Programmheft »Macbeth«

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MACBETH Giuseppe Verdi


Das Leben ... was bedeutet es schon! Die Erzählung eines armen Narren … Schall und Rauch! La vita … che importa? È il racconto d’un povero idiota; Vento e suono che nulla dinota! Macbeth, 4. Akt


INHALT Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Philippe Jordan über Macbeth 14 Adam und Evas Totentanz in Anti-Eden → Andreas & Oliver Láng im Gespräch mit Barrie Kosky

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Mit allen Sprachen Barrie Koskys → Nikolaus Stenitzer

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30. Vorlesung über dramatische Kunst und Literatur → August Wilhelm Schlegel

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Vorrede zu Macbeth → Bertolt Brecht

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Das Ehepaar Macbeth → Stephen Greenblatt

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Die am Erfolg scheitern → Sigmund Freud

48

Schuld, Psyche und Vergebung → Oliver Láng im Gespräch mit Georg Titscher

60

Verdis Macbeth im Kontext der italienischen Shakespeare-Rezeption → David R.B. Kimbell

68

Es gab ’ne Zeit → John Middleton Murry

80

Über Verdis Macbeth → Johannes Maria Staud

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Zwischen Schauer-Kitsch und Beton-Bunker → Andreas Láng

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Verdi hat Shakespeare vorhergesehen → Gabriele Baldini

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Notte Verdiana → Michael Kraus

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Equivocation – Gaukelspiel der Hölle? → Sergio Morabito

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Verdis Größe → Gabriele Baldini

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Die Geschichte von Macbeth → Raphael Holinshed

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MACBETH → Melodramma in vier Akten Musik Giuseppe Verdi Text Francesco Maria Piave & Andrea Maffei nach William Shakespeare

Orchesterbesetzung 1 Flöte, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Cimbasso, Pauke, Schlagwerk, 1 Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 4 Klarinetten, 2 Fagotte, 1 Kontrafagott, 4 Hörner, 6 Trompeten, 1 Flügelhorn, 3 Posaunen, Schlagwerk Spieldauer ca. 3 Stunden inkl. einer Pause Autographe Verlagsarchiv Ricordi, Mailand (1. Fassung) Bibliothèque nationale de France (2. Fassung) Uraufführung 1. Fassung 14. März 1847 Teatro della Pergola, Florenz 2. Fassung 21. April 1865 Théâtre Lyrique, Paris Erstaufführung in Wien 11. Dezember 1849, Kärntnertortheater Erstaufführung im Haus am Ring 28. April 1933


Anna Netrebko als Lady Macbeth



DIE HANDLUNG 1. Akt Introduktion
 Hexen erzählen, was sie treiben. Macbeth und Banco, die Generäle des Königs, kommen aus dem Krieg. Die Frauen grüßen Macbeth, den Herrn von Glamis, prophetisch als Herrn von Cawdor und als König von Schottland. Auch Banco will seine Zukunft wissen. Er soll Vater von Königen werden. 
Soldaten melden die Ernennung Macbeths zum Herrn von Cawdor. Macbeth schaudert vor der Gewalt, mit der er die zweite Prophezeiung wahrmachen könnte. Banco durchschaut seine Versuchung. Chor 
 Die Hexen erwarten, dass Macbeth sie bald wieder aufsuchen wird. Ein Brief ihres Mannes berichtet Lady Macbeth von der Begegnung mit den Hexen. Sie kennt seinen Ehrgeiz, zweifelt aber an seiner Gewaltbereitschaft. Cavatina Sie ist entschlossen, seine Hemmung auszuräumen. Ein Diener meldet die bevorstehende Ankunft König Duncans. Lady Macbeth setzt all ihre Hoffnungen auf die Nacht, die der König unter ihrem Dach verbringen wird. Vor dem Eintreffen des Königs und seines Gefolges finden Macbeth und die Lady noch Zeit, sich zu verständigen.
 Marsch
 Große Szene 
 Macbeth sieht einen blutigen Dolch, der ihn zum Schlafzimmer des Königs führt.
Auf das verabredete Signal hin dringt er ein.
 Duett
 Nach dem Mord weigert sich der völlig Verstörte, noch einmal das Zimmer zu betreten, um die Tatwaffe den schlafenden Wächtern unterzuschieben. Lady Macbeth tut es. Es klopft an der Pforte. Lady Macbeth reißt ihren Mann mit sich fort. Macduff und Banco entdecken den Toten und schlagen Alarm. Finale I Die Herbeigeeilten verfluchen den Mörder und rufen Gottes Strafgericht an. H A N DLU NG

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2. Akt Duncans Sohn Malcolm ist nach England geflohen. Er gilt als der Mörder seines Vaters. Macbeth ist König. Um zu verhindern, dass sich die Prophezeiung bewahrheitet, Banco werde Vater von Königen, beschließt er, Banco und dessen Sohn Fleance zu töten. Arie Lady Macbeth berauscht sich an der Macht über Leben und Tod.
 Chor
 Von Macbeth gedungene Mörder locken Banco und seinen Sohn in einen Hinterhalt.
 Große Szene Banco, der trotz seines Verdachts der Einladung Macbeths gefolgt ist, wird ermordet. Fleance kann entkommen. Finale II Das neue Königspaar gibt ein Fest. Lady Macbeth singt ein Trinklied. Einer der Mörder meldet Macbeth den Tod Bancos und die Flucht Fleances. Als Macbeth sich auf den freigebliebenen Sessel setzen will, sitzt Bancos Geist auf ihm. Lady Macbeth und die Gäste sehen ihn nicht. Der Geist verschwindet. Macbeth lässt das Trinklied wiederholen. Bancos Geist erscheint noch einmal. Macbeth beschließt, zu den Hexen zu gehen. Die Lady schmäht seine Gespensterfurcht. Die Festgesellschaft beobachtet die Zerrüttung des Herrschers. Macduff, ein schottischer Adliger, wird das Land verlassen.

3. Akt Introduktion Die Hexen sind am Werk.
 Große Szene Macbeth will sein Schicksal wissen. Die Hexen beschwören Geister. Diese prophezeien: Macbeth solle sich hüten vor Macduff; keiner, den eine Frau geboren, könne ihn verwunden; ehe nicht der Wald von Birnam gegen ihn anrücke, sei er unbesiegbar. Ob Bancos Geschlecht herrschen wird, will Macbeth wissen. Acht Könige erscheinen, der letzte trägt einen Spiegel: Banco. Lachend zeigt er die lange Reihe seiner gekrönten Nachkommen. Macbeth wird ohnmächtig. Duett Lady Macbeth lässt sich von den Erscheinungen berichten. Macbeth und seine Frau werden Macduffs und Bancos Familien vernichten.

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Vierter Akt Chor Ein Flüchtlingslager an der Grenze zwischen Schottland und England. Große Teile der schottischen Bevölkerung verlassen auf der Flucht vor der Gewaltherrschaft Macbeths ihr Land. Arie Macduff denkt an seine Frau und seine Kinder. Er hat sie in Schottland zurückge lassen. Macbeth hat sie ermordet. Macduff will die Rache Gottes vollstrecken. Malcolm ist mit einer englischen Streitmacht nach Schottland unterwegs. Im Wald von Birnam befiehlt er den Soldaten, sich mit Ästen zu tarnen. Flüchtlinge schließen sich dem Heer an. Große Szene Ein Arzt und eine Kammerfrau beobachten die schlafwandelnde Lady Macbeth. Immer wieder versucht sie, einen vermeintlichen Blutfleck an ihrer Hand zu entfernen. Arie Macbeth spürt den nahen Tod. Er ist ohne Hoffnung. Die Kammerfrau meldet den Tod der Königin. Soldaten verkünden das Nahen des Walds von Birnam. Macbeth ruft zu Tod oder Sieg. Schlacht Macduff, den man einst der Mutter aus dem Schoß schnitt, tötet Macbeth. Macbeths Ende Macbeth unterliegt »von Gott und Menschen verflucht«. Siegeshymne Malcolm ist König von Schottland.

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Franz Werfel → Schuld

Alle Gründe, alle Sümpfe hinter mir sind meiner Opfer voll. Aufging in Flur und Straß’ kein Schritt, der mir nicht Vorwurf scholl. Voll böser Lust schlug ich einen Hund. Nun hängt sein Aug unter meinem Lid. In meiner Lade modern Briefe, die kein Rächer sieht. O Wintersterne über mir, Gestirne meiner Schuld! O über dem Gewehe Augen ohne Gnade. Hass und Huld! O meiner Schwester Schmerzensblick, den Gott nicht aus den Räumen rafft. Denn Nichtswirdwiedergut heißt der Polarstern mit dem Namen tiefer Wissenschaft! 11


SYNOPSIS

First Act Introduction
 The witches tell what they are up to. Macbeth and Banco, the king’s generals, come from a battle. The women salute Macbeth, the Lord of Glamis, prophetically as Lord of Cawdor and then as King of Scotland. Banco also wants to know his future. He is to become the father of kings. Soldiers announce the appointment of Macbeth as Lord of Cawdor. Macbeth shudders at the thought of the violence with which he could carry out the second prophecy. Banco sees through his temptation. Chorus The witches expect Macbeth to visit them again soon. A letter from her husband tells Lady Macbeth about the encounter with the witches. She knows his ambition, but doubts his willingness to use violence. Cavatina She is determined to get rid of his inhibitions. A servant announces the imminent arrival of King Duncan. Lady Macbeth puts all of her hopes on the night the King will next spend under her roof. Before the arrival of the king and his retinue, Macbeth and the Lady find time to exchange plans. March Grand Scene Macbeth visions a bloody dagger leading him to the king’s bedroom. At the agreed signal, he infiltrates the King’s chamber. Duet After the murder, the completely distraught Macbeth refused to enter the room again to slip the murder weapon onto the sleeping guards. Lady Macbeth does it. There is a knock at the gate. Lady Macbeth takes her husband away with her. Macduff and Banco discover the murdered victim and sound the alarm. Finale I All rush in cursing the murderer and appealing for God’s swift judgment. SY NOPSIS

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Second Act Duncan’s son Malcolm has fled to England. He is considered to be his father’s murderer. Macbeth is king. To prevent the prophecy that Banco will become the father of kings, he decides to kill Banco and his son Fleance. Aria Lady Macbeth is intoxicated by her power over life and death. Chorus Murderers hired by Macbeth ambush Banco and his son. Grand Scene Banco, who despite his suspicions accepted Macbeth’s invitation, is murdered. Fleance escapes. Finale II The new royal couple are hosting a party. Lady Macbeth sings a drinking song. One of the murderers reports Banco’s death and Fleance’s escape to Macbeth. When Macbeth tries to sit on a vacant chair, Banco’s ghost sits on him. Lady Macbeth and the guests do not see him. The ghost disappears. Macbeth has the drinking song repeated. Banco’s ghost reappears. A distraught Macbeth decides to revisit the witches. The lady admonishes his fear of ghosts. The festive guests observe their ruler’s breakdown. Macduff, a Scottish nobleman, plans to leave the country.

Third Act Introduction The witches are at work. Grand Scene Macbeth wants to know his fate. The witches summon the spirits. They prophesy:​​ Macbeth should beware Macduff; no one born to a woman can wound Macbeth; until the forest of Birnam moves against him, Macbeth is invincible. He then wants to know whether Banco’s gender will rule. Eight kings appear, a mirror is carried by the last one: Banco. Laughing, he shows the long line of his crowned offspring. Macbeth passes out. Duet Lady Macbeth receives a report of the apparitions. Macbeth and his wife will destroy Macduff and Banco’s families.

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SY NOPSIS


Fourth Act Chorus A refugee camp on the border between Scotland and England. Large parts of the Scottish population are fleeing from the tyranny of Macbeth. Aria Macduff thinks of his wife and children that he left in Scotland. Macbeth has murdered her. Macduff wants to take God’s vengeance. Malcolm is on his way to Scotland with an English force. In the forest of Birnam, he orders the soldiers to camouflage themselves with branches. The refugees follow the army. Grand Scene A doctor and a chambermaid watch the sleepwalking Lady Macbeth. Repeatedly she tries to remove an imagined blood stain on her hand. Aria Macbeth senses death is at hand. He is without hope. The maid reports the death of the queen. Soldiers announce the approach of Birnam Forest. Macbeth calls for victory or death. Battle Macduff, who was once cut from his mother’s womb, kills Macbeth. Macbeth’s End Macbeth is defeated »cursed by God and men«. Victory Anthem Malcolm is proclaimed King of Scotland.

Luca Salsi als Macbeth und Freddie De Tommaso als Macduff →

SY NOPSIS

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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Mit Macbeth schlug Giuseppe Verdi gleich mehrfach neue Wege ein. Nach Vertonungen literarischer Vorlagen von Victor Hugo, Lord Byron oder Friedrich Schiller widmete er sich mit seiner zehnten Oper erstmals einer Tragödie von Shakespeare, weitere Vertonungen des englischen Dichters sollten folgen. Auch musikalisch betrat der Komponist mit dieser Oper Neuland. Einen Abriss der Besonderheiten der musikalischen Sprache in Macbeth gibt ab Seite 14 der musikalische Leiter der Produktion und Musikdirektor der Wiener Staatsoper, Philippe Jordan. Der österreichische Komponist Johannes Maria Staud widmet sich – gewissermaßen aus Kollegenperspektive – weiteren Facetten der Partitur (S. 92). Und wie Verdi sich durch eine ausgefeilte Sprachregie von konventionellen Erwartungen an »Schöngesang« löste, ohne seine Verwurzelung in der Tradition des Belcanto zu verleugnen, beschreibt Michael Kraus ab S. 106. David Kimbell erläutert die Stellung Shakespeares im literarischen und musiktheatralischen Italien des 19. Jahrhunderts (S. 68), Gabriele Baldini rückt bestimmte Klischees in der Deutung von Verdis Beziehung zu Shakespeare wie auch zum Risorgimento ebenso geistreich wie provokant zurecht (S. 102 und 120). Gleich mehrfach werden in dem Programmbuch Aspekte von Shakespeares Macbeth beleuchtet: August Wilhelm Schlegels Macbeth gewidmete 30. Vorlesung über dramatische Kunst und Literatur war der von Verdi benutzten Übersetzung beigegeben und prägte seine Lesart entscheidend mit (S. 34). Bertolt Brecht legt in seiner Vorrede zu Macbeth die offene Struktur der Tragödie frei (S. 40), während der englische Kritiker und Autor John Middleton Murry Shakespeares Sprach- und Seelenmusik nachhorcht (S. 80). Sergio Morabito widmet sich ab Seite 114 der Entschlüsselung eines zentralen Begriffs des Dramas: der »Doppeldeutigkeit«. In einer berühmt gewordenen Analyse behandelte Sigmund Freud das Scheitern der Lady Macbeth (S. 48), der Arzt und Psychotherapeut Georg Titscher widmet sich in einem Gespräch mit Oliver Láng dem Thema Schuld (S. 60), der große Shakespeare-Forscher Stephen Greenblatt wirft einen analytischen Blick in die Beziehung des Ehepaares. Warum Macbeth erst spät an die Wiener Staatsoper kam und weshalb es in weniger als einem Jahrhundert bereits acht Neuproduktionen gab, erläutert Andreas Láng ab Seite 96. Einen Einblick in die Theaterarbeit von Barrie Kosky gibt Nikolaus Stenitzer (S. 28), im Gespräch mit Andreas und Oliver Láng beleuchtet der Regisseur seinen Zugang zu Verdis dunklem Meisterwerk (S. 20). Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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Wilhelm Müller → Die Krähe

Krähe, wunderliches Tier, willst mich nicht verlassen? Meinst wohl bald als Beute hier meinen Leib zu fassen?


Philippe Jordan

DIE GEBURT DES ITALIENISCHEN MUSIKTHEATERS

Über die Finessen der Macbeth-Partitur


Verdi hat mit seinem Macbeth ganz bewusst die Straße der gängigen Operntradition seiner Zeit verlassen und echtes Musiktheater geschaffen. Erste diesbezügliche Ansätze und Aufbrüche finden sich ja schon in Nabucco oder Ernani, aber hier im Macbeth gab es einen fundamentalen Entwicklungssprung, der bei Verdi zweifelsohne durch die Shakespeare’sche Vorlage ausgelöst wurde. Das Genie des Komponisten konnte sich während des Vertonungsprozesses am Werk des großen englischen Dramatikers nachgerade so richtig entzünden, bereits vorhandene, keimende künstlerische Bestrebungen gelangten so zum Durchbruch. Mit anderen Worten: Shakespeare hat Verdi überwältigt und in höchstem Grade inspiriert (ebenso wie danach Schiller im Falle des Don Carlos). Anders ist es nicht zu erklären, dass hier etwa die Gesangslinien und Melodien erstmals einer deklamatorischen Haltung entspringen, die eher vom Gedanken des Schauspiels getragen sind beziehungsweise von der Dramaturgie der Szene bestimmt werden als von rein musikalischen Leitgedanken. Sicherlich gibt es in der ersten Fassung von 1847 noch einige konventionellere Abschnitte, in denen es scheinbar vordergründig um Koloraturen und Virtuosität geht und die Verdi dann in der zweiten und endgültigen Version von 1865 nahezu vollständig eliminierte. Aber sehr vieles existierte von Anfang an in seiner revolutionär modernen Form – die große Nachwandel-Szene der Lady Macbeth im vierten Akt ist ein herausragendes Beispiel. Es ist ungemein faszinierend, wie sehr diese zentrale Szene, die der noch nicht einmal 35jährige geschaffen hatte, in ihrer gesamten Anlage und Musiksprache weit auf die späteren und spätesten Werke vorausweist, auch auf eine Rollengestaltung der Eboli oder Amneris, in der Verwendung der Chromatik wird sogar der Falstaff antizipiert. Eine für die damalige Zeit typische ABA- oder AB-Struktur, eine Strophenform sucht man hier vergebens, im Gegenteil: Dieser große Monolog der Lady Macbeth setzt sich aus drei unterschiedlich langen Teilen und einer sehr langen Coda zusammen, in denen sich der Hörer fast ebenso verlieren soll wie die geistig entrückte Lady in ihren Angstfantasien und neurotischen Zwängen. Aber auch der berühmte »Patria oppressa«-Chor, ebenfalls im vierten Akt, hat nichts mit dem zu tun, was Verdi bis dahin geschaffen hatte; man erahnt bereits in seiner komplexen Größe vielmehr das große Requiem von 1874. Und selbst die oft unterschätzte Auftrittsmusik König Duncans im ersten Akt überrascht durch ihren ungewöhnlichen 6/8-Takt, der auf raffinierte Weise einen höfischen mit einem martialischen Charakter kombiniert – der frühere Verdi (und die meisten seiner Kollegen) hätten hier wohl eher einen simplen 4/4-Takt geschrieben. Auch die vermehrten musikdramaturgisch motivierten Vorwegnahmen respektive Kombinationen einzelner Motive der Oper im Preludio (nicht Ouver­ türe!) – Beginn dritter Akt, Rufe des ersten Hexenchores, die Nachtwandelszene – zeigen die Suche nach einer konzeptuellen Neuausrichtung. Verdi hat im Macbeth somit richtiggehend experimentiert und Dinge ausprobiert, auf die er in den folgenden Werken aufbauen konnte (die großartige Gewit 19

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termusik in Rigoletto wäre etwa ohne die Macbeth-Erfahrungen nicht möglich gewesen). Und an einigen Stellen wagte er sich harmonisch sogar so weit hinaus, wie danach vielleicht nie mehr (ähnlich wie Richard Strauss bei seiner Elektra). Schon die sich durch das ganze Stück ziehende Finsternis dürfte die Hörerinnen und Hörer der Uraufführung erstaunt und vielleicht sogar etwas verstört und irritiert haben. In der Tat handelt es sich um sein vielleicht düsterstes Bühnenwerk überhaupt – was allerdings nicht bedeutet, dass die Partitur monochrom wäre. Sie ist in ihrer Farbigkeit vielmehr überaus differenziert und vielgestaltig, aber eben in einem nachtdunklen Spektrum angesiedelt. Sehr viel Moll, dumpfe, mystische, bedrohliche Klangmischungen, eine gehäufte Verwendung von b-Tonarten – so changiert er gerne zwischen b-Moll/f-Moll und Des-Dur – erzeugen eine Grundatmosphäre, die den Seelenzustand des Protagonistenpaares in ihrer bestürzenden Abgründigkeit aufgreifen und widerspiegeln. Dazu kommt eine entsprechende Instrumentierung, in der die tiefen Register des Orchesters, wie Englischhorn, Fagotte, Hörner, Cimbasso, Bratschen, Celli und Kontrabässe eine bevorzugte Behandlung erfahren und die hohen Instrumente immer wieder regelrecht ausgespart werden, die Streichergruppe außerdem regelmäßig con sordino, also mit Dämpfern, spielen muss. Das Publikum wird dadurch schon nach wenigen Takten in dieses schaurige, nördlich-kalte Ambiente eingeführt. Selbst die Bühnenmusik agiert in der berühmten Prophezeiungsszene mit der Vision der acht Könige im dritten Akt nicht mehr wie eine herkömmliche Banda, sondern als Klang unbestimmten, mysteriösen Ursprungs, der sich mit dem – gewissermaßen realen – Klang des Orchesters im Graben mischt. Aber auch wie die Hexen in Szene gesetzt sind, sucht in der Musikgeschichte seinesgleichen. Verdi, der die Partitur mit äußerst detaillierten und sehr präzisen Angaben versah (und bei den von ihm überwachten Aufführungen penibel darauf achtete, dass sie befolgt wurden), schreibt am Beginn der ersten Szene »Tutte le streghe in scena … staccate e marcate assai: né dimenticarsi che sono streghe che parlano«, also: man möge nicht vergessen, dass hier Hexen sprechen. Mut zum Hässlichen ist angesagt, um die Damen des Chores möglichst bösartig und furienhaft erscheinen zu lassen. Lautes Flüstern, bewusst viel Luft in der Stimme, häufiges Atmen zwischen den Tönen, Keuchen – all das soll die bedrohliche Irrealität versinnbildlichen. Nichts wäre verkehrter, als wenn diese Passagen zur Folklore verkämen, zu elegant und witzig klängen, wie der »Zingarelle«-Chor in der Traviata. Schrecken und Furcht vermittelt auch das von Verdi explizit vorgeschriebene, fast durchgehende sotto voce im ersten Duett Macbeth-Banco. Wie ungewöhnlich für eine italienische Oper dieser Zeit: Ein Anfangsduett, das bewusst nur halblaut gesungen, fast geflüstert wird! Überhaupt ist auffällig, wie sehr Verdi gerade im unteren Lautstärke-Pegel variiert und dass piano, pianissimo-Angaben fast zu überwiegen scheinen. Gleich im 26. Takt des Preludios steht sogar das erste vierfache Piano der Oper und dazu der Hinweis PHILIPPE JOR DA N

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»dolcissimo« und in der Battaglia-Szene am Ende des vierten Aktes muss der Damen-Chor das »Cessa il fragor« ebenfalls im vierfachen Piano singen – derartiges finden wir erst in den Partituren des 20. und 21. Jahrhunderts wieder. Solche Vorschriften sind natürlich Teil der Komposition und nicht nur schmückendes und leider allzu oft vernachlässigtes Beiwerk. Nur wenn man daher come scritto, also wie in den Noten geschrieben spielt, wird der extreme Geist der Musik dieses Werkes in seiner gesamten Genialität umgesetzt. Das bedeutet auf der anderen Seite aber auch, dass man der abstrakt theatralen Direktheit, Unerbittlichkeit und Strenge der Verdi’schen Musik vertrauen soll und sich von keinerlei falschen Traditionen, wie übertrieben ausgehaltenen Spitzentönen oder einer Rubato-Inflation verführen lassen darf! Wie sehr sich Verdi gerade auch im Macbeth nicht dem Publikums­ geschmack andiente, sondern vielmehr vom Gedanken des Theaters an sich fasziniert war, zeigt übrigens ein kleines, aber nicht unwesentliches Detail: das Fehlen eines typischen Liebesduetts – was die Presse bei der Uraufführung sofort negativ vermerkte. Aber Verdi war nun einmal ein überzeugter Reformer – und nicht wie es Werfel einmal formulierte, ein Gegenreformer der Oper.

Foto nächste Seite: Roberto Tagliavini als Banco und Alessandra Bareggi als Fleance →

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DIE GEBU RT DE S ITA LIEN ISCHEN MUSIKT HEAT ERS




ADAM UND EVAS TOTENTANZ IN ANTI-EDEN

Andreas & Oliver Láng im Gespräch mit Barrie Kosky


Ihre Macbeth-Inszenierung ist von einem intensiven Dunkel bestimmt. Was ist dieses Dunkel? Nur eine atmosphärische Zeichnung, das Dunkel der Seelen oder doch Ausdruck einer psychischen Befindlichkeit? Diese Dunkelheit entspringt nicht nur Shakespeares Stück oder der Partitur Verdis, sie ist das Stück selbst. Eine Finsternis, von der man sich nicht lösen kann, die vom ersten Augenblick an die Szene beherrscht. Ich würde in Bezug auf Shakespeare sagen, dass kein anderes seiner Werke von ihr so stark geprägt ist. Und Verdi destillierte daraus die Essenz: einen unglaublichen, fast klaustrophobischen Nihilismus. BK

Das Dunkel wird immer wieder durch ein punktuelles, sehr prominent platziertes Lichtsegment durchbrochen. Soll uns das an eine Operationslampe erinnern, einen Suchscheinwerfer, ein Röntgenauge? BK Das Licht bietet viele Assoziationen. Mir sind zwei wichtig: eine Laboratoriumssituation, in der zwei Wesen – Macbeth und Lady Macbeth – unter den Lichtkegel einer Lampe treten, wie in einer Versuchsanordnung. Und zweitens: Motten, die vom Licht angezogen werden, fortfliegen, wiederkehren und das Helle suchen. In dem Licht denken sie, ihre Probleme lösen zu können oder zumindest sicher zu sein. Aber sie sind es nicht, vielleicht ist es für sie im Licht sogar noch schlimmer.

Es gibt aber nicht nur Motten, in Ihrer Inszenierung gibt es auch Krähen. Sind diese ein Symbol für die Schuld der Macbeths, für das schlechte Gewissen? BK Krähen sind Tiere, die quer durch viele Kulturen mythologisch ihre Verwendung finden. Sie können dabei für Prophezeiungen stehen, wie eine Kassandra mit Federn. Was sie rufen, was sie einem bedeuten – das kann passieren. Und sie sind ein Symbol für den Tod. Bei uns scheinen sie tatsächlich tot, sie sitzen nur da und fliegen nicht. Erst ganz am Ende, wenn Lady Macbeth wahnsinnig und Macbeth tot ist, erwachen sie zum Leben. So gewinnt man das Gefühl, dass es Bewohner der Hölle sein könnten. Denn was wir in diesen drei Stunden erleben, ist ja auch eine Form der Hölle, eine persönliche Hölle: ein entfesseltes Paar, das wie in einem Alptraum den gesamten Ablauf ihres Mordens, ihre komplexe Beziehung immer und immer wiederholen und durchleben muss.

Ein besonderer Knackpunkt in vielen Macbeth-Inszenierungen sind die Hexen. Bei Ihnen sind es keine realen Wesen, sie scheinen nur in den Köpfen zu existieren. 25

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BK Das kommt aus mehreren Gründen. Die Hexenmusik in der Oper ist das Gegenteil von dem, was Shakespeare in seinem Drama in den entsprechenden Szenen entwarf, manches klingt fast schon nach Offenbach: Verdi machte das bewusst, er setzte hier ganz gewollt auf eine Groteske. Als ich am Anfang meiner Arbeit stand, dachte ich mir: Im Grunde sollte man die Hexen nie sehen. All das, was sie singen, muss aus der Dunkelheit kommen, das ist gruseliger, stärker. Denn wie erzeugt man Horror auf der Bühne? Durch das Unbestimmte. Man soll sie also nicht genau festmachen können, zum Beispiel, indem man sich fragt: Wie viele sind es? Zwanzig? Fünfhundert? Tausend? Und wer sind sie? Auch Krähen? Singende Krähen? Oder sind es Erinnerungen von Macbeth? Man weiß es nicht – und dieses Nichtwissen ist in Macbeth, einer Oper voller Rätsel, ein ganz wichtiger Aspekt. Die unglaubliche Kraft kommt aus dem Ungewissen.

Was aber ist wirklich? Wo liegt die Grenze? BK Das kann ich nicht sagen und ich will es auch nicht festlegen. Diese Frage muss jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. Im Grunde ist es so, dass, wenn wir Theater spielen, gar nichts real ist, es handelt sich ja um keine Dokumentation, sondern um das Eintreten in einen Traum. Denken wir nur an das antike griechische Theater, das immer auch die enge Verbindung mit dem Unbewussten gesucht hat. Und ich denke, dass wir diese Theater-Form immer noch in uns tragen. Im Falle von Macbeth gibt es natürlich Reales, es handelt sich um eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, man sieht ein ganzes Spektrum an Emotionen, die wirklichkeitstreu gespielt werden. Was sie singen, was sie spielen: Das ist echt und dreidimensional. Aber es ist nur so real, wie uns ein Traum real erscheinen mag.

Bevor wir die beiden näher beleuchten, bleiben wir noch einen Moment beim Träumen. Wie soll ein Publikum aus dieser dunklen Welt wieder aufwachen: befreit, kathartisch gereinigt? BK Für mich ist wichtig, dass man sich nach diesem Abend unbe quem fühlt. Denn das Stück ist, wie erwähnt, tief pessimistisch. Während in Shakespeares King Lear der Protagonist immer noch einen Hauch an Erkenntnis gewinnt, erlebt man in Macbeth nur Negativität und Nihilismus. Es gibt keine Hoffnung. Nichts. Auch in der Oper: In Verdis Rigoletto, Otello, Don Carlo, überall ist eine Katharsis möglich. In Macbeth? Man ist gefesselt von dieser Klangwelt, die auch von einer unglaublichen Schönheit sein kann, und der Kontrast, der durch diese Schönheit erzeugt wird, macht die Wirkung noch größer.

Nun gibt es in Literatur, Schauspiel und Oper die großen berühmten, IM GE SPR ÄCH MIT BA R R IE KOSK Y

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dunkelbösen Figuren ohne Wenn und Aber. Gehören die Macbeths dazu? Ja, das ist eine gute Frage. Wie böse sind die Macbeths? Ich glaube, anfangs gar nicht so sehr, doch dann, nach dem Mord an Duncan, öffnen sich viele Türen. Und die beiden landen in einer Geisterbahn voller Probleme. Dabei bewegen sie sich gegenläufig: Lady Macbeth, anfangs stark, ist am Ende fix und fertig, wie ein zehnjähriges Kind und wird wahnsinnig. Macbeth, der zu Beginn ein kleiner nervöser, neurotischer Bub ist, mutiert zur Killermaschine. Dieser unglaubliche Tango der beiden ist einzigartig in der Weltliteratur. Man schaut ihnen zu und fragt sich entgeistert: Warum haben sie das gemacht? Was haben sie gewonnen? Und was alles verloren! Wir können nicht anders, als von diesem Paar fasziniert zu sein. In Verdis Oper ist das nicht nur eine politische Geschichte einer Königin und eines Königs, es ist auch ein existenzielles Drama, ein Drama über Einsamkeit. BK

In diesem Tango: Was zieht die beiden aneinander an? BK Nicht nur eine Sache. Es ist eine Kombination aus vielem. Natür lich, sie ist voller Ehrgeiz und sieht in ihm die Möglichkeit, Königin werden zu können. Aber es ist nicht nur das. Sie liebt ihn. Und er liebt sie. Und dass die beiden keine Kinder haben, bindet sie stärker aneinander. Das Interessante ist, dass sie anfangs ganz eng verbunden sind, sie fressen einander fast auf – und dann driften sie auseinander. Lady Macbeth verfällt dem Wahn, Macbeth dem Schlachten. Man ist ja schockiert, wie echt und glaubwürdig diese Beziehung erzählt wird.

