in London, an der Komischen Oper Berlin, am Theater an der Wien, an der Hamburgischen Staatsoper, der Griechischen Nationaloper Athen, La Monnaie Brüssel auf. Ihr Repertoire umfasst unter anderem Elettra (Idomeneo), Vitellia (La clemenza di Tito), Fiordiligi und Despina (Così fan tutte), Donna Elvira (Don Giovanni), Agathe (Der Freischütz), Medea und die Vier Damen in Les Contes dʼHoffmann. Chevalier ist Trägerin des Deutschen Theaterpreises »Der Faust«. Höhepunkte der Spielzeit 2023/24 umfassen ihre Hausdebüts im Teatro Real Madrid als Eva in Die Meistersinger von Nürnberg und die Titelrolle in Thea Musgraves Mary, Queen of Scots an der Oper Leipzig. Darüber hinaus kehrte sie als Violetta in La traviata zurück ans Coliseum London. Zukünftige Rollendebüts umfassen u.a. die Titelrollen Rusalka, Tosca und Cherubinis Médée.

Fo t o s T E S S A T R A E G E R ( R i z z i)

21. JÄN. 2024

S I M O N PAU LY ( Va n Ho r n) M AU R I C E KO R B E L (C h é v a l i e r)

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DEBUTS ROLLENDEBÜTS SHIFTING SYMMETRIES

LA FANCIULLA DEL WEST 4. JÄN. 2024

CONCERTANTE KETEVAN PAPAVA, CLAUDINE SCHOCH, CÉLINE JANOU WEDER, BRENDAN SAYE, FRANÇOIS-ELOI LAVIGNAC, TOMOAKI NAKANOME Tänzer*innen IN THE MIDDLE, SOMEWHAT ELEVATED ALEKSANDRA LIASHENKO, DUCCIO TARIELLO, NATALYA BUTCHKO; ELENA BOTTARO, LAURA CISLAGHI, GAIA FREDIANELLI, MASAYU KIMOTO, FRANÇOIS-ELOI LAVIGNAC, MEGHAN LYNCH Tänzer*innen BRAHMS-SCHOENBERG QUARTET ELENA BOTTARO, ALEXEY POPOV, GALA JOVANOVIC I. Satz IOANNA AVRAAM, BRENDAN SAYE, SVEVA GARGIULO II. Satz ALICE FIRENZE, ARNE VANDERVELDE III. Satz CLAUDINE SCHOCH, GÉRAUD WIELICK IV. Satz

DAS VERFLUCHTE 16. JÄN. 2024 GEISTERSCHIFF

7. JÄN. 2024

SIMONE YOUNG Musikalische Leitung MALIN BYSTRÖM Minnie ROBERTO FRONTALI Jack Rance YONGHOON LEE Dick Johnson DAN PAUL DUMITRESCU Ashby ATTILA MOKUS Sonora STEPHANO PARK* Sid JACK LEE* Bello ANDREA GIOVANNINI Harry KATLEHO MOKHOABANE* Joe ILJA KAZAKOV Larkens / Billy Jackrabbit DARIA SUSHKOVA* Wowkle NIKITA IVASECHKO* Jake Wallace / José Castro AGUSTÍN GÓMEZ* Postillon

DORNRÖSCHEN

ANNA BONDARENKO Senta EVGENY SOLODOVNIKOV Daland ATTILA MOKUS Holländer

MEDEA

CHRISTINA BOCK Kreusa DANIEL FRANK Kreon LAWRENCE ZAZZO Herold

DORNRÖSCHEN

9. JÄN. 2024

DIALOGUES 28. JÄN. 2024 DES CARMÉLITES

13. JÄN. 2024

JULIE BOULIANNE Mère Marie SABINE DEVIEILHE Constance SZILVIA VÖRÖS Mère Jeanne

IGOR GOLOVATENKO Guido di Monforte JOHN OSBORN Arrigo KS ERWIN SCHROTT Giovanni da Procida RACHEL WILLIS-SØRENSEN Herzogin Elena SZILVIA VÖRÖS Ninetta NORBERT ERNST Danieli SIMONAS STRAZDAS Sire di Béthune TED BLACK* Tebaldo MICHAEL ARIVONY Roberto

DON GIOVANNI

23. JÄN. 2024

SONIA DVOŘÁK Prinzessin Aurora KIYOKA HASHIMOTO Die Königin ALEXEY POPOV Der König ALEKSANDRA LIASHENKO & TREVOR HAYDEN Zwei Paare

KATHARINA MIFFEK Die Waldfrau GIORGIO FOURÉS Der Kater

I VESPRI SICILIANI

21. JÄN. 2024

CARMEN

29. JÄN. 2024

MICHAEL FABIANO Don José ALMA NEUHAUS* Mercédès

14. JÄN. 2024

ANTONIO DI MATTEO Komtur BOGDAN VOLKOV Don Ottavio

* M itglied des Oper nst udios

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A N N E D O PAÇ O

»THE FOUNDATION IN ORDER TO INNOVATE«

DAV I D E DA T O & H YO - J U N G K A N G in W I L L I A M F OR S Y T H E S I N T H E M I D D L E , S O M E W H A T E L E VA T E D Fo t o A S H L E Y T AY L O R

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» T H E F O U N DAT ION I N OR DE R T O I N N OVAT E «

Was ist Ballett? Oder besser: Was kann Ballett sein? Welche Konzepte, Ideen und Körperbilder sind in ein Ensemble eingeschrieben? Das Wiener Staatsballett lädt immer wieder zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen ein – und zeigt auch im Jänner in der Wiener Staatsoper und der Volksoper Wien eine faszinierende Bandbreite an Antworten. Aus dem 19. Jahrhundert stammt das Ideal des fragilen Tänzerinnen-Körpers, das auch heute noch die verbreitete Vorstellung von Ballett dominiert. »Mademoiselle Taglioni ist keine Tänzerin, sie ist ein Geist der Luft,

Dabei war es Balanchine, der – nachdem die Vertreter*innen der Tanzmoderne in Abgrenzung zum Ballett mit neuen Konzepten die Befreiung von codierten Körperbildern und Geschlechterrollen, den Aufbruch in neue

VA N M A N E N / F O R S Y T H E / B A L A N C H I N E

SHIFTING SYMMETRIES 2. 4. 5. JÄNNER 2024 Musikalische Leitung MATTHEW ROWE Choreographie HANS VAN MANEN, WILLIAM FORSYTHE, GEORGE BALANCHINE © THE GEORGE BALANCHINE TRUST Musik FRANK MARTIN, THOM WILLEMS, JOHANNES BRAHMS/ARNOLD SCHÖNBERG SOLIST*INNEN & CORPS DE BALLET DES WIENER STAATSBALLETTS Harfe ANNELEEN LENAERTS Cembalo SONJA LEIPOLD Klavier SHINO TAKIZAWA ORCHESTER DER WIENER STAATSOPER

sie ist Ariel in Person, eine Tochter des Himmels«, äußerte sich der Komponist Hector Berlioz bewundernd über die erste Meisterin des Spitzentanzes – und ein zeitgenössischer Ballettomane schrieb über Marie Taglionis Interpretation von La Sylphide in den 1830er Jahren: »Sie war gleich einem Wölkchen, das sich an den Ufern eines blauen Sees erging, ein Nebelflöckchen, das der Wind am Wasserfall aufwirbelte! (...) Sie kam und entschwand wie ein Traumwesen; wenn man glaubte, sie sei dort, so war sie bereits anderswo.« Ein derartiges Ideal fasziniert bis heute – auch im Spielplan des Wiener Staatsballetts in Produktionen wie in dieser Saison Giselle, Schwanensee und Les Sylphides – und das nicht zuletzt, weil in eine derart flüchtige Kunst immer auch eine der zentralen Fragen des Menschseins eingeschrieben ist: nach Transzendenz angesichts des Todes. Denn »die Grenze zum Tod ist schwebend«, schreibt Gabriele Brandstetter, weil man im »überirdisch erscheinenden Körper auch ›Madame la Mort‹ ahnt (...) – bezeichnet durch jene beiden legendären Formeln, die George Balanchine geprägt hat, nämlich: ›Must see bones‹, und: ›Ballet is woman‹.«