Zeitlos! BK Ja, denn es hat keinen Zweck, diese Geschichte zu erzählen, wenn man meint, dass sie historisch weit weg liegt und nichts mit uns zu tun hat. Wir müssen Macbeth als einen Teil von uns sehen. Das Paar spiegelt etwas über die Menschen an sich wider.

Sie erwähnten die Politik. Hat Sie die politische Ebene in der Oper interessiert? BK Für Shakespeare war der politische Aspekt wichtig, weil es um den Mord an einem König ging. Es war damals nicht unerheblich, so etwas auf der Bühne zu zeigen. Aber in der Oper ist das für mich nur ein Subtext. Was Shakespeare und Verdi wirklich interessierte, waren die Charaktere und die Beziehungen zwischen ihnen. Natürlich, Theater ist immer politisch. Aber Macbeth als zeitgenössisches, politisches Drama zu inszenieren, wie es oft pas-

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siert ist, spricht mich persönlich nicht an. Man kann es machen und es wurde auch gemacht. Aber ich empfinde Macbeth tiefer, abstrakter, mit mythologischen Elementen verbunden. Sie haben beide Macbeth-Fassungen, also Oper und Schauspiel, inszeniert. Gibt es einen Punkt, an dem sich die Stoßrichtung der beiden Werke grundlegend unterscheidet? BK Durchaus, und zwar durch die Musik. Durch Verdis geniale Partitur, durch den Klang des Orchesters, Chors, der Solistinnen und Solisten kann Verdi in nur einem Takt etwas ausdrücken, für das Shakespeare eine Seite braucht. Manchmal reichen fünf Töne – und man weiß Bescheid.

Bewusst oder unbewusst suchen Menschen in erzählenden Werken nach Sympathieträgern. Das Paar Macbeth ist nun alles andere als dem entsprechend. Sie sind sogar total unsympathisch! Aber Figuren auf der Bühne müssen ja nicht immer sympathisch sein, gerade jene, die es nicht sind, gehören meistens zu den Interessanteren. Lear ist unsympathisch, aber faszinierend. Carmen finde ich nicht sehr sympathisch, aber was für eine komplexe Persönlichkeit! Auch Don Giovanni. Oder Wotan. Vielleicht haben wir Mitleid, aber Sympathie müssen wir nicht empfinden. In Macbeth sehen wir einen unglaublichen Todestanz zwischen einem Mann und einer Frau, einen Gegenentwurf zu Adam und Eva. Eine Art Anti-Eden. Das allein ist faszinierend. Und wenn wir ehrlich sind, tragen wir alle ein bisschen was von diesem Anti-Adam und der Anti-Eva in uns. BK

Shakespeare und Verdi zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie nicht urteilen. Wie steht es mit dem Regisseur Kosky? Erlaubt er sich eine Wertung?

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BK Nein, ich versuche, kein Urteil zu vermitteln, das soll der Zu­ schauer schon selbst machen. Zwei Autoren sind dafür besonders bekannt, dass sie streng neutral blieben: eben Shakespeare und Tschechow. Beide beschreiben Menschen mit ihren Problemen, aber sie beziehen keine Stellung für und gegen sie. Auch Mozart macht das übrigens nicht. Er stellt dar. Im Publikum mag nun einer sitzen, der den Grafen in Le nozze di Figaro verachtet, ein anderer sieht ihn als großartigen Kerl, ein Dritter kann gar nicht hinschauen. Das ist der Zauber des Theaters. Dass nicht nur eine Interpretation existiert, sondern es so viele gibt wie Menschen im Zuschauerraum. Auch die Musik ist ambivalent, ich höre nicht dasselbe, was Sie hören. Daher

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ist ein Urteilen als Regisseur auch nicht sinnvoll. Ein geniales Werk wie Macbeth bietet fast unendlich viele Wege an. Und diese Vielfalt müssen wir zelebrieren. Eine letzte Frage: Wir wissen, dass der Dirigent der Premierenserie, Philippe Jordan, Sie schätzt. Was schätzen Sie an seiner Arbeit? Philippe ist nicht nur ein fantastischer Dirigent, er ist auch ein sehr praktischer Künstler. Das zeigt sich schon daran, dass er auf die Probe kommt. Und er will nicht so banale Dinge wissen wie: Welche Farbe wird das Bühnenbild haben? Er will die Intentionen, die hinter der Regiearbeit stehen, kennen lernen. Er hat Interesse am Ganzen, nicht nur an der Musik. Das ist etwas, was ich sehr schätze. Und er ist flexibel und pragmatisch: Wenn es ein Problem gibt, dann findet er schnell eine gute Lösung. Man merkt, dass er ein Theatermensch ist, einer, der im Theater aufwuchs und seinen Weg über das Musiktheater nahm. Menschen denken oft, dass Probenarbeit ein unglaublich langer Kampf zwischen einem egomanischen Dirigenten und einem egomanischen Regisseur ist, dazu egomanische Sängerinnen und Sänger. Meine Erfahrung nach 30 Jahren zeigt, dass es in 95% der Fälle überhaupt nicht so ist. Für mich jedenfalls ist die gute gemeinsame Arbeit wichtig – und mit Philippe ist das garantiert. BK

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Bertolt Brecht → Die Maske des Bösen

An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack. Mitfühlend sehe ich die geschwollenen Stirnadern, andeutend wie anstrengend es ist, böse zu sein. 31

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Nikolaus Stenitzer

MIT ALLEN SPRACHEN Barrie Koskys Theaterarbeit

In seinem Essay On Ecstasy zitiert Barrie Kosky Antonin Artaud: »Die Sprache zu durchbrechen, um das Leben zu ergreifen, das heißt Theater machen oder neu machen.« Der Bezug zu Artaud trifft auf den Punkt. Barrie Koskys Theater berührt oft, aber manchmal packt es zu, indem es das Bekannte – die Welt, das Leben, die Beziehungen zwischen Menschen – in einer Weise durchbrochen zeigt, in der es in schockierender Weise erkennbar bleibt. Darum ist das Musiktheater Barrie Koskys, das seine kulturellen Verbundenheiten zu Vaudeville, Zirkus und Musical lautstark feiert, auch ein Theater der Grausamkeit, wie es der Theatertheoretiker Artaud forderte. In Entwendung und Erweiterung eines Gedankens aus Heiner Müllers Sechs Punkten zur Oper: Was man noch nicht sagen kann, kann man womöglich singen; und wovor Analyse und Kritik zeitweilig kapitulieren, davon kann vielleicht ein Musiktheater erzählen, das – wieder mit Artaud – »nicht in etwas Bestimmtem ist, sondern sich aller Sprachen bedient: Gesten, Töne, Worte, Leidenschaften, Schreie«. Wir begegnen in Barrie Koskys Theater Momenten der Dringlichkeit, die Unausweichlichkeit bedeutet. Ein solcher Moment findet sich etwa in einer Inszenierung, die Kosky in On Ecstasy als Beispiel für ein »ekstatisches Theater« nennt: In seiner Medea aus dem Jahr 2001, jener Arbeit, mit der er seine Intendanz am Wiener Schauspielhaus eröffnete. Der Moment, in dem Medeas N IKOLAUS ST EN ITZER

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Mord an ihren Kindern in einem Aufschrei von Wut, Triumph und Erschöpfung gipfelt, war ein solches Durchbrechen der Sprache. Und er zeigte unwiderstehlich, dass »das Leben ergreifen« das Gegenteil von »die Wirklichkeit nachbilden« bedeutet. Ein Moment aus Monteverdis Orpheus (Komische Oper Berlin, 2012): In dem Paradiesgarten, in dem das Leben und die Liebe gefeiert werden, kann sich die Nachricht von Eurydikes Tod zunächst nicht durchsetzen. Orpheus zwingt die Botin zum Tänzchen und hört auch nicht auf, Faxen zu machen, als sich ringsherum schon Unbehagen auszubreiten beginnt. Als das Unvermeidliche schließlich ausgesprochen ist – die Geliebte ist tot – sackt der gerade noch Übermütige in sich zusammen. Die Sprachlosigkeit, die von ihm ausgeht, legt sich über die gesamte paradiesische Szene und deutet sie völlig um. Koskys Interpretation von Händels Agrippina bei den Münchner Opernfestspielen 2019 überstieg die Sprache in teils komischer, teils erschütternder Weise, teils auch in einer Verschränkung von beidem. So spitzt sich die Intrige, die Ottone zur Mitte des zweiten Aktes vollkommen unvorbereitet ohne einen einzigen Verbündeten lässt, ins Surreale zu. Im Stück, einem umwerfenden Intrigenspiel, mutmaßlich aus der Feder des Kardinals, Vizekönigs von Neapel und habsburgischen Botschafters im Vatikan Vincenzo Grimani, ist dieser Moment eine Abfolge von Schmäh- und Wutarien, die Ottone über sich ergehen lassen muss. Barrie Kosky ließ das Ensemble zu einem kleinen, aber effektiven Lynchmob werden: Das Verlachen und Verhöhnen des Betrogenen steigerte sich immer weiter, wurde körperlicher, bis es schließlich in einer Gewaltorgie gipfelte, bei der Ottone von Nerone, Narciso, Pallante und Lesbo im Stil einer Straßengang zusammengeschlagen und liegengelassen wird. Einsamkeit, Verlassenheit, Verzweiflung, blasses Unverständnis, die der Exzess zurücklässt, gehören zusammen im Musiktheater, das seine Deutlichkeit auch daraus zieht, dass es nie bei der bloßen Beschreibung stehenbleibt. Es handelt sich um ein Theater in der Tradition von Künstlern wie Walter Felsenstein, das Barrie Kosky selbst ausdrücklich von »Oper« unterscheidet: Virtuoser Gesang ist einer seiner Bestandteile, aber eben nur einer. Gesten, Töne, Worte, Leidenschaften und Schreie haben, so deutlich muss man es sagen, darin denselben Stellenwert. Zwei Dinge werden über Koskys Produktionen oft gesagt: Die Probenarbeit sei unglaublich fordernd und intensiv, und es benötigte besonders starke Darstellerinnen und Darsteller. Aus der Probenerfahrung lassen sich beide Aussagen synthetisieren: In der intensiven, fordernden Probenarbeit Barrie Koskys entwickeln Sängerdarstellerinnen und -darsteller oft darstellerische Stärken, die sie selber verblüffen (und vielleicht sogar ein wenig erschrecken). Wie kommt es dazu? Durch einen durchaus kalkulierten Sog, der sich vom Regisseur auf das Ensemble überträgt. Koskys Vorbereitung könnte vielleicht als reduzierend oder destillierend beschrieben werden. Sie geht durch viele Lektüren, Gespräche, Auseinander 33

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setzungen mit Aufnahmen und Hintergrundliteratur hindurch. In inspirierender Weise nutzbar wird dieser Korpus durch den Theaterinstinkt des Künstlers, der in ihm wenige entscheidende Momente ausmacht, die dann zu Grundpfeilern für die Inszenierung und auch für die Probenarbeit werden. Ausgangspunkte sind oft Eigentümlichkeiten in der Stückdramaturgie, die zum Nachdenken herausfordern, manchmal auch Details aus Geschichten um das Werk und seinem Urheber. In ähnlicher Weise beginnen wohl viele und unterschiedlichste Regisseurinnen und Regisseure die Arbeit an einer Neuproduktion. Das Entscheidende, auch das Faszinierende an Barrie Koskys Arbeit ist seine Fähigkeit, sich bei seiner Suche nach diesen Details überraschen, überwältigen, faszinieren zu lassen – und dann diese Überraschung, Überwältigung und Faszination auf seine Sängerdarsteller zu übertragen. So dass in glücklichen Fällen eben jener Sog auf der Probe entsteht, der sich dann in die Inszenierung und am Premierenabend ins Publikum weiterträgt. Zu den Fundstücken und Faszinationen, die Barrie Kosky in die Proben zur Produktion von Richard Strauss’ Der Rosenkavalier (Bayerische Staatsoper 2021) mitbrachte, zählten etwa der Anteil des Diplomaten und Mäzens Harry Graf Kessler am Szenario, einige Aussagen Richard Strauss’ über das Liebesleben der Feldmarschallin Maria Theresia von Werdenberg und die Frage nach der Motivation der völlig überbordenden Sexualaufschneidereien des Baron Ochs auf Lerchenau in seiner sogenannten »Mägdearie« im ersten Akt. Die Schlüsse, die der Regisseur zog und zur Konzeptionsprobe mitbrachte, waren spielerisch und keineswegs in Stein gemeißelt, aber sie sollten sich als folgenreich erweisen. Harry Kesslers Beitrag – er hatte in Paris eine französische Operette gesehen und Hugo von Hofmannsthal den Inhalt erzählt, auf der Grundlage dieses Ingenu libertin entwarfen die beiden dann das Szenario – wirkte eher als ein Esprit, der die Produktion durchwirkte. Das Wissen darum, dass neben Strauss in Garmisch und Hofmannsthal in Aussee und Rodaun auch ein schwuler aristokratischer Bohemien und Kunstliebhaber in dem Werk steckte, der in Berlin frühstückte und abends in Paris ins Theater ging, ist in der Produktion spürbar. Für die Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern war aber vor allem wichtig, wie Kosky mit seinen Entdeckungen und den an diese geknüpften Fragen in die Proben ging. Der Probenbeginn in der Kosky-Produktion ist ein Gespräch. Nicht das Konzeptionsgespräch, in dem die Ideen des Regisseurs auch dem Haus vorgestellt und Bühnenbildmodell und Kostümfigurinen präsentiert werden. Sondern das Gespräch auf der ersten Probe, in der Kosky in diesem Fall zum Beispiel erklärte, er sei überzeugt, dass die Marschallin die Trauer um ihren jungen Liebhaber sehr schnell überwinden werde. Sie befinde sich alles andere als am Ende ihres Lebens, sondern vielmehr auf einem langen Höhepunkt. Ihr berühmtes »Ja, ja« am Ende der Oper sei wie »eine Wolke an einem Sommertag«. Wenn die Wolke sich verzogen haben würde, würde sie sich einen neuen Liebhaber suchen – und das werde so weitergehen, bis sie das N IKOLAUS ST EN ITZER

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Leben, das ihr als eines Mitgliedes der Hocharistokratie zustehe, im hohen Alter und bester Laune im Beisein des gerade aktuellen, immer deutlich jüngeren Liebhabers beschließen werde, möglicherweise in einem Schweizer Skiort. Kosky machte sich damit eine Aussage Richard Strauss’ zu eigen, der in einem Brief geschrieben hatte, die Marschallin werde »noch viele Liebhaber« haben. Zu-eigen-Machen bedeutete hier auch, Strauss’ beiläufigen Satz mit der Theatererfahrung zahlreicher ganz anders angelegter Interpretationen der Partie zu konfrontieren. Gewissermaßen mit dem Komponisten im Rücken begeisterte sich der Regisseur an der Vorstellung einer vor Energie sprühenden, erotischen, witzigen und unglaublich eleganten Frau und machte sie zum Ausgangspunkt über ein Gespräch mit den Darstellerinnen der Marschallin und Octavians zum Verhältnis zwischen den beiden Figuren. Wichtig schien dabei der Eindruck, sich unbegrenzt für das Austauschen von Ideen und Vorstellungen Zeit nehmen zu können. Die Sängerinnen brachten ihre Überlegungen ein, der Regisseur hörte zu, warf ein, Ideen verbanden sich zu etwas Neuem, der Sog entstand. Schon nach einigen Minuten wurde gemeinsam beschlossen, »es einmal zu versuchen.« Es funktionierte: Die Energie ging ins Spiel über, Requisiten ergaben sich von selbst aus dem Weiterreden im Spiel der beiden Darstellerinnen und des immer wieder intensiv und mit vollem Körpereinsatz vor- und mitspielenden Regisseurs. Die Szene, die jetzt in der Produktion zu sehen ist, ist das Ergebnis von wochenlanger unermüdlicher, konzentrierter und disziplinierter Detailarbeit, aber die Grundlegung und die Grundenergie sind in der allerersten Probe entstanden. Die Beschreibung dieses Prozesses ist die einer besonders geglückten Probenarbeit eines erfahrenen Regisseurs, der den Umgang mit Sängerinnen und Sängern beherrscht. Aber sie ist auch die Beschreibung eines Prozesses, in dem der Weg eines Künstlers durch die Sprache hindurch in die Wirklichkeit führte. Antonin Artaud hat wohl kaum an den Rosenkavalier gedacht, als er über Das Theater und die Kultur schrieb. Er wäre vielleicht überrascht gewesen.

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August Wilhelm Schlegel

DREISSIGSTE VORLESUNG ÜBER DRAMATISCHE KUNST UND LITERATUR Vom Macbeth habe ich schon einmal im Vorbeigehen gesprochen, und wer könnte das Lob dieses erhabenen Werkes erschöpfen? Seit den Furien des Aeschylus war etwas so Großes und Furchtbares nicht wieder gedichtet worden. Zwar die Hexen sind keine göttlichen Eumeniden und sollen es nicht sein: sie sind unedle und gemeine Werkzeuge der Hölle. Ein deutscher Dichter hat es also sehr übel verstanden, da er sie in warnende und sogar moralisierende Zwitterwesen von Parzen, Furien und Zauberinnen umgestaltet und mit tragischer Würde bekleidet hat. Lege doch niemand Hand an Shakespeares Werke, um etwas Wesentliches daran zu ändern: es bestraft sich immer selbst. Das Böse ist von Grund aus hässlich, und es ist widersinnig, es auf irgendeine Art veredeln zu wollen. Meines Erachtens haben es daher auch Dante und selbst noch Tasso mit der Schilderung der Dämonen weit besser getroffen als Milton. Ob Shakespeares Zeitalter noch an Zauberei und Gespenster glaubte, das ist für die Rechtfertigung des Gebrauchs, welchen er im Hamlet und Macbeth von den vorgefundenen Überlieferungen gemacht, vollkommen gleichgültig. Kein Aberglaube hat herrschend und weit durch Zeiten und Völker verbreitet sein können, ohne eine Grundlage in der menschlichen Natur zu haben: an diese wendet sich der Dichter und ruft aus ihren verborgenen Tiefen hervor, was die Aufklärung gänzlich beseitigt zu haben 38


meint, jenen Schauer vor dem Unbekannten, jene Ahnung einer nächtlichen Seite der Natur und Geisterwelt. Auf diese Art wird er gewissermaßen zugleich der Darsteller und der Philosoph eines Aberglaubens, das heißt, nicht der Philosoph, der wegleugnet und verspottet, sondern, was schwerer ist, der den Ursprung scheinbar vernunftwidriger und doch so natürlicher Meinungen begreiflich macht. Wollte er aber diese volksmäßigen Überlieferungen nach Willkür abändern, so würde er seine ganze Befugnis einbüßen und nichts weiter zum besten geben, als seine eigenen Fratzen. Shakespeares Darstellung der Hexen ist wahrhaftig magisch: er hat ihnen in den kurzen Szenen, wo sie auftreten, eine eigene Sprache geschaffen, die, wiewohl aus den gewöhnlichen Elementen zusammengesetzt, dennoch eine Sammlung von Beschwörungsformeln zu sein scheint, und worin der Laut der Worte, die gehäuften Reime und der Rhythmus der Verse gleichsam die dumpfe Musik zu wüsten Hexentänzen bilden. Man beklagt sich über die Nennung ekelhafter Gegenstände: wer aber meint, der Zauberkessel könne mit angenehmen Aromaten wirksam gemacht werden, der versteht es nicht besser als die, welche begehren, dass die Hölle ehrlich guten Rat geben soll. Diese widerwärtigen Dinge, wovon sich die Einbildungskraft abwendet, sind hier ein Sinnbild feindseliger Kräfte, die in der Natur arbeiten, und der geistige Schauer überwiegt den sinnlichen Abscheu. Unter sich reden die Hexen wie Weiber aus dem Pöbel, denn das sollen sie ja sein; dem Mac­beth gegenüber erhebt sich ihr Ton: ihre Weissagungen, die sie selbst aussprechen oder von ihren Phantomen aussprechen lassen, haben die dunkle Kürze, die majestätische Feierlichkeit, wodurch von jeher die Orakel den Sterblichen Ehrfurcht einzuflößen wussten. Man sieht hieraus, dass die Zauberinnen selbst nur Werkzeuge sind; sie werden von unsichtbaren Geistern regiert, sonst würde die Bewirkung so großer und entsetzlicher Begebenheiten über ihre Sphäre sein. Und welches war nun der Zweck, wozu ihnen Shakespeare in seinem Schauspiel dieselbe Stelle einräumte, die sie in Macbeths Geschichte nach den alten Chroniken einnehmen? Ein ungeheures Verbrechen geschieht: Dunkan, ein ehrwürdiger Greis und der gütigste König, wird ermordet; von seinem Untertanen, den er soeben mit Ehren und Wohltaten überhäuft hat; im wehrlosen Schlafe; unter dem gastfreundlichen Dach. Bloß natürliche Antriebe scheinen zu schwach, oder wenigstens müsste der Täter als der verhärtetste Bösewicht geschildert werden. Shakespeare wollte uns ein erhabneres Bild zeigen: einen ehrgeizigen, aber edlen Helden, der einer tief angelegten höllischen Versuchung erliegt, und in welchem alle Verbrechen, wozu ihn die Notwendigkeit treibt, den Erfolg seiner ersten Untat zu behaupten, dennoch das Gepräge des angebornen Heldentums nicht ganz auslöschen können. Er hat also die Schuld dieser Untat dreifach geteilt. Der erste, Gedanke kommt von jenen Wesen, deren ganze Tätigkeit durch die Lust am Bösen gelenkt wird. Die wunderbaren Schwestern überraschen Macbeth in der Trunkenheit der befriedigten Ruhmbegierde nach seinen Siegen; sie spiegeln ihm dasjenige, was nur durch 39

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seine Tat wirklich werden kann, als eine Verfügung des Schicksals vor und beglaubigen ihre Worte durch unmittelbare Erfüllung der ersten Weissagung. Die Gelegenheit zum Königsmorde bietet sich sogleich dar; Macbeths Gemahlin beschwört ihn, sie nicht entschlüpfen zu lassen: mit feuriger Beredsamkeit macht sie alle Sophismen geltend, wodurch das Verbrechen sich in eine falsche Größe kleidet. Auf Macbeths Anteil fällt beinahe nur die Ausführung, er wird dazu wie im Taumel der Verblendung hingestoßen. Die Reue folgt der Tat auf dem Fuße nach, ja sie geht ihr voran, und die Gewissensqual lässt ihm forthin weder bei Tage noch bei Nacht Ruhe. Aber nun ist er einmal in den Stricken der Hölle; es ist entsetzlich zu sehen, wie Macbeth, der sonst als Krieger dem Tode trotzen konnte, jetzt nachdem er einmal die Aussicht auf das künftige Leben in die Schanze geschlagen (»we’d jump the life to come«), um so ängstlicher sein irdisches Dasein festhält, je elender es geworden ist, und ohne Erbarmen alles aus dem Wege räumt, was ihm nach seinem finstern Argwohn Gefahr zu drohen scheint. So sehr man seine Handlungen verabscheut, kann man seinem Gemütszustande nicht alle Teilnahme versagen; man beklagt die Verwüstung so herrlicher Anlagen; ja, man muss es noch in seiner letzten Verteidigung bewundern, wie in ihm ein tapferer Wille mit einem feigen Gewissen ringt. Man könnte glauben, in diesem Trauerspiele herrsche das Verhängnis ganz nach den Begriffen der Alten: alles hebt mit einem übernatürlichen Einflusse an, woran die folgenden Begebenheiten wie durch eine unvermeidliche Verkettung geknüpft sind. Man findet hier sogar jene doppelsinnigen Orakel wieder, welche eben durch ihre buchstäbliche Erfüllung die auf sie Vertrauenden täuschen. Indessen lässt sich nachweisen, dass der Dichter erleuchtetere Ansichten in seinem Werke niedergelegt hat. Er deutet an, dass der Kampf des Guten und Bösen in dieser Welt nur unter Zulassung der Vorsehung stattfindet, welche den Fluch, den einige Sterbliche auf ihr Haupt ziehen, zu anderweitigem Segen wendet. In der Vergeltung ist eine genaue Stufenfolge beobachtet. Lady Macbeth, unter den menschlichen Wesen die schuldigste Teilhaberin an dem Königsmorde, verfällt durch ihre Gewissensangst in eine unheilbare körperliche Zerrüttung; sie stirbt, unbetrauert von ihrem Gemahl, mit allen Zeichen der Verwerfung. Macbeth wird noch würdig befunden, den Heldentod auf dem Schlachtfelde zu sterben. Dem edlen Macduff wird für die Rettung seines Vaterlandes die Genugtuung zuteil, den Tyrannen, der seine Gattin und Kinder erwürgt hat, mit eigner Hand zu bestrafen. Banquo büßt seinen ehrgeizigen Vorwitz, auch seine eigne glorreiche Zukunft wissen zu wollen, mit einem frühen Tode, indem er dadurch Macbeths Eifersucht erregt; aber er hat sein Gemüt von den Einblasungen der Zauberinnen rein erhalten: sein Name wird in seinem Geschlecht gesegnet, das auf eine lange Zeitenfolge zu derselben Königswürde bestimmt ist, die Macbeth nur auf seine Lebensdauer an sich gerissen. Im Gange der Handlung ist dieses Stück ganz das Gegenteil vom Hamlet: sie schreitet mit erstaunlicher Raschheit vorwärts, von der ersten Katastrophe DR EIS SIGST E VOR LE SU NG Ü BER DR A M AT ISCHE K U NST U N D LIT ER AT U R


(denn Dunkans Ermordung kann schon eine Katastrophe genannt werden) bis zur letzten. »Gedacht, getan!« ist der allgemeine Wahlspruch, denn, wie Macbeth sagt, Der flücht’ge Vorsatz wird nie eingeholt, Geht nicht die Tat gleich mit. In allen Zügen sieht man ein rüstiges Heldenzeitalter, im rauhen Norden, der die Nerven stählt. Welche Dauer die Handlung haben soll, lässt sich nicht genau angeben: nach der Geschichte vielleicht Jahre; aber wir wissen schon, dass der Einbildungskraft die erfüllteste Zeit als die kürzeste erscheint. Und hier ist unbegreiflich viel in einen engen Raum zusammengedrängt, nicht bloß als äußerliche Begebenheit, sondern mit Schilderung des innersten Gemütszustandes der Handelnden. Es ist, als ob die Hemmungen an dem Uhrwerke der Zeit herausgenommen wären, und nun die Räder unaufhaltsam abrollten. Nichts ist der Gewalt der Darstellung in Erregung des Grauens zu vergleichen. An alle Umstände von Dunkans Ermordung, den Dolch, der vor Macbeths Augen schwebt, Banquos Erscheinung beim Gastmahle, Lady Macbeths Nachtwandeln, darf man nur erinnern: was lässt sich darüber sagen, das den Eindruck nicht eher schwächte? Solche Szenen sind einzig und kommen nur bei diesem Dichter vor, sonst müsste die tragische Muse ihre Maske mit dem Medusenhaupt vertauschen. Als auf eine Nebensache will ich nur noch auf Shakespeares weltkluge Gewandtheit aufmerksam machen, der durch ein so ganz nach poetischen Absichten entworfnes Werk einem Könige zu schmeicheln wusste. Jakob der Erste leitete sein Geschlecht vom Banquo ab; er war der erste, der den dreifachen Zepter von England, Schottland und Irland vereinigte: dies wird in der magischen Erscheinung sichtbar gemacht und ihm eine lange Reihe glorreicher Nachfolger verheißen. Sogar die Gabe der englischen Könige, gewisse Krankheiten durch Auflegung der Hände zu heilen, die Jakob von Eduard dem Bekenner ererbt zu haben vorgab und auf die er einen großen Wert legte, wird auf eine natürliche Art erwähnt. (Die Nennung Eduards des Bekenners gibt zugleich die Epoche an, worin diese historisch beglaubigte Geschichte vorgeht. Noch stehen zu Inverness Ruinen von Macbeths Schlosse; die heutigen Grafen von Fife sind Abkömmlinge des wackern Macduff; sie genossen, bis zur Vereinigung Schottlands mit England, besondre Vorrechte wegen ihrer Verdienste um die Krone.) Dergleichen Gelegenheitsstücke kann man sich schon ohne Gefahr für die Poesie gefallen lassen: mit solchen Anspielungen empfahl Aeschylus seinen Mitbürgern den Areopag und verherrlichte Sophokles Athen.

AUGUST W ILHELM SCHLEGEL

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Theodor W. Adorno (1932)

[…] ein Stück darin von der schreckhaften Gewalt eines archaischen Torsos […]: die Nachtwandelszene der Lady. Die Arie darin, mit einer Begleitung der eisernsten Monotonie und harmonischen Wendungen des Otello, zeigt den ganzen großen Verdi in der Zelle – und wo ist das Große besser als in solchen Zellen?


Bertolt Brecht

VORREDE ZU MACBETH

Einige meiner Freunde haben mir offenherzig und rückhaltlos versichert, dass sie sich für das Stück Macbeth auf keinen Fall interessieren würden. Sie sagten, sie könnten sich bei diesem Gerede der Hexen nichts denken, poetische Stimmungen seien schädlich, weil sie ihren Mann davon abhielten, Ordnung in die Welt zu bringen, und eine mehr allgemeine Verherrlichung unbebauter Landstriche, wie es Heiden sind, käme unbedingt zu spät in einem Zeitpunkt, wo die ganze Energie der Menschheit darauf gerichtet sein müsse, diese Heiden zu überreden, zur Produktion von Getreide überzugehen. Übrigens sei ein solcher Versuch, aus Heiden Äcker und aus Königsmördern Sozialisten zu machen, sowohl nützlicher als auch poetischer. Diese Einwände muss man sehr ernsthaft anhören, denn sie kommen von den frischesten Leuten, die nach meiner Ansicht durchaus zum Theaterbesuch ange­halten werden müssen. Diesen Leuten kann man auch nicht mit Ästhetik kommen, obwohl wir davon genügend auf Lager haben. Wir haben es heute auf mindestens fünf bis zehn Ästhetiken gebracht. Bei einer Durchsicht des Stückes Macbeth muss es jedem auffallen, dass dieses Stück der zeitgenössischen Theaterkritik, mit nur eineinhalb Ausnahmen, nicht standhält. Wir wollen noch nicht einmal darüber ein Wort verBERTOLT BR ECH T

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lieren, dass zum Beispiel unsere Mordpsychologie denn doch schon mit viel feineren und subtileren Werkzeugen zu arbeiten gelernt hat. Über die Psychologie eines Mörders hat dieses Stück einer Zeit, die die naturalistischen Standardwerke des vorigen Jahrhunderts und das Aufblühen der Wissenschaft erleben durfte, nichts mehr zu sagen. Aber sogar als Theaterstück ist das Stück wenig gestuft und überhaupt nicht geballt. Ich bin gern bereit, Ihnen das, zehn Minuten bevor die Aufführung des Stückes beginnt, noch rasch zu beweisen. Vor allem möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die erschreckende Unlogik richten, die anscheinend schon den Entwurf des Stückes ausgezeichnet hat. Wenn dem General Banquo zum Beispiel zu Beginn des Stückes geweissagt wird, dass seine Nachkommen Könige werden würden, so hat das nichts zu sagen, wenn sie das einmal in der Geschichte wirklich wurden. Im Stück werden sie es nicht. Man könnte es durchgehen lassen, wenn nicht das ganze Stück darauf beruhte, dass der andere Teil derselben Prophezeiung, nämlich, dass Macbeth König wird, in Erfüllung geht. Wenn je Ästhetik eine Rolle gespielt hat beim Verfassen eines Dramas, dann müsste der Zuschauer verlangen können, dass er, wenn er sich darauf einrichten soll, dass Prophezeiungen, die in diesem Stück ausgesprochen werden, in Erfüllung gehen – und das tun sie im Falle Macbeths, der ja König wird –, Aussicht hat und darauf warten kann, dass der Sohn Banquos König wird, bevor der Vorhang zum letztenmal fällt. Stattdessen wird aber Malcolm, des ermordeten Königs Duncan Sohn, König, und der Zuschauer mit der nun doch einmal in ihm erweckten Hoffnung, Banquos Sohn den Thron besteigen zu sehen, sitzt schmählich auf. Banquos Sohn ist Fleance. Als Banquo ermordet wird, entflieht er, und Macbeth beklagt sich bitter darüber, dass er nun erst recht sich Sorgen machen müsse dieses Fleance wegen. Er scheint genau ebenso von dem Eintreffen der Prophezeiung überzeugt zu sein wie der Zuschauer. Aber Fleance, aus dessen Entkommen ein großes Wesen gemacht wird, kommt dann nie wieder vor. Man kann nur annehmen, dass der Verfasser ihn vergessen hat oder dass dieser Schauspieler, der den Fleance spielte, nicht gut genug war, um bei der Verbeugung am Schluss dabei zu sein. Ja, sollen wir gezwungen sein, die Früchte solcher Schlamperei dreihundert Jahre lang vor unseren Freunden zu verbergen? Wie Sie sehen, gebe ich meinen Freunden recht: Wir sind nicht gezwungen. Das Stück Macbeth hält den mit eineinhalb Ausnahmen üblichen Anforderungen der zeitgenössischen Theaterkritik sicherlich nicht stand. Ich glaube, es ist nicht zuviel behauptet, wenn ich behaupte, dass es auch dem zeitgenössischen Theater nicht standhält. Ich bin nicht genau orientiert, aber ich glaube nicht, dass dieses Stück, zumindest in den letzten fünfzig Jahren, in irgendeinem unserer Theater in irgendeiner Übersetzung und in irgendeiner Regieauffassung Erfolg haben konnte. Besonders die mittleren Partien 45

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des Stückes, jene Szenenfolge, die den Macbeth in blutige, aber aussichtslose Unternehmungen verwickelt, können auf dem Theater, wie es jetzt ist, nicht dargestellt werden. Und dies sind ohne Frage die wichtigsten Partien. Ich kann hier die Frage, warum sie nicht dargestellt [werden] können, auch nicht annähernd komplett behandeln, ich kann aus diesem Komplex nur heraus­heben, was mir als der Hauptgrund erscheint. Wir haben gesehen, dass es sich hier um eine gewisse Unlogik, um eine wilde Willkür handelt, die alle technischen Folgen szenischer Dezentralisierung ruhig auf sich nimmt. Jene gewisse Unlogik der Vorgänge, jener immer wieder gestörte Ablauf eines tragischen Geschehnisses ist unserm Theater nicht eigen, er ist nur dem Leben eigen. Wenn wir die Stücke Shakespeares betrachten, dem wir ruhig einen gewissen Kredit gewähren können, so müssen wir zu dem Schluss kommen, dass es irgendwann ein Theater gegeben hat, das mit dem Leben in einem ganz anderen Kontakt stand. In einem Gespräch erhob der große Epiker Alfred Döblin gegen das Drama den vernichtenden Einwand, diese Kunstgattung könne das Leben überhaupt nicht wahr darstellen. Das Drama sei ein mehr künstliches als künstlerisches Erzeugnis, es stecke keine unmittelbare Wahrheit darin, und man könne aus einem Drama niemals das Leben, sondern nur den Geisteszustand des Dramatikers erfahren. Auf eine Theateraufführung gemünzt, trifft dies unbedingt zu, besonders, wenn es sich um ein Stück handelt, das sich auf einem gewissen geistigen Niveau abspielt. Und es trifft vielleicht auch jenen Teil der deutschen Dramatik, von dem das deutsche Theater seinen Stil ableitete. Das Drama Shakespeares jedoch und wohl auch sein Theater war der Form zumindest sehr nahe, die jene Wahrheit des Lebens selbst konservieren kann. Durch jenes epische Element, das in den Stücken des Shakespeare steckt und das die theatralische Wiedergabe dieser Stücke so erschwert, war Shakespeare im­stande, diese Wahrheit einzufangen. Es gibt einen einzigen Stil für das heutige Theater, der den wirklichen, nämlich den philosophischen Gehalt Shakespeares zur Wirkung bringt, das ist der epische Stil. Das Shakespearische Theater, Angriffen anscheinend überhaupt nicht ausgesetzt und dadurch in unberührter Naivität, konnte bei seinem Publikum ohne weiteres voraussetzen, dass es sich keinerlei Gedanken über das Stück, wohl aber Gedanken über das Leben machen würde. Wir wollen von der Dramatik einer fast hundertjährigen Ebbezeit gar nicht reden. Der philosophische Gehalt ist gleich null. Aber auch die Dramenschreiber der letzten Flut, die Klassiker, können weit eher auf ihre philosophische Vorbildung hinweisen als auf einen philosophischen Gehalt ihrer Stücke. Das Unglück zumindest unserer dramatischen Literatur ist der ungeheure Unterschied zwischen Intelligenz und Weisheit. Wo die deutschen Dramenschreiber, wie etwa im Fall Hebbel und früher schon im Fall Schiller, zu denken anfingen, fingen sie an zu konstruieren. Shake­speare etwa hat das BERTOLT BR ECH T

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Denken nicht nötig. Er hat auch das Konstruieren nicht nötig. Bei ihm konstruiert der Zuschauer. Shakespeare biegt keineswegs den Verlauf eines Menschenschicksals im zweiten Akt etwas zurecht, um einen fünften Akt zu ermöglichen. Alle Dinge laufen bei ihm natürlich aus. In der Zu­sam­men­ hang­­losigkeit seiner Akte erkennt man wieder die Zusammenhanglosigkeit eines menschlichen Schicksals, wenn es von jemand berichtet wird, der kein Interesse daran hat, es zu ordnen, um eine Idee, die nur ein Vorurteil sein kann, mit einem Argument zu versehen, das nicht aus dem Leben gegriffen ist. Es gibt nichts Dümmeres, als Shakespeare so aufzuführen, dass er klar ist. Er ist von Natur unklar. Er ist absoluter Stoff. Ich habe zu erklären versucht, dass gerade das Beste bei Shakespeare, im Widerspruch stehend zu unserer herrschenden Ästhetik und unsern Theatern nicht fassbar, heute nicht aufgeführt werden kann, und dies ist umso bedauernswerter, als gerade eine Generation, die gut getan hat, die ganze Klassik aus ihrem Gedächtnis auszu­tilgen, da sie ohne eine Umwertung der wesentlichsten Ideenkomplexe gar keine Existenzmöglichkeit hat, hier in der Dramatik des Shakespeare das tröstliche Beispiel für die Möglichkeit reinen Stoffes fände.

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Stephen Greenblatt

DAS EHEPAAR MACBETH

Über die Physiognomie einer zerstörerischen Intimität


Die Intimität zwischen den Ehegatten in Macbeth ist erschreckend. »Liebstes Kind«, sagt Macbeth voller Zuneigung zu seiner Frau, als er ihr einen Bericht über das, was er getan hat, vorenthält – er hat gerade die Ermordung seines Freundes Banquo in die Wege geleitet –, damit sie der Tat besser Beifall spenden kann, wenn sie vollbracht ist. Als sie ein Gastmahl veranstalten, das entsetzlich entgleist, versucht die treue Gattin für ihren Ehemann einzuspringen: »Bleibt sitzen, Herrn«, sagt sie zu den Gästen, die auffahren, als Macbeth wegen der Erscheinung des ermordeten Banquo auf seinem Stuhl, die er allein sieht, aufschreit, Der König ist oft so Und war’s von Jugend an – oh, steht nicht auf! Schnell geht der Anfall über; augenblicks Ist er dann wohl. Dann, im Flüsterton, versucht sie ihn dazu zu bringen, dass er sich zusammennimmt: »Bist du ein Mann?« Der sexuelle Spott, der in diesen Worten halb verborgen liegt, ist der entscheidende Ton, den Lady Macbeth immer wieder anschlägt. Er ist das wichtigste Mittel, mit dem sie ihren schwankenden Gatten dazu bewegt, den König umzubringen: Als du es wagtest, da warst du ein Mann; Und mehr sein, als du warst, das machte dich Nur um so mehr zum Mann. Wenn diese Spötteleien bei Macbeth Wirkung zeigen, dann deshalb, weil beide, Mann und Frau, die tiefsten Befürchtungen und Wünsche des anderen kennen und mit ihnen spielen. Sie treffen sich auf dem Boden einer gemeinsamen, gewollten, mörderischen Wildheit: Ich gab die Brust und weiß, Wie zärtlich man das Kind liebt, das man tränkt. Und doch, dieweil es mir ins Antlitz lächelt, Wollt’ reißen ich von meinem Mutterbusen Sein zahnlos Mündlein, und sein Hirn ausschmettern, Hätt’ ich’s geschworen, wie du jenes schwurst! Macbeth wird von dieser Phantasie unheimlich erregt: Gebär mir Söhne nur! Aus deinem unbezwungnen Stoffe können Nur Männer sprossen.

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Der Dialog führt das Publikum tief ins Innere dieser besonderen Ehe. Was immer Lady Macbeth dazu veranlasst hat, sich die blutige Szene vorzustellen, die sie beschreibt, und was immer Macbeth als Reaktion auf ihre Phantasie empfindet – Entsetzen, sexuelle Erregung, Neid, seelische Malaise, Gefährtenschaft im Bösen –, es liegt im Zentrum dessen, was es heißt, das wichtigste Ehepaar zu sein, das Shakespeares Phantasie heraufbeschworen hat. Auffällig ist an dieser Szene und an der gesamten Beziehung zwischen Macbeth und seiner Gattin das Ausmaß, in dem jeder der beiden den Geist des anderen bewohnt. Als Lady Macbeth erstmals auftritt, liest sie einen Brief ihres Gatten, in dem er ihr die Begegnung mit den Hexen beschreibt, die ihm prophezeit haben, dass er König sein werde: »Ich habe es für gut gehalten, dir dies zu vertrauen, meine geliebteste Teilnehmerin der Hoheit, auf dass dein Mitgenuss an der Freude dir nicht entzogen werde, wenn du nicht erfahren hättest, welche Hoheit dir verheißen ist.« Er kann nicht abwarten, bis er zu Hause ist und es ihr erzählen kann; er hat das Bedürfnis, dass sie diese Phantasie sogleich mit ihm teilt. Sie wiederum stürzt sich nicht nur sogleich darauf, sondern sie beginnt auch fast im gleichen Atemzug mit tiefem Verständnis über das Wesen ihres Gatten nachzudenken: Es ist zu voll von Milch der Menschenliebe, Das Nächste zu erfassen. Groß möchtst du sein, Bist ohne Ehrgeiz nicht; doch fehlt die Bosheit, Die ihn begleiten muss. Was recht du möchtest, Das möchtst du rechtlich; möchtest falsch nicht spielen Und unrecht doch gewinnen, möchtest gern Das haben, großer Glamis, was dir zuruft: »Dies musst du tun, wenn du es haben willst« – Und was du mehr dich scheust zu tun, als dass Du ungetan es wünschest. Die Reichhaltigkeit dieser Darstellung, die Art und Weise, in der sie sich von der ersten einfachen Beobachtung zu etwas beinahe schwindelerregend Kompliziertem entfaltet, ist anschaulicher Beweis dafür, dass die Gattin in der Lage ist, den Schlichen und Windungen der tiefsten Charakterschichten ihres Mannes zu folgen, ihren Gatten zu erfassen. Und ihr intimes Verstehen weckt in ihr den Wunsch, in ihn einzudringen: »Eil hierher | Auf dass ich meinen Mut ins Ohr dir gieße.«

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Georg Trakl → Hexensabbath

Ein Hauch von fiebernd giftigen Gewächsen Macht träumen mich in mondnen Dämmerungen, Und leise fühl’ ich mich umrankt, umschlungen, Und seh’ gleich einem Sabbath toller Hexen Blutfarbne Blüten in der Spiegel Hellen Aus meinem Herzen keltern Flammenbrünste, Und ihre Lippen kundig aller Künste An meiner trunknen Kehle wütend schwellen. Pestfarbne Blumen tropischer Gestade, Die reichen meinen Lippen ihre Schalen, Die trüben Geiferbronnen ekler Qualen. Und eine schlingt – o rasende Mänade – Mein Fleisch, ermattet von den schwülen Dünsten, Und schmerzverzückt von fürchterlichen Brünsten. 51


Sigmund Freud

DIE AM ERFOLGE SCHEITERN

Aus der psychoanalytischen Arbeit


Es muss überraschend, ja verwirrend wirken, wenn man als Arzt die Erfahrung macht, dass Menschen gelegentlich gerade dann erkranken, wenn ihnen ein tief begründeter und lange gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Es sieht dann so aus, als ob sie ihr Glück nicht vertragen würden, denn an dem ursächlichen Zusammenhange zwischen dem Erfolge und der Erkrankung kann man nicht zweifeln. Die analytische Arbeit zeigt uns leicht, dass es Gewissensmächte sind, welche der Person verbieten, aus der glücklichen realen Veränderung den lange erhofften Gewinn zu ziehen. Eine schwierige Aufgabe aber ist es, Wesen und Herkunft dieser richtenden und strafenden Tendenzen zu erkunden, die uns durch ihre Existenz oft dort überraschen, wo wir sie zu finden nicht erwarteten. Was wir darüber wissen oder vermuten, will ich nicht an Fällen der ärztlichen Beobachtung, sondern an Gestalten erörtern, die große Dichter aus der Fülle ihrer Seelenkenntnis erschaffen haben. Eine Person, die nach erreichtem Erfolge zusammenbricht, nachdem sie mit unbeirrter Energie um ihn gerungen hat, ist Shakespeares Lady Macbeth. Es ist vorher kein Schwanken und kein Anzeichen eines inneren Kampfes in ihr, kein anderes Streben, als die Bedenken ihres ehrgeizigen und doch mildfühlenden Mannes zu besiegen. Dem Mordvorsatz will sie selbst ihre Weiblichkeit opfern, ohne zu erwägen, welche entscheidende Rolle dieser Weiblichkeit zufallen muss, wenn es dann gelten soll, das durch Verbrechen erreichte Ziel ihres Ehrgeizes zu behaupten. Kommt, ihr Geister, Die ihr auf Mordgedanken lauscht, entweibt mich. An meine Brüste, Ihr Mordhelfer! Saugt mir Milch zu Galle! (Akt I, Szene 5) Ich gab die Brust und weiß, Wie zärtlich man das Kind liebt, das man tränkt. Und doch, dieweil es mir ins Antlitz lächelt, Wollt’ reißen ich von meinem Mutterbusen Sein zahnlos Mündlein, und sein Hirn ausschmettern, Hätt’ ich’s geschworen, wie du jenes schwurst! (Akt I, Szene 7) Eine einzige leise Regung des Widerstrebens ergreift sie vor der Tat: Hätt’ er geglichen meinem Vater nicht Als er so schlief, ich hätt’s getan. (Akt II, Szene 2 ) Nun, da sie Königin geworden durch den Mord, meldet sich flüchtig etwas wie eine Enttäuschung, wie ein Überdruss. Wir wissen nicht, woher. 53

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Nichts hat man, alles Lüge, Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Genüge, ’s ist sichrer das zu sein, was wir zerstören, Als durch Zerstörung ew’ger Angst zu schwören. (Akt III, Szene 2) Doch hält sie aus. In der nach diesen Worten folgenden Szene des Banketts bewahrt sie allein die Besinnung, deckt die Verwirrung ihres Mannes, findet einen Vorwand, um die Gäste zu entlassen. Und dann entschwindet sie uns. Wir sehen sie (in der ersten Szene des fünften Aktes) als Somnambule wieder, an die Eindrücke jener Mordnacht fixiert. Sie spricht ihrem Manne wieder Mut zu wie damals: Pfui, mein Gemahl, pfui, ein Soldat und furchtsam? Was haben wir zu fürchten, wer es weiß? Niemand zieht unsere Macht zur Rechenschaft. Sie hört das Klopfen ans Tor, das ihren Mann nach der Tat erschreckte. Daneben aber bemüht sie sich, »die Tat ungeschehen zu machen, die nicht mehr ungeschehen werden« kann. Sie wäscht ihre Hände, die mit Blut befleckt sind und nach Blut riechen, und wird der Vergeblichkeit dieser Bemühung bewusst. Die Reue scheint sie niedergeworfen zu haben, die so reuelos schien. Als sie stirbt, findet Macbeth, der unterdes so unerbittlich geworden ist, wie sie sich anfänglich zeigte, nur die eine kurze Nachrede für sie: Sie konnte später sterben. Es war noch Zeit genug für solch ein Wort. (Akt V, Szene 5) Und nun fragt man sich, was hat diesen Charakter zerbrochen, der aus dem härtesten Metall geschmiedet schien? Ist’s nur die Enttäuschung, das andere Gesicht, das die vollzogene Tat zeigt, sollen wir rückschließen, dass auch in der Lady Macbeth ein ursprünglich weiches und weiblich mildes Seelenleben sich zu einer Konzentration und Hochspannung emporgearbeitet hatte, der keine Andauer beschieden sein konnte, oder dürfen wir nach Anzeichen forschen, die uns diesen Zusammenbruch durch eine tiefere Motivierung menschlich näherbringen? Ich halte es für unmöglich, hier eine Entscheidung zu treffen. Shakespeares Macbeth ist ein Gelegenheitsstück, zur Thronbesteigung des bisherigen Schottenkönigs James gedichtet. Der Stoff war gegeben und gleichzeitig von anderen Autoren behandelt worden, deren Arbeit Shakespeare wahrscheinlich in gewohnter Weise genützt hat. Er bot merkwürdige Anspielungen an die gegenwärtige Situation. Die »jungfräuliche« Elisabeth, von der ein Gerede wissen wollte, dass sie nie imstande SIGMU N D FR EU D

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gewesen wäre, ein Kind zu gebären, die sich einst bei der Nachricht von James’ Geburt im schmerzlichen Aufschrei als »einen dürren Stamm« bezeichnet hatte, war eben durch ihre Kinderlosigkeit genötigt worden, den Schottenkönig zu ihrem Nachfolger werden zu lassen. Der war aber der Sohn jener Maria, deren Hinrichtung sie, wenn auch widerwillig, angeordnet hatte, und die trotz aller Trübung der Beziehungen durch politische Rücksichten doch ihre Blutsverwandte und ihr Gast genannt werden konnte. Die Thronbesteigung Jakobs I. war wie eine Demonstration des Fluches der Unfruchtbarkeit und der Segnungen der fortlaufenden Generation. Und auf diesen nämlichen Gegensatz ist die Entwicklung in Shakespeares Macbeth eingestellt. Die Schicksalsschwestern haben ihm verheißen, dass er selbst König werden, dem Banquo aber, dass seine Kinder die Krone überkommen sollen. Macbeth empört sich gegen diesen Schicksalsspruch, er begnügt sich nicht mit der Befriedigung des eigenen Ehrgeizes, er will Gründer einer Dynastie sein und nicht zum Vorteile Fremder gemordet haben. Man übersieht diesen Punkt, wenn man in Shakespeares Stück nur die Tragödie des Ehrgeizes erblicken will. Es ist klar, da Macbeth selbst nicht ewig leben kann, so gibt es für ihn nur einen Weg, den Teil der Prophezeiung, der ihm widerstrebt, zu entkräften, wenn er nämlich selbst Kinder hat, die ihm nachfolgen können. Er scheint sie auch von seinem starken Weibe zu erwarten: Du, gebier nur Söhne, Nur Männer sollte dein unschreckbar Mark Zusammensetzen. (Akt I, Szene 7) Und ebenso klar ist, wenn er in dieser Erwartung getäuscht wird, dann muss er sich dem Schicksal unterwerfen, oder sein Handeln verliert Ziel und Zweck und verwandelt sich in das blinde Wüten eines zum Untergange Verurteilten, der vorher noch, was ihm erreichbar ist, vernichten will. Wir sehen, dass Macbeth diese Entwicklung durchmacht, und auf der Höhe der Tragödie finden wir jenen erschütternden, so oft schon als vieldeutig erkannten Ausruf, der den Schlüssel für seine Wandlung enthalten könnte, den Ausruf Macduffs: Er hat keine Kinder. (Akt IV, Szene 3) Das heißt gewiss: Nur weil er selbst kinderlos ist, konnte er meine Kinder morden, aber es kann auch mehr in sich fassen und vor allem könnte es das tiefste Motiv bloßlegen, welches sowohl Macbeth weit über seine Natur hinausdrängt als auch den Charakter der harten Frau an seiner einzigen schwachen Stelle trifft. Hält man aber Umschau von dem Gipfelpunkt, den diese Worte Macduffs bezeichnen, so sieht man das ganze Stück von Beziehungen 55

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Freddie De Tommaso als Macduff



auf das Vater-Kinderverhältnis durchsetzt. Der Mord des gütigen Duncan ist wenig anders als ein Vatermord; im Falle Banquos hat Macbeth den Vater getötet, während ihm der Sohn entgeht; bei Macduff tötet er die Kinder, weil ihm der Vater entflohen ist. Ein blutiges und gekröntes Kind lassen ihm die Schicksalsschwestern in der Beschwörungsszene erscheinen; das bewaffnete Haupt vorher ist wohl Macbeth selbst. Im Hintergrunde aber erhebt sich die düstere Gestalt des Rächers Macduff, der selbst eine Ausnahme von den Gesetzen der Generation ist, da er nicht von seiner Mutter geboren, sondern aus ihrem Leib geschnitten wurde. Es wäre nun durchaus im Sinne der auf Talion aufgebauten poetischen Gerechtigkeit, wenn die Kinderlosigkeit Macbeths und die Unfruchtbarkeit seiner Lady die Strafe wären für ihre Verbrechen gegen die Heiligkeit der Generation, wenn Macbeth nicht Vater werden könnte, weil er den Kindern den Vater und dem Vater die Kinder geraubt, und wenn sich so an der Lady Macbeth die Entweibung vollzogen hätte, zu der sie die Geister des Mordes aufgerufen hat. Ich glaube, man verstünde ohneweiters die Erkrankung der Lady, die Verwandlung ihres Frevelmuts in Reue als Reaktion auf ihre Kinderlosigkeit, durch die sie von ihrer Ohnmacht gegen die Satzungen der Natur überzeugt und gleichzeitig daran gemahnt wird, dass ihr Verbrechen durch ihr eigenes Verschulden um den besseren Teil seines Ertrags gebracht worden ist. In der Chronik von Holinshed (1577), aus welcher Shakespeare den Stoff des Macbeth schöpfte, findet die Lady nur eine einzige Erwähnung als Ehrgeizige, die ihren Mann zum Morde aufstachelt, um selbst Königin zu werden. Von ihren weiteren Schicksalen und von einer Entwicklung ihres Charakters ist nicht die Rede. Dagegen scheint es, als ob dort die Wandlung im Charakter Macbeths zum blutigen Wüterich ähnlich motiviert werden sollte, wie wir es eben versucht haben. Denn bei Holinshed liegen zwischen dem Morde an Duncan, durch den Macbeth König wird, und seinen weiteren Missetaten zehn Jahre, in denen er sich als strenger, aber gerechter Herrscher erweist. Erst nach diesem Zeitraume tritt bei ihm die Änderung ein, unter dem Einflusse der quälenden Befürchtung, dass die Banquo erteilte Prophezeiung sich ebenso erfüllen könne wie die seines eigenen Schicksals. Nun erst lässt er Banquo töten und wird wie bei Shakespeare von einem Verbrechen zum andern fortgerissen. Es wird auch bei Holinshed nicht ausdrücklich gesagt, dass es seine Kinderlosigkeit ist, welche ihn auf diesen Weg treibt, aber es bleibt Zeit und Raum für diese naheliegende Motivierung. Anders bei Shakespeare. In atemraubender Hast jagen in der Tragödie die Ereignisse an uns vorüber, sodass sich aus den Angaben der Personen im Stücke etwa eine Woche als die Zeitdauer ihres Ablaufes berechnen lässt. Durch diese Beschleunigung wird all unseren Konstruktionen über die Motivierung des Umschwungs im Charakter Macbeths und seiner Lady der Boden entzogen. Es fehlt die Zeit, innerhalb welcher die fortgesetzte Enttäuschung der Kinderhoffnung das Weib zermürben und den Mann in trotSIGMU N D FR EU D

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zige Raserei treiben könnte, und es bleibt der Widerspruch bestehen, dass so viele feine Zusammenhänge innerhalb des Stückes und zwischen ihm und seinem Anlass ein Zusammentreffen im Motiv der Kinderlosigkeit anstreben, während die zeitliche Ökonomie der Tragödie eine Charakterentwicklung aus anderen als den innerlichsten Motiven ausdrücklich ablehnt. Welches aber diese Motive sein können, die in so kurzer Zeit aus dem zaghaften Ehrgeizigen einen hemmungslosen Wüterich und aus der stahlharten Anstifterin eine von Reue zerknirschte Kranke machen, das lässt sich meines Erachtens nicht erraten. Ich meine, wir müssen darauf verzichten, das dreifach geschichtete Dunkel zu durchdringen, zu dem sich die schlechte Erhaltung des Textes, die unbekannte Intention des Dichters und der geheime Sinn der Sage hier verdichtet haben. Ich möchte es auch nicht gelten lassen, dass jemand einwende, solche Untersuchungen seien müßig angesichts der großartigen Wirkung, die die Tragödie auf den Zuschauer ausübt. Der Dichter kann uns zwar durch seine Kunst während der Darstellung überwältigen und unser Denken dabei lähmen, aber er kann uns nicht daran hindern, dass wir uns nachträglich bemühen, diese Wirkung aus ihrem psychologischen Mechanismus zu begreifen. Auch die Bemerkung, es stehe dem Dichter frei, die natürliche Zeitfolge der von ihm vorgeführten Begebenheiten in beliebiger Weise zu verkürzen, wenn er durch das Opfer der gemeinen Wahrscheinlichkeit eine Steigerung des dramatischen Effekts erzielen kann, scheint mir hier nicht an ihrem Platze. Denn ein solches Opfer ist doch nur zu rechtfertigen, wo es bloß die Wahrscheinlichkeit stört, aber nicht, wo es die kausale Verknüpfung aufhebt, und der dramatischen Wirkung wäre kaum Abbruch geschehen, wenn der Zeitablauf unbestimmt gelassen wäre, anstatt durch ausdrückliche Äußerungen auf wenige Tage eingeengt zu werden. Es fällt so schwer, ein Problem wie das des Macbeth als unlösbar zu verlassen, dass ich noch den Versuch wage, eine Bemerkung anzufügen, die nach einem neuen Ausweg weist. Ludwig Jekels hat kürzlich in einer Shakespeare-Studie ein Stück der Technik des Dichters zu erraten geglaubt, welches auch für Macbeth in Betracht kommen könnte. Er meint, dass Shakespeare häufig einen Charakter in zwei Personen zerlegt, von denen dann jede unvollkommen begreiflich erscheint, solange man sie nicht mit der anderen wiederum zur Einheit zusammensetzt. So könnte es auch mit Macbeth und der Lady sein, und dann würde es natürlich zu nichts führen, wollte man sie als selbständige Person fassen und nach der Motivierung ihrer Umwandlung forschen, ohne auf den sie ergänzenden Macbeth Rücksicht zu nehmen. Ich folge dieser Spur nicht weiter, aber ich will doch anführen, was in so auffälliger Weise diese Auffassung stützt, dass die Angstkeime, die in der Mordnacht bei Macbeth hervorbrechen, nicht bei ihm, sondern bei der Lady zur Entwicklung gelangen. Er ist es, der vor der Tat die Halluzination des Dolches gehabt hat, aber sie, die später der geistigen Erkrankung verfällt; er hat nach dem Morde im Hause schreien gehört: Schlaft nicht mehr, Macbeth mordet den Schlaf und also 59

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soll Macbeth nicht mehr schlafen, aber wir vernehmen nichts davon, dass König Macbeth nicht mehr schläft, während wir sehen, dass die Königin aus ihrem Schlafe aufsteht und nachtwandelnd ihre Schuld verrät; er stand hilflos da mit blutigen Händen und klagte, dass all des Meergottes Flut nicht reinwasche seine Hand; sie tröstete damals: Ein wenig Wasser spült uns ab die Tat, aber dann ist sie es, die eine Viertelstunde lang ihre Hände wäscht und die Befleckung des Blutes nicht beseitigen kann. »Alle Wohlgerüche Arabiens machen nicht süß duftend diese kleine Hand.« (Akt V, Szene 1) So erfüllt sich an ihr, was er in seiner Gewissensangst gefürchtet; sie wird die Reue nach der Tat, er wird der Trotz, sie erschöpfen miteinander die Möglichkeiten der Reaktion auf das Verbrechen, wie zwei uneinige Anteile einer einzigen psychischen Individualität und vielleicht Nachbilder eines einzigen Vorbildes.