Utopien, aber auch Emanzipation und Widerstand in den Tanz gebracht hatten – wie kein anderer in seiner Zeit dem klassischen Ballett einen Weg ins 20. Jahrhundert wies, indem er den Bogen zwischen der Romantik und seiner Zeit mit einzigartiger Kraft so weit wie möglich spannte und voller Kühnheit in beide Richtungen schaute. Balanchines Werke begeistern bis heute mit ihrer Eleganz, Virtuosität, Athletik und Musikalität und schlagen – neben den zur Avantgarde der amerikanischen Nachkriegsmoderne zählenden »Black and White«-Choreographien – immer wieder auch Brücken in die großen Balletttraditionen der Vergangenheit wie das 1966 mit dem New York City Ballet uraufgeführte Brahms-Schoenberg Quartet. Balanchine erweiterte das Vokabular des klassischen Balletts, er machte den Bewegungsradius seiner Tänzer*innen größer, die Schritte schlanker und den Spitzenschuh in vielen seiner Stücke zu einem attackierenden Werkzeug der Frau. Wie in Brahms-Schoenberg Quartet zeigt er immer wieder aber auch eine hochmusikalische, faszinierend dynamische Neoklassik aus dem Geiste Marius Petipas. 25


» T H E F O U N DAT ION I N OR DE R T O I N N OVAT E «

Das Ballett bleibt als Kunstform interessant, wo es den Blick auf Grenzen richtet, wo es um mehr als die gezähmte Kultivierung und das Kulinarische geht: um Verschiebungen und die Brüchigkeit von Identitätskonzepten – Momente, aus denen William Forsythe und Hans van Manen ihre Energien ebenso beziehen wie Martin Schläpfer. In William Forsythes von hoher Komplexität und extremer Geschwindigkeit geprägtem In the Middle, Somewhat Elevated geht es nach dem Prinzip von Thema und Variation und mit einer geradezu kaltblütigen Virtuosität im Umgang mit den Formen, Posen und Schritten des klassischen Balletts um die Verkörperung der Möglichkeiten und Grenzen von Bewegung und zugleich deren Dekonstruktion. Forsythe initiiert – gegen die klassische Schule – seine Bewegungen von immer anderen Körperteilen. Indem er diese sowohl zentral im Torso als auch peripher in den Gliedmaßen anlegt, zerfällt der Körper optisch in sich unabhängig voneinander bewegende Teile. Die Tänzer*innen stellen das Bewegungsrepertoire und die Fähigkeit, dieses abzurufen, zur Verfügung. Doch Forsythe lässt sie in diesem als Wettkampf angelegten Stück gegen dieses Körpergedächtnis ankämpfen, das gewohnte Bewegungsmuster bevorzugt ausführt und damit eine Begrenzung der Bewegungsmöglichkeiten darstellt. Das Ausbrechen aus dem klassischen Ideal von Harmonie und Balance bewirkt eine Instabilität, durch die Forsythe in diesem bahnbrechenden Werk aus dem Jahr 1987 neue Energien gewinnt und dem Ballett in bis dahin ungeahnter Weise »Frischluft« zuführt. Hans van Manen hat das Ballett dagegen nie angetastet, auch wenn er es mit Gesten des Alltags anreichert. Seine Stücke leben von dem Glauben an die Kraft des aufrechten Tänzerkörpers in der Reduktion auf das Wesentliche. Klarheit der Formen und eine strenge Verschränkung der Parameter Bewegung, Musik und Raum sind Merkmale seiner Kunst, mit der er Grenzen überschreitet, indem er Sehgewohnheiten, Rollenbilder und Geschlechterordnungen infrage stellt und den modernen Menschen ins Visier nimmt – in seinem Ballett Concertante mit Geschmeidigkeit, aber auch abrupter Härte, mit Witz und Aggression, Frauen und Männer stets auf Augenhöhe. Eine jahrelange Körperschulung ist Voraussetzung für den Bühnentanz und prägt nicht nur die einzelnen Tänzer*innen, sondern den Gesamtkörper eines Ensembles. Zugleich verlangt und bedingt das zeitgenössische Ballett eine permanente Arbeit am Körper und dessen unablässige Formierung. Durch die Bewegungen, die ein Tänzer ausführt, wird sein Körper geformt und umgeformt. Mit der Bewegungsbiographie seines Körpers prägt der Tänzer umgekehrt aber auch, was er gerade tanzt. Das Zusammenspiel von Überlieferung und eigener Sicht, unbewussten und bewussten Bildern und deren Überschreibung prägt Martin Schläpfers

Arbeit an Dornröschen – ein psychologisch fundiertes Weiterdenken des Vokabulars der Danse d’école zu einer Sprache, die – verschränkt mit einer subtilen Reflexion über das historische Material Marius Petipas – die Schönheiten des Tanzes und das Wesen des Balletts als Kunst für die Gegenwart definiert. Das alte Märchen erzählt Schläpfer als Geschichte über das Erwachsenwerden, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, die Kräfte der Natur, Machtstrukturen und die Möglichkeit der Versöhnung von Gut und Böse. Auch ihn treiben die Fragen nach Balance um, in seinem Dornröschen weniger in Bezug auf den Körper als in Bezug auf die derzeitige Weltlage: »Wir finden keine Mitte mehr«, so der Choreograph – eine Thematik, die ihn auch in seinem Dritten Klavierkonzert, das in der Volksoper im Rahmen des Programms The moon wears a white shirt zu erleben ist, beschäftigt. Mit Drittes Klavierkonzert schuf Schläpfer eine Choreographie über den Lebensweg einer Frau, die nichts mehr mit den ätherischen Sylphen, ephemeren Wilis und fragilen Schwänen der Romantik gemein hat. In einer hochexpressiven, an den Boden gebundenen Sprache, deren Kraft eine andere Potenz zeigt, als sich gegen die Schwerkraft zu behaupten, ist Drittes Klavierkonzert zu Musik von Alfred Schnittke eine Erzählung über Selbstbehauptung und Einsamkeit, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Bindungsversuche und Abstoßungen, aus denen man aber nicht gebrochen, sondern gestärkt hervorgeht. All das – und noch viel mehr, denn der Werkbegriff ist komplex – kann Ballett sein. Der JännerSpielplan des Wiener Staatsballetts ist eine Einladung zur Erkundung verschiedener Tanzsprachen, die sich alle unter dem Begriff »Ballett« versammeln und dessen Geschichte zugleich in immer neuer Beleuchtung diskutieren. Was für alle aber gilt, formulierte William Forsythe: »You need the foundation in order to innovate.«

TANZPODIUM KÖRPERBILDER IM BALLETT Die Sprache des Balletts ist eine Sprache des Körpers, der sich innerhalb einer artifiziellen Technik bewegt. Wie sich der Körper bzw. die Vorstellung vom Körper über die Jahrhunderte verändert hat und welche Auswirkungen das Körperbild auf die Körpertechnik und die Tanzkunst, aber auch die heutige Ballettausbildung hat, diskutieren wir im Tanzpodium u. a. mit der renommierten Berliner Autorin Dr. Dorion Weickmann, Ballettdirektor Martin Schläpfer sowie Mitgliedern des Ensembles des Wiener Staatsballetts. Moderation: Anne do Paço und Nastasja Fischer (Podiumsgespräch in deutscher Sprache). 14. Jänner 2024, 15 Uhr, Gustav Mahler-Saal 26


KOP F Z E I L E

Vo n l i n k s o b e n

n a c h r e c h t s u nt e n :

M A R C O S M E N H A &

K I YO K A H A S H I M O T O

I n G E O RG E B A L A N C H I N E S B R A H M S - S C H O E N B E RG Q UA R T E T © T h e G e o r ge Balanchine Tr ust A L E K S A N D R A L I A S H E N KO &

G É R AU D W I E L I C K

i n H A N S VA N M A N E N S CONCERTA N T E M IL A S CH M ID T in M A RT I N S CH L Ä PF ER S D R I T T E S K L AV I E R KO N Z E R T H YO - J U N G K A N G & B R E N DA N S AY E i n M A R T I N S C H L Ä P F E R S D O R N RÖ S C H E N Fo t o s A S H L E Y T AY L O R

M A RT I N S CH L Ä PF ER & M A R I US PE T I PA

DORNRÖSCHEN 9. 11. 23. 25. 26. JÄNNER 2024 Musikalische Leitung PATRICK LANGE Choreographie MARTIN SCHLÄPFER & MARIUS PETIPA Musik PIOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKI & TOSHIO HOSOKAWA SOLIST*INNEN & CORPS DE BALLET DES WIENER STAATSBALLETTS STUDIERENDE DER BALLETTAKADEMIE DER WIENER STAATSOPER ORCHESTER DER WIENER STAATSOPER

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M A R L IS PE T ER SEN a ls M EDE A ,