Anna Netrebko als Lady Macbeth und Luca Salsi als Macbeth →

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E.T.A. Hoffmann

DAS GEWISSEN Ich konnte nicht mehr schlafen. In den wunderlichen Reflexen, die der düstre, flackernde Schein der Lampe an Wände und Decke warf, grinsten mich allerlei verzerrte Gesichter an; ich löschte die Lampe aus, ich barg mich in die Strohkissen, aber grässlicher tönte dann das dumpfe Stöhnen, das Kettengerassel der Gefangenen durch die grauenvolle Stille der Nacht. Oft war es mir, als höre ich Euphemiens-Viktorins Todesröcheln. »Bin ich denn schuld an eurem Verderben? Wart ihr es nicht selbst, Verruchte, die ihr euch hingabt meinem rächenden Arm?« – So schrie ich laut auf, aber dann ging ein langer, tief ausatmender Todesseufzer durch die Gewölbe, und in wilder Verzweiflung heulte ich: »Du bist es, Hermogen! ... Nah ist die Rache! ... Keine Rettung mehr!« – In der neunten Nacht mochte es sein, als ich, halb ohnmächtig von Grauen und Entsetzen, auf dem kalten Boden des Gefängnisses ausgestreckt lag. Da vernahm ich deutlich unter mir ein leises, abgemessenes Klopfen. Ich horchte auf, das Klopfen 62


dauerte fort, und dazwischen lachte es seltsamlich aus dem Boden hervor! Ich sprang auf und warf mich auf das Strohlager, aber immerfort klopfte es und lachte und stöhnte dazwischen. – Endlich rief es leise, leise, aber wie mit hässlicher, heiserer, stammelnder Stimme hintereinander fort: »Me-dar-dus! Me-dar-dus!« – Ein Eisstrom goss sich mir durch die Glieder! Ich ermannte mich und rief »Wer da! Wer ist da?« – Lauter lachte es nun und stöhnte und ächzte und klopfte und stammelte heiser: »Me-dar-dus ... Me-dar-dus!« Ich raffte mich auf vom Lager. »Wer du auch bist, der du hier tollen Spuk treibst, stell dich her sichtbarlich vor meine Augen, dass ich dich schauen mag, oder höre auf mit deinem wüsten Lachen und Klopfen!« – So rief ich in die dicke Finsternis hinein, aber recht unter meinen Füßen klopfte es stärker und stammelte: »Hihihi ... hihihi ... Brü-der-lein ... Brü-der-lein Me-dar-dus ... ich bin da ... bin da ... ma-mach auf ... auf ... wir wollen in den Wa-Wald gehn ... Wald gehn!« – Jetzt tönte die Stimme dunkel in meinem Innern wie bekannt; ich hatte sie schon sonst gehört, doch nicht, wie mich es dünkte, so abgebrochen und so stammelnd. Ja, mit Entsetzen glaubte ich meinen eignen Sprachton zu vernehmen. → Die Elixiere des Teufels 63


SCHULD, PSYCHE UND VERGEBUNG

Oliver Láng im Gespräch mit dem Arzt und Psychotherapeuten Georg Titscher


Fangen wir gleich mit der Kernfrage an. Kann man sagen, dass jeder Mensch, wenn auch vielleicht unterschiedlich ausgeprägt, ein Schuldbewusstsein hat? Gewissermaßen analog zur Idee des Naturrechts, also etwas Mensch-Immanentes? GT Ich meine, dass die Mehrzahl der Menschen ein Gefühl für Schuld hat, ein Bewusstsein der Schuld, das sich immer dann meldet, wenn er oder sie gegen persönliche, gesellschaftliche oder gesetzliche Werte und Normen verstößt. Wohlgemerkt: verantwortlich verstößt. Denn Schuld kann es nur dort geben, wo jemand verantwortlich handelt.

Zumindest im juristischen Sinne. GT Nicht nur. Schuld setzt eine Handlungsfreiheit voraus: Ich kann so oder so handeln. Wenn ich nur einen Weg habe, den ich zwangsläufig beschreiten muss, kann ich gar nicht schuldig werden. In diesem Punkt betreten wir eine Diskussion, die die Philosophie ausführlich behandelt, das Spannungsfeld zwischen Willensfreiheit und Schuld. Ich würde jedenfalls meinen, dass zumindest eine alternative Handlungsmöglichkeit bestehen muss.

Setzt Schuldbewusstsein ein Gewissen voraus? Damit sind wir im Persönlichen. Hier gilt sicherlich: Ohne Gewissen kein Schuldgefühl. Jago in Otello wird wohl keine Schuldgefühle haben. Hagen: eher nicht, zumindest nicht, was Siegfried betrifft. Scarpia – das kann man vielleicht diskutieren. Wobei wir gerade bei Scarpia in den Bereich der MeToo-Diskussion kommen, die sehr deutlich die Trennlinie zwischen persönlichem Schuldgefühl und gesellschaftlicher oder auch juristischer Schuld aufzeigt. So bezweifle ich, dass ein Großteil der MeToo-Schuldigen echte Schuldgefühle hat. Weil deren Handeln einfach mit ihrem Selbstbild übereinstimmt, nämlich unwiderstehlich zu sein oder aus Gründen der Macht, des Geldes oder warum auch immer, alles zu dürfen. Wenn einer die Welt so sieht, dann kann er kaum ein persönliches Schuldgefühl entwickeln. GT

Nur als kurzen Einschub: Hat ein Hagen keine Schuldgefühle, weil er keine hat, oder hat er sie nur in Bezug auf Siegfried nicht? Es gibt eine psychische Störung, die dazu führt, dass eine Person gar keine Schuldgefühle, weil gar kein Gewissen hat. In der psychiatrischen Fachsprache nennt man das einen Psychopathen. Ein solcher Mensch ist einfach an sich gewissenlos. Hagen scheint mir kein Psychopath, GT

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er würde vielleicht keinen der Mannen töten, aber seine Ethik erlaubt ihm, Siegfried zu morden. Vielleicht versuchen wir noch eine genauere Trennschärfe: Schuldgefühl und Schuldbewusstsein müssen sich nicht decken? Wenn jemand mit 180 über die Autobahn brettelt und erwischt wird, hat er vielleicht ein Schuldbewusstsein, aber nicht unbedingt ein Schuldgefühl. GT Ja, und zwar wenn seine persönlichen Werte nicht mit den juristischen oder gesellschaftlichen übereinstimmen. Dann kann er zwar objektiv erfassen, dass er gegen eine Norm verstoßen hat, rein subjektiv wird er sich aber nichts vorwerfen. Außer vielleicht erwischt worden zu sein. Wenn jemand die Werte einer Gesellschaft an sich oder einzelne von ihnen für sich persönlich als nicht bindend ansieht, dann wird er für Taten, die er setzt und die diesen Normen nicht entsprechen, keine Schuld empfinden. Ein Terrorist, der aus Überzeugung einen Anschlag verübt, wird kaum ein Schuldgefühl entwickeln. Weil es eben davon abhängt, welche individuellen Werte und Normen jemand für sich bestimmt – siehe Hagen. Schuldgefühl setzt immer auch ein Schuldbewusstsein voraus, Schuldbewusstsein nicht immer ein Schuldgefühl.

Das bedeutet aber auch, dass jeder eine persönlich hoch oder tief gehängte Schuldlatte hat. Wodurch wird die jeweilige Höhe definiert? Welche Faktoren spielen da eine Rolle? GT Wenn wir davon ausgehen, dass Schuld mit Gewissen zu tun hat, oder psychoanalytisch ausgedrückt, mit dem Über-Ich, dann kommen als Faktoren einerseits die Erziehung und andererseits gesellschaftliche Normen, die wiederum auch durch Erziehung weitergegeben werden, ins Spiel. Nach Sigmund Freud ist dieses Über-Ich jene Instanz, die das Es, also die Triebe, reguliert und im Zaum hält. Von Freud ist das in erster Linie individuell gedacht, als Introjekt der Werte, die von den Eltern und damit auch von der Gesellschaft vorgegeben werden.

Das hat also nichts mit einem persönlichen Gefühl zu tun? GT

Dadurch, dass es introjiziert ist, ist es ganz persönlich. So zumindest Freud. Die unterschiedlichen Stärken des Schuldgefühls werden also durch das Über-Ich ausgelöst?

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GT Ja, wenn mein Über-Ich sehr ausgeprägt ist und dadurch meine persönlichen Werte und Normen sehr eng gesetzt sind, dann breche ich sie leichter und bekomme schneller ein Schuldgefühl.

Wie kann es trotz vorhandenem Über-Ich zu besonders abstoßenden Gräueltaten kommen? Etwa im Krieg: Ist das der Wegfall der dünnen zivilisatorischen Schicht? Ein destruktiver Herdentrieb? Ein Schalter, der plötzlich umgelegt wird? GT Genau das sind die Antworten. Nicht zu vergessen den Aggres sionstrieb, der durchbricht. Wenn plötzlich etwas erlaubt scheint oder ein Vorgesetzter etwas befiehlt, kann das verheerende Folgen haben. Was aber nicht heißt, dass der Einzelne doch ein Schuldbewusstsein hat oder haben kann. Hier kann es aber zu Verdrängungen kommen oder die Ausrede der Pflicht etc. wird herangezogen. Das haben wir ja alle oft gehört.

Wir hatten den Autofahrer, der kein Schuldgefühl hat, obwohl er – den geltenden Normen nach – schuldig ist. Können wir den Spieß auch umdrehen? Gibt es den unschuldigen Schuldigen? GT Zunächst einmal gibt es Schulgefühl ohne Schuld. Das kann krankhaft sein und auch auf eine Depression hinweisen. Jemand, der unter Depressionen leidet, fühlt sich oft schuldig, ohne es zu sein. Und dann gibt es natürlich den »klassischen« Fall des unschuldigen Schuldigen: Ödipus.

Ödipus fühlt sich auch schuldig, weil er seine Mutter geheiratet hat. Da er nicht wusste, um wen es sich handelt, tat er es nicht verantwortlich. Warum also das Schuldgefühl? GT Ich lasse die psychologische und tiefenpsychologische Sicht beiseite, auch Freuds Ödipus-Deutung. Wenn wir nur den antiken Stoff ansehen: Persönlich ist ihm die Tat der Mutterheirat nicht zuzurechnen, weil er es eben nicht bewusst tat. Aber rein gesellschaftlich hat er eine ganz wichtige, elementare Regel gebrochen. Aus diesem Aspekt heraus kann er ein Schuldgefühl entwickeln.

Wäre er etwa im Alten Ägypten aufgewachsenen, in dem Inzest zwischen Pharaonen kein Vergehen war, hätte er kein Schuldgefühl? GT

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Wohl nicht.

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Könnte man daraus schließen, dass, wenn ein Mensch ohne jegliches Wertesystem, praktisch auf der grünen Wiese, aufwächst, er gar kein Schuldgefühl entwickelt? GT Ein Kaspar Hauser gewissermaßen? Ich weiß es nicht. Wir wissen nur, dass Kinder, die ohne irgendeinen menschlichen Bezug leben müssen, sterben. Und sobald ein Bezug da ist, werden auch Werte vermittelt. Ich persönlich glaube, dass sich selbst bei einem »natürlichen« Aufwachsen jenseits von Bezugsystemen ein persönliches Schuldbewusstsein oder -gefühl herausbildet. Es gehört, wie anfangs gesagt, zum Menschsein dazu. Das zeigt sich schon daran, dass die Auseinandersetzung mit Schuld sich quer durch die Kulturen, quer durch die Geschichte zieht. Denken wir nur an die schon genannte griechische Dramenwelt, die sich laufend an diesem Thema abarbeitet.

Wie sieht es in der Tierwelt aus? GT

Nach meinem Kenntnisstand ist bei Primaten ein Schuldbewusstsein experimentell nachgewiesen. Auch Haustiere scheinen mitunter ja zu wissen, dass sie etwas ausgefressen haben. Ist das Schuldbewusstsein oder die Angst vor der Strafe?

GT Das ist Gegenstand sehr kontroversiell geführter Diskussionen. Es gibt, auch was Menschen betrifft, die These, dass Schuldgefühle nur aus Angst vor Strafe entstehen. Das mag mitunter so sein, aber als generellen Ansatz scheint mir das zu kurz gegriffen.

Aber fest steht jedenfalls, dass sich die Impulsgeber ändern. In unseren Breiten war früher sicherlich die Religion viel stärker ein Wertegeber als sie es heute ist. Das führte dazu, dass, selbst wenn nun andere Institutionen und Konzepte in den Vordergrund getreten sind, unser Wertesystem weniger allgemeinverbindlich angesehen wird. Und so wurde etwas ausgelöst, was Richard David Precht in seinem neuen Buch Pflicht die »Baumarktmoral« nennt: jeder und jede sucht sich aus unterschiedlichen Elementen seine eigene Moral zusammen, ganz wie er oder sie es gerade braucht. Das ist aber kein allgemein gültiger Wertmaßstab, der viele bindet. GT

Würde das bedeuten, dass Schuldgefühl weniger werden? Denn wenn ich mir mein eigenes System zusammenzimmere, wird es ja womögEIN GE SPR ÄCH MIT DEM A R ZT U N D PSYCHOT HER A PEU T EN

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lich so gut auf mich zugeschnitten sein, dass es komfortabel und an kritischen Stellen nachgiebig ist. Oder bleibt die Summe an Schuldgefühlen immer gleich? Im Sinne von: Ein ängstlicher Mensch hat Angst, egal, ob er in einem dunklen Park oder allein zu Hause ist? GT Letzteres glaube ich eher nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Gesellschaft immer narzisstischer wird, und das ist nahezu unbestritten, dann werden die persönlich erlebten Schuldgefühle weniger. Denn Narzissten leiden unter diesen deutlich weniger.

Das Ehepaar Macbeth scheint anfangs nicht sonderlich auffällig. Dann aber verlieren sie spürbar die Kontrolle. Ist dieses In-eine-Gewaltspirale-Geraten ein bekanntes Phänomen? GT Ja, es kommt immer wieder vor, dass ein Verbrechen ein weiteres nach sich zieht. Schon deshalb, weil die Angst vor der Strafe, die nun ohnedies fällig ist, wegfällt. Und es immer wieder nötig scheint, weitere Taten zu begehen, um den »Erfolg« der ersten zu sichern.

Wie beurteilt der Psychotherapeut das Kräfteverhältnis zwischen Macbeth und seiner Frau? GT Zunächst fällt auf, dass sie ehrgeizig für ihn ist. Immer wenn sie spricht, ist (bis auf eine Ausnahme in der 1865er-Fassung) nur die Rede von ihm. Das erklärt sich vielleicht dadurch, dass die Ehe kinderlos ist, sie ihm, nach damaliger Sicht, keine Kinder »schenken« konnte. Da wir aber wissen, wie wichtig dieser Aspekt gerade für Herrschersippen war, erzeugt dieser Mangel an Nachkommenschaft womöglich genau diesen Effekt. Selbstverständlich gibt es auch andere Aspekte, etwa dass Lady Macbeth nur Königin werden kann, wenn ihr Mann herrscht. Auffällig ist, dass die beiden sich waagschalenhaft verhalten. Anfangs ist sie vorwärtsdrängend und wirkt stärker, am Ende er, es gleicht sich jedenfalls immer aus. Ich denke, der Kipppunkt ist der Mord an den Kindern von Macduff, das scheußlichste Verbrechen, das keinen Sinn außer Rache hat. Der Mord an Kindern trifft die Kinderlose besonders, und hier ist der Wendepunkt für Lady Macbeth.

Könnte man ihre Stärke auch so sehen, dass sie jemanden braucht, der für sie handelt? Dass sie also gar nicht so stark ist? Das ist durchaus möglich und wäre auch nicht ungewöhnlich. Er ist labiler, suggestibler, aber womöglich braucht sie ein Gegenüber, das sie erst stark macht. GT

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Kann ein Schuldig-Werden ein Trauma beim Verursacher verur­ sachen? Vergleichbar mit einer Gewalttat beim Opfer? Durchaus, wenn nämlich die persönlich erlebte Schuld vordring lich und übergroß wird, sodass nichts anderes mehr Platz findet. Dann ist es nur noch die Frage, wann der Zustand in die Psychose kippt – wie bei Lady Macbeth. GT

Was aber wäre die Lösung für Lady Macbeth, um eben nicht in der Psychose zu landen? Eine Voraussetzung, um gesund mit Schuldgefühlen umzugehen, ist, sie sich bewusst zu machen und sie nicht zu verdrängen, wie es oft geschieht. Wenn sie nämlich verdrängt werden, können sie nicht verarbeitet werden, was wiederum zu psychischen Beschwerden oder psychosomatischen Störungen führen kann – das ist im Praxisleben übrigens gar kein so seltenes Phänomen. Und diese Beschwerden können gravierend sein. Eine Möglichkeit, aus Schuld herauszukommen, ist die Verzeihung. Wie sie von Religionen, besonders auch von der katholischen Kirche als Folge der Beichte, angeboten wird. Eine andere Möglichkeit ist eine Wiedergutmachung, die ebenso als Strafe – letztlich eine Form des Ausgleichs – erfolgen kann. All das führt zu einer Vergebung, in welcher Spielart auch immer: die eigene und oder jene durch den, an dem einer schuldig geworden ist. Hier kann die Psychotherapie eingreifen und Hilfe anbieten, wobei der Therapeut einen niemals lossprechen, sozusagen Absolution erteilen kann. Diese Instanz steht ihm oder ihr nicht zu. GT

Ist eigentlich geteilte Schuld halbe Schuld? Wäre Lady Macbeths Wahnsinn vermeidbar gewesen, wenn das Ehepaar zuletzt besser zusammengehalten hätte? Ja, das ist denkbar, aber nicht in diesem Fall. Denn das Verhält nis der beiden hat sehr viel mit Sexualität zu tun, bei Shakespeare schwört sie dieser ab und beschimpft Macbeth als schwaches Weib. Das Paar entfremdet sich auch auf sexueller Ebene, sie verlieren die Achtung voreinander, besonders Lady Macbeth etwa in der Bankettszene. Wenn in einer Partnerschaft erst einmal die Achtung vor dem anderen verloren ist, kann die Beziehung kaum noch funktionieren. Man merkt es ja am Ende, wie wenig Macbeth der Tod seiner Frau rührt. GT

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Thomas Bernhard → Gefangen

Der Rabe schreit. Er hat mich gefangen. Immer muss ich in diesem Schrei durch das Land ziehen. Der Rabe schreit. Er hat mich gefangen. Gestern saß er im Acker und fror und mein Herz mit ihm. Immer schwärzer wird mein Herz, denn es ist von schwarzen Flügeln zugedeckt.


David R.B. Kimbell

VERDIS MACBETH IM KONTEXT DER ITALIENISCHEN SHAKESPEAREREZEPTION

Einer der nachdrücklichsten Verfechter Shakespeares im 18. Jahrhundert war ein Italiener: Giuseppe Baretti, ein guter Freund Dr. Johnsons. Während seines Londonaufenthalts in den fünfziger Jahren hatte er Shakespeares Dichtungen kennen- und schätzengelernt. Als Johnsons Shakespeare-Ausgabe erschien, schrieb ihm Baretti aus Italien und erbat ein Exemplar, da er »den italienischen Damen den großen Tragödiendichter näherbringen« wolle. Baretti hielt Wort und veröffentlichte in der literarischen Zeitschrift Frusta einen Artikel, in dem er Shakespeare als »in der Gattung der Tragödie wie der Komödie einzigartig und allen Corneilles, Racines und Molières Frankreichs weit überlegen« pries. Und Baretti war es, der 1777 mit seinem Discours sur Shakespeare et sur Monsieur de Voltaire zum ersten Mal Stellung bezog gegen Voltaire, dessen kritisches Urteil über Shakespeare in Frankreich und Italien bis dahin verbindlich war. Allerdings war Baretti ein für die italienischen Literaten des 18. Jahrhunderts untypischer Vertreter, und seine Shakespeare-Begeisterung bewirkte kaum etwas in seinem Land. Denn das literarische Leben Italiens, von den Idealen DAV ID R.B. K IMBELL

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der Arkadier beherrscht, die sprachlichem Purismus und formalistischem Denken verhaftet waren, bot der Kultivierung eines solchen Geschmacks keinen Nährboden. Nur die italienischen Autoren, die Shakespeare in der ganz andersartigen Theateratmosphäre Londons erlebten, spürten seine Größe – etwa Paolo Rolli, während einiger Jahre Librettist der Royal Academy, der im Vorwort seiner Übersetzung von Miltons Paradise Lost (1729) vom »unübertroffenen Rang« sprach, in den Shakespeare das englische Theater erhoben habe, und dessen Übertragung des Hamlet-Monologs 1739 den frühesten italienischen Shakespearetext darstellt. Sieht man von Ausnahmen wie Rolli und Baretti ab, verblieb das Italien der Arkadier in völliger Unkenntnis Shakespeares. Allenfalls Einzelaspekten seines Schaffens, die Voltaire einer Wertschätzung für würdig erachtet hatte, zollte man eine gewisse herablassende Anerkennung. Bei den Autoritäten von Literatur und Theater – ob Metastasio, Algarotti oder Quadrio – finden sich keinerlei Anzeichen für eine Lektüre des Originals oder gar ein echtes Verständnis von dessen Wesen. Francesco Saverio Quadrios Meinung steht für die des Zeitalters: »Obgleich dieser Dichter unbestritten über reiche und starke Talente und die Begabung verfügte, Natürlichkeit mit Erhabenheit zu verbinden, lässt er, wie bereits Voltaire bemerkte, jegliches Verständnis für die Regeln der Kunst vermissen und seine Dichtung zeigt keinen Schimmer des guten Geschmacks. Statt dem englischen Theater durch Beseitigung seiner Mängel Nutzen zu bringen, hat er es in den völligen Ruin geführt.« (Della storia e della ragione d’ogni poesia, 1743) Die Unkenntnis Shakespeares im Italien des 18. Jahrhunderts war zugleich Ursache wie Folge fehlender Übersetzungen. Bis zum Jahrhundertende erschien nur ein einziges Stück vollständig in italienischer Sprache, Julius Cesar (Siena, 1756), zudem unter wenig aussichtsreichen Umständen. Denn der Übersetzer, der Kanonikus Domenico Valentini, war nach seinem freimütigen Bekenntnis des Englischen nicht mächtig; immerhin befanden sich unter seinen Bekannten »einige Herrschaften der berühmten Nation, die das Toskanische völlig beherrschen und mir mit gütiger Geduld diese Tragödie erläuterten«. Erst als sich, vor allem in den Jahren unmittelbar nach der Restauration von 1815, die italienischen Schriftsteller und Kritiker von den Idealen der Arkadier abwandten, trat die Beurteilung Shakespeares in eine neue Phase ein. Die italienische Romantik definierte sich nicht zuletzt durch das Bestreben, der eigenen Literatur durch erneute Anbindung an die Entwicklung in anderen Teilen Europas Impulse zu vermitteln. Madame de Staels Essay De l’Esprit des traductions, der nachdrücklich auf den erzieherischen und kulturellen Wert von Übersetzungen aus dem Englischen und Deutschen hinwies, erschien in Italien 1816, und was als Manifest der italienischen Romantik bezeichnet werden könnte, Giovanni Berchets Lettera semiseria di Crisostomo, brachte ein vergleichbar kosmopolitisches Ideal markant zum Ausdruck: 73

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»Homer, Shakespeare und Schiller sind ebenso ›italiani di patria‹ wie Dante, Ariost und Alfieri.« Eine echte Übersetzungsarbeit konnte ihren Anfang nehmen. Deutliche Belege dafür, dass Shakespeare mit der Restauration zu wesentlichem Einfluss im Kulturleben Italiens gelangte, hält das Werk Alessandro Manzonis bereit. Manzoni war keineswegs ein unkritischer Bewunderer Shakespeares – dessen Vermischung von Komödie und Tragödie etwa blieb ihm fremd – aber er nahm an Shakespeare zwei Qualitäten wahr, die er als bedeutend ansah und beispielgebend für das eigene Schaffen: Zum einen Shakespeares Wirklichkeitstreue und Natürlichkeit und seine konsequente Missachtung von Regeln und Einschränkungen, denen sich die französischen Dramatiker verpflichtet fühlten; zum andern beeindruckte ihn die moralische Haltung: »Shakespeare überragt alle anderen Künstler aufgrund seiner Moralität.« (Dei due sistemi tragici moderni piu conosciuti) Wenn Manzoni die Wirklichkeitstreue bei Shakespeare hervorhob und ihm tiefe moralische Absichten zusprach, verhielt er sich wie alle Kritiker: Er fand in Shakespeares Werken, was er finden wollte, und nutzte es, um eigene Intentionen zu reflektieren. In noch stärkerem Maß gilt dies für einen anderen bedeutenden Shakespeare-Kritiker jener Zeit, den Philosophen Giuseppe Mazzini. 1830 hatte er zwei grundlegende, einflussreiche Essays über das Drama verfasst – Saggio sul dramma storico und Della fatalità considerata com’elemento drammatico –, in denen Shakespeare eine zentrale Rolle zukam. Wie in allen Schriften Mazzinis zur Literatur und Kunst fand sich auch hier der Grundgedanke vertreten, dass das Zeitalter des Individualismus vorüber sei und das Zeitalter ›sozialer Humanität‹ anbreche. Folglich werde Shakespeare, in dem Mazzini das Drama der Individualität am höchsten verkörpert sah, von einem größeren Dramatiker abgelöst, der auf dem von Schiller gebahnten Pfad fortschreite. Doch obwohl Mazzini das Drama Shakespeares als vom philosophischen Standpunkt überholt ansah, pries er einige seiner Qualitäten so überschwänglich, dass seine Worte fast von Verdi stammen könnten: »Shakespeares Drama ist das des Individuums. Mit wenigen Zügen nur entwirft er eine Figur, eine Kunst, in der sich vielleicht nur Dante, Tacitus und Michelangelo mit ihm messen können. Mit leichter Hand schafft er Neues. Shakespeares Menschen sind voller Leben und Bewegung, als hätte Gott selbst sie erschaffen […] Sie bringen Leben und Charakter in der wahrsten, echtesten, vollendetsten Art auf die Bühne, die je ein Mensch erreichen konnte.« Anderen Momenten von Shakespeares Werk blieb eine Anerkennung weiterhin versagt. Das Übernatürliche etwa, das ›Phantastische‹, wie man es vorzugsweise nannte, war bei der romantischen Bewegung Italiens verpönt. Am schärfsten verurteilte es Manzoni in seinem Essay Sul Romanticismo, in dem er seiner Verachtung für jene Ausprägung der Romantik Ausdruck gab, die »aus einem Mischmasch von Hexen und Geistern« besteht, aus »einem sysDAV ID R.B. K IMBELL

Anna Netrebko als Lady Macbeth →

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tematischen Durcheinander, einer Suche nach dem Übersinnlichen, einer Absage an den gesunden Menschenverstand.« Nur bei wenigen kann Shakespeare für seine Behandlung des ›Phantastischen‹ Begeisterung wecken. Einer jener wenigen ist ein Freund Verdis: der Shakespeare-Übersetzer Giulio Carcano, für den ›das Phantastische‹ ein »Ausdruck des Denkens« ist, »das mit dem Unendlichen ringt«. Einer der vielen, die es als bedeutungslos abtun, ist Giuseppe Giusti, der feinste Satiriker des Risorgimento, und auch er ist mit Verdi befreundet. Vor allem die Tatsache, dass Verdi in Macbeth dem ›Phantastischen‹ so großen Raum gegeben habe, veranlasst ihn zu heftiger Kritik: »Das Phantastische kann Genie beweisen; das Wahre beweist Genie und Herz.« (Brief vom 19. März 1847) Auch der rein sprachlichen Größe Shakespeares blieb eine angemessene Würdigung noch versagt. Es mangelte an besseren und vollständigen Übersetzungen. Mazzini hatte schon 1830 in seinem Essay über das historische Drama eine italienische Gesamtausgabe angemahnt und damit einem allgemeinen Bedürfnis Ausdruck gegeben, wie die nun einsetzende Flut von Übersetzungen zeigt. Zwischen 1829 und 1834 erschienen von sechs verschiedenen Autoren italienische Fassungen von acht Shakespeare-Dramen. 1839 legte Carlo Rusconi die erste Gesamtausgabe in Prosa vor. Verdi scheint für sein Macbeth-Libretto auf sie zurückgegriffen zu haben. Ebenfalls 1839 veröffentlichte Giulio Carcano einige Szenen aus King Lear, die den Beginn einer lebenslangen Bemühung um die Übertragung Shakespeares anzeigten. Italienische Kritiker halten Carcanos Shakespeare-Übersetzung für keine der deutschen Übersetzung von Schlegel und Tieck ebenbürtige literarische Errungenschaft; gleichwohl zeichne sie sich aus durch Musikalität und Sprachkultur. Carcano und Rusconi war es zu verdanken, dass Shakespeare nicht länger eine ungreifbare und rätselhafte Gestalt blieb. Der ganze Spielraum seiner Phantasie, seine Kühnheit, seine Originalität, Kraft und Reichtum seiner Sprache waren den Italienern nun endlich offenbart. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts verwarf die Opernbühne Italiens die klassischen und mythologischen Themen mehr und mehr zugunsten von Entlehnungen aus der modernen oder zumindest modischen Literatur Frankreichs, Englands und – in geringerem Ausmaß – Deutschlands. Es war eine der wenigen Konzessionen der Oper an den kosmopolitischen Geschmack der italienischen Romantik, dass die Stücke Schillers, die Romane Scotts und die Versepen Byrons, die Dramen Scribes und später jene Hugos zu den bevorzugten Stoffquellen für Libretti wurden. Auf den ersten Blick scheinen Opern, die auf Shakespeare zurückgreifen, daran wesentlich Anteil zu haben. Fast alle großen Tragödien – meines Wissens nur mit Ausnahme von Macbeth – dienten schon lange vor Verdi als Vorlage für Opernszenarien, und eine beträchtliche Anzahl an Shakespeare-Balletten war an italienischen Theatern aufgeführt worden, ohne dass Shakespeares dramatische Potenz als irgend verbindlich wahrgenommen wurde. Verdis Macbeth ist alles andere als ein DAV ID R.B. K IMBELL

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Beispiel für einen allgemeinen Trend, sie ist die erste italienische Oper, die Shakespeare wahrhaft verpflichtet ist. Die Beziehung, die die übrigen Opern nach Stoffen von Shakespeare mit ihrer literarischen Vorlage verbindet, reduziert sich auf vage Analogien zu Handlung und Figuren. Als Beispiel möchte ich das fünfaktige Ballett Macbeth von Luigi Henry heranziehen, das 1830 an der Scala aufgeführt wurde. Ich zitiere das Szenarium des 1. Aktes als Kostprobe: »Duncan, König von Schottland, beobachtet das Kampftraining seines Sohns Malcolm, dessen Erziehung den Barden obliegt. Der junge Prinz weiß nichts von seiner Abstammung, er glaubt, der Sohn eines einfachen Schotten zu sein. – Die Hexen, die das Geheimnis kennen, wollen aus ihrem Wissen Gewinn schlagen und in Erwartung eines reichen Lohns bieten sie Duncan Geschenke an, die dieser zurückweist. Die Anwesenheit dieser Megären deutet immer auf Unglück im Land (dieser schottische Aberglaube findet in den Schriften Walter Scotts häufig Erwähnung). In der Ferne ist eine Jagdgesellschaft zu hören, Duncan entfernt sich mit seinem Gefolge. Die Hexen schwören, sich am König zu rächen. Ein furchtbarer Sturm kommt auf, den sie nutzen, um sich Macbeth, der an der Jagd teilnimmt, in geheimnisvoller Verschleierung zu zeigen. Macbeth hat eine Vision von Krone und Dolch. – Eine der Hexen sagt ihm: ›Du wirst König sein‹, und verschwindet mit ihren Begleiterinnen. Erschrocken folgt ihnen Macbeth.« Eine Darstellung der Rolle Shakespeares im italienischen Musiktheater vor Verdi bliebe unvollständig ohne Erwähnung der berühmtesten ShakespeareOper des frühen 19. Jahrhunderts: Gioachino Rossinis Otello. Von ihr hätte man eine genauere Beachtung der Quelle erwarten dürfen, da ihrem Dichter Francesco Berio Salsa der Ruf vorauseilte, Shakespeare ebenso wie Homer, Sophokles, Terenz und Corneille zu großen Teilen auswendig zu kennen. Gleichwohl ist der Grad der Shakespearetreue seines Librettos berüchtigt. Allgemein wurde zwar als kühn empfunden, dass Berio die Ermordung Desdemonas durch Othello beibehielt, doch Shakespeare-Kenner wie Stendhal und Byron denunzierten seine Arbeit als Travestie. Byrons Bericht aus Venedig ist bekannt: »Sie haben Otello in eine Oper hineingequält ... gute, doch düstere Musik; was allerdings den Text betrifft, all die eigentlichen Szenen mit Jago gestrichen und den größten Unsinn eingefügt: Das Taschentuch wurde in ein billet-doux verwandelt, und der Hauptdarsteller weigerte sich, das Gesicht zu schwärzen, wofür das Geleitwort eine scharfsinnige Rechtfertigung bereithält.« (Brief vom 3. März 1818) Berios Text schließt die Möglichkeit einer authentischen Inspiration Rossinis durch Shakespeare aus. Gewiss, auch Rossini schreibt ein Weidenlied für Desdemona im 3. Akt, doch Ähnlichkeiten in Stil und Ton bleiben unerheblich. Es gibt auch unerwartete Parallelen wie die Gegenstimme, die Jago im Andante der Introduktion zum 1. Akt bildet, die jener Bemerkung bei Shakespeare in der 1. Szene des 1. Aktes analog ist: »Noch seid ihr wohlgestimmt, | Doch dieses Einklangs Wirbel spann’ ich ab, | So 77