W i e n e r S t a a t s o p e r, 2 0 10 Fo t o s A X E L Z E I N I N G E R

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SERGIO MORABITO

MYTHOS MEDEA? EURIPIDES UND DIE FOLGEN Medea ist einerseits eine mythische Gestalt, umrankt von märchenhaften, im Lauf von Jahrhunderten geformten Überlieferungen: Die Königstochter im fernen Kolchis, zum abenteuernden Griechen Jason in Liebe entflammt, ermöglicht ihm den Raub des Goldenen Vlieses und flieht an seiner Seite durch die gesamte damals bekannte Welt, um dann verlassen zu werden zugunsten einer anderen – Kreusa, der Königstochter von Korinth. Andererseits: Die Entstehung des wirkungsmächtigsten Kernelements der Medea-Erzählung, des Mordes nämlich, den die Verstoßene an ihren und Jasons Kindern begeht, ist historisch datierbar. Anlässlich der »athenischen Dionysien«, der Theater-Festspiele zu Ehren des Dionysos, kommt im Frühling des Jahres 431 vor Christus die gleichnamige Tragödie des Euripides zur – wenig erfolgreichen – Erstaufführung. Und »es darf als sicher gelten, dass der Mord an den Kindern zum Zweck der Bestrafung des ungetreuen Jason eine Erfindung des Euripides ist«, so der philologische Befund (A. Dihle). Teil der mythischen Überlieferung war es zwar gewesen, dass die Kinder des Paares ums Leben kamen, doch entweder durch versehentliche Tötung – beim Versuch der Mutter, ihnen Unsterblichkeit zu verleihen –, oder durch die Korinther, zur Rache für das an ihrem König und seiner Tochter von Medea verübte Attentat. Spät und erstmals, aber seither unwiderruflich machte der jüngste der drei großen griechischen Tragödiendichter Medea zur Mörderin ihrer Kinder. Wenn wir von Medea als der Kindermörderin sprechen, sprechen wir also von einer von Euripides geschaffenen literarischen Gestalt. Und das scheinbar archaischste, »barbarischste« Moment der Medea-Sage, der Kindermord, ist in Wahrheit eine »moderne« Zugabe. »Immer schon war der Mythos etwas, das von Anfang an Re-Konstruktion war: Fiktion.« (H.-T. Lehmann) Dabei agiert Euripides nicht als Mythologe, sondern als Aufklärer, der den Konflikt seines Dramas dadurch gewinnt, »dass er die idealisierten, das heißt ins Übermenschliche oder jedenfalls ins Überalltägliche gesteigerten Beziehungen der Sage in die unerbittliche Realität gegenwärtigen Lebens« überträgt (K. von Fischer). Denn das Los der durch die neue Eheschließung Jasons verdrängten ersten Gemahlin wird in Euripides’ Stück gerade nicht als Ausnahme-, sondern im Gegenteil: als gewöhnliches und allgemeines Frauenschicksal dargestellt. Das Medea beigegebene weibliche chorische Kollektiv empfindet mit ihr solidarisch: Die korinthischen Frauen erkennen in Medeas rechtlicher und sozialer Benachteiligung ihre eigene Abhängigkeit und Ohnmacht. Einzig Medea begehrt gegen die Bevormundung ihres Geschlechtes auf. Sie tut dies aber nicht als Fremde, exotische Zauberin, »Hexe« oder Barbarin (all diese tradierten Facetten der Figur klammert der Autor planvoll aus, Medea ist mit ihrer Familie gut in die Stadtgesellschaft integriert); sondern indem sie die männliche Kriegermoral auch für sich beansprucht: »den Feinden furchtbar und den Freunden 29


MYTHOS MEDEA?

wohlgesinnt«. Der Gedanke, von ihren Feinden gedemütigt und »verlacht« zu werden, ist ihr unerträglich. Die angebliche »Monstrosität« der Medea des Euripides besteht in ihrem Anspruch, was den Männern recht ist, möge ihr als Frau billig sein. Euripides macht den mythischen Stoff auf das Soziale, sein »Wunderbares« auf den Alltag transparent. Alle Einzelmomente und Wendepunkte der Fabel hat er auf diesen »männlichen«, emanzipatorischen Anspruch seiner Medea ausgerichtet. Ihre Bluttaten – vor allem der Kindermord, der in ihrem Racheplan recht eigentlich nur einen Kollateralschaden darstellt, nämlich Mittel zum Zweck ist für das Gelingen des Anschlags auf die Rivalin – werden nicht im Affekt begangen, sondern rational vorgedacht und durchgeführt.

Entgegen seiner vulgärpsychologischen Etikettierung als »Leidenschaftstragödie« – als Drama der in der Auseinandersetzung mit der Leidenschaft (Medeas Hass auf Jason) unterliegenden Vernunft – ist das euripideische Stück viel angemessener als »Tragödie der Rationalität« zu bezeichnen: Ihre Gefühle und Emotionen verbinden Medea mit ihren Kindern und vermögen die Ausführung ihres Racheplanes zunächst sogar zu unterbrechen (am Ende ihres berühmten Monologs erweisen sich ihre »Gefühle stärker als der Plan, die Kinder umzubringen«), doch ihrem Verstand gelingt es, sich vom Affekt erfolgreich zu entkoppeln und die eigenen Emotionen ebenso gnadenlos auszublenden wie die anderer. Der Mechanismus von Medeas Racheplan erzwingt dann den Kin-

ARIBERT REIMANN

MEDEA 21. 24. 27. JÄNNER 2024 WIEDERAUFNAHME Musikalische Leitung MICHAEL BODER Inszenierung, Bühne & Licht MARCO ARTURO MARELLI Kostüme DAGMAR NIEFIND MEDEA Nicole Chevalier KREUSA Christina Bock GORA Monika Bohinec KREON Daniel Frank JASON Adrian Eröd HEROLD Lawrence Zazzo

Szenenbild M EDE A

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dermord als letzten Schritt und erweist sich damit als stärker als die Mutterliebe, von der sie gleichwohl gepeinigt wird: Als sie zur Tat schreitet, empfindet sie nichts als Liebe für die beiden Söhne. Mit anderen Worten: »Die Tragik der griechischen Medea beginnt da, wo die mildernden Umstände aufhören.« (W.-H. Friedrich) Die Luzidität der von Euripides betriebenen Entmythologisierung seiner Heldin wurde kulturgeschichtlich zu einem Stein des Anstoßes – und bleibt es bis heute. Zahllose Bearbeiter des Stoffes arbeiten sich seit der Antike an dieser Zumutung ab. Sie verwerfen bewusst oder unbewusst das euripideische Modell, das als unerträglich und unzulässig empfunden wird, und konstruieren abweichende Konfliktund Erklärungsmodelle für den Kindermord. Dabei wird etwa die göttlich-dämonische Abstammung Medeas, oft in Verbindung mit Betonung ihrer übernatürlich-magischen Künste, oder auch ihre kulturelle Andersheit fokussiert. Vielen Bearbeitungen gemeinsam ist die Bemühung, Medea einen »Opferstatus« zu erkämpfen. Dies geschah im 19. Jahrhundert vor allem auch durch ihre Stilisierung zu einer bedrängten, in ihren »natürlichsten Instinkten« verletzten Mutter, die von ihren Kindern gewaltsam getrennt werden soll (bei Euripides ist es Medea, die ihre Trennung von den Kindern und deren Verbleib in Korinth vorschlägt – aus keinem anderen Grund, als um der Rivalin die todbringenden Geschenke durch die um ihre Fürbitte beim König werbenden Kinder über-

bringen zu lassen). Brechts spöttische Formulierung über die Tendenz bürgerlicher Einfühlungsdramatik, sich »mit dem Schmerz jeder verfügbaren Mutter zu identifizieren«, ließe sich mit Bezug auf die Wandlungen des Medea-Stoffes zuspitzen mit den Worten »sogar noch, wo diese ihre eigenen Kinder tötet«. DAS GOLDENE VLIES Franz Grillparzers 1822 am Wiener Burgtheater uraufgeführtes »Dramatisches Gedicht in drei Abteilungen« Das Goldene Vlies stellt eine der bedeutendsten theatralischen Nachschöpfungen der Medea-Sage dar. Die Trilogie umfasst zwei Theaterabende: Der Gastfreund ist ein Einakter, unmittelbar gefolgt von den vier Akten der Argonauten, während die Medea als klassischer Fünfakter für einen zweiten Vorstellungstag konzipiert ist. Grillparzer kontextualisiert in seiner Trilogie den in Korinth erfolgenden Kindermord mit der Vorgeschichte des Elternpaares und ihrer gleichsam exterritorialen Begegnung in der »Wildnis« von Kolchis. Dabei wird ihm das mythische Geschehen zum Bild und Gleichnis für Innerseelisches. Das titelgebende »goldene Widderfell« hat er aus den vielfältigen mythologischen Erzählzusammenhängen, denen es entstammt, herausgelöst. Phryxus’ märchenhafte Flucht mit der Schwester Helle auf dem Rücken eines goldenen Widders wird realistisch gewendet: Die Schwester wird nur noch implizit erwähnt (»jung-erzeugter Kinder Recht und 31


MYTHOS MEDEA?

Glück«), und sie ist keine Fluchtgenossin mehr; und anders als der sprechende goldene Widder Chrysómeles rettet Grillparzers Goldenes Vlies den Phryxus nur noch mittelbar vor Verfolgung: »Des Vaters Häscher fand ich vor den Toren, / sie wichen scheu des Gottes Goldpanier ... und hoch als goldne Wimpel / flog mir das Vlies am sturmumtobten Mast.« Es fliegt also nur noch metaphorisch durch

»Bis heute übt die Trilogie auf Künstler und Interpreten ihre Attraktion aus, wovon nicht nur gelegentliche Neuinszenierungen zeugen.« die Lüfte, nicht mehr leibhaftig als goldener Widder. Als »sinnliches Zeichen des Wünschenswerten, des mit Begierde Gesuchten, mit Unrecht Erworbenen« wird es in der Spielhandlung durchgeführt. Dort bleibt es stets präsent und wird immer wieder zum Zankapfel der streitenden Parteien. Besonderes Augenmerk richtet Grillparzer zudem auf die plastische Herausarbeitung der unterschiedlichen kulturellen Codes, die in der Begegnung der Griechen mit den an der Ostküste des schwarzen Meeres siedelnden Kolchern kollidieren. Bis heute übt die Trilogie auf Künstler und Interpreten ihre Attraktion aus, wovon nicht nur gelegentliche Neuinszenierungen zeugen. Der Komponist Aribert Reimann hat aus ihr das textliche Substrat seiner Medea-Oper destilliert, die am 21. Jänner ihre Wiederaufnahme in den Spielplan der Staatsoper feiert. Und auch Komponist*innen der jüngeren Generation haben sich von Grillparzer zu eigenem Schaffen inspirieren lassen: Hans Thomalla hat in seiner 2012 in Stuttgart uraufgeführten Oper Fremd eine zentrale Jason-Passage aus den Argonauten musikalisch entfaltet, Tanja Glinser entnahm das sprachliche Material ihres Medea-Monodrams (2020/21) ebenfalls Grillparzers Dichtung. Die Regisseurin Karin Henkel kontextualisierte ihre Inszenierung von Euripides’ Medea 2020 am Münchner Residenztheater mit Auszügen aus dem Goldenen Vlies, um Beziehungen und Ereignisse, auf die die antike Tragödie anspielt, für den heutigen Zuschauer aufzufächern und nachvollziehbar zu machen. Es mag in diesem Zusammenhang überra-

schend sein, zu erfahren, dass Grillparzers Trilogie nicht nur literarische Vorläufer hat. Denn es scheint vor allem die Cherubinische Opernfassung aus dem Jahr 1797 gewesen zu sein, die einige der zentralen Ausgestaltungen des Dichters angeregt oder gar vorweggenommen hat. Luigi Cherubinis Médée entstand auf ein französisches Libretto von François-Benoît Hoffmann. Grillparzer dürfte dem Werk in der am k. k. Hofoperntheater seit 1812 gespielten deutschen Übersetzung des Beethoven-Librettisten Treitschke begegnet sein. Die Parallelen zwischen Operntext und Grillparzers Medea-Drama sind vielfältig. So ist das Goldene Vlies bereits in der Oper szenisch präsent (die Argonauten führen es im Triumph mit sich) und die Trophäe wird als fataler Ursprung aller Konflikte apostrophiert (»wieviel Blut und Tränen kostest du uns«); sie ist auch der entscheidende Einsatz im »Deal« zwischen Jason und Kreon sowohl um das Bleiberecht der Familie als auch um die Verheiratung Jasons mit Kreusa. Wie in der Oper wird auch bei Grillparzer nur Jason und den Kindern Aufenthaltsrecht gewährt, Medea hingegen zur Alleinschuldigen am Tod von Jasons Onkel Pelias erklärt. Vor allem aber ist die Idee, die Kinder selbst entscheiden zu lassen, wem sie angehören wollen – die Grillparzer zu jener entscheidenden Konfrontation ausgeformt hat, in der beide Kinder sich von der leiblichen Mutter abwenden –, im Libretto bereits als denkbare, wenn auch unausgeführte Szene vorweggenommen, in den Worten der Medea zu Jason in der 5. Szene des 2. Aktes der Oper: »Ich stelle Anspruch auf die Kinder und du willst sie für dich. / Möge ihre Liebe wählen und zwischen uns Richter sein!« Als Relief wurde dieser Moment Teil des Grillparzer-Denkmals im Burggarten. Auch der Brand des Palastes, als Folge der Vernichtung Kreusas, erfolgt schon in der Oper. Aber ein entscheidender Unterschied bleibt: Anders als Grillparzers Medea ist Cherubinis Medea in keinem Moment kompromissbereit oder gar anpassungswillig. Sie bleibt sich selbst und den andern gegenüber »knallhart« – darin gleicht sie der von Euripides geschaffenen Gestalt. Und genau hier gehen Grillparzer und der ihm folgende Aribert Reimann einen anderen Weg. Sie lassen ihre Medea – nach dem gescheiterten Anpassungsversuch an ein von Kreusa repräsentiertes domestiziertes Frauenideal – zurückfinden zu matriarchaler Priesterinnenwürde und als Vollstreckerin eines schicksalhaften Untergangs agieren. 32


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DIE MUSIK MACHT SICH PRAKTISCH IMMERFORT SELBSTSTANDIG ARIBERT REIM ANN, DER KOMPONIST DER MEDEA, IM GESPR ÄCH MIT ANDREAS LÁNG

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Herr Reimann, Sie haben Grillparzers Medea als Librettogrundlage für Ihre Oper gewählt. Warum gerade sein Drama? ar Es gibt in der Tat eine Vielzahl von Dichtern, die den Medea-Mythos aufgegriffen haben – einer der ersten und prominentesten war bekanntlich Euripides. Doch Grillparzer war meines Erachtens der erste, der Medea nicht als monströse Zauberin, sondern als in die Enge getriebene Frau vorstellt. Man versteht bei Grillparzer, dass Medea als Verlassene und Schutzlose sich wehren muss. Man kann die Umstände nachvollziehen, die ihre furchtbare Entscheidung, die eigenen Kinder zu töten, bedingen. Aus diesem Grund verarbeitete ich die Dramenvorlage dann selbst zum Libretto, da die Klangvorstellungen, die sich bei der Lektüre wie von selbst einstellten, ansonsten vermutlich gar nicht entstanden wären. al Sie übernahmen aber auch einige Zeilen aus den ersten beiden Teilen der GoldenenVlies-Trilogie, aus dem Gastfreund und den Argonauten. Weshalb? ar Ich habe noch Text benötigt, um Wesentliches ausdrücken zu können. An jener Stelle etwa, an der Kreusa zum letzten Mal abgeht – und zwar in Begleitung Jasons und der beiden Kinder –, wird Medea klar, dass sie ihre Nebenbuhlerin und die eigenen Söhne töten wird. Hier brauchte ich noch einige Zeilen und fand sie im Gastfreund. Medea hat dort eine Vision, bei der sie entfleischte Leiber und drei Häupter aus dem Totenreich aufsteigen sieht. Diese drei Häupter habe ich umgedeutet als jene von Kreusa und den beiden Kindern. al Hat die Sprache Grillparzers die Komposition beeinflusst?