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← Lea Grundig: Angst

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wahr ich ehrlich bin.« Dennoch kann Otello keine Ausnahmestellung unter den angeblichen Shakespeare-Opern jener Zeit beanspruchen. Berio und Rossini wandten sich Shakespeare nicht wie Verdi im Geist der Verehrung zu, nicht aus dem Bedürfnis, die italienische Oper dramatisch und psychologisch zu erneuern, sondern benutzten ihn wie jeden andern der in den kultivierten Kreisen gerade modischen Dichter, von denen eine romantische Oper das beliebige Thema bezog. Die Art dieser Libretti, ihr rücksichtsloser Umgang mit dem Plot, ihre Vernachlässigung feinerer Charakterzüge, ihr Desinteresse an den sprachlichen Qualitäten des Originals impliziert, dass die Komponisten niemals wirklich mit Shakespeare in Kontakt gekommen sind. Nirgends findet sich eine Musik, der nach Form und Ausdruck der Einfluss Shakespeares auf die dramatische Phantasie des Komponisten zugeschrieben werden könnte. An solchen Momenten ist Verdis Macbeth hingegen überreich. Diese Partitur ist nicht nur ein Meilenstein in Verdis eigener Laufbahn, sondern setzte ebenso neue Maßstäbe für die Aneignung Shakespeares durch die Opernbühne. Es handelt sich in der Tat um die erste italienische Oper, die zu Shakespeare in einer authentischen Beziehung steht. Zweifellos hielt Verdi unter den Opern, die er in den 40er-Jahren schrieb, Macbeth für seine beste. Sie ist es, die er laut Widmungsschreiben an Barezzi »mehr als alle andern« liebte und bei der er extremste Anforderungen an das Können und die Gewissenhaftigkeit der Aufführenden stellte. Man spürt, dass Macbeth Verdis eigene Oper ist, in einem umfassenderen, bedingungsloseren Sinne als jede andere, die er in der Vergangenheit komponiert hat oder in Zukunft komponieren wird. Sogar das Libretto schrieb er selbst: »Ich erstellte das Szenarium, mehr noch, ich schrieb eine vollständige Prosafassung des Dramas, in der ich die Einteilung der Akte, der Szenen, der Nummern usw. angab ... Dann ließ ich es von Piave in Verse bringen.« (Brief vom 11. April 1857) Für große Teile des Librettos lieferte Verdi an Piave noch weit mehr an Einzelheiten, bis hin zu Angaben über die für ein Cantabile benötigten Zeilen oder über die Silbenzahl eines Chorsatzes. Noch im Detail basieren Dramaturgie, Form und Sprache des Macbeth-Librettos auf Verdis Vorgaben. Das Prinzip, das Verdis Konzeption zugrunde liegt – und darin unterscheidet er sich von den Komponisten früherer Shakespeare-Opern –, heißt Treue zum Original. Nicht etwa, dass Verdi bei all seinen Opern, ob sie nun auf Hugo, Byron oder Schiller zurückgehen, keinen Wert auf die ›Authentizität‹ seiner Adaption gelegt hätte. Aber so entschieden wie bei keiner anderen geht es ihm hier nicht bloß um die Umwandlung eines dramatischen und literarischen Meisterwerks in eine typische italienische Oper. Vielmehr möchte er die italienische Oper in ein flexibles und komplexes Medium verwandeln, das in der Lage ist, Charaktere und Leidenschaften eines Meisterwerks wie Macbeth zu artikulieren. Während der monatelangen Arbeit an der Oper werden alle Fragen der poetischen Diktion und der szenischen Darstellung nach dem Prinzip der AuV ER DIS M ACBET H IM KON T EX T DER ITA LIEN ISCHEN SH A K E SPEA R E-R EZEP T ION


thentizität entschieden. Das Moment der Charakterzeichnung ist dem Komponisten besonders wichtig. Er ist entschlossen, aus der Faszination Shakespeares heraus neue und auf der Opernbühne Italiens gänzlich vorbildlose Charaktere entstehen zu lassen. Dieser Wille wird deutlich in einem Brief, den Verdi noch vor Beginn der Arbeit schreibt: »Zurzeit ist Varesi der einzige Künstler in Italien, der die Rolle so gestalten kann, wie ich sie mir vorstelle ... Alle anderen, selbst bessere als er, könnten dieser Rolle nicht genügen.« (Brief vom 19. August 1846) Der Widerhall findet sich bei Piave. Er äußert gegenüber dem Impresario Lanari, dass »besonders die Rolle der Lady die am kühnsten konzipierte sein wird, die jemals auf einer italienischen Opernbühne gegeben wurde« (Brief vom 28. Oktober 1846). Hand in Hand mit dem Streben nach einzigartigen Charakteren geht der Wunsch, die für ein Opernlibretto typische Sprache zu erneuern, die wohlklingenden Klischees der üblichen Leidenschaften durch eine Sprache zu ersetzen, die Züge der ›Erhabenheit‹, ›Extravaganz‹ und ›Ursprünglichkeit‹ Shakespeares bewahrt. Verdis Szenarium folgt in Struktur, Metaphorik und Wortwahl so eng wie möglich dem Original. Und auch nach der Versifikation durch Piave gibt es – sieht man von Ausnahmen wie etwa den Finalensembles des 1. und 2. Aktes ab – kaum einen Satz, der in der entsprechenden Szene des Stücks kein Pendant hätte. Hierbei sollte noch kurz auf die Nummern eingegangen werden, die im Allgemeinen als mehr oder weniger illegitime Ausschmückungen des Shakespeare-Dramas gelten, nämlich die Hexenchöre »E voi, spiriti negri« und »Ondine e Silfidi« und Macbeths Sterbeszene (der Florentiner Urfassung), die in der Tat in keinem direkten Bezug zum Text Shakespeares stehen. Man muss aber davon ausgehen, dass Verdi dies annahm oder zumindest an die lebendigen Traditionen der englischen Shakespeare Aufführungen anzuknüpfen suchte. In den Jahren 1846/47, in denen Verdi an Macbeth arbeitet, findet der Originaltext selbst in England erst allmählich wieder Zugang zum Theater. Seit der Restaurationszeit war das Divertissement der singenden, tanzenden und fliegenden Hexen, das Davenant 1671 ersonnen hatte, fester Bestandteil der Macbeth-Inszenierungen. Andere eingeschobene Reden, Gesänge und Tänze gingen auf die noch früheren Aufführungen Middletons (1610) zurück, und einige davon wie die Hekate-Szenen haben bis heute ihre Stelle in den Macbeth-Ausgaben. Erst seit Samuel Phelps Produktion im Jahr 1847 werden die Divertissements Davenants und Middletons gestrichen. Doch zumindest eines davon wird in der Zeit der großen Übersetzungsflut zwischen 1830 und 1850 noch dem Urtext zugerechnet, nämlich Middletons ›Beschwörungsgesang‹: »Geister weiß und grau, | Geister rot und blau, | Rührt, rührt, rührt, | Rührt aus aller Kraft!« Piaves Text (»E voi, spiriti ... «) an dieser Stelle ist nichts anderes als eine genaue Übersetzung. Ähnlich verhält es sich mit Macbeths Todesszene. Die verschiedenen Versionen der Restaurationszeit verwandelten das Werk nicht nur in eine ›semiopera‹, sondern waren darüber hinaus bemüht, die Verse gefälliger und erDAV ID R.B. K IMBELL

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baulicher zu machen. Die Zeilen: »Der Teufel brenn’ dich schwarz, milchbleicher Lump! | Wie kommst du an den Gänseblick?« wurden in einer ebenfalls Davenant zugeschriebenen Redaktion von 1674 zu: »Nun, mein Freund, was bedeutet dein veränderter Gesichtsausdruck?« Wenige Augenblicke später »verscheidet« Macbeth »mit einer schicklichen Moral auf den Lippen« (C. B. Young, The Stage-History of Macbeth), bei welcher Gelegenheit sich das Versmaß zu einer Art Alexandriner weitet: »Lebe wohl, eitle Welt, und du, der du das Eitelste darin: Ehrgeiz.« Als Garrick 1744 in London zum ersten Mal den Macbeth spielte, wurde angekündigt, die Inszenierung basiere auf dem Originaltext Shakespeares. Tatsächlich wurden die meisten von Davenants ›Verbesserungen‹ zugunsten eines authentischeren Textes verworfen, bei Macbeths Tod jedoch überbot Garrick Davenants Zusätze noch, statt sie zu reduzieren. Die Rede, die er an dieser Stelle sprach, wurde zu einer geheiligten englischen Tradition, die Kemble bis ins 19. Jahrhundert hinein beibehielt. Es ist gut möglich, dass sie die Vorlage für Verdis ursprüngliche Schlussszene abgab.

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John Middleton Murry

ES GAB ʼNE ZEIT

Der vielleicht wunderbarste Moment in Macbeth ist der, in dem die beiden Täter aus ihrem Wahnsinn erwachen und ihre Tat mit derselben Naivität betrachten wie wir im Publikum. Wie in Hamlet, doch auf völlig verschiedene Art, ist die Nichtübereinstimmung von Figur und Handlung, Täter und Tat bewusst in Anschlag gebracht. Sie wird Teil des Bewusstseins, die das Drama durchdringt und beseelt, unterschieden vom Bewusstsein, das durch das Drama im Zuschauer entsteht. Plötzlich sehen sich Macbeth und Lady Macbeth selbst, in absoluter und schrecklicher Naivität. Diese Kraft, sich selbst zu sehen, die in ihnen ist, und sich so manifestiert, wie sie sich manifestiert, überzeugt uns von ihrem wesentlichen Seelenadel, wie es nichts anderes könnte. Diese Wendung verleiht der Situation eine bodenlose Abgründigkeit. Dass ein Mann und eine Frau sich im Augenblick eines ruchlosen und teuflischen Mordes als naiv und unschuldig offenbaren, erschüttert unser Moralverständnis und weckt in uns Gedanken, an die unsere Seele nicht heranreicht. So dass es scheint, dass das wunderbare Bild vom JOHN MIDDLETON MU R RY

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[…] Mitleid, wie ein nacktes, neugebornes Kind, Auf Sturmwind reitend, […] (Akt I, Szene 7) in der Geburt des plötzlichen kindlichen Erstaunens in den Augen der Mörder verkörpert ist. Das schließt an all das an, was zuvor so rasch geschah. Sie sind dem Mysterium des Bösen ausgeliefert. In Othello ist der Versucher, »der Erbfeind aller Menschen« (Akt III, Szene 1), ein menschlicher Akteur des Dramas, hassend, intrigierend, jemanden umgarnend, der nicht leicht zu packen ist; die Hexen in Macbeth, von denen wir nicht mehr als flüchtige Eindrücke erhaschen, hassen, intrigieren und umgarnen nicht. Sie offenbaren lediglich eine Zukunft dem, der an sie glauben will. Haben sie Macht über Macbeth oder haben sie keine? Shakespeare beantwortet diese Frage nicht. Er war empfänglich für die Bedeutung des tiefverwurzelten mittelalterlichen Glaubens, dass ein Mensch durch okkulte Kräfte einige Geheimnisse Gottes in Erfahrung bringen kann; aber der Preis für dieses Zukunftswissen war der Verkauf der eigenen Seele an den Teufel: […] und mein unsterblich Kleinod Dem Erbfeind aller Menschen preisgegeben […] (Akt III, Szene 1) Doch die oberflächliche Rohheit des tiefen mittelalterlichen Aberglaubens ist in Macbeth aufgelöst. Macbeth feilscht nicht mit den Sendbotinnen der Finsternis, ebenso wenig sind sie zu Geschäften aufgelegt. Das Wissen bietet sich ihm von selbst: Es ist tatsächlich, wie er sagt, eine »Anmahnung von jenseits der Natur« (Akt I, Szene 3). Aber er wird nicht angemahnt zu Verrat und Mord, die er begeht. Wenn ihm gewährt wurde, ein wenig im Schicksalsbuch zu lesen, und sich dessen erster Spruch als wahr erwiesen hat, zwingt ihn nichts dazu, Helferhelfer und Komplize der Durchführung des zweiten zu sein. […] will das Schicksal mich Als König, nun, mag mich das Schicksal krönen, Tu ich auch nichts. […] (Akt I, Szene 3) Warum nimmt er dann aber »den kürzesten Weg«? Einerseits ist die Antwort einfach: Weil das Stück es erfordert; ohne dass Macbeth Duncan umbringt, gibt es kein Drama. Andererseits gibt es ein Drama nur, wenn diese Tat glaubhaft ist. Wie diese Tat glaubhaft gemacht wird, beschäftigt uns hier. Möchte Shakespeare, dass wir annehmen, Lady Macbeth habe richtig zwi 85

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schen den Briefzeilen ihres Herrn gelesen, wenn sie ihn deutet: »möchtest falsch nicht spielen, | Und unrecht doch gewinnen« (I, 5)? Vielleicht. Doch das ist unwichtig. Was wir annehmen sollen ist, dass nach einer kleinen Weile unter ihrem Einfluss Macbeth so ist, wie sie ihn gedeutet hat. Wenn Macbeth sagt Dass mit dem Stoß, einmal für immer, alles Sich abgeschlossen hätte – hier, nur hier – Auf dieser Schülerbank der Gegenwart –, So setzt’ ich weg mich übers künft’ge Leben. – (Akt I, Szene 7) ist er bereit, nicht nur die Hölle zu riskieren, für deren Existenz die Schicksals­schwestern kein unbedeutendes Zeugnis ablegen, was einigen Mut erfordert, sondern, wichtiger noch, ist ihm der Mord an seinem König und Gast das […] was er mehr sich scheut zu tun, als dass Er ungetan es wünschet. […] (Akt I, Szene 5) Sein Herz hat in die Tat eingewilligt. Es ist allein die diesseitige Ver­ geltung, die Macbeth noch zu fürchten scheint, und mehr noch das Grausen der Menschenwelt angesichts des »tiefen Höllengreuels« von Duncans Beseitigung (I, 7). Der Mörder, der sich über das Urteil des künftigen Lebens und alles, was es beinhaltet, hinwegsetzt, braucht nichts als die Hoffnung, dass der Mörder die Tat unerkannt begehen kann. Diese Hoffnung wird kommen: Sie erzeugt sich selbst. Denn das Urteil des künftigen Lebens ist das projizierte Gewissen. Ist das Gewissen betäubt, wird Mord zu einer Frage der Manipulation. Macbeth wird nicht erschreckt vom Gedanken der Tat, sondern vom Gedanken ihrer scheiternden Verhüllung. MACBETH Wenn’s uns misslänge, – LADY MACBETH Uns misslingen! – Schraub’ deinen Mut nur bis zum Punkt des Halts, Und es misslingt uns nicht. (Akt I, Szene 7) Sie gibt ihm, was er braucht: die Manipulation, wie der Mord erfolgreich zu begehen und zu verbergen ist. Sie hat den kühlen, furchtlosen Kopf, sie ist die gespannte Saite, nach der seine eigene gestimmt wird. Sein Ton harmoniert: JOHN MIDDLETON MU R RY

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[…] Gebär’ mir Söhne nur! Aus deinem unbezwungnen Stoffe können Nur Männer sprossen. (Akt I, Szene 7) Kurz darauf schwingt sich Shakespeare in jenseitige Höhen. Die kurze Szene, die auf den Mord folgt, ist über jede Kritik erhaben und vergleichslos. Die Offenbarung von Tiefen, die bis jetzt in den beiden Komplizen verborgen waren. Der erste Riss in der Oberfläche, der erste kurze Blick dahinter ist Lady Macbeths Hätt’ er nicht Geglichen meinem Vater, wie er schlief, So hätt’ ich’s selbst getan. – (Akt II, Szene 2) Der zweite folgt sogleich, als Macbeth mit blutigen Händen eintritt und sie ruft – wie nie zuvor und nie danach, nur jetzt: »Mein Gemahl!« Diese Risse sind umso schicksalsschwerer, als die Oberfläche der Lady die gestähltere schien. Plötzlich wissen wir, was alles ihr Befehl »schraub’ deinen Mut nur bis zum Punkt des Halts« verbarg. Heute ist dieser Satz eine geläufige, vom Gebrauch abgenutzte Phrase. Der Geist gleitet darüber hinweg. Doch hier erneuert sich ihr Ursprung, an dem Shakespeare diese Worte erstmals der Lady in den Mund legte; es war die erste so beschaffene Metapher im Englischen, die zudem nie wieder mit solcher Kraft angewandt wurde. Was sie damals und heute bedeutet, ist dies: Wenn man den kleinen hölzernen Wirbel einer Violine – oder damals den einer Laute oder Gambe – anzieht, um die Saite zu straffen, ertasten die Finger den »Punkt des Halts«, an dem der Wirbel fest und die Saite gespannt ist, was vorsichtig geschehen muss, damit die Saite nicht reißt. Das ist Shakespeare-Metapher und das, was Lady Macbeth mit ihrer Seele getan hat und, nach ihrem Vorbild, mit der ihres Mannes. Und ihre Worte »Hätt’ er nicht | Geglichen meinem Vater, wie er schlief, | So hätt’ ich’s selbst getan« sagen uns, dass der Wirbel nachgegeben hat oder die Saite gerissen ist. Das Reißen der Saiten. Wir hören es fast. Plötzlich und abrupt zersplittern die Worte: MACBETH Ich hab’ die Tat getan – hört’st du nicht was? LADY MACBETH Die Eule hört’ ich schrein, und Heimchen zirpen. Sprachst du nichts? MACBETH Wann? 87

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LADY MACBETH Jetzt. MACBETH Wie ich ’runter kam? LADY MACBETH Ja. MACBETH Horch! wer schläft im zweiten Zimmer? LADY MACBETH Donalbain. MACBETH Dort sieht’s erbärmlich aus. LADY MACBETH Wie wunderlich, Erbärmlich das zu nennen! – (Akt II, Szene 2) Nach dem Staccato des Dialogs ist die Weichheit des letzten Satzes wundervoll. Er ist geradezu ein Kinderreim. Wir sehen das mitleidige und hilflose Lächeln. Dann legt auch Macbeth die gleiche verblüffende Naivität an den Tag, die von seiner Frau Besitz ergriffen hat. Wie bei ihr liegt die Naivität nicht in seinen Worten allein, sondern in der Textur der Verse: ein Kind erzählt eine Gespenstergeschichte. MACBETH Der eine lacht’ im Schlaf – und »Mord!« schrie einer, Dass sie einander weckten; ich stand und hört’ es, Sie aber sprachen ihr Gebet und legten Zum Schlaf sich wieder. LADY MACBETH Dort wohnen zwei beisammen. (Akt II, Szene 1) Wir hören das abwesende Lachen. Wer ist nun »wunderlich«? MACBETH Der schrie, »Gott sei uns gnädig!« – jener, »Amen«! Als säh’n sie mich mit diesen Henkershänden. Behorchend ihre Angst, konnt’ ich nicht sagen »Amen«, als jener sprach: »Gott sei uns gnädig!« LADY MACBETH Denkt nicht so tief darüber!

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MACBETH Doch warum Konnt’ ich nicht »Amen« sprechen? War mir doch Die Gnad’ am meisten not, und »Amen« stockte Mir in der Kehle. LADY MACBETH Dieser Taten muss Man so nicht denken; so macht es uns toll. (Akt II, Szene ) Zunächst, als sie nach der gerissenen Saite tastet, um sie wieder festzuspannen, sagt sie aufs Geratewohl: »Denkt nicht so tief darüber!« Als sie die Kontrolle zurückgewinnt, weiß sie, dass er überhaupt nicht tief darüber nachdenkt. Er denkt ganz schlicht, befremdet und unwiderruflich, genau wie sie gedacht hatte. Es fehlen einem die Worte für diese Art der Betrachtung, wenn zwei Menschen sie selbst werden und auf die unabänderliche Tat blicken, die sie begingen, als sie nicht sie selbst waren. »Dieser Taten muss | Man so nicht denken«, sagt Lady Macbeth – so, wie wir es jetzt tun, nämlich: nicht tief, sondern schlicht und schrecklich, mit den aufgerissenen Augen eines Kindes. »So macht es uns toll.« Das macht es tatsächlich. In dieser Szene wird der Kontrast zwischen Figur und Handlung, das notwendige Ergebnis von Shakespeares Tragödienmodell und ihr eigentümlichstes Kennzeichen, in das Bewusstsein der Akteure gehoben; dadurch wird er dynamisch für den Fortgang des Dramas selbst. Er ist – oder wird fortan von uns empfunden als – die verborgene Gewalt, die das Schicksal zu seinem Vollzug treibt. Durch ihn werden Macbeth und seine Frau in den Wahnsinn getrieben, in einen völlig neu begriffenen Wahnsinn. Während ihr früherer Wahnsinn ein einfaches, wenn auch geheimnisvolles Aus-sich-selbstHeraustreten war, ist der neue Wahn das Ergebnis ihrer Anstrengung, Selbst und Nicht-Selbst in einem Bewusstsein zusammen zu halten. Er überfällt sie in dem neuen und schrecklichen Erfahrungsbereich, den sie betreten haben. Shakespeare geizt nicht mit Symptomen dieser neuen Art der Erfahrung. Der nächste wichtige Moment im Bewusstseinsprozess des Dramas ist die entsetzliche Ironie von Macbeths Worten an Lennox und Ross: Wär’ ich gestorben, eine Stunde nur, Eh’ dies geschah, gesegnet war mein Dasein! Von jetzt gibt es nichts Ernstes mehr im Leben: Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Gnade! Der Lebenswein ist ausgeschenkt, nur Hefe 89

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Blieb noch zu prahlendem Gewölbe. (Akt II, Szene 3) Die Ironie ist entsetzlich, denn Macbeth muss sich der Bedeutung der Worte, die er spricht, unbedingt bewusst sein. Er beabsichtigt die monströse Scheinheiligkeit einer konventionellen Wehklage um Duncan; aber wenn die Worte über seine Lippen kommen, verändern sie ihr Wesen und werden zum Fluch über ihn selbst. Er wird zum Werkzeug des »Doppelsinn[s] des bösen Feinds […] Der Lüge spricht wie Wahrheit« (Akt V, Szene 5) Seine »gesegnete Zeit« ist vorüber, nun beginnt die verfluchte Zeit. Es gibt eine Veränderung im Wesen der Zeit, wie er sie erfährt. MACBETH Mir war, als rief es: »Schlaft nicht mehr! Macbeth Mordet den Schlaf!« Ihn, den unschuld’gen Schlaf; Schlaf, der des Grams verworr’n Gespinst entwirrt, Den Tod von jedem Lebenstag, das Bad Der wunden Müh’, den Balsam kranker Seelen, Den zweiten Gang im Gastmahl der Natur, Das nährendste Gericht beim Fest des Lebens. LADY MACBETH Was meinst du? MACBETH Stets rief es: »Schlaft nicht mehr!« durchs ganze Haus; »Glamis mordet den Schlaf!« und drum wird Cawdor Nicht schlafen mehr, Macbeth nicht schlafen mehr. (Akt II, Szene 2)

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Schreckliche Worte – unendlich schrecklich durch die Stärke, die Shakespeares außerordentliche Kunst ihnen verleiht. Er lässt Paradox auf Paradox aufeinanderprallen, um den Abgrund zwischen Macbeths neuer Lebenslage und seinem früheren Zustand auszumessen. »Glamis mordet den Schlaf!« – wir werden in einen Abgrund metaphysischen Grauens geschleudert. Er hat den Schlaf ermordet, »den Tod von jedem Lebenstag«, den täglichen Tod der Zeit, der die Zeit menschlich macht. Diesen hat er ermordet. Nun werden er und seine Frau so gequält wie der Verbrecher, dem in China die Augenlider weggeschnitten werden. Nicht in der physischen, doch in der metaphysischen Welt. Zeit ist nun unaufhörlich. Unter dem Druck dieser Qual muss nun entweder die innere oder die äußere Welt zertrümmert E S GA B ʼN E ZEIT


werden. Die Frau wird zu Ersterem getrieben, der Mann zu Letzterem. Sie bricht zusammen, er hält stand. Er handelt und spricht nun im Bewusstsein dieser Lage, soweit sie geäußert werden kann. Doch ehe soll der Dinge Bau zertrümmern, Die beiden Welten schaudern, eh’ wir länger In Angst verzehren unser Mahl und schlafen In der Bedrängnis solcher grausen Träume, Die uns allnächtlich schütteln: Lieber bei Dem Toten sein, den, Frieden uns zu schaffen, Zum Frieden wir gesandt, als auf der Folter Der Seel’ in ruheloser Qual zu zucken! Duncan ging in sein Grab, Sanft schläft er nach des Lebens Fieberschauern; (Akt III, Szene 2) Aus dieser Lage gibt es kein Entkommen in den Tod: Wer den Schlaf ermordete, ermordete auch den Tod. Er wird zum Opfer einer ununterbrochenen und unendlichen Zeit, er ist gekettet an das Rad eines immerwährenden Jetzt. »Lieber bei | Dem Toten sein«, zweifellos, wenn es möglich wäre. Aber eine unüberschreitbare Kluft trennt ihn nun von der Möglichkeit, die er unter Tod versteht. Die einzige Rettung wäre übermenschlich: Der Dinge Bau zertrümmern, beide Welten schaudern machen, die Speiche menschlicher Zeit aus der Nabe des Universums reißen, die Unterscheidung zwischen IstGewesen und Ist ganz aufheben: alle Zeit in die eigene verwandeln. Mit einem einfachen Satz, den er ihm zweimal in den Mund legt, zwingt Shakespeare unserer Vorstellungskraft Macbeths fürchterliche Erfahrung einer Veränderung im Wesen der Zeit auf, eines bodenlosen Abgrunds, der eine gesegnete von einer verfluchten, eine menschliche von einer unmenschlichen Zeit trennt. [Es gab ’ne Zeit] da war’s Gebrauch, Dass, war das Hirn heraus, der Mann auch starb […] (Akt III, Szene 4) Es gab ʼne Zeit, wo kalter Schau’r mich fasste, Wenn der Nachtvogel schrie; (Akt V, Szene 5) Und dieses Gefühl, dass etwas Seltsames mit der Zeit selbst geschah, dass Macbeth eine Kluft ohne Wiederkehr überschritten hat, in ein neues Zeitmedium hinein, wird zusammengezogen und konzentriert in den allzu berühmten Versen: JOHN MIDDLETON MU R RY

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MACBETH […] Weshalb das Wehschrein? SEYTON Die Kön’gin, Herr, ist tot. MACBETH Sie hätte später sterben können; – es hätte Die Zeit sich für ein solches Wort gefunden. – Morgen, und morgen, und dann wieder morgen, Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag, Zur letzten Silb’ auf unserm Lebensblatt; Und alle unsre Gestern führten Narr’n Den Pfad des stäub’gen Tods. – Aus! kleines Licht! – Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht Sein Stündchen auf der Bühn’, und dann nicht mehr Vernommen wird: ein Märchen ist’s, erzählt Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, Das nichts bedeutet. – (Akt V, Szene 5) Allzu berühmt haben wir diese Verse genannt; denn der Kontext, von dem sie ihre grausame Bedeutungsnuance erhalten, ist nicht einfach zu verstehen und leicht zu vergessen. Ich behaupte nicht, ganz genau zu wissen, was die ersten fünf Verse von Macbeths Rede bedeuten; aber ich bin mir sicher, dass sie nicht das bedeuten, was Dr. Johnson für ihre Bedeutung hielt: »Ihr Tod hätte zu einer friedlicheren Stunde aufgeschoben werden sollen; hätte sie länger gelebt, hätte sich womöglich eine geeignetere Zeit für solch ein Wort, solch eine Einsicht gefunden. Dies ist eine menschliche Bedingtheit, dass wir immer denken, das Morgen werde glücklicher als das Heute sein.« Macbeth meint etwas Seltsameres als das. Das »später« (eigtl. hereafter: »danach«) ist, so denke ich, vorsätzlich vage. Es bedeutet nicht »später«, sondern eine andere Art der Zeit als die, in der Macbeth jetzt eingesperrt ist: »Danach«, im Nicht-Jetzt: »dann« wäre wohl die Zeit für einen Satz wie »Die Kön’gin, Herr, ist tot.« Aber in der Zeit, in der er gefangen ist, ist das Morgen und Morgen und dann wieder Morgen eine endlose Gleichheit, in der die Gestern nur Narren den Pfad des staubigen Todes wiesen. Leben in dieser Zeit ist bedeutungslos, das Märchen eines Narren, und der Tod ebenso. Damit der Tod seiner Frau eine Bedeutung gewinnen könnte, wäre eine totale Veränderung nötig, der Sprung über einen neuen Abgrund in ein Danach. Vielleicht lese ich zu viel hinein; aber es scheint mir eine inspirierte Wortfindung dessen zu sein, der »auf der Folter | Der Seel’ [zuckt] in ruheloser