ar Wie gesagt, manche Klangvorstellung entsprang direkt dem Text. Darüber hinaus kam mir der doch sehr biegsame Text sicherlich entgegen, da ich ihn je nach Notwendigkeit gebrauchen, etwa auch die Worte aufbrechen konnte. Letzteres war mir sehr wichtig, da ich eine syllabische Wortvertonung, in der jeder Silbe ein Ton zufällt, auf alle Fälle vermeiden wollte. al Sehr vereinzelt hört man in Ihrer Medea auch gesprochene Sprache. ar Etwa zu Beginn, wenn Jason Medea unsanft darauf hinweist, dass man die Gebräuche ihrer Heimat in Griechenland ablehnt. Ich benutzte das gesprochene Wort bewusst, um diese Äußerungen markant zu unterstreichen. al Die rhythmische Struktur in Medea ist für die Interpretinnen und Interpreten nicht gerade einfach zu erlernen. ar Diese zum Teil sicherlich komplizierten metrischen Verschiebungen sollen den Eindruck eines wellenförmigen Fließens erwecken. Dieses Gleiten offenbart die Unsicherheit der Handelnden: Alle Akteure verraten eine innere Nervosität, wenn sie auf Medea, die nicht durchschaubare Fremde, treffen. al Ist die Musik am Text entlang komponiert? ar Absolut nicht. Die Musik macht sich praktisch immerfort selbstständig, verlässt bewusst den Text, antizipiert regelmäßig. Zum Beispiel: Als Kreusa zu Medeas Kindern sagt »Kommt her zu mir, ihr heimatlosen Waisen«, diesen für die Mutter in Medea so schmerzhaften und unvorstellbaren Satz, da hört man in der Musik, was sich in diesem Moment in Medeas Kopf, in ihrem Inneren abspielt. Vergleichbares geschieht, wenn Medea in der vorhin erwähnten Unterwelts-Vision von großer Angst ergriffen 34


DIE MUSIK MACHT SICH PRAKTISCH IMMERFORT SELBSTSTÄNDIG

wird. Diese Angst wird durch eine sehr laute Kulmination im Orchester hörbar. Die Amme Gora, die erschrocken herbeiläuft, wird also nicht von Medea gerufen, sondern reagiert auf den Klang aus dem Graben. Insgesamt sind Singstimme und Orchester inhaltlich stark ineinander verzahnt. Das ist sehr gut zu verfolgen, wenn Medea die akkordischen Trompeteneinwürfe, die immer dann variiert werden, wenn vom Tod des Pelias die Rede ist, auflöst und sich dadurch gegen die Anschuldigung, die Mörderin zu sein, verteidigt. al Wir haben in der Medea solistische Passagen, sehr vieles wird durch die Musik allein ausgedrückt – wie wichtig sind dabei die Sängerensembles? ar Die Ensemblestellen sind immer dann eingesetzt, wenn Ereignisse aufeinandertreffen, wenn also inhaltliche Überschneidungen stattfinden. Etwa die kurze Zeit parallellaufenden Duette Medea-Kreusa und Jason-Kreon. al Haben Sie eine musikalische Charakterisierung der Figuren vorgenommen? ar Eine solche hatte ich von Anfang an geplant. Medea besitzt verständlicherweise das größte Spektrum – und sie unterscheidet sich klar von den anderen, da sie eine Fremde ist. Ihre Koloraturen sind deutlich gezackter und emotional aufgeladener als jene der wohlerzogenen Kreusa. In der Phase der Entstehung dieser Oper, als ich den Text zusammenstellte und noch nichts komponiert hatte, war ich eine Zeit lang im Zweifel, wie ich Medeas letztendlich scheiternde Anpassungsversuche an die griechische Lebensweise und an Kreusa musikalisch verdeutlichen sollte. Eines Nachts – ich weilte auf Lanzarote – hatte ich einen Traum, in dem ich erkannte, dass dies lediglich über Koloraturen funktionieren würde, und zwar zu Beginn des zweiten Bildes, dort, wo kein Wort zum Einsatz kommt. Ein ähnlich großes Spektrum wie Medea besitzt Jason, deshalb schrieb ich die Partie für einen Bariton, da dieser über mehr Farben und Möglichkeiten verfügt als ein Charaktertenor. Kreusa, die von Grillparzer als ständig Singende beschrieben wird, ist mit einem Geklingel von hohen Harfen und Celesta umgeben. Das spiegelt ihre naive Kindlichkeit. al Und weshalb ist der Herold mit einem Countertenor besetzt? ar Der Herold ist der Bote jenes Gerichts, dem auch König Kreon unterworfen ist. Dies wollte ich musikalisch verdeutlichen. So wie der Herold Kreon in puncto Macht überlegen ist, soll auch seine Partie in der Tonhöhe über jener des Kreon liegen. Da der König von einem Tenor gesungen werden soll, kann der Herold nur mit einem Counter besetzt sein. al Was für eine Funktion haben eigentlich die beiden Zwischenspiele? ar Das erste Zwischenspiel ist eine Weiterführung dessen, was man zuvor gehört hat und eine Hinfüh-

rung zu dem, was folgt. Die sich anschließenden tragischen Geschehnisse werden also im ersten Zwischenspiel musikalisch vorweggenommen. Am Ende des zweiten Zwischenspiels, in dem manche Elemente, die wir schon gehört haben, wiedererklingen, stirbt die bis dahin erklingende Musik aus. Danach beginnt mit der nun tiefen Harfe, die an die tote Kreusa erinnert, etwas Neues. al Inwieweit soll das Publikum die Überlegungen des Komponisten, die Struktur und die Form der Medea beim Hören erkennen? ar Sicher wird manches davon von den Zuhörern nur intuitiv erfasst, anderes, etwa diverse musikalische Erinnerungselemente, können hingegen sofort erkannt werden. Doch darauf kommt es weniger an. Wichtiger ist die Gesamtwirkung des Ganzen auf jeden einzelnen im Zuschauerraum.

INHALT MEDEA Vor den Mauern von Korinth vergräbt Medea, was sie an ihre Herkunft und Vergangenheit erinnert, so auch das Goldene Vlies, das Jason einst mit ihrer Hilfe aus ihrer Heimat geraubt hatte. Ihre Amme Gora warnt Medea: Ihr Gatte Jason liebt sie nicht mehr, von den Griechen wird sie als zauberkundige Fremde gefürchtet und verachtet. Nur widerstrebend erklärt Kreon, der König von Korinth, sich bereit, nicht nur Jason und seinen beiden Kindern, sondern auch Medea Aufnahme zu gewähren. Mit aller Kraft versucht Medea, ihr Wesen zu verleugnen und sich anzupassen. Bei Kreusa, der Tochter Kreons und Jugendliebe Jasons, nimmt sie Unterricht. Doch der Gedemütigten will die Wandlung nicht gelingen. Ein eintreffender Herold spricht über Jason und Medea, die des Mordes an Pelias, dem Onkel Jasons, beschuldigt sind, den Bann: innerhalb dreier Tage müssen sie Korinth verlassen. Kreon erklärt Medea zur Alleinschuldigen und verstößt sie. Jason und die Kinder dürfen bleiben, Jason soll zudem mit Kreusa eine neue Ehe eingehen. Medea fordert Jason vergebens auf, das Exil mit ihr zu teilen. Zuletzt erbittet sie die Kinder. Eines wird ihr zugestanden, doch als sie die Buben befragt, welcher sie am meisten liebe, wenden sich beide ab und ihrer neuen Mutter Kreusa zu. Die von Medea vergrabenen Gegenstände werden wieder aufgefunden. König Kreon verlangt das Goldene Vlies. Medea sendet es mit anderen tödlichen Gaben an Kreusa: Kreusa verbrennt. Zuletzt löscht Medea das Leben ihrer Kinder aus. Sie beschließt, das Goldene Vlies dem Tempel zu Delphi, aus dem es entwendet wurde, zurückzuerstatten und sich dem Urteil der Priester zu unterwerfen.