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Qual« (Akt III, Szene 2). Es ist die vollständige Erfüllung der schrecklich prophetischen Ironie von Macbeths Worten nach dem Mord an Duncan: Wär’ ich gestorben, eine Stunde nur, Eh’ dies geschah, gesegnet war mein Dasein [I had lived a blessed time]! (Akt II, Szene 3) Danach begann die sonderbare und unheilvolle Akzentuierung der Zeit: Die gesegnete Zeit ist vorüber, eine verfluchte Zeit gekommen. Und was eine verfluchte Zeit sein mag, werden wir in dem Satz gewahr: »Sie hätte später sterben können.« Die gesegnete Zeit mag uns nicht sehr gesegnet erscheinen, eine Zeit »da war’s Gebrauch, | Dass, war das Hirn heraus, der Mann auch starb«, eine Zeit, wo Macbeth »kalter Schau’r fasste, | Wenn der Nachtvogel schrie«. Nichtsdestotrotz war diese Zeit menschlich. Macbeth kennt nun, was Keats »das Gefühl, es nicht zu fühlen« nannte. Das Gefühl es nicht zu fühlen, Wenn nichts kann es kühlen, Noch betäubter Sinn es stehlen, Ward niemals gesagt im Gedicht. (In Drear-Nightet December) Niemals vollständig, das ist richtig. Aber niemals so nah und geheimnisvoll wie in Macbeths Worten. Malcolm spricht als Nachruf von »diesem toten Bluthund und seiner höll’schen Königin«. Aber wir wissen es besser. Weder Bluthund noch Höllenkönigin sind sie, und ebenso wenig sind sie tot. Sie sind Geschöpfe, die, indem sie den Schlaf ermordeten, den Tod ermordeten. »Und ist Tod einmal tot, dann gibt’s kein Sterben mehr.« (Shakespeare, Sonett 146)

Carlos Osuna als Malcolm, Freddie De Tommaso als Macduff und Aurora Marthens als Kammerfrau →

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Johannes Maria Staud

ÜBER VERDIS MACBETH

Man stößt als Komponist auf ein starkes, fesselndes, überzeitliches und tief bewegendes literarisches Meisterwerk. Man trägt sich jahrelang mit dem anfangs unbewussten und später immer dringlicheren Wunsch, dieses zur Grundlage eines musikdramatischen Werkes zu machen. Nur, wie geht man nun vor? Wie legt man ein solches Werk dramaturgisch an und wo emanzipiert man sich von der Vorlage? Muss man sich überhaupt von der Vorlage emanzipieren? Und wie psychologisiert man die Figuren musikalisch – so man sie überhaupt psychologisieren möchte? Wo abstrahiert man? Auf welche Szenen legt man sein Hauptaugenmerk? Welche Striche erscheinen unumgänglich? Und wo inspiriert die Vorlage zu eigenem Weiterspinnen? Welchen musikalischen Grundton legt man dem Werk zugrunde? Wo muss man an seine Grenzen gehen, etwas wagen, was man in seinem bisherigen Œuvre noch nicht probiert hat? Und vor allem: Mit welchem Librettisten, welcher Librettistin arbeitet man zusammen? Also Fragen über Fragen, die sich seit Verdis Zeiten für heutige Komponisten nicht wesentlich geändert haben. Natürlich ist die große ungebrochen erzählte Literaturoper – seit Alban Bergs Wozzeck als großem Höhe-, Ziel- und Wendepunkt – heute nicht mehr JOH A N N E S M A R I A STAU D

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unhinterfragt. Die Zeitläufte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sowie die künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften und Strömungen der letzten Jahrzehnte legen natürlich gebrochenere, multiperspektivischere, auch durch filmische Techniken inspirierte musiktheatralische Zugänge nahe. Dennoch werden Texte wie William Shakespeares Macbeth nicht aufhören, Komponisten von heute zu fesseln. Die politische Aktualität dieses Stoffes: Ein immer skrupelloser werdender, paranoider, machthungriger Diktator und seine blutrünstige Frau, die im Verfolgungswahn einen faschistischen Polizeistaat aufbauen und auch vor dem Mord an ehemals engsten Freunden und deren Familien nicht zurückschrecken, geht uns heute nach wie vor unter die Haut. Es sei hier auch auf Salvatore Sciarrinos 2002 uraufgeführte Oper Macbeth hingewiesen – ein leise flirrendes, delikates Meisterwerk, das durchaus als postfreudianische, tiefenpsychologische Studie über Machtmissbrauch und Skrupellosigkeit zu lesen ist. Ein Werk, das ohne Verdis Vorbild nicht denkbar wäre. Verdi war 34, als Macbeth 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Macbeth ist zugleich des Komponisten erste Shakespeare-Oper, noch lange vor seinen späten Meisterwerken Otello und Falstaff. Es ist sein bis dahin avanciertestes, wildestes, klanglich wirklich Neuland beschreibendes Werk; eine dunkle, ambitionierte, alle Register ziehende Partitur. Man spürt in jedem Takt: Hier ist ein Komponist, der aufs Ganze geht – einer, der seine Begeisterung für und seine Erschütterung durch diesen Stoff in mitreißende, gespenstische Musik gießen will. Die 1865 in Paris uraufgeführte revidierte Neufassung schärft durch die gewachsene Erfahrung des Komponisten auch noch einmal die schroffen Konturen der Oper, auch wenn Verdi an das Pariser Publikum einige Zugeständnisse gemacht hat (machen musste?), wie der völlig revidierte 3. Akt mit dem großen Ballett zeigt. Giuseppe Verdi und seine Librettisten Francesco Maria Piave und Andrea Maffei haben natürlich im Wissen, dass sie Shakespeares Werk an Qualität nicht übertreffen werden können, viele Umstellungen und Striche vorgenommen. So werden aus fünf Akten bei Shakespeare nun vier in der Oper. König Duncan tritt anders als in der Vorlage nur stumm auf – ein Umstand, der eine ganz neue Dramaturgie nahelegt. Aus drei Hexen wird ein Chor der Hexen, aus drei Mördern ein Chor von Mördern. Nebenfiguren wie Duncans zweiter Sohn Donalbain oder die schottischen Adeligen Lenox, Rosse oder Angus wurden gestrichen. Dafür wurden Lady Macbeth sowie Banquo massiv aufgewertet, ebenso wie Macduff. Die Vielfalt dieser Oper und die gefährliche Schönheit einiger Szenen sind auch bei häufigem Wiederhören ein Faszinosum. Schon im Preludio und in der Introduktion des 1. Aktes wird alles bedeutungsschwanger angerissen: die dunkle, unisono geführte f-Moll-Melodie im 6/8-Takt, die ständig wiederkehrenden, bohrenden marschhaften Punktierungen im Blech, das Holzbläser-geprägte Hexengelächter, die bedrohlich wiederholte abwärtsführen 97

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de 32tel-Figur in den Streichern, die in der Mordszene wieder auftauchen wird, sowie Lady Macbeths elegische Schlafwandlermelodie. Man spürt, dass die Hexenstimmung Verdi hier zu etwas außerordentlich Stimmungsvollem inspiriert hat, auch von der unglaublich kolorierten, wirklich innovativen Orchestration her. Szenen wie das Finale des 3. Aktes, als Macbeth seiner Frau von der 2. Weissagung der Hexen erzählt und sie sich gemeinsam in einen Blutrausch hineinsteigern, bekommt man so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Auch die berühmte Schlafwandelszene der Lady Macbeth sowie der Beginn des 4. Aktes mit dem klagenden Opferchor und der Arie des Macduff, in der er den grausamen Mord an seiner Familie betrauert, sind unglaublich berührend. (Bei Verdi wird übrigens dieser Mord im Unterschied zu Shakespeare nicht gezeigt. Dies war eine gute Entscheidung der Librettisten.) Verdi gelingt es zudem, die innere Kohärenz der Oper durch kleinste motivische Sprenkel, die in unterschiedlichen Szenen wiederkehren, zu erhöhen. Das Werk ist etwa von martialisch-punktierten und doppelpunktierten Rhythmen durchzogen. Auch das hexenhaft-oktavierte Tremolo in Flöte und Piccolo ist so ein Beispiel. Es kommt immer wieder, auch wenn die Hexen nicht auf der Bühne stehen, Macbeth aber unter dem Einfluss ihrer Prophezeiungen handelt – etwa vor dem Mord an Duncan im 1. Akt. Man beachte z.B. auch die wiederkehrende absteigende Lamento-Sekund (ein Todesmotiv!) im Englischhorn in der Schlafwandelszene im 3. Akt oder in der Oboe, als man im 4. Akt erfährt, dass Lady Macbeth gestorben ist. Durch eine Unzahl solcher Klammern gelingt es Verdi, eine enorme Sogwirkung zu erzeugen und die psychologische Tiefenwirkung von Szenen zu erhöhen. All diese Dinge, diese kleinen und großen Kniffe, die handwerkliche Präzision und Klarheit, mit denen Verdi eine Oper wie Macbeth zu einem lebendigen, kohärenten und so überaus faszinierenden Organismus zu gestalten vermag, sind natürlich für einen Komponisten von heute nicht nur höchst interessant zu beobachten, sondern auch lehrreich und inspirierend für eigenes Schaffen. Auch wenn sich die musikalische Sprache in den letzten knapp 170 Jahren doch wesentlich verändert hat: Gewisse Dinge wie die musikalisch-motivische Ökonomie Verdis, die mit einer unglaublichen Erfindungsgabe im melodischen Bereich einhergeht, seine instrumentatorische Klarheit im Zusammenspiel des Orchesters mit den Sängern und sein untrüglicher Sinn für das Aufbauen einer werkspezifischen, dramaturgisch konzisen Binnenspannung faszinieren heute wie damals. Und Fragen, ob ein Verbrecher, der völlig am Ende ist wie Macbeth im 4. Akt (»Pietà, rispetto, onore …«), in der Realität wirklich so schön artifiziell und zu Tränen rührend singen würde, sind wirklich hinfällig angesichts der Kraft und Qualität dieser Musik.

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William Shakespeare → Macbeth

Die Nacht war stürmisch; wo wir schliefen, riss es Den Schlot herab; und wie man sagt, erscholl Ein Wimmern in der Luft, ein Todesstöhnen, Ein Prophezein in fürchterlichem Laut Von wildem Brand und grässlichen Geschichten, Neu ausgebrütet einer Zeit des Leidens. Der dunkle Vogel schrie die ganze Nacht durch: Man sagt, die Erde bebte fieberkrank.

Lenox in → William Shakespeare, Macbeth, Lennox,2.2.Akt, Akt3. Szene 99


Andreas Láng

ZWISCHEN SCHAUER-KITSCH UND BETONBUNKER Die durchwachsene Staatsopern-Macbeth-Rezeption

Leicht hatte es Giuseppe Verdis Macbeth in Wien nicht. Gleich der Start war schon verpatzt, als aus dem geplanten Erstaufführungstermin im April 1848 am Kärntnertortheater vorerst nichts wurde. Die Revolution und deren Folgen sowie die Abneigung von Teilen der Wiener Bevölkerung gegen die damals üblichen alljährlichen italienischen Gastspiele waren kein geeignetes Pflaster für das neueste Opus des Meisters aus Busseto. So kam es zum Paradoxon, dass die Aufführung einer Oper jenes Komponisten, der sich als eindeutiger Anhänger der Revolution deklarierte, erst möglich wurde, nachdem die Aufstände niedergeschlagen worden waren. Am 11. Dezember 1849 also holte man die Erstaufführung am Kärntnertortheater nach. Aber unter welchen Voraussetzungen! Die italienischen Sänger von 1848 standen nicht A N DR EAS LÁ NG

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zur Verfügung und das deutschsprachige Ersatzpersonal kam mit den Anforderungen der Partien nicht zurecht. Erstens weil sie sich in der Musik dieser Oper offenbar nicht heimisch fühlten und weil sie zweitens falsch besetzt waren: Der Bass Joseph Staudigl gab die Baritonrolle des Macbeth, der Bariton Gustav Hölzel die Bassrolle des Banco und Anna Maria Wilhelmine van Hasselt-Barth fehlte das nötige stimmliche Volumen für die Lady Macbeth. Die durch die politisch instabile Lage leer gewordenen Theaterkassen erzwangen darüber hinaus eine Ausstattung, die auf Grund ihrer Dürftigkeit diese Bezeichnung kaum verdient hatte. Schuld an allem hatte aber für die meisten Kritiker dennoch der Komponist. »Verdi hat zuerst den Victor Hugo, dann den Schiller und jetzt den Shakespeare verdisiert. So darf die Musik nicht missbraucht werden«, hieß es zwei Tage nach der Premiere etwa im Humorist. Und Kritikerpapst Eduard Hanslick stieß ins gleiche Horn: »Es ist ein Jammer und ein Frevel, wie Verdi mit den Dramen Shakespeares und Schillers umgeht.« Nun, Hanslick war bekanntlich ein Fließbandproduzent von Fehlurteilen, die den Verlauf der Musikgeschichte nicht wesentlich beeinflusst haben. Auch im Falle des Macbeth entsprach seine Einschätzung nicht jener des Publikums, da das Werk in den nächsten drei Jahren immerhin 22 Mal – davon sechs Mal dann doch auf Italienisch – über die Bühne des Kärntnertortheaters ging. Das ist zwar nicht viel, aber für damalige Verhältnisse auch nicht wenig. Danach kam allerdings die große Pause. Eine Pause von nicht weniger als acht Jahrzehnten, in denen Macbeth in Wien praktisch ebenso totgeschwiegen worden war wie andere später hierzulande populäre Verdi-Opern. Die Gründe waren unterschiedlicher Natur. So verfolgte der Ricordi-Verlag einerseits eine erpresserische Marketing-Strategie – will Wien einen Verdi, muss auch ein unbekannter Komponist dazugekauft und aufgeführt werden – und hintertrieb andererseits regelmäßig Ambitionen der Wiener Hofoper, einen Macbeth, Don Carlos oder eine Forza del destino auf den Spielplan zu setzen (selbst Aida konnte nur durch Finten und geschickte Gegenintrigen der Direktion im Repertoire verankert werden). Aber auch seitens einer mächtigen Anti-Verdi-Front gab es Gegenwind: Was nicht eindeutig von Richard Wagner beeinflusst war, galt als ablehnenswert und auf alle Fälle banal, die Mühe, hinter der sogenannten »Leierkastenmusik« ihre ungemein fesselnde Dramaturgie aufzuspüren, ersparte man sich, und ganz allgemein fühlte man sich dem romanischen Künstler überlegen. Wehe also, wenn sich ein Italiener oder Franzose an einem deutsch- oder englischsprachigen Stoff vergriff und diesen als Basis für eine eigene Oper heranzog. Noch im Jahr 1945 schrieb Richard Strauss in seinem künstlerischen Vermächtnis an Karl Böhm: »Verdis Otello verurteile ich im Ganzen, wie alle zu Operntexten verunstalteten Libretti nach klassischen Dramen … [eine Formulierung, die ebenso missglückt ist, wie der Gedanke, den sie ausdrücken soll!] Sie gehören nicht auf die deutsche Bühne.« Strauss’ Abwehr von jeder die eigenen Tantiemen mindernden Konkurrenz mag nicht weiter erklärungsbedürf 101

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tig sein, die uninformierte Voreingenommenheit zahlloser Operndirektoren, die künstlerische Schmalspurwerke zum Besten gaben – an der Wiener Hofoper zum Beispiel Stücke wie Max von Oberleitners Aphrodite, Raoul Maders Die Flüchtlinge, Antonio Smareglias Der Vasall von Szigeth oder Carl Pfeffers Harold – und etliche Geniestreiche Verdis links liegen ließen, erstaunt aber doch. Selbst die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Giuseppe Verdis im Jahr 1913 brachten diesbezüglich keine entscheidende Wendung. Die Situation änderte sich erst mit dem Erscheinen von Franz Werfels Bestseller Verdi. Roman der Oper im Jahr 1924. Plötzlich war der italienische Komponist, den Werfel als einen intensiv und skrupulös um die musikalischkünstlerische Wahrheit Ringenden porträtierte, in aller Munde. Werfel gelang es mit diesem Roman, viele Vorurteile gegenüber Verdi beiseitezuschieben und dessen künstlerische Potenz zu rehabilitieren. Darüber hinaus schuf Werfel auch mit hochwertigen Übersetzungen und Neudichtungen einiger Verdi-Libretti sowie der Übersetzung und Herausgabe von Briefen des Komponisten die Basis für ein regelrechtes Verdi-Comeback. In Wien kamen noch die Bemühungen der Dirigenten-Direktoren Franz Schalk und Clemens Krauss hinzu, die sich – ähnlich wie Fritz Busch in Deutschland – aktiv für Verdis Wieder- bzw. Neuentdeckung einsetzten. In Premierendaten übersetzt hieß das: 1930 Neuproduktion von Simon Boccanegra (nachdem das Stück 47 Jahre nicht gespielt worden war), 1931 Neuproduktion von La traviata, 1932 Erstaufführung von Don Carlo sowie Neuproduktionen von Aida, Maskenball und Rigoletto, 1933 Erstaufführung von Macbeth, 1934 Neuproduktion von Falstaff. Am 11. Mai 1932 resümierte Julius Korngold: »Es wird nachgerade keine vergessene Verdi-Oper mehr geben. Ein Triumph des Genies – aber auch die Niederlage einer sterilen Gegenwart.« Rund ein Jahr später legte Korngold anlässlich der Macbeth-Erstaufführung mit den Worten nach: »Erstaunlich unter allen Umständen, welche ungeahnten Kräfte diese halbverschollenen Verdi-Opern noch immer enthüllen … einmal aus dem Grabe erstanden, leben sie von selber weiter und decken in ihrem Schöpfer weit über den italienischen Opernkomponisten hinaus das in jeder seiner Schaffensperioden aufleuchtende internationale dramatische Genie auf.« Dass diese erste Macbeth-Produktion der Staatsoper trotzdem nur auf acht Aufführungen kam, hängt mit der szenischen Umsetzung zusammen. Die durchaus eindrucksvollen Bühnenbilder stammten zwar von Alfred Roller und ohne Zweifel war etwa der große, hell erleuchtete Hexenkessel in der schaurigen, fast bühnenfüllenden Höhle ein Hingucker, aber vor allem die regelmäßigen Besucherinnen und Besucher hatten mehrfache optische Déjà-vu-Erlebnisse, denn aus Kostengründen handelte es sich, wie die Wiener Zeitung bemerkte, »um effektvolle Dekorationen aus dem Fundus«. Und der oftmals so kreative Regisseur Lothar Wallerstein verlor sich in einer Detailverliebtheit, die in Summe zu wenig ergab. Durch überbordenden Realismus stellte er sich zudem in den »übernatürlichen« Passagen selbst ein A N DR EAS LÁ NG

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↑ Vera Nemirovas MacbethInsze­nierung, 2009

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Bein: Vor allem die Bankett-Szene mit Bancos sehr irdisch durch einen Türvorhang herein- und herausschreitenden Geist entglitt zur unfreiwilligen Farce, die das Publikum mit Häme quittierte. Auch dass der stummen Rolle des Duncan gesprochene Verse in den Mund gelegt wurden traf auf Unverständnis, wie auch die zahllosen Umstellungen dem Handlungsverlauf keinen Dienst erwiesen. Aber immerhin hatte Wallerstein zumindest eine Regiearbeit erkennen lassen – ganz im Gegensatz zu Oscar Fritz Schuh, der für die nächste wie auch die übernächste Premiere verantwortlich zeichnete: Anlässlich des Zentenariums der ersten Aufführung einer Verdi-Oper in Wien (Nabucco 1843) brachte man unter Leitung Karl Böhms am 4. April 1943 einen neuen Macbeth heraus. So sehr Böhm und vor allem Elisabeth Höngen als Lady bejubelt wurden, so einsilbig gab sich die Presse hinsichtlich der Inszenierung, obwohl diese von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet worden war und Kritik nur sehr vorsichtig, wenn überhaupt, geübt werden konnte. Entweder man verschwieg den Namen des Regisseurs und nannte nur den Bühnenbildner Wilhelm Reinking oder würdigte Schuh mit ein paar Plattitüden, um dann umso ausführlicher die Qualitäten des Bühnenbildes hervorzuheben, das mit einigen gelungenen Beleuchtungseffekten aufwarten konnte. Z W ISCHEN SCH AU ER-K ITSCH U N D BETON BU N K ER


Das Ergebnis waren traurige sieben Aufführungen – immerhin um eine mehr als Schuhs zehn Jahre spätere Adaption des Werkes für das Ausweichquartier Theater an der Wien nach dem Weltkrieg (erneut unter Böhms musikalischer Leitung). Diesmal kaschierte Caspar Neher als Bühnen- und Kostümbildner die Blößen der bloßen Arrangiertätigkeit des Regisseurs. Einen sehr merkwürdigen Eindruck vermittelte die erste Macbeth-Inszenierung im Haus am Ring nach 1955. Otto Schenk und sein Bühnenbildner Rudolf Heinrich verlegten den Großteil der Handlung in eine sich immer von einer anderen Perspektive zeigenden Blockhausarchitektur, unterbrochen von den sehr abstrakt gehaltenen Hexenszenen. Es schien ein wenig, als ob sich Christa Ludwig, Sherrill Milnes, Karl Ridderbusch & Co. in einer Mischung aus amerikanischem Fort, Wikingerdorf und überdimensioniertem Kuhstall verirrt hätten – dazu eine Gestik, die stellenweise den Horrorfilmen der Stummfilmzeit entlehnt zu sein schienen. Andererseits transportierte diese zunächst überraschende Archaik dennoch deutlich eher den Geist der Partitur als das diesmal uninspirierte Dirigat Karl Böhms, der sich offenbar als unverzichtbarer Sachwalter dieser Partitur empfand. Auf jeden Fall hatte Schenk die Handlung zwar schnörkellos von Blatt inszeniert, sich aber immerhin nicht für einen in der damaligen Zeit üblichen »Kostümschinken« entschieden (die Premiere war am 18. April 1970), sondern eine durchaus ambitionierte und unkonventionellere Lesart angeboten. Mit Ovationen und mehreren Dutzend Vorhängen ging am 7. Februar 1982 die mit großer Spannung erwartete nächste Neuproduktion über die Bühne – insbesondere das Sängerdreigestirn Renato Bruson-Mara ZampieriNicolai Ghiaurov lösten einen nicht enden wollenden, rund halbstündigen Jubel aus. Etwas differenzierter wurde das Dirigat Giuseppe Sinopolis aufgenommen: Die einen sahen in ihm ab diesem Abend den neuen führenden Verdi-Dirigenten, der jeder Nuance akribisch nachspürte, die anderen empfanden seine Interpretation als bestenfalls interessant, im schlimmsten Fall als stillos überzeichnet. Und die Inszenierung? Sie stammte vom Briten Peter Wood und war ein Rollback ins 19. Jahrhundert. Franz Endler brachte es in seiner Besprechung in der Presse süffisant auf den Punkt: »Ob Macbeth zu einer Orgie in Hexengestik und Frontalsingen geraten muss und Bedeutsames einzig durch wechselnde Verdunkelung der Szene angedeutet werden kann, ist die Frage. Zwei Schritte nach vor und drei zurück ... das ist halt ein Rückschritt, von welchem Standort immer man es auch betrachtet. Man hätte es ertragen, wenn wenigstens einige der Sänger durch die Zusammenarbeit mit einem Regisseur zu Darstellern geworden wären – so aber profitierten von ihm ausschließlich die Beleuchter und Bühnentechniker des Hauses, die beweisen durften, dass sie ein großräumiges Bühnenkonzept rasch und lautlos verwandeln und akkurat ausleuchten können.« Man sah überdimensionale Versatzstücke einer Art elisabethanischer Renaissance fallweise garniert mit Schauerästhetik à la Romantik-Geisterbahn (Bühne: Carl Toms) – in denen A N DR EAS LÁ NG

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die Akteure sich selbst überlassen waren. Hinsichtlich der Anzahl der Vorstellungen (knapp 50) war diese Produktion an der Wiener Staatsoper freilich die bisher erfolgreichste, blieb sie doch 20 Jahre lang am Spielplan. Auf große Ablehnung stieß eine Neuproduktion in der Regie von Vera Nemirova im Dezember 2009: Ein tanzender König Duncan im Schottenrock, Macbeth und seine Lady in einer modernen Duschkabine, eine Pawlatschenbühne mitten im Wald, Hexen als Selbstfindungskünstlerinnen, eine frei erfundene Pantomime zur Ballettmusik, Mörder mit roten Clownnasen und roten Luftballons – solche Ingredienzen ließen viele übersehen, dass Nemirova die Geschichte überaus stringent zu erzählen verstand. Verortet in einem apokalyptischen Zeitalter, in einem abgebrannten Wald an der Schnittstelle zwischen Wildnis und Zivilisation, ließ sie das Publikum an einem Menschwerdungsprozess der Titelfigur teilnehmen, der dem düsteren Stoff eine gewisse Utopie abzuringen versuchte. Die Ablehnung war so groß, dass die wenige Monate nach der Premiere angesetzte, zweite Aufführungsserie abgesagt und durch Repertoire-Vorstellungen von La traviata ersetzt wurde. Mit insgesamt sechs Vorstellungen war diese Inszenierung somit erneut extrem kurzlebig. Auf weit weniger Opposition stieß hingegen die Produktion von Christian Räth (Premiere: Oktober 2015): Zum Gegenspieler der Handelnden wurde ein mächtiges, bunkerartiges Betonlabyrinth, das so etwas wie ein Eigenleben entwickelte und die Geschicke der Personen beeinflusste. Eine in der Gegenwart angesiedelte immer komplexer werdende Dekoration also, in der sich die Figuren am Schluss verloren. Die Räume changierten zwischen Illusion und Realität und boten zugleich eine Spiegelung der Innenwelten der Figuren. Die von Räth angestrebte psychologische Sezierung gelang an manchen Stellen vielschichtig (etwa in der Erscheinungsszene im dritten Akt), an anderen, wie am Ende des ersten Aktes oder bei der Ermordung Bancos, eher rudimentär. Insgesamt kam die Inszenierung bis 2019 auf 24 Aufführungen. Im Zuge der Erneuerung zentraler Werke des Repertoires durch exem­­­pl­arische Produktionen kam es unter der musikalischen Leitung von Musik­ direktor Philippe Jordan am 10. Juni 2021 schließlich zur Premiere der aktuellen Inszenierung. Ursprünglich von Barrie Kosky am Opernhaus Zürich realisiert, wurde sie gemeinsam mit u.a. Luca Salsi (Macbeth), KS Anna Netrebko (Lady Macbeth), Roberto Tagliavini (Banco) und Freddie De Tommaso (Macduff ) für die Wiener Staatsoper neu erarbeitet.

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Gabriele Baldini

VERDI HAT SHAKESPEARE VORHERGESEHEN Der entscheidende Grund für Verdi, einen Macbeth zu vertonen – für den er bereits ein operntaugliches Szenarium erstellt hatte, für das Piave ihm den Text schreiben sollte –, war keineswegs ein besonderes Interesse an dieser Shakespeare-Tragödie. Entscheidend war die Wahl des Sängers, der die Hauptrolle seiner neuen Oper kreieren sollte. Wäre Moriani verfügbar gewesen, hätte Verdi sicherlich I masnadieri komponiert, wofür er eine große und raffinierte Tenorpartie vorgesehen hatte; sollte andererseits der Impresario – in diesem Fall Lanari – den Bariton Varesi garantieren können, hätte der Komponist I masnadieri aufgeschoben und Macbeth in Angriff genommen, für den nicht nur eine große Bariton-Partie sprach, sondern auch der Umstand, dass die Tenor-Partie unbedeutend war, sodass kein Risiko eingegangen wurde, auch wenn letztere Partie einem mittelmäßigen Interpreten anvertraut war. Man beachte, dass all das diskutiert wurde, bevor auch nur eine einzige Note von I masnadieri oder Macbeth geschrieben wurde. Verdi traf keine Entscheidung über die Ausrichtung seiner Phantasie und schon gar nicht über die etwaige Befassung mit einem großen tragischen Thema. Wir haben es mit einem Operntyp zu tun, der für bestimmte Sänger maßzuschneidern war. Bevor diese nicht engagiert waren, konnte nichts zu Papier gebracht werden; danach kam die Musik von selbst – oder auch nicht. Unter solchen Bedingungen ist es recht absurd, von der Begegnung – geschweige denn von der ersten Begegnung – zwischen Verdi und Shakespeare zu sprechen. Allenfalls war es eine Begegnung mit Andrea Maffei — der stolz darauf war, ein von Schiller verfasstes Remake von Shakespeares Macbeth übersetzt zu haben — und mit Francesco Maria Piave. Verdi hatte zudem GI USEPPE BA LDIN I

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bereits Vorschläge zurückgewiesen, The Tempest, Hamlet und King Lear zu komponieren; nicht, weil er seine Musik als ungeeignet für Shakespeare erachtete, sondern einfach, weil zwischen den Direktionen, Sängern, Librettisten, Szenografen und Theatern keine Einigung erzielt werden konnte. Wie es scheint, waren Hamlet und The Tempest für Verdi nicht weiter interessant. King Lear erscheint zwar hin und wieder noch auf der Liste möglicher Projekte, aber auch daraus wurde nichts: Biographen und Kritiker werfen immer die Frage der Adaptierbarkeit auf – die Frage, ob Verdi sich nicht fähig fühlte, sich zu so einem Thema ›zu erheben‹. Zutreffender ist wohl die Annahme, dass das Stück etwas enthielt, das Verdis Interessen fremd war. Offenbar las Verdi King Lear – vermutlich in der Übersetzung seines Freundes Carcano – viel differenzierter als seine Kritiker und empfand eine Geschichte von Vätern und ihren Kindern, die in Wahnsinn und Blindheit gestürzt werden und einer bedrohlichen Natur unentrinnbar ausgeliefert sind, als nicht kongenial. Man könnte noch anfügen, dass ein Werk, das in der Struktur seiner Gefühle und Bilder so gewaltig von Musik erfüllt ist, keine weitere Musik verträgt – es hat bereits alles, was es braucht. Der reife Verdi wäre selbstverständlich imstande gewesen, daraus ein passendes Thema zu gewinnen: die zärtliche Beziehung zwischen Lear und seiner Tochter, die zunächst verkannt und später wiedergefunden wird. Aber für diese Oper gab es keinen Bedarf, nachdem Verdi bereits Rigoletto komponiert hatte. Verdi verweilte nie bei Themen, die er schon erfolgreich behandelt hatte, und es widerstrebte ihm stets ungemein, auf frühere Leistungen zurückzugreifen. Das also war die Position des Komponisten zur Zeit von Macbeth. Mit fallweiser Hilfe von Seiten Maffeis, der den letzten literarischen Schliff gab, schrieb Piave ein hervorragendes Libretto, für das, wie bereits erwähnt, Verdi das Szenarium selbst entworfen hatte. Es ist für jeden Kritiker extrem schwierig, über diese großartige Oper zu schreiben, ohne auf Shakespeare Bezug zu nehmen (besonders wenn besagter Kritiker, wie in meinem Fall, im Hauptberuf Anglistikprofessor ist). Es muss eine Beziehung, wenn auch sicher keine Abhängigkeit, zwischen der Tragödie und Verdi geben; meiner Meinung nach können wir ihre Spuren sogar in anderen Opern als Macbeth finden, etwa in einer gewissen Vorliebe für das Nächtliche bei Leonora und ihrer Liebe »sull’ali rosee« (»auf rosigen Schwingen«) oder für das Hexenunwesen, wie es in Il trovatore dargestellt und, mit einem Anflug von Ironie, in Un ballo in maschera wieder aufgegriffen wird. Aber die tiefste Beziehung zwischen Verdi und dem elisabethanischen Dramatiker besteht nicht in Handlungsstrukturen oder ähnlichen Akzidenzien; sie besteht darin, dass beide eine ähnliche Arbeitsweise akzeptierten. Ich erinnere an meine Feststellung, dass die Wahl des Sujets von der Verfügbarkeit von Sängern abhing. Dieser Punkt ist wichtig: Auch bei Shakespeare lässt sich beobachten, dass bestimmte Figuren seiner Phantasie mit den Zügen und Eigenschaften bestimmter Schauspieler auftauchen. Hamlet, Othel 107

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lo, Macbeth und Mark Anton wurden, wenn auch nicht erdacht, so doch passend für Burbage gestaltet, der sie darzustellen hatte; möglicherweise hatten Desdemona, Cordelia, Miranda und Perdita alle einen schönen Jüngling namens Nathaniel Field zum Vorbild (ein exquisites Porträt von ihm findet sich in Dulwich College); und es gibt keinen Zweifel daran, dass Shakespeares Auffassung der obligaten Clowns-Rolle – ob in den Komödien, den Tragödien und sogar in den Historien – sich grundlegend änderte, als die Theatertruppe den Chefkomiker wechselte. Die Reihe derber, ziemlich idiotischer Clowns wie Costard in Love’s Labour’s Lost, Launce in The Two Gentlemen of Verona, Launcelot Gobbo in The Merchant of Venice, gipfelnd in den zwei großartigen Schöpfungen von Bottom in A Midsummer Night’s Dream und Dogberry in Much Ado About Nothing, macht Platz für eine Reihe schulmeisterhafter, moralisierender, recht zynischer Clowns, wie der Totengräber in Hamlet, Thersites in Troilus and Cressida, Touchstone in As You Like It, gipfelnd in Apemantus in Timon of Athens. All das, weil der Chef-Komödiant der King’s Men gewechselt hatte und Robert Armin an die Stelle von William Kemp getreten war. In der Fähigkeit des Dramatikers, seine Medien als die materiellen Träger und Elemente seiner Artikulation anzunehmen, das jeweilige Medium mit seiner Phantasie zu identifizieren und, im Grunde genommen, alles neu erschaffen und erfinden zu können, auch unter widrigsten Vorzeichen – erkennen wir ein Charakteristikum seines Genies. Und wirklich: Auf dieser Ebene spüren wir sehr wohl die geistige Verwandtschaft zweier großer Dramatiker aus unterschiedlichen Welten, zwischen Verdi und Shakespeare. Es ist ein pseudokritisches Problem, über die Angemessenheit des einen an den andern zu sprechen: vor allem, weil wir nicht im Besitz der Fakten sind, die dem Problem ein Gleichgewicht geben könnten, nämlich der Fakten, die von Shakespeares Bemühungen sprechen, sich Verdi ›anzupassen‹. Letzteres ist kein Pseudoproblem, weil Verdi Shakespeare ganz offenkundig und bis ins Detail vorhergesehen hat. So sehr, dass die ›Anpassung‹ ganz einfach geschah.

Luca Salsi als Macbeth und Anna Netrebko als Lady Macbeth →

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Michael Kraus

NOTTE VERDIANA Ein halbes Jahrhundert lang, fast sein gesamtes Arbeitsleben also, hat Giuseppe Verdi sich mit den Dramen William Shakespeares auseinandergesetzt, die er als ideale Vorlagen für das ansah, was er als Opern auf die Bühne bringen wollte. Der Wunsch, King Lear zu vertonen, geisterte bereits ab 1843 durch seine Gedanken. Über zwanzig Jahre tauchte das Projekt immer wieder in seinem Leben auf, bevor er es endgültig aufgab. Zwei Shakespeare-Vertonungen, Otello (1887) und Falstaff (1893), sollten die abschließenden Höhepunkte seines Opernschaffens werden. Bereits vierzig Jahre vor Otello erarbeitete Verdi mit Macbeth seinen ersten Shakespeare-Opernstoff, gemeinsam mit dem Librettisten Francesco Maria Piave und unter Mitarbeit von Andrea Maffei, der das Libretto für seine nächste Oper I masnadieri (nach Friedrich Schillers Die Räuber) verfasste. Mit Macbeth, Masnadieri und Jérusalem (die eine stark veränderte Neuadaption seiner Lombardi für Paris war) ist 1847 Verdis produktivstes Uraufführungsjahr. Von all seinen Opernwerken ist Macbeth Verdis dunkelstes. Nicht nur, weil das Bühnengeschehen fast ausschließlich bei Nacht spielt: in Hexenhöhlen, auf dunklen Wegen oder abendlichen Banketten; auch überwiegen in ihm die tieferen Stimmen. Zudem ist Macbeth – und das ist für die damalige Zeit ungewöhnlich – eine Oper gänzlich ohne die ansonsten obligatorischen Wirren der Liebe. Den Handelnden bleibt am Ende nichts als Wahnsinn, Mord und eine ungewisse Zukunft. Während in der ersten Fassung von 1847 noch der sterbende Macbeth die Oper beschließt, erklingt am Schluss der zweiten, die Verdi 1865 für Paris schrieb, eine nationalistische Hymne auf Schottland. MICH A EL K R AUS

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In Verdis Opernschaffen der Vierzigerjahre finden sich immer wieder Bezüge, die vom damaligen italienischen Publikum unschwer als politisches Statement erkannt werden konnten. Verdi war ein prononcierter Anhänger des Risorgimento, der Befreiung Italiens von ausländischen Mächten. Nach der Gründung des italienischen Nationalstaates 1861 wurde er sogar für einige Jahre Abgeordneter des Parlaments. Obwohl er sich danach aus der aktiven Politik zurückzog, blieb Verdi für seine Landsleute zeitlebens mehr als ein Komponist. Er war eine nationale Figur. Und er ist es für sie geblieben. Bis heute! Nationalismus war auch mitverantwortlich dafür, dass Verdis Opern im deutschsprachigen Raum lange Zeit im Schatten Richard Wagners standen. Verdis Musik wurde selbst von Größen wie Richard Strauss als künstlerisch minderwertig verunglimpft, mit Ausnahme seiner letzten Opern, bei denen man Verdi jedoch Wagner-Epigonentum unterstellte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Aufführungsanzahl von Verdi-Opern im deutschen Sprachraum bei weitem geringer als jene von Wagner; und dann handelte es sich fast immer um eine kleine Gruppe populärer Werke (Rigoletto, La traviata, Trovatore, Aida, Otello oder Falstaff). Opern wie Simon Boccanegra, Don Carlo oder auch Macbeth waren dem Publikum damals kaum bekannt. Ein Umdenken fand in den 1920er-Jahren statt, angeregt durch den zu seiner Zeit äußerst erfolgreichen Verdi-Roman von Franz Werfel (der auch etliche hervorragende Übersetzungen von Verdi-Opern schuf ) und der gleichzeitig beginnenden sogenannten Verdi-Renaissance in Deutschland, die vor allem von Dresden unter dem Dirigenten Fritz Busch ausging. Im Zuge dessen kam auch Macbeth 1933 erstmals an der Wiener Staatsoper zur Aufführung. Bis in die Achtzigerjahre führte diese Oper dennoch eher ein Nischendasein im Repertoire des Hauses, trotz mehrerer Neuinszenierungen, die eher den langen Pausen zwischen den wenigen Aufführungen geschuldet waren als der Popularität des Werks. Einer der Gründe dafür, dass Macbeth lange Zeit im Schatten vieler anderer Verdi-Opern stand, war nicht nur der eher ungewöhnliche Charakter des Werks, sondern auch die Schwierigkeit, die beiden Hauptpartien adäquat zu besetzen. In der Tat stellt die Besetzung von Macbeth und seiner Lady bis heute jedes Opernhaus der Welt vor eine nicht geringe Herausforderung. Insbesondere Lady Macbeth, die bei Shakespeare dramatisch nicht so stark ausgeformt ist wie bei Verdi, gehört zu den schwierigsten Partien der Opernliteratur. Sie verlangt eine »Primadonna assoluta«, wie sie in jeder Generation nur ganz selten zu finden ist. Berühmt im Zusammenhang mit Macbeth ist ein Brief Verdis an den Librettisten Salvadore Cammarano (1848), in dem er für die Lady Macbeth »una voce aspra, soffocata, cupa« (»eine scharfe, erstickte, dunkle Stimme«) wünscht. Eine solche Beschreibung darf allerdings nicht in den ästhetischen Kategorien unserer an Rock, Punk und Heavy Metal gewöhnten Generation 111

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gesehen werden. Verdi ging es vielmehr um eine klare Abkehr vom stimmästhetischen Ideal des reinen Schöngesangs, wenn er auch weiterhin auf den Prinzipien des Belcanto seiner musikalischen Vorgänger aufbaute. Der große Verdi-Bariton Leo Nucci hat zu Recht angemerkt, Verdi habe gar nicht gut für die Stimme geschrieben, wie dies oft behauptet werde. Die Stimme als solche habe ihn nicht interessiert, einzig deren Ausdruckskraft im Sinne einer »parola scenica«, einer an der szenischen Wahrheit orientierten Singweise. In dieser Hinsicht geht Verdi konform mit Wagner, der zur gleichen Zeit, aber mit anderen Resultaten, Ähnliches in der deutschen Oper suchte. Lady Macbeth muss schlichtweg alles haben, was einer dramatischen Sängerin nur möglich ist: eine fulminante Höhenattacke beim ersten Auftritt (»Vieni, t’affretta«/»Or tutti sorgete«), ein dunkles Mezzo-Legato (»La luce langue«; diese Arie ersetzte 1865 jene der ersten Version), eine Koloratur-Agilità für ihr Trinklied beim Festbankett (»Si colmi il calice«) und ein Espressivo in der Wahnsinnsszene (»Una macchia«), die am Ende ein hohes Des pianissimo vorschreibt. Hinzu kommt, dass Lady Macbeth eine bühnenbeherrschende Darstellerin sein muss, die nicht nur ihren zögerlichen Gatten, sondern auch das Publikum in ihren Bann ziehen muss. Nicht umsonst wird immer wieder Maria Callas als ideale Interpretin der Lady genannt. Sie beherrschte sowohl die Belcantotechnik der großen Donizetti- und Bellini-Partien, verfügte aber auch über die Verismofarben einer Tosca. Allerdings hat sie diese Partie nur in einer einzigen Produktion auf der Bühne gesungen. Lady Macbeth wird von Verdi zwar als Sopran bezeichnet, aber vom Stimmfach her ist sie nicht eindeutig zuordenbar. Es braucht in Wahrheit idealerweise zwei divergente Stimmfarben in einer Person: einen dramatischen Koloratursopran und einen höhensicheren Mezzo. Dass man zu Verdis Zeiten nicht so stark in Stimmfächern gedacht hat wie heute, beweist etwa die Tatsache, dass die Sopranistin und Verdi-Muse Teresa Stolz beim einzigen Gastspiel Verdis an der Wiener Hofoper 1876 in Aida an einem Tag die Amneris, am anderen die Aida sang. Sängerinnen, die Sopran und Mezzosopran singen können, haben zweifellos bei Lady Macbeth einen Vorteil; etwa Grace Bumbry, die bereits in jungen Jahren Mitte der Sechzigerjahre die Lady bei den Salzburger Festspielen sang. 1970 wagte sich in Wien die kürzlich verstorbene Christa Ludwig, die zu dieser Zeit auch Ausflüge ins Sopranfach unternahm, unter Karl Böhm an die Lady. Er hatte bereits 1943 Macbeth am Haus dirigiert, damals mit der charismatischen Sängerdarstellerin Elisabeth Höngen. International gab und gibt es immer wieder auch dramatische Koloratursoprane (wie eben Callas oder Renata Scotto), die sich mit zunehmend schwerer gewordener Stimme dieser Tour de Force stellen. In Wien ist Mara Zampieri, die die Lady Macbeth hier 39 Mal gesungen hat, unangefochtene Spitzenreiterin bei dieser im wahrsten Sinne des Wortes mörderischen Partie. Macbeth ist im Vergleich zur Lady in stimmlicher Hinsicht weniger vielMICH A EL K R AUS

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schichtig. Das mag auch daran liegen, dass das Fach des dramatischen Baritons Mitte des 19. Jahrhunderts de facto noch im Werden begriffen war, ja von Verdi überhaupt erst in seiner heutigen Form definiert wurde. Die noble Kantilene der Bellini- und Donizetti-Baritone trat bei Verdi, den der Dirigent Hans von Bülow als »Attila der Kehlen« beschimpfte, in den Hintergrund. Einzig in seiner Arie im 4. Akt (»Pietà, rispetto, onore«), in der er über seinen üblen Nachruhm sinniert, erlaubt Verdi Macbeth einen Moment der Kontemplation im Legato. Ansonsten schreibt er seinem von Ehrgeiz und Angst getriebenen Helden immer wieder Ausdrucksbezeichnungen wie con slancio (schwungvoll), con tutta forza (mit ganzer Kraft), voce aperta (offene Stimme), voce spiegata (Vollstimme), risoluto (entschieden), con trasporto (mit Begeisterung) vor, um die Dramatik der Figur stimmlich darzustellen. Andererseits finden sich bei Macbeth auch Forderungen wie cupo (dunkel), morendo (immer leiser werdend), con voce soffocata (mit unterdrückter Stimme), sottovoce (flüsternd), parlante (gesprochen), con voce pianissima (mit sehr leiser Stimme), un pò oscillante (ein wenig schwankend), con voce fioca (mit schwacher Stimme). Verdi verlangt dem Darsteller also das gesamte Spektrum der emotionalen und stimmlichen Ausdrucksskala ab. Kein Wunder, dass Macbeth eine der Hauptpartien gestandener italienisch geschulter Heldenbaritone ist. Selbst große deutsche Baritone wie einst in Wien Paul Schöffler und Hans Hotter stießen damit an ihre Grenzen. Ab der Neuinszenierung von Peter Wood 1982 (die es auf 49 Vorstellungen brachte; die Oper war inzwischen endgültig im Kernrepertoire des Hauses angekommen) wurde Macbeth vor allem zur Domäne der drei großen italienischen Baritone ihrer Generation: Piero Cappuccilli, Renato Bruson und Leo Nucci, die der Rolle ihre jeweils eigene Note gaben. Banco, der Freund und unglückliche Rivale von Macbeth, der dem politischen und persönlichen Kalkül geopfert wird, stirbt zwar noch vor der Pause, hat aber in Macbeth zumindest eine große Szene und Arie (»Come dal ciel precipita«), die prominente Bässe immer wieder dazu veranlasst hat, diese relativ kleine Partie zu singen. So ist der zu seiner Zeit als »König der Bässe« titulierte Nicolai Ghiaurov zwanzig Mal damit in Wien aufgetreten. Aber auch Ferruccio Furlanetto oder Kurt Rydl waren immer wieder als Banco zu hören. In diesem Pandämonium von Eifersucht, Mord und Wahnsinn steht die einzige positive Figur des Stücks in Gestalt des edlen Macduff ein wenig im Schatten. Neben einigen Ensembles hat der Tenor nur in seiner Arie »Ah, la paterna mano« Gelegenheit, sein Können zu zeigen. Kein Wunder, dass die Rolle nicht gerade zu den Lieblingspartien von Spitzentenören zählt. Dennoch traten in Wien im Laufe der Jahrzehnte auch Weltklassesänger wie Carlo Cossutta, Peter Dvorský oder Luis Lima damit auf. Die Arie ist im Vergleich zu anderen Verdi-Tenorarien relativ einfach zu singen, so dass sie insbesondere bei »älteren Semestern« in Konzerten recht beliebt ist. 113

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Die kleinen Partien der Oper, Malcolm, der Sohn des ermordeten Königs Duncan, eine Kammerfrau der Lady Macbeth und ein Arzt, sind das, was man im Opernjargon als Comprimario-Rollen bezeichnet. Hinzu kommen weitere kleine Solorollen (Diener, Mörder, Geistererscheinungen), die zumeist von Solisten des Chores sowie des Kinderchores übernommen werden. Der Chor trägt vor allem mit seinen Hexenauftritten und dem bewegenden Klagegesang (»Patria oppressa«) ganz wesentlich zum Erfolg jeder Aufführung des Werkes bei. Von eminenter musikalischer Bedeutung bei Macbeth ist das Orchester! Kann bei so mancher Verdi-Oper der Abend allein durch großartige Sänger zum Ereignis werden, ist das bei diesem Werk ausgeschlossen. Die parola scenica der Bühne muss vom Orchestergraben kongenial mitgetragen werden und lässt bereits die Verdi-Spätwerke erahnen. Wer einmal die dramatische Wucht des Macbeth-Orchesters in hoher Qualität erlebt hat, wird das – falsche – Diktum von Verdi als »mtata«-Musik nie mehr im Munde führen. Nicht umsonst haben sich große Dirigenten wie Claudio Abbado, Giuseppe Sinopoli oder Riccardo Muti immer wieder vehement für das Werk eingesetzt. Es gibt leichtere Kost und leichter aufzuführende Werke im Opernkanon Giuseppe Verdis als Macbeth. Aber wenn es mitreißende Hauptdarsteller, ein fulminant spielendes Orchester, einen beeindruckenden Chor und eine spannende Inszenierung gibt, kann Macbeth bei aller Dunkelheit und Grausamkeit des Sujets für das Publikum zum genauen Gegenteil werden: zu einem strahlenden Opernfest.

Foto übernächste Seite: Luca Salsi als Macbeth →

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Novalis → Nacht und Wahn

Es schleichen wilde Schrecken So ängstlich leise her, Und tiefe Nächte decken Die Seele zentnerschwer. Der Wahnsinn naht und locket Unwiderstehlich hin, Der Puls des Lebens stocket, Und stumpf ist jeder Sinn. 115

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Sergio Morabito

EQUIVOCATION – GAUKELSPIEL DER HÖLLE? In Shakespeares Macbeth vergleicht der exponierende Schlachtbericht des »blut’gen Mannes« die beiden Anführer des königlichen Heeres, Macbeth und Banquo, mit Kanonen, die es im 11. Jahrhundert noch nicht gab.1 Den Erwartungen an eine menschliche Kriegsmaschine entspricht das im Stück dargestellte Verhalten Macbeths nicht. In den ersten drei Akten wird der General immer wieder als schreckhaft-archaisch reagierend gezeigt. Banquo fragt ihn, warum er bei den »lieblichen« Prophezeiungen der Hexen zusammenfahre (I, 3). Die Lady macht ihm wiederholt sein Fratzenschneiden bewusst und schärft ihm die Notwendigkeit ein, aus dem Gesicht das »Visier des Herzens« zu machen (III, 2). Vergebens. Als Macbeth Banquos Geist erscheint, sagt sie: »Das sind die wahren Bilder eurer Furcht; | Das ist der luft’ge Dolch, der, wie du sagtest, | Zu Duncan dich geführt! – Ha, dieses Zucken, | Dieses Starr’n, Nachäffung wahren Schrecks, sie passten | Zu einem Weibermärchen am Kamin, | Bestätigt von Großmütterchen. – Oh, schäme dich! Was machst du für Gesichter!« (III, 4). Der den unkontrollierbaren Reaktionen und Impulsen seiner Physis Preisgegebene durchlebt eine Erfahrungsstufe, die mit Horkheimer/Adorno als präanimistisch beschrieben werden kann. Was Macbeth als übernatürlich erfährt – Hexen, Dolch und Geist, Erscheinungen – deutet auf »die Verschlungenheit des Natürlichen gegenüber dem einzelnen Glied […] Nicht die Seele wird in die Natur verlegt, wie der Psychologismus glauben macht; Mana, der bewegende Geist ist keine Projektion, sondern das Echo der realen Übermacht der Natur in den schwachen Seelen der Wilden.«2 Vor dem archaischen Schreck flieht Macbeth in die Versteinerung. Ab der 1. Szene des IV. Aktes liegt ein Zauber auf ihm. Diese Szene schafft die Voraussetzung dafür, dass sich sein Wunsch, »dass ich schlafen kann trotz Donner«, erfüllt. Es handelt sich um die Szene, in der die Hexen auf Macbeths Geheiß drei ihrer »Meister« beschwören und erst auf sein weiteres Drängen auch die Nachkommenschaft Banquos.3 SERGIO MOR A BITO

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Als Erstes ergeht an Macbeth die Warnung des »Behelmten Hauptes« vor Macduff. Dann verspricht ihm das »Blutige Kind« die Unverwundbarkeit und das »Gekrönte Kind mit Baum« die Unbesiegbarkeit. Nun erst ist Macbeth »Heil wie der Marmor, gegründet wie der Fels« (III, 4). Und kaum wird er sich im weiteren Verlauf des Stückes noch daran erinnern, dass es eine Zeit gab, »wo kalter Schau’r mich fasste, | Wenn der Nachtvogel schrie; das ganze Haupthaar | Bei einer schrecklichen Geschicht’ empor | Sich richtete, als wäre Leben drin.« (V, 5) Doch die ersehnte Anästhesie, die ihm in der Versteinerung zum mythischen Ungeheuer gewährt ist, wird von Macbeth mit erwachendem menschlichem Bewusstsein immer deutlicher als Entfremdung erfahren. Immer unbeteiligter, immer müder unterwirft er sich dem Wiederholungszwang seiner Bluttaten, die aufgehört haben, seine Phantasie zu obsessionieren. Ambivalent klammert er sich an die Versprechen des Blutigen und des Gekrönten Kindes, versichert sich ihrer wieder und wieder, als suche er panisch nach einer Masche in der Umhegung und wüsste doch, dass er aus der Versteinerung nicht mehr zum Leben, nur noch zum Sterben erweckt werden kann. Auffällig ist, dass die Anweisung des Behelmten Hauptes jeden Rätselcharakter vermissen lässt, also das, was sie als Orakel allererst qualifizieren und den Sprüchen der beiden folgenden Erscheinungen zuordnen würde, deren Doppeldeutigkeit am und als Ende des Stückes gegen Macbeth ausgespielt wird. Als völlig unverschlüsselte Antizipation des Endes entspricht ihre Funktionsweise einer Self-fulfilling-prophecy: Sie treibt das spätestens seit dem Fernbleiben Macduffs bei Macbeths Krönung von gegenseitigem Misstrauen geprägte Verhältnis zur Eskalation: Macbeths Schergen, deren Zugriff sich Macduff durch Flucht entzogen hat, schlachten seine zurückgelassene Familie ab (IV, 2). Ihn erreicht die Nachricht im englischen Exil (IV, 3), und ihm wird gesagt: »Dies wetze scharf dein Schwert, verwandle Gram | In Zorn; erschlaffe nicht dein Herz, entflamm es.« Als Provokation der Zukunft hat die Aussage des Behelmten Hauptes strategischen Charakter. Sie dient dazu, Macduff zum Rächer aufzubauen. Damit hat sich ihre Funktion erschöpft. Ihrer wird im weiteren Verlauf des Stückes nicht mehr gedacht, auch nicht an jener Stelle, an der sie begründen könnte, warum Macbeth den Kampf mit Macduff vermeiden möchte. Macbeth ruft dem Verfolger stattdessen zu: »mit Blut der Deinen | Ist meine Seele schon zu sehr beladen.« (V, 7) Heben wir die Dramatisierung Shakespeares einen Moment lang ab von den Chroniken, die ihr zugrunde liegen. Es zeigt sich zum einen: Macduff und der Nichtgeborene sind ursprünglich zwei Personen. Erst Hector Boethius, jener Historiograph, der in der Übersetzung Holinsheds zu Shakespeares unmittelbarer Vorlage wurde, hat sie zusammengezogen. Das erklärt, warum Macduffs Rächerfunktion bei Shakespeare überdeterminiert ist (da 119

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durch, dass er durch Kaiserschnitt auf die Welt kam, wäre er ausreichend qualifiziert – auch ohne Verlust von Frau und Kindern). Zum andern kannte der Bericht von Macbeth zunächst nur zwei Orakel, die vom Nichtgeborenen und die vom wandelnden Wald. Erst bei Boethius wird Macbeth durch Wahrsager vor Macduff gewarnt – allerdings noch nicht im Kontext der beiden Orakelsprüche, die einer Hexe zugeschrieben werden. Und erst Shakespeare hat das »scheu den Macduff, | Scheue den Than von Fife!« den Orakeln unmittelbar vorangestellt. Gleichwohl überlagert der antizipatorische Impuls der Rede des Behelmten Hauptes die ganz anders gerichtete Tendenz der Orakel der beiden KinderErscheinungen. Die zweisprachige Reclam-Ausgabe informiert in Anmerkungen über die von den Erscheinungen vorweggenommenen Bedeutungen: Das gepanzerte Haupt ist »Macbeths eigener Kopf, den Macduff Malcolm überbringen wird«, das blutige Kind ist »Macduff, frisch aus dem Mutterleib geschnitten«, das gekrönte Kind mit Baum ist »Malcolm, der den Befehl zum Abhauen der Zweige geben und schließlich rechtmäßiger König werden wird.«4 Den Versuch, die drei Erscheinungen vom Ende her zu lesen und zu verstehen, unternahm nicht erst die Rezeptionsgeschichte. Schon das Stück selber hat eine Ebene, auf der das Geschehen in diesem Sinne interpretiert wird: Macbeths Schicksal ist – spätestens zum Zeitpunkt seiner Befragung der Hexen – entschieden. Die von den Hexen beschworenen Erscheinungen stellen dieses Schicksal aber in listig verschlüsselter Form dar. Macbeth kann ihre Worte als Freibrief für seine Gewaltherrschaft missdeuten und geht damit den höllischen Mächten in die Falle. In Macbeths eigenen Worten, als der Wald von Birnam anrückt: »ich […] beginne | Den Doppelsinn des bösen Feinds zu merken, | Der Lüge spricht wie Wahrheit.« (V, 4) Und als er erfährt, dass Macduff »aus dem Mutterschoß geschnitten« wurde, sagt er: »Und keiner trau’ dem Gaukelspiel der Hölle, | Die uns mit doppelsinn’ger Rede äfft, | Die Wort nur hält dem Ohr mit Glückverheißung | Und es der Hoffnung bricht.« (V, 8) Diese und andere Stellen konnotieren den von Shakespeare leitmotivisch eingesetzten Begriff der »equivocation«, der Doppeldeutigkeit, eindeutig pejorativ: als dem Arsenal der Hölle zugehörig. Einer solchen Lesart sind die Erscheinungen Manifestationen einer – noch in der Verzerrung waltenden – ›höheren‹ Instanz und die Hexen prophetische Künderinnen eines providentiellen Strafgerichts; darüber hinaus stellen sich die Orakel in der Perspektive eines schuldvollen Missverstehens als eine Art moralischer oder ethischer oder religiöser Prüfung dar, die von Macbeth nicht bestanden wird: Macbeth hätte nur genauer zuhören müssen, um die Zeichen des kommenden Gerichts deuten zu können. Das Heikle einer solchen Lesart notierten die christlichen Autoren bei Diskussion einer verwandten Bibelstelle genauer als die Shakespeare-Exegeten. Das 28. Kapitel im 1. Buch Samuel stellt das biblische Urbild vom Tyrannen, der zur Geisterbeschwörerin geht. Die Philister sind ins Land einSERGIO MOR A BITO

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gefallen, und in seiner Bedrängnis wendet sich Saul an den Herrn. Doch »der Herr antwortet ihm nicht, weder durch Träume, noch durch Priester, noch durch Propheten.« Daraufhin lässt Saul »ein Weib, das einen Wahrsager-Geist hat«, suchen – obwohl er die Wahrsager und Zeichendeuter einst selbst aus dem Land vertrieben hat, da den Juden der Zukunft nachzuforschen untersagt ist. Seine Knechte finden die Hexe von Endor. Verkleidet geht Saul zu ihr, lässt sie den toten Propheten Samuel beschwören und erbittet dessen Rat. Samuel weist ihn ab: »Was willst du mich fragen, da der Herr von dir gewichen und dein Feind worden? […] morgen wirst du und deine Söhne mit mir sein, auch wird der Herr das Heer Israel in der Philister Hände geben.« Von diesen Worten getroffen sinkt Saul zu Boden. Diese Erzählung war mit der Ächtung des heidnischen Aberglaubens schwer in Einklang zu bringen. Die Unterscheidung von Theologie und Dämonologie war in Frage gestellt, wenn es möglich war, dass eine Totenbeschwörerin Gewalt über einen Propheten hatte und Gottes Ratschluss sich beim Vollzug magischer Praktiken offenbart. Luther warnt denn in einer Randglosse seiner Bibelübersetzung »jedermann, dass er das nachfolgende Gespenst von Samuel recht verstehe, und wisse, dass Samuel tot sei, und solches der böse Geist mit der Zauberin und Saul redet und tut in Samuels Person und Namen.« Doch was der böse Geist redet geschieht. Die Überraschung darüber hat bei Luther – dessen Auslegung sie provoziert – keine Stelle, ist aber in Banquos Reaktion auf das Eintreffen der von den Hexen prophezeiten Beförderung Macbeths zum Than von Cawdor festgehalten: »Wie, spricht der Teufel wahr?« (I, 3)5 Diese Frage entfaltet Macbeth zu seinem ersten großen Aside-Monolog »Zwei Mal gesprochene Wahrheit […]« (I, 3). Auch Jacques Bénigne Bossuet hat zu ihr Stellung genommen. In seiner Politique tirée de l’Écriture sainte (1709) schreibt der Hofprediger und Prinzenerzieher Ludwigs XIV., dass »es weder in der Macht einer Zauberin stand, die Seele eines Heiligen zu beschwören, noch in der des Teufels, der einigen zufolge in Samuels Gestalt erschienen sei, die Zukunft so richtig vorherzusagen.« Für Bossuet hat »Gott dies Ereignis gelenkt. Er wollte uns lehren, dass er, wenn es ihm gefällt, gestattet, die Wahrheit durch illegitime Mittel zu finden, zur Strafe jener, die sich ihrer bedienen.« Eine solche Auslegung, die eine Totenbeschwörung zum Medium der Offenbarung erklärt und durch einen Zweck Gottes auch dieses Mittel geheiligt sieht, rückt aber die Gottheit selbst ins Zwielicht – und zweifellos war es diese Gefahr, die Luther zu seinem Verdikt über den Scheincharakter des Geschehens bestimmte. Vorsichtiger als der Franzose will er diesem keine andere Lehre entnehmen (oder unterschieben) als die vom beschränkten Machtbereich des »bösen Geistes« und der ihm dienstbaren Zauberin. Das Misstrauen einer moralischen Satisfaktion gegenüber, die darin besteht, »zur Strafe jener, die sich ihrer bedienen, die Wahrheit durch illegitime Mittel finden zu lassen«, wäre auch dem in Macbeth gezeigten Geschehen angebracht. 121

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Nicht Macbeth täuscht sich über die wahre Bedeutung der Orakel als Menetekel, die Orakel selbst sind die Getäuschten: Sie nehmen die Zukunft nicht vorweg, sie stemmen sich gegen sie. In gewaltiger Zusammenraffung seiner geschwächten Kräfte belehnt der Mythos den Macbeth mit seinen Wunderwaffen. In Anknüpfung an den Satz, den Macbeth dem Macduff im Zweikampf bannend entgegenhält: »Mein Leben ist gefeit« (V, 8), wären die Verlautbarungen der Erscheinungen als rituelle Segnungen zu begreifen. Ihre Sprache ist aktueller Vollzug: Indem sie sprechen, weihen sie Macbeth. Ihre Sprache ist »Feiung«, Magie, ihr Wort als Zauber- und Segensspruch archaische Kraft: »Das mythische Schicksal, Fatum, war eins mit dem gesprochenen Wort.«6 Gewiss, es sind die Widersprüche dieser Weihe, die Macbeth zur Bestie machen, ihre wohldosierte Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Die sich unversöhnbar widersprechenden Aussagen sind es, die ihn aufreiben, rasend machen und die letzten Hemmungen niederreißen: dass er sich hüten solle vor Macduff – und doch kein vom Weib Geborener ihm schaden könne; dass er unbesiegbar sei, ehe nicht der Wald von Birnam ihm entgegenzöge – und doch Banquos Geschlecht sein Thron gehören soll. Die Orakel sind keine Falle, die Macbeth gestellt ist. Sie werden es erst durch ihre Umdeutung zu einem Sprachspiel: Statt der im Boden verwurzelt bleibenden Stämme des Walds von Birnam rücken seine Zweige metonymisch gegen Macbeth an und der Rächer wurde von seiner Mutter nicht geboren, sondern vor der Zeit »ihr aus dem Leib geschnitten«. Die Orakel werden durch ihre »Erfüllung« nicht bestätigt. Zutreffender erschiene es, von ihrer »Entleerung« zu sprechen, Sprache zu begreifen nicht als Offenbarung eines prästabilierten Sinns, sondern als Möglichkeit der Befreiung von einem solchen. Das Aussetzen von Sinn in Nicht-Sinn wäre dann die Hoffnung, von der die Geschichte von Macbeth erzählt.