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LEBENS- MOTTO: MUSIK SABINE DEVIEILHE SINGT ERSTMALS AUCH IN WIEN DIE CONSTANCE

Es gibt mittlerweile praktisch keine Spielpläne internationaler Opern- und Konzertveranstalter mehr, in denen die französische Sopranistin Sabine Devieilhe nicht zu finden ist (zuletzt etwa im Sommer als Susanna in Mozarts Le nozze di Figaro bei den Salzburger Festspielen). Kein Wunder: sängerisch wie schauspielerisch gleichermaßen fabelhaft, dazu ein gewaltiges Repertoire, das vom Barock bis zum Zeitgenössischen reicht – mehr kann man nicht wollen! An der Wiener Staatsoper sang sie bereits 2018 eine großartige Marie in einer Aufführungsserie von Donizettis Komödie La Fille du régiment. Nun kehrt sie mit einer ihrer Paradepartien, die sie weltweit mit größtem Erfolg gibt, zurück: als Constance in Poulencs Dialogues des Carmélites – in jener neuen Produktion dieser kostbaren Rarität, die im Mai des Vorjahres ihre akklamierte Premiere feierte. Mit der Künstlerin sprach Andreas Láng. 36


KOP F Z E I L E

SA BIN E DE V IEILH E

Fo t o A N N A DA B ROW S K A

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LEBENSMOTTO: MUSIK

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Dirigent Bertrand de Billy betont, das es sich bei den Carmélites um ein Werk handelt, dass ihn sein Leben lang begleitet, weil es so bedeutend und besonders ist. Was fasziniert Sie an dieser Rolle, haben Sie die Partie aus eigenen Stücken in ihr Repertoire aufgenommen – schließlich handelt es sich bei den Dialogues des Carmélites nicht um ein Werk des Kernrepertoires? sd Meine erste Bekanntschaft mit der Constance machte ich bereits als Studentin am Pariser Konservatorium. Natürlich recherchierte ich – wie bei allen neuen Partien, die ich damals lernte, auf eigene Faust über die Hintergründe des Werkes, las die Vorlage von Bernanos und die Novelle Die Letzte am Schafott von Gertrud von le Fort. Allen voran aber beschäftigte ich mich einerseits mit Poulenc und seiner inneren Beziehung zu den von ihm geschaffenen Charakteren in dieser Oper und andererseits mit dieser ganz speziellen Figur der Constance. Und vom ersten Moment an war mir klar, dass diese Rolle für mich nicht einfach nur eine Übung war oder eine der Möglichkeiten, mich mit der Art und Weise des französischen Gesanges auseinanderzusetzen, sondern eine ganz intensive, fast geistige Erfahrung. Nicht bloß eine weitere Partie für einen leichten Sopran, die eine naive, hellere Farbe in die an sich dunkle Umgebung der Handlung einfügt. Ich erkannte, dass Poulencs wahre Empfindungen und Erkenntnisse in Bezug auf das Menschsein sich in Constance manifestieren. Glücklicherweise kann ich diese Rolle seit meiner Studentinnenzeit regelmäßig und oft singen, sie ist regelrecht eine meiner Reise-Rollen geworden, mit der ich auf der ganzen Welt gastieren darf. So gab ich mein Debüt an der New Yorker Met ebenfalls mit der Constance – übrigens, so wie hier in Wien, unter Bertrand de Billy. Ich fühle mich mit anderen Worten in diesem Charakter absolut daheim. al Constance ist also mehr als ein einfaches Landkind, mehr als nur fromm, fröhlich, opferbereit. Ist sie eine Heilige oder ist sie einfach nur jung? Franz Liszt hatte als Jugendlicher ja auch den romantischen Wunsch, eines Tages für seinen Glauben sterben zu können. sd Die Wahrheit leuchtet durch ihre Naivität hindurch, wenn sie ihre tiefgründigen, für Blanche zum Teil beängstigenden Gedanken äußert. Es ist ihr Glaube, der aus ihr strahlt, so, als ob sie körperlich durchsichtig wäre. Es ist, als ob sie vom Gnadengedanken überquellen würde. Mehr noch: Durch ihr Vertrauen dem Leben aber auch dem Tod gegenüber ist sie die Inkarnation von Gnade schlechthin. al Die Eingebung von Constance, dass sie eines Tages mit Blanche gemeinsam sterben soll, wird schlussendlich wahr: Zufall oder eine mystische Komponente? sd Diese Eingebung entspringt ihrer tiefen Freundschaft mit Blanche. Constance spürt vom Augenblick

ihres ersten Zusammentreffens an diese starke innere Verbindung zu Blanche, die auch durch den Tod nicht zerbrechen kann, da Constance im Tod nicht das Ende von allem sieht. al Welche der Passagen, in denen Constance auf der Bühne steht, ist für Sie die zentralste, wichtigste? sd Ich denke die allerletzte Szene. Poulenc hat bewusst und sehr schön die doch sehr verschiedenen Charaktere der einzelnen Nonnen herausgearbeitet. Umso beeindruckender ist, dass sie am Ende, trotz aller Gegensätze und Unterschiede, als Kollektiv zu sterben imstande sind. In ihrem letzten Gang werden sie zu einer Einheit. Aber gerade darum ist es interessant, dass Constance mit einem Mal beinahe ihr Vertrauen, ihre Ruhe verliert, weil eben Blanche nicht unter ihnen ist. Und dann, knapp bevor sie ihr Haupt unter die Guillotine legen muss – alle anderen Schwestern sind schon enthauptet –, erblickt sie endlich in der Menge Blanche und alles wird wieder gut für sie. Dieser Augenblick ist von einer kurzen Stille geprägt, einer ganz leisen Orchesterpassage, die eine enorme kathartische Wirkung entfaltet. Diese Takte sind der schönste Moment meiner gesamten Rolle – und gerade hier habe ich nichts zu singen. (lacht) al Eine unterschiedlich deutbare Situation spielt sich in jener Szene des dritten Aktes ab, in dem die Nonnen im Geheimen darüber abstimmen sollen, ob sie bereit wären, den Märtyrertod zu erleiden. Es kommt zu einer Gegenstimme, zu der sich schließlich Constance bekennt. Ist die Gegenstimme tatsächlich von ihr oder doch von Blanche, wie die Mitschwestern vermuten? sd Wie Sie sagen, die Szene ist unterschiedlich deutbar und muss auf den Proben erarbeitet werden. Die Letztentscheidung für die Interpretation liegt dann beim Regisseur, der Regisseurin, deshalb möchte ich die Frage hier nicht beantworten. Sicher ist, dass dieses im effektvollen Sprechgesang ausgeführte Geständnis der Constance ein Meisterstück französischer Opernkunst ist. Es muss klar und rein klingen wie Wasser, zu welcher Deutung man sich auch durchringt, Constance gewissermaßen durch ihre Freundschaft zu Blanche einer inneren Wahrheit folgt. Denn ganz gleich, ob sie nun Blanche schützen möchte und vortäuscht, gegen den Märtyrergedanken gestimmt zu haben, oder tatsächlich selbst dagegen gestimmt hat, um dadurch Blanche zu schützen – ihr Geständnis ist in einem weiteren Sinne auf jeden Fall aufrichtig. al Als Vorlage der hier erzählten Geschichte dienten eine Reihe von Nonnen aus dem Kloster von Compiègne, die wegen ihres Glaubens in der Französischen Revolution durch die Guillotine ermordet wurden. Welchen Stellenwert haben diese später seliggesprochenen Klosterschwestern in Frankreich heute? 38


LEBENSMOTTO: MUSIK

sd Das ist eine heikle Geschichte. Nach wie vor wird in Frankreich die Revolution durch eine politische Brille betrachtet und beurteilt. Die Notwendigkeit der Revolution steht außer Frage, trotz des Abgleitens in die Zeit der Grande Terreur, in der unsere Geschichte spielt. Die Perspektive, aus der die Oper und schon die Vorlage von Georges Bernanos erzählt wird, ist hingegen von Vornherein antirevolutionär. Für einen Franzosen, eine Französin stoßen daher zwei gegensätzliche Welten aufeinander. Jedenfalls ist es wichtig zu wissen, dass die Geschichte tatsächlich stattgefunden hat, dass es sich um eine historische, reale Begebenheit handelt und man daher gezwungen ist, im Detail hinzuschauen, um der Gefahr eines Schwarz-Weiß-Denkens zu entgehen.

Uns-Ausdrücken ist eine fundamentale Triebfeder und kann nur klappen, wenn man sich wirklich frei fühlt – in meinem Fall technisch, szenisch etc. Natürlich gibt es hundert Gründe wie beispielsweise eine Verkühlung oder zu wenig Probenarbeit, die einen daran hindern, dieses Ziel vollkommener Freiheit zu erreichen. Und natürlich kann dieses Ziel nur über den Weg harter Arbeit erfolgen. Aber ich habe dieses Freiheitsgefühl auf der Bühne schon gekostet, und das hat mich süchtig gemacht. Darüber hinaus empfinde ich bei den Auftritten die Verantwortung, eine Botschafterin unserer Kultur zu sein – gemeinsam mit allen Beteiligten vor und hinter den Kulissen. Aber es schadet natürlich auch nicht, Menschen im Publikum dabei glücklich zu machen. (lacht)

FRANCIS POULENC

DIALOGUES DES CARMÉLITES 28. 31. JÄNNER 2024 4. FEBRUAR 2024 Musikalische Leitung BERTRAND DE BILLY Inszenierung MAGDALENA FUCHSBERGER Mit NICOLE CAR / BERNARD RICHTER / MICHAELA SCHUSTER / MARIA MOTOLYGINA / JULIE BOULIANNE / MICHAEL KRAUS / SABINE DEVIEILHE / SZILVIA VÖRÖS / DARIA SUSHKOVA / THOMAS EBENSTEIN / ANDREA GIOVANNINI / GABRIEL PARK / JACK LEE / CLEMENS UNTERREINER

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Ein bekannter österreichischer Schauspieler, der ursprünglich Priester werden wollte, hat einen Vergleich zwischen einem Kloster und einem Theater gezogen: beide wären autarke Gemeinschaften, Welten mit eigenen Mechanismen und Gesetzen, in denen man als Einzelner einen ganz bestimmten Platz hätte und sich aufgehoben fühlt. Kann das Theater für eine Sängerin eine Art Heimatersatz sein? sd Es ist etwas Wahres daran und zwar insofern, als ich tatsächlich nie ein derartiges Zu-Hause-Gefühl habe wie in den Momenten, in denen ich als Constance auf der Bühne stehe. Einmal sprang ich kurzfristig als Constance für eine erkrankte Kollegin am Pariser Théâtre des Champs-Élysées ein, hatte kaum Proben – und trotzdem fühlte ich mich während der Aufführung absolut zugehörig zu den übrigen Kolleginnen, die die Nonnen verkörperten. Ja, ein Theater kann tatsächlich etwas wie eine Familie für einen Sänger, eine Sängerin sein. Trotzdem ist es schön, nach einer Probe oder Vorstellung wirklich heimzugehen. (lacht) al Wozu nimmt eine Sängerin die Hürden dieses Berufes auf sich? Den oft gehörten Satz, dass man andere Menschen glücklich machen möchte, halte ich für eine schöne Ausrede. sd Wir müssen als Künstlerin, als Künstler einen Weg finden, um uns ausdrücken zu können. Dieses

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Zum Abschluss noch eine sehr elementare Frage: Was ist Musik für Sie? sd Ich glaube, ich erinnere mich sogar an den Tag, an dem ich entdeckte, dass Musik einen Teil meines Lebens darstellt. Auf jeden Fall liebte ich es schon in meiner frühesten Kindheit, der Musik zu lauschen – zunächst dem Pop-Genre, später der klassischen Musik. Und spätestens in meiner Teenager-Zeit wurde mir klar, dass es niemals passieren dürfte, dass die Musik aus meinem Leben verschwindet. Musik ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Teil von mir, Teil meines Daseins. Musik und ich – das ist eine nicht endende Liebesgeschichte.

INHALT DIALOGUES DES CARMÉLITES Compiègne bei Paris, April 1789: Im Karmelitinnenkloster kämpft die junge Adelige Blanche de la Force gegen ihre Todesangst und für ihr Ziel, ein »heroisches Leben« zu leben. Inmitten der Grande Terreur ist die Gemeinschaft gespalten zwischen der Priorin Madame Lidoine, die zur Demut mahnt, und der Novizenmeisterin Mère Marie, die das Martyrium für den Glauben predigt. Letztere setzt sich durch, und ehe die Revolutionsgarden den Orden verbieten, legen die Schwestern das entsprechende Gelübde ab – bis auf die abwesende Priorin und Blanche, die dem Druck nicht standhält und flieht. Als die Kamelitinnen, wegen konterrevolutionärer Konspiration zum Tod verurteilt, den Gang auf das Schafott antreten, reiht sich Blanche in die Verurteilten ein.

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N INA S T EM M E als M IN N IE u n d J O N A S K AU F M A N N a l s D I C K J O H N S O N i n L A FA N C I U L L A D E L W E S T, W i e n e r S t a a t s o p e r, 2 0 1 3 Fo t o M I C H A E L P Ö H N

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SCHLAGLICHTER

IM JANNER MEISTERWERK

M A L I N B Y S T RÖ M

OHNE KLISCHEES Wo gibt’s das sonst? Acht PucciniOpern in einer Spielzeit, in exemplarischen Besetzungen, von Tosca bis Tabarro. Auch die Wiederaufnahme von Fanciulla del West gehört in diese Staatsopern-Puccini-Serie. Fanciulla del West also: Die Uraufführung an der New Yorker Metropolitan Opera 1910 geriet zum Triumph, drei Jahre später war das Werk an der Wiener Staatsoper zu erleben. Auch hier: Ein Erfolg! Doch irgendwann geriet die Oper in die Wildwest-Klischee-Falle, und das, obwohl Fanciulla von Hollywood-Revolverstorys meilenweit entfernt ist. Denn es geht nicht um romantisch verbrämte Helden, sondern um Entwurzelte und Gestrandete, die ihre Heimat verlassen mussten. Dies betont auch die Inszenierung von Marco Arturo Marelli. Die Titelpartie singt bei der Wiederaufnahme Malin Byström, jene faszinierende Sängerin, die der Salome-Neuproduktion in der Vorsaison ihren hochpersönlichen Stempel aufgedrückt hat und bereits bei ihrem Staatsopern-Debüt als Elisabeth in Verdis Don Carlos faszinierte.

»Die Violinen zu Beginn: Medeas zerklüftetes Inneres«, notierte der Komponist Aribert Reimann in seinem Produktionstagebuch zur Oper Medea. Es ist eine eindringlich sprechende, aber auch psychologisch fein zeichnende Musiksprache, die die unterschiedlichen (Innen-)Welten der Figuren ausmisst und die Geschichte einer Verstoßenen erzählt. 2010 wurde das Auftragswerk der Staatsoper mit großem und nachhaltigem Erfolg herausgebracht, nun kehrt das eindringliche Werk unter dem Premierendirigenten Michael Boder zurück an die Stätte seiner triumphalen Uraufführung. Der Komponist Reimann erzählt die alte, tragische Geschichte der Medea neu, ungemein berührend und betroffen machend. Die Ausgestoßene, die zur Mörderin ihrer Kinder wird, ist eine Getriebene, die Gesellschaft, die sie umgibt, eine kalte und feindliche. Den Jason gibt bei der Wiederaufnahme, wie in der Premierenserie, KS Adrian Eröd, die Titelpartie gestaltet Hausdebütantin Nicole Chevalier.

K S A D R I A N E RÖ D

R AC H E L W I L L I S - S Ø R E N S E N

KOMPONIERTER AUFSTAND Mit der Wiederaufnahme von Verdis I vespri siciliani – die Handlung geht auf einen historischen Aufstand auf Sizilien zurück – kommt am 13. Jänner ein Werk zurück in den Spielplan, das von Kennern wie Hector Berlioz zu den kostbarsten und reichsten Partituren Giuseppe Verdis gezählt wurde. Verdi hatte in dieser für Paris geschriebenen, zunächst französischsprachigen Oper die damals gefeierte Gattung der Grand opéra zu einem neuen Höhepunkt geführt: Eine neue Qualität der Instrumentation und der Charakterisierung, scharf gezeichnete, plastisch wirkende Figuren, ein großer Schritt in Richtung einer modernen Dramenkonzeption und eine musikalisch-psychologische Ausdeutung der Handelnden. In der Partie der Elena, die zwischen die Fronten gerät, ist Rachel Willis-Sørensen zu erleben, die zuletzt an der Seite von Jonas Kaufmann die Desdemona in Verdis Otello mit großem Erfolg gestaltete.

Fo t o s P E T E R K N U T S O N ( B y s t r ö m) /

N I KO L AU S K A R L I N S K Y ( E r ö d ) / L U K A S B E C K (S Ø r e n s e n )

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P I N N WA N D

TODESFÄLLE

WERKEINFÜHRUNGEN

sehen bis zur Oper reichte sein Schaffen, einer der Schwerpunkte war Theater für Jugendliche.