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»Gradaus gesagt, muss ich von ihnen melden, | Sie waren wie Kanonen, überladen | Mit doppeltem Gekrach; […]« (I, 7); alle deutschsprachigen Stückzitate hier und im Folgenden in der Übersetzung von Dorothea Tieck. Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, S. 17. Bei Verdi entsprechen ihr die 1. bis 3. Szene des III. Aktes, doch im Grunde überspannt und bindet die »Gran scena delle apparizioni« alle fünf Szenen des III. Aktes der Oper. William Shakespeare, Macbeth. Englisch und deutsch, übersetzt und herausgegeben von Barbara Rojahn-Deyk, Stuttgart 1977, S. 190. In der Oper entspricht ihr Bancos entsetztes, zu spät ins piano zurückgenommenes Aparte: »Ah! l’inferno il ver parlò!« (I, 3) Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, S. 71

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Joseph von Eichendorff → Zwielicht

Dämmrung will die Flügel spreiten, Schaurig rühren sich die Bäume, Wolken zieh’n wie schwere Träume Was will dieses Grau’n bedeuten? Hast du einen Freund hienieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug’ und Munde, Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.


Gabriele Baldini

VERDIS GRÖSSE Macbeth wurde am 14. März 1847 am Teatro Pergola in Florenz uraufgeführt, und wenngleich kein enormer Erfolg, wurde die Oper doch wohlwollend aufgenommen. Der Erfolg brachte gesellschaftliche Verpflichtungen mit sich: Verdi wurde vom Großherzog der Toskana empfangen und traf Politiker und Intellektuelle, Dichter und Bildhauer. Über Vermittlung der Contessa Maffei sandte Alessandro Manzoni – der den Komponisten noch nicht getroffen hatte – an Verdi ein Empfehlungsschreiben für den Dichter und Satiriker Giuseppe Giusti (1809-1850). Neben den üblichen gegenseitigen Lobesworten scheint der einzige Kommentar Giustis zu Verdis Oper der Rat gewesen zu sein, keine ausländischen Sujets mehr aufzugreifen. Wir wissen, dass Verdi diesem Rat nicht gefolgt ist, und das nicht aus Xenomanie, sondern einfach, weil Giustis Empfehlung von törichtem Chauvinismus zeugt. Verdi spürte schon damals, dass Shakespeare kein im eigentlichen Sinne ausländischer Autor war, und sein tiefster musikalischer Instinkt wusste, dass Shakespeare in keiner Hinsicht über ihn bestimmt hatte — sondern dass er selbst den Macbeth komplett neuerschaffen hatte. Von Verdis bisherigem Werk, aber auch von seinen späteren Opern aus gesehen, müssen Giustis Bemerkungen stumpfsinnig, wenn nicht erbärmlich für ihn geklungen haben. In einem Brief des Dichters an den Komponisten lesen wir: »Es wäre mir lieb, wenn italienische Talente einen vollen und bindenden Ehevertrag mit der italienischen Kunst unterzeichneten und sich der schönen Venus fremdländischer Umarmungen enthielten.« Doch die Sache ist weniger unbedeutend und beiläufig, als es scheint. Giusti verfolgte tatsächlich die Idee eines ›engagierten‹ Verdi, und wollte seine Opern zur Bewältigung zeitgenössischer Probleme in Dienst nehmen. GI USEPPE BA LDIN I

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Hier liegt der klare Fall einer Aufforderung zum Engagement an einen Künstler vor, dem dieses Prädikat normalerweise als Geschenk verliehen wird, ganz ohne um Erlaubnis zu fragen, und verdient daher genauere Betrachtung. Giusti schreibt weiter: »Sie wissen, dass der Akkord des Schmerzes den größten Widerhall in unserer Seele findet, aber der Schmerz nimmt einen unterschiedlichen Charakter an, je nach dem Zeitalter oder dem Charakter und der Situation dieser oder jener Nation. Die Art von Schmerz, die heute unsere italienischen Seelen erfüllt, ist der Kummer eines Volkes, das ein Bedürfnis nach einem besseren Schicksal verspürt; es ist der Kummer eines, der gefallen ist und sich wieder erheben möchte; es ist der Kummer eines, der bereut und wartet und sich nach Erneuerung sehnt. Mein lieber Verdi, begleite mit Deinen edlen Harmonien diesen erhabenen, ernsten Kummer; nähre ihn, bestärke ihn, führe ihn an sein Ziel. Musik ist eine Sprache, die von allen verstanden wird, und es gibt keine große Wirkung, die Musik nicht hervorbringen kann.« Und nun folgt die höchst aufschlussreiche Aussage: »Das Fantastische ist etwas, mit dem sich Geist unter Beweis stellen lässt, aber die Wahrheit beweist sowohl Geist als auch Seele.« Für Giusti waren die Hexen in Macbeth ›das Fantastische‹, das er als eine Art von Vorwand betrachtete, dringenderen Problemen aus dem Weg zu gehen. Dabei hatte Verdi auch in Macbeth einen nostalgischen Freiheitschor angebracht, ein eher – wenn auch mit einigem Können – angeflicktes Stück. Giusti war es nicht nur entgangen, sondern er hatte auch nicht verstanden, dass der Ausdruck brennender Leidenschaften in dieser Oper weit über aktuelle Probleme hinausging: vor allem in dem Sinn, dass er sie mitumfasste. Die kleine Episode ist trotzdem interessant. Giusti hatte offenbar wenig von Verdi verstanden, ebenso wenig wie von Musik, Theater, Shakespeare oder Engagement. Aber als Künstler, der ein Gespür für gewisse elementare Wahrheiten hat, hatte er begriffen, dass Verdis Musik ganz eigenständig existierte, nicht so sehr außerhalb jedes Risorgimento-Programms als weit darüber hinaus, und dass alle Momente eines Zusammentreffens dramatischer Hitze mit patriotischer Hitze reine Koinzidenzen waren. Verdis Größe, gerade auch in seinem Frühwerk, liegt eben genau darin, dass diese Aufschwünge Koinzidenzen sind, womit nichts anders ausgedrückt ist, als dass sie vollkommen natürlich sind. Giusti hätte gewünscht, dass sie vorgegeben wären, um gesteuert und ausgenutzt zu werden – ein Wunsch, der eine absolut schäbige, provinzielle Vision von Kunst verrät. Aber Verdis Begegnungen mit zeitgenössischer italienischer Kultur waren so selten, und, wie jene spätere mit Manzoni, immer so peinlich und befangen, dass es sich gelohnt hat, sich eine Zeitlang mit Giustis fragwürdiger Einmischung aufzuhalten.

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V ER DIS GRÖS SE


Edgar Allen Poe

THE RAVEN

Einst, um eine Mittnacht graulich, da ich trübe sann und traulich müde über manchem alten Folio lang vergess’ner Lehr’ – da der Schlaf schon kam gekrochen, scholl auf einmal leis ein Pochen, gleichwie wenn ein Fingerknochen pochte, von der Türe her. »’s ist Besuch wohl«, murrt’ ich, »was da pocht so knöchern zu mir her – das allein – nichts weiter mehr.« Ah, ich kann’s genau bestimmen: im Dezember war’s, dem grimmen, und der Kohlen matt Verglimmen schuf ein Geisterlicht so leer. Brünstig wünscht’ ich mir den Morgen; – hatt’ umsonst versucht zu borgen von den Büchern Trost dem Sorgen, ob Lenor’ wohl selig wär’ – ob Lenor’, die ich verloren, bei den Engeln selig wär’ – bei den Engeln – hier nicht mehr. Und das seidig triste Drängen in den purpurnen Behängen füllt’, durchwühlt’ mich mit Beengen, wie ich’s nie gefühlt vorher; also dass ich den wie tollen Herzensschlag musst’ wiederholen: »’s ist Besuch nur, der ohn’ Grollen mahnt, dass Einlass er begehr’ – nur ein später Gast, der friedlich mahnt, dass Einlass er begehr’; – ja, nur das – nichts weiter mehr.« EDGA R A LLEN POE

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Augenblicklich schwand mein Bangen, und so sprach ich unbefangen: »Gleich, mein Herr – gleich, meine Dame um Vergebung bitt’ ich sehr; just ein Nickerchen ich machte, und Ihr Klopfen klang so sachte, dass ich kaum davon erwachte, sachte von der Türe her – doch nun tretet ein!« – und damit riss weit auf die Tür ich – leer! Dunkel dort – nichts weiter mehr. Tief ins Dunkel späht’ ich lange, zweifelnd, wieder seltsam bange, Träume träumend, wie kein sterblich Hirn sie träumte je vorher; doch die Stille gab kein Zeichen; nur ein Wort ließ hin sie streichen durch die Nacht, das mich erbleichen ließ: das Wort »Lenor’?« so schwer – selber sprach ich’s, und ein Echo murmelte’s zurück so schwer: nur »Lenor’!« – nichts weiter mehr. Da ich nun zurück mich wandte und mein Herz wie Feuer brannte, hört’ ich abermals ein Pochen, etwas lauter denn vorher. »Ah, gewiss«, so sprach ich bitter, »liegt’s an meinem Fenstergitter; Schaden tat ihm das Gewitter jüngst – ja, so ich’s mir erklär’, – schweig denn still, mein Herze, lass mich nachsehn, dass ich’s mir erklär!: – ’s ist der Wind – nichts weiter mehr!« Auf warf ich das Fenstergatter, als herein mit viel Geflatter schritt ein stattlich stolzer Rabe wie aus Sagenzeiten her; Grüßen lag ihm nicht im Sinne; keinen Blick lang hielt er inne; mit hochherrschaftlicher Miene flog empor zur Türe er – setzt’ sich auf die Pallas-Büste überm Türgesims dort – er flog und saß – nichts weiter mehr. Doch dies ebenholzne Wesen ließ mein Bangen rasch genesen, ließ mich lächelnd ob der Miene, die es macht’ so ernst und hehr; »Ward Dir auch kein Kamm zur Gabe«, sprach ich, »so doch stolz Gehabe, grauslich grimmer alter Rabe, Wanderer aus nächtger Sphär’ – sag, welch hohen Namen gab man Dir in Plutos nächtger Sphär’?« Sprach der Rabe, »Nimmermehr.« Staunend hört’ dies rauhe Klingen ich dem Schnabel sich entringen, ob die Antwort schon nicht eben sinnvoll und bedeutungsschwer; denn wir dürfen wohl gestehen, dass es keinem noch geschehen, solch ein Tier bei sich zu sehen, das vom Türgesimse her – das von einer Marmor-Büste überm Türgesimse her sprach, es heiße »Nimmermehr.«

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T HE R AV EN


Doch der droben einsam ragte und dies eine Wort nur sagte, gleich als schütte seine Seele aus in diesem Worte er, keine Silbe sonst entriss sich seinem düstren Innern, bis ich seufzte: »Mancher Freund verließ mich früher schon ohn’ Wiederkehr – morgen wird er mich verlassen, wie mein Glück – ohn’ Wiederkehr.« Doch da sprach er, »Nimmermehr.« Einen Augenblick erblassend ob der Antwort, die so passend, sagt’ ich, »Fraglos ist dies alles, was das Tier gelernt bisher: ’s war bei einem Herrn in Pflege, den so tief des Schicksals Schläge trafen, dass all seine Wege schloss dies eine Wort so schwer – dass all seiner Hoffnung Lieder als Refrain beschloss so schwer dies ›Nimmer – nimmermehr.‹« Doch was Trübes ich auch dachte, dieses Tier mich lächeln machte, immer noch, und also rollt’ ich stracks mir einen Sessel her und ließ die Gedanken fliehen, reihte wilde Theorien, Phantasie an Phantasien: wie’s wohl zu verstehen wär’ – wie dies grimme, ominöse Wesen zu verstehen wär’, wenn es krächzte »Nimmermehr.« Dieses zu erraten, saß ich wortlos vor dem Tier, doch fraß sich mir sein Blick ins tiefste Innre nun, als ob er Feuer wär’; brütend über Ungewissem legt’ ich, hin und her gerissen, meinen Kopf aufs samtne Kissen, das ihr Haupt einst drückte hehr – auf das violette Kissen, das ihr Haupt einst drückte hehr, doch nun, ach! drückt nimmermehr! Da auf einmal füllten Düfte, dünkt’ mich, weihrauchgleich die Lüfte, und seraphner Schritte Klingen drang vom Estrich zu mir her. »Ärmster«, rief ich, »sieh, Gott sendet seine Engel Dir und spendet Nepenthes, worinnen endet nun Lenor’s Gedächtnis schwer; – trink das freundliche Vergessen, das bald tilgt, was in Dir schwer!« Sprach der Rabe, »Nimmermehr.« »Ah, Du prophezeist ohn’ Zweifel, Höllenbrut! Ob Tier, ob Teufel – ob Dich der Versucher sandte, ob ein Sturm Dich ließ hierher, trostlos, doch ganz ohne Bangen, in dies öde Land gelangen, in dies Haus, von Graun umfangen, – sag’s mir ehrlich, bitt’ ich sehr – gibt es – gibt’s in Gilead Balsam? – sag’s mir – sag mir, bitt’ Dich sehr!« Sprach der Rabe, »Nimmermehr.«

EDGA R A LLEN POE

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»Ah! dann nimm den letzten Zweifel, Höllenbrut – ob Tier, ob Teufel! Bei dem Himmel, der hoch über uns sich wölbt – bei Gottes Ehr’ – künd mir: wird es denn geschehen, dass ich einst in Edens Höhen darf ein Mädchen wiedersehen, selig in der Engel Heer – darf Lenor’, die ich verloren, sehen in der Engel Heer?« Sprach der Rabe, »Nimmermehr.« »Sei denn dies Dein Abschiedszeichen« schrie ich, »Unhold ohnegleichen! Hebe Dich hinweg und kehre stracks zurück in Plutos Sphär’! Keiner einz’gen Feder Schwärze bliebe hier, dem finstern Scherze Zeugnis! Lass mit meinem Schmerze mich allein! – hinweg Dich scher! Friss nicht länger mir am Leben! Pack Dich! Fort! Hinweg Dich scher« Sprach der Rabe, »Nimmermehr.« Und der Rabe rührt’ sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer auf der bleichen Pallas-Büste überm Türsims wie vorher; und in seinen Augenhöhlen eines Dämons Träume schwelen, und das Licht wirft seinen scheelen Schatten auf den Estrich schwer; und es hebt sich aus dem Schatten auf dem Estrich dumpf und schwer meine Seele – nimmermehr. Übersetzung: Hans Wollschläger

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T HE R AV EN


Luca Salsi als Macbeth, Anna Netrebko als Lady Macbeth und Komparserie



Raphael Holinshed (1577)

DIE GESCHICHTE VON MACBETH Bald drauf ereignete sich ein merkwürdiges, unbegreifliches Wunder, das später viel Unruhe und Verwirrung in schottischen Landen verursachen sollte, wie ihr bald hören werdet. Es begab sich, dass Macbeth und Banquo nach Fores reisten, wo der König sich damals befand. Sie zogen in guter Laune und ohne Begleitung ihre Straße durch Wälder und Felder, als sie plötzlich auf einer Heide drei Frauen in fremdartig-wilden Gewändern trafen, die aussahen wie Wesen aus einer anderen Welt [resembling creatures of elder world]. Macbeth und Banquo blieben stehen und sahen die drei Gestalten überrascht und voller Aufmerksamkeit an. Da sprach die erste von ihnen: »Heil dir, Macbeth, Thane of Glammis!« (Denn durch den Tod seines Vaters Sinell während seiner Abwesenheit hatte er erst kürzlich diesen Titel und das Amt erhalten). Die zweite sagte: »Heil dir, Macbeth, Thane of Cawder!«, die dritte aber sprach: »Heil dir, Macbeth, dem zukünftigen König von Schottland!« Darauf Banquo: »Wer seid ihr, ihr Frauen, die ihr mir so wenig gnädig gesonnen zu sein scheint, denn meinem Gefährten hier sprecht ihr außer anR A PH A EL HOLINSHED

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derem sogar die Königswürde zu, mir aber habt ihr gar nichts zu verkünden?« »Dir«, sagte die erste, »verheißen wir noch größeres Glück als ihm, denn er wird zwar als König herrschen, aber ein unseliges Ende nehmen: Kein Sohn und Erbe wird ihm geboren, der sein Nachfolger werden könnte; du dagegen wirst nicht König sein, aber dafür der Stammvater einer Reihe von Königen, die Schottland später in langer ungebrochener Folge regieren werden.« Damit verschwanden die drei Frauen vor ihren Blicken. Macbeth und Banquo hielten das Ganze anfänglich für eine Täuschung ihrer Fantasie, die nichts zu bedeuten hatte, und glaubten so wenig daran, dass Banquo Macbeth manchmal im Scherz »König von Schottland« anredete, während Macbeth Banquo zum Spaß »Ahnherr vieler Könige« nannte. Aber später dachten alle, die drei Frauen seien entweder die Schicksalsschwestern [the weird sisters] gewesen, das heißt (wie man sagt) die Nornen [goddesses of destiny] oder Nymphen oder Feen, denen durch ihre Kenntnis nekromantischer Wissenschaft die Gabe der Weissagung zu eigen war. Denn alles geschah genau so, wie sie es vorausgesagt hatten. Der Thane von Cawder wurde bald darauf in Fores des Verrates am König überführt und verurteilt. Seine Länder, sein Hab und Gut und seine Ämter aber wurden durch die Gnade des Königs Macbeth zugesprochen. Eines Abends [The same night after], als sie beim Abendessen saßen, scherzte Banquo mit Macbeth und sprach zu ihm: »Macbeth, du hast erhalten, was die zwei ersten Schwestern dir prophezeiten. Jetzt bleibt nur noch übrig, was die dritte vorausgesagt hat.« Da wurde Macbeth nachdenklich und wälzte den Gedanken in seinem Hirn und begann zur selbigen Zeit zu überlegen, wie er die Königswürde erlangen könnte, aber er dachte bei sich selbst, dass er geduldig die Zeit erwarten müsse, bis sie ihm (durch die göttliche Vorsehung) von selbst zufallen würde, wie es bei seinen früheren Erhöhungen der Fall gewesen war. Aber bald darauf geschah es, dass König Duncan den älteren seiner beiden Söhne, mit Namen Malcolme, zum Prinzen von Cumberland machte und ihn auf diese Weise zu seinem Nachfolger bestimmte. Macbeth überkam schwere Enttäuschung über den Entschluss des Königs und er begann, mit sich zu Rate zu gehen, wie er das Königtum mit Gewalt an sich reißen könnte, zumal er gerechten Grund dazu hatte (wie er glaubte), da Duncan alles tat, was in seiner Macht lag, um ihn, Macbeth, aller Rechte und Ansprüche zu berauben [to defraud him], die er im Laufe der Zeit auf den Thron zu erheben dachte. Auch die Worte der drei unheimlichen Schwestern [weird sisters] (von denen ihr vorhin gehört habt) ermutigten ihn zu seinem Anschlag gegen Duncan, aber mehr noch sein Weib, das ihm beständig in den Ohren lag, einen Streich zu unternehmen, denn sie war sehr ehrgeizig und brannte vor Verlangen, Königin zu werden. Und so teilte er schließlich seinen vertrauten Freunden, unter denen Banquo die erste Stelle einnahm, sein Vorhaben mit und im Vertrauen auf Hilfe, die sie ihm versprachen, ermordetet er den König in Enverns oder (wie einige sagen) in 133

DIE GE SCHICH T E VON M ACBET H


Botgosvane im sechsten Jahr seiner Regierung. Mit Unterstützung der Männer, die er ins Vertrauen gezogen hatte, ließ er sich zum König ausrufen und begab sich zugleich nach Scone, wo ihm (unter allgemeiner Zustimmung) die Königswürde in aller Form und mit allen Ehren nach altem Brauche übertragen wurde. […] Allen mochte er nun als ein glücklicher Mensch erscheinen, denn er besaß die Liebe und die Zuneigung von Hoch und Niedrig. Aber er selbst fühlte sich dagegen höchst unglücklich. Gewissensbisse hielten ihn (wie es charakteristisch ist für Tyrannen und alle, die ein Gut mit ungerechten Mitteln erlangt haben) in ständiger Furcht, dass ihm das gleiche Schicksal drohen könnte, wie er es seinem Vorgänger bereitet hatte. Die Worte der drei Schicksalsschwestern wollten ihm nicht aus dem Sinn, die ihm zwar den Königsthron verheißen hatten, aber ihn gleichzeitig den Nachkommen von Banquo versprachen. Darum lud er Banquo und seinen Sohn namens Fleance zu einem Abendessen ein, das er für sie bereitet hatte, und dingte zugleich Männer, die Banquo und seinen Sohn außerhalb des Palastes erschlagen sollte, damit sein Haus nicht in Verruf komme. Es geschah aber in der Dunkelheit der Nacht, dass wohl der Vater erschlagen, der Sohn aber durch die Hilfe des allmächtigen Gottes gerettet und für ein besseres Geschick bewahrt wurde. […] Danach aber wandte sich das Glück von Macbeth ab: Denn alle Menschen begannen um ihr Leben zu fürchten und wagten sich nicht mehr in die Gegenwart des Königs. Und genau so, wie viele vor ihm in Furcht lebten, genau so fürchtete er sich vor vielen dergestalt, dass er anfing, auf diese oder jene Weise diejenigen aus dem Weg zu räumen, von denen er glaubte, dass sie etwas gegen ihn im Schilde führen könnten. Mit der Zeit fand der solches Vergnügen daran, seine Adeligen umzubringen, dass sein Blutdurst schließlich auf keine Art mehr zu befriedigen war. Denn ihr müsst bedenken, dass er dadurch (wie er meinte) doppelten Nutzen hatte: Erstens war er der Männer los und ledig, denen er misstraute, und zweitens füllten sich seine Truhen mit ihren Gütern, die ihm zufielen, so dass er sich zu seinem Schutze eine gewaltige Leibgarde halten konnte. Außerdem errichtete er eine starke Burg auf der Spitze eines hohen Hügels mit Namen Dunsinane, damit er seine Untertanen besser mit all seiner tyrannischen Willkür bedrücken könnte. […] Eine gewisse Hexe, auf die er große Stücke hielt, weissagte ihm, dass kein vom Weibe Geborener ihn töten und dass er niemals besiegt werden würde, ehe nicht der Wald von Birnane bis zum Schloss Dunsinane heraufkäme. Nach dieser Prophezeiung riss Macbeth alle Furcht aus seinem Herzen und meinte hinfort tun zu können, was er wollte, ohne dafür bestraft zu werden, denn nach der Prophezeiung hielt er es für unmöglich, dass ein Mensch ihn töten könnte. […] Mit der Zeit aber merkte Macbeth, dass die Macht seiner Feinde zunahm durch die Hilfe, die sein Gegner Malcome aus England heranführte, und er zog sich auf sein Schloss Dunsinane zurück, um dort seine Feinde im Kampf R A PH A EL HOLINSHED

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zu erwarten. Malcolme folgte ihm eilends nach und kam zur Nacht mit seinem Heere in den Wald von Birnane unter dem Schloss. Als sie gerastet haben, befahl Malcolme, dass jeder seiner Mannen einen Ast, so groß als er ihn tragen konnte, von irgendeinem Baum des Waldes abschlagen und beim weiteren Vorrücken in die Hand nehmen sollte, damit sie am nächsten Morgen ungesehen in die nächste Nähe des Feindes kämen. Als Macbeth sie am Morgen in dieser Art heranrücken sah, fragte er sich, was das bedeuten mochte, und verstand endlich, dass die Prophezeiung, die er vor langer Zeit gehört hatte, nunmehr erfüllt war: Der Wald von Birnane war zum Schloss Dunsinane heraufgekommen. Macbeth wollte dennoch den Kampf aufnehmen, aber als seine Feinde die Äste von sich geworfen hatten und er sehen konnte, wie zahlreich sie waren, machte er sich auf und entfloh. Macduffe aber verfolgte ihn voll Hass, bis Macbeth vom Pferd sprang und ihm zurief: »Verräter du, was verfolgst du mich ohne Sinn und Verstand, dem nicht bestimmt ist, von der Hand eines vom Weibe Geborenen zu sterben?« Macduffe, das nackte Schwert in der Hand, trat auf ihn zu und sprach: »So ist es, Macbeth, und jetzt soll deine unersättliche Grausamkeit ein Ende haben, denn ich bin der, von dem deine Zauberer gesprochen haben: Meine Mutter hat mich nicht aus ihrem Leibe geboren, ich wurde ihr aus dem Leib gerissen!« Dann erhob er sein Schwert und erschlug ihn. So endete Macbeth, nachdem er siebzehn Jahre über Schottland regiert hatte.

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DIE GE SCHICH T E VON M ACBET H


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Impressum Giuseppe Verdi MACBETH Spielzeit 2020/2021 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng und Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau

Raphael Holinshed: Die Geschichte von Macbeth BILDNACHWEISE Coverbild: Margolies, John, Dracula’s Castle dark ride entrance, Wildwood, New Jersey. New Jersey United States Wildwood, 1978. Photograph. Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbild aus 2009: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH AKG-Images: S. 37, 74 Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

TEXTNACHWEISE DIE AUTORINNEN & AUTOREN ORIGINALBETRÄGE Sergio Morabito & Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Philippe Jordan, Die Geburt des italienischen Musiktheaters – Barrie Kosky, Andreas Láng & Oliver Láng: Adam und Evas Totentanz in Anti-Eden – Nikolaus Stenitzer, Mit allen Sprachen. Barrie Koskys Theaterarbeit – Georg Titscher & Oliver Láng: Schuld, Sühne und Psyche – Andreas Láng: Zwischen Schauer-Kitsch und Betonbunker – Michael Kraus: Notte Verdiana – Sergio Morabito: Equivocation – Gaukelspiel der Hölle? ÜBERNAHMEN Sergio Morabito: Die Handlung (englische Übersetzung von Steven Scheschareg). Eine für dieses Programmheft überarbeitete Fassung der Handlung aus dem Programmbuch Macbeth der Staatsoper Stuttgart, 1994 – Franz Werfel: Schuld, in: Gedichte, Zsolnay, 1927 – Bertolt Brecht: Die Maske des Bösen, in: Gedichte, Reclam, 1954 – August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Wien 1808 – Bertolt Brecht, Vorrede zu Macbeth, Gesammelte Werke Bd. 15 (Zur Literatur und Kunst), Frankfurt am Main, 1967 – Stephen Greenblatt, Das Ehepaar Macbeth, in: Will in der Welt, Berlin, 2004 – Georg Trakl, Hexen­ sabbath, in: Gedichte, Reclam, 1999 – Sigmund Freud, Die am Erfolge scheitern, in: Einige Charaktertypenaus der psychoanalytischen Arbeit, Fischer, 1946 – Thomas Bernhard, Der Rabe, in: Gedichte, Suhrkamp, 1993 – David R.B. Kimbell: Verdis Macbeth im Kontext der italienischen Shakespeare-Rezeption (Übertragung aus dem Englischen von Manuela Heise und Sergio Morabito), Übernahme aus dem Programmbuch Macbeth der Staatsoper Stuttgart, 1994 – John Middleton Murry, Es gab ’ne Zeit, in: Shakespeare, London 1936 (Übertragung aus dem Englischen von Sergio Morabito) – Johannes Maria Staud, Über Verdis Macbeth, gekürzte Übernahme aus dem Macbeth-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2015 – Gabriele Baldini, Verdi hat Shakespeare vorhergesehen & Verdis Größe, in: Abitare la Battaglia: La Storia di Giuseppe Verdi (englische Ausgabe, Übersetzung von Andrew Smith, mit dem italienischen Original abgeglichen von Sergio Morabito) – Edgar Allen Poe: The Raven (Übernahme aus dem Macbeth-Programmheft der Oper Zürich, 2018) –

GABRIELE BALDINI (1919-1969) war ein italienischer Literaturwissenschaftler und Anglistikprofessor, der als Schauspieler u.a. in zwei Pasolini-Filmen mitwirkte. BERTOLT BRECHT (1898-1956) war einer der einflussreichsten deutschen Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts und als Theatertheoretiker und -praktiker Begründer des epischen Theaters. SIGMUND FREUD (1856-1939) war Arzt und Begründer der Psychoanalyse. STEPHEN GREENBLATT ist Literaturwissenschaftler, Shakespeare-Forscher und Lehrstuhlinhaber an der Harvard University. RAPHAEL HOLINSHED (ca. 1520-1580) war englischer Chronist und Übersetzer. PHILIPPE JORDAN ist Musikdirektor der Wiener Staatsoper und Musikalischer Leiter dieser Produktion. DAVID R. B. KIMBELL ist ein schottischer Musikwissenschaftler und Opernhistoriker, mit Forschungsschwerpunkten u.a. auf Bellini und Verdi. BARRIE KOSKY ist Direktor der Komischen Oper Berlin und Regisseur dieser Produktion. MICHAEL KRAUS ist Sänger, Regisseur, Pädagoge, Musikwissenschaftler und Autor. ANDREAS LÁNG und OLIVER LÁNG sind Dramaturgen der Wiener Staatsoper. SERGIO MORABITO ist Chefdramaturg der Wiener Staatsoper. JOHN MIDDLETON MURRY (1889-1957) war ein prominenter britischer Literaturkritiker und Essayist. AUGUST WILHELM SCHLEGEL (1767-1858) war der wichtigste Sprachphilosoph der deutschen Frühromantik, Literaturhistoriker und -kritiker, Übersetzer, Alt-Philologe und Indologe. JOHANNES MARIA STAUD ist österreichischer Komponist. Seine Oper Die Weiden wurde 2018 an der Wiener Staatsoper uraufgeführt. NIKOLAUS STENITZER ist Dramaturg der Wiener Staatsoper. GEORG TITSCHER ist Kardiologe, Psychotherapeut und Autor.


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