Viele Zuschauerinnen und Zuschauer schätzen die kostenlosen Werkeinführungen vor ausgewählten Vorstellungen im Gustav Mahler-Saal: Eine halbe Stunde vor Beginn der Aufführung erzählen Dramaturginnen und Dramaturgen über das gleich zu erlebende Werk, umreißen den Inhalt und weisen auf die Besonderheiten der aktuellen Produktion hin. So können gewissermaßen »last minute« wichtige Informationen über die Opern- bzw. Ballettaufführungen eingeholt werden – was den jeweiligen Abend zu einem noch erfüllenderen Erlebnis macht! Im Jänner gibt es Einführungen zu Shifting Symmetries, La fanciulla del West, Dornröschen, I vespri siciliani, Medea und Dialogues des Carmélites. F R A N Z BA RTOLOM EY

LIVE-STREAM AUS DER WIENER STAATSOPER

A N DY H A L LWA X X Fo t o F R I T Z N OVO PAC K Y

Der ehemalige Solocellist des Staatsopernorchesters, FRANZ BARTOLOMEY, starb am 1. Dezember 2023. Geboren 1946, entstammte Bartolomey einer Musikerfamilie – sein Großvater war Solo-Klarinettist des Wiener Hofopernorchesters unter Gustav Mahler, sein Vater Geiger in ebendiesem Klangkörper und später Geschäftsführer der Wiener Symphoniker. Er selbst entdeckte das Cello als »sein« Instrument bei einem Abonnementkonzert der Wiener Philharmoniker und trat 1967 in das Staatsopernorchester ein. 1973 wurde er Solocellist und gehörte fortan zu den Stützen des Klangkörpers. Bartolomey war ein Name, der für eine nie versiegende Liebe zum Metier stand und die Freude am Musizieren repräsentierte. Seine Hingabe an die Kunst, die hohe Qualität und sein engagiertes Wirken gehören zu dem besonderen Vermächtnis dieses Ausnahmemusikers.

27. 19.00

RADIO-TERMINE

MEDEA (REIMANN) Musikalische Leitung BODER

6. 19.30

TURANDOT (PUCCINI)

Inszenierung & Licht MARELLI

Ö1

Mit CHEVALIER (Medea), BOCK (Kreusa),

Musikalische Leitung ARMILIATO

BOHINEC (Gora), FRANK (Kreon),

Mit u.a. GRIGORIAN (Turandot), KAUFMANN

ERÖD (Jason), ZAZZO (Herold)

(Calaf), MKHITARYAN (Liù)

OFFIZIELLER FREUNDESKREIS DER WIENER STAATSOPER

CHOR & ORCHESTER DER WIENER STAATSOPER Aufzeichnung aus der Wiener Staatsoper Dezember 2023

9. 10.05

13. 19.00

PETER SEIFFERT ZUM 70. GEBURTSTAG MIT ROBERT FONTANE

Ö1

I VESPRI SICILIANI

Ö1

Musikalische Leitung RIZZI Mit u.a. GOLOVATENKO (Guido di Monforte),

Der Regisseur und Schauspieler ANDY HALLWAXX, der an der Wiener Staatsoper in der beliebten Produktion Der Barbier für Kinder als Spielleiter Ambrogio auf der Bühne stand, ist in der Nacht auf den 6. Dezember unerwartet verstorben. Hallwaxx war eine österreichische Institution: Er war auf zahlreichen Bühnen zu Hause – und »zu Hause« traf bei ihm tatsächlich zu. Denn seine Freude am Spiel, am Entwickeln von Ideen, seine Liebe zum Metier war begeisternd und inspirierend. »Ich bin ein Theatermensch, und alles, was dieses Metier betrifft, fügt sich bei mir zusammen«, erzählte er in einem Interview im Opernring 2. Sein Wirkungskreis war weit: Vom Wiener Volkstheater bis zur Staatsoperette Dresden, vom Carinthischen Sommer bis zum Musikverein, vom Fern-

OSBORN (Arrigo), SCHROTT (Giovanni da Procida), WILLIS- SØRENSEN (Elena) CHOR UND ORCHESTER DER WIENER STAATSOPER Live-Übertragung der Wiederaufnahme aus der Wiener Staatsoper B E R T R A N D D E B I L LY

28. 15.05 DAS WIENER STAATSOPERNMAGAZIN Ausschnitte aus aktuellen Aufführungen Mit MICHAEL BLEES

Ö1

Fo t o M A R C O B O RG G R E V E

Exklusive Veranstaltungen im Jänner umfassen unter anderem die Diskussion Nivellieren wir uns zu Tode? mit Simone Young und Florian Boesch (13. Jänner, 14.30 Uhr) und ein Künstlergespräch mit Bertrand de Billy (29. Jänner, 14 Uhr). Anmeldung und Informationen unter → wiener-staatsoper/foerdern

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P I N N WA N D

NEUJAHRSKONZERT 2024

FREUNDESKREIS WIENER STAATSBALLETT

PRODUKTIONSSPONSOREN DON GIOVANNI

SERVICE

A T M

ADRESSE Wiener Staatsoper GmbH Opernring 2, 1010 Wien +43 1 51444 2250 +43 1 51444 7880 information@wiener-staatsoper.at

IMPRESSUM

O L G A E S I N A w ä h r e n d d e r D r e h a r b e i t e n z u m N E U J A H R S KO N Z E R T 2 0 2 4 Fo t o O R F/ T H O M A S J A N T Z E N

OPERNRING 2

Bereits zum vierten Mal choreographierte DAVIDE BOMBANA die vorab aufgezeichneten Balletteinlagen des Neujahrskonzerts der WIENER PHILHARMONIKER, das am 1. Jänner 2024 aus dem Wiener Musikverein vom ORF weltweit übertragen wird. Das WIENER STA ATSBALLETT tanzt diesmal den Ischler Walzer von Johann Strauß Sohn in der Bad Ischler Kaiservilla und Carl Michael Ziehrers Wiener Bürger, Walzer op. 419, in der Waldviertler Rosenburg. Für die Kostüme zeichnet die österreichische Designerin SUSANNE BISOVSKY verantwortlich, die zuletzt für den Wiener Opernball 2023 die Ballettkostüme kreierte.

EHRUNGEN Mit Solotänzer ENO PECI und Corps de balletMitglied IGOR MILOS wurde im Dezember 2023 zwei langjährigen und verdienstvollen Tänzern – die seit 2000 bzw. 2002 Mitglieder des Wiener Staatsballetts sind – vom Betriebsrat des darstellenden künstlerischen Personals der Jubiläumsring der Wiener Staatsoper überreicht.

JÄNNER 2024

T E S S A M AG DA , G A B R I E L E A I M E &

ENSEMBLE BEIM TR A IN ING Fo t o J E N N I KO L L E R

Das Programm der Ballettfreunde gibt im Jänner mit zwei Veranstaltungen Einblicke in die Arbeit hinter den Kulissen. Die Förderer und Förderinnen, die eine neue Mitgliedschaft im Lauf der aktuellen Spielzeit abgeschlossen haben, begrüßen wir zur Vorstellung The moon wears a white shirt (Kauf von Tickets erforderlich) am 12. Jänner 2024 in der Volksoper Wien mit dem Besuch des Warm-Ups der Tänzer*innen im Ballettsaal. Außerdem freuen wir uns, am 17. Jänner eine Führung durch den immensen Kostümfundus von ART for ART anbieten zu können. Alle Infos zum Freundeskreis Wiener Staatsballett und die Möglichkeit zur Anmeldung: → wiener-staatsballett.at / foerdern

SAISON 2023 / 24

Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH / Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ / Kaufmännische Geschäftsführung DR. PETRA BOHUSLAV / Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Ballettdirektor MARTIN SCHLÄPFER / Redaktion SERGIO MORABITO / ANNE DO PAÇO / KATHARINA AUGENDOPLER / NASTASJA FISCHER / IRIS FREY / ANDREAS LÁNG / OLIVER LÁNG / NIKO­L AUS STENITZER / KRYSZTINA WINKEL / Art Direction EXEX / Layout & Satz IRENE NEUBERT / Am Cover ERWIN SCHROTT Foto THOMMY MARDO / Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUK­ TIONS GMBH, BAD VÖSLAU REDAKTIONSSCHLUSS für dieses Heft: 22. Dezember 2023 / Änderungen vorbehalten / Allgemein verstandene personenbezogene Ausdrücke in dieser Publikation umfassen jedes Geschlecht gleichermaßen. / Urheber / innen bzw. Leistungsschutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. → wiener-staatsoper.at

KAMMERMUSIK Mit einem spannenden Programm wartet das Kammermusikkonzert der Wiener Philharmoniker am 20. Jänner auf. Dargeboten werden Werke von Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach und Georg Friedrich Händel, aber auch ein Stück des weniger bekannten tschechischen Komponisten Jan Dismas Zelenka. Zu hören sind diesmal Maxim und Kotono Brilinsky, Sebastian Breit und Stefan Gartmayer. Das Konzert findet im Gustav Mahler-Saal statt.

ENO PECI & IG OR M ILOS GENERALSPONSOREN DER WIENER STAATSOPER


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UNSERE ENERGIE FÜR DAS, WAS UNS BEWEGT. Das erste Haus am Ring zählt seit jeher zu den bedeutendsten Opernhäusern der Welt. Als österreichisches und international tätiges Unternehmen sind wir stolz, Generalsponsorin der Wiener Staatsoper zu sein. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf: omv.com/sponsoring


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