Programmheft »L'elisir d'amore«

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L’ELISIR D’AMORE Gaetano Donizetti


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Lacryma Christi gegen Bordeaux → Stefan Musil

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Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung → Uwe Schweikert

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Lʼelisir dʼamore oder von der tiefgründigen Heiterkeit → Daniel Brandenburg

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Die erweiterte Cabaletta → Alberto Zedda

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Die geretteten Inseln → Eduard Hanslick

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Eine geniale Einspringeroper → Andreas Láng

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Blendungen → Rotraud A. Perner

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Bleiben Adina und Nemorino zusammen? → Bettina Steiner

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Der Liebestrank vor dem Strafgericht → Peter Lewisch

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Buonafede Vitali – der gute Scharlatan → Grete De Francesco

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Zwischen Mensch und Menscheln → Gespräch über Otto Schenk

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Va, mortale fortunato; un tesoro io t’ho donato: tutto il sesso femminino te doman sospirerà. Geh, glücklicher Sterblicher, einen Schatz habe ich dir geschenkt: Das gesamte weibliche Geschlecht wird sich morgen nach dir sehnen. Dulcamara, 1. Akt


L’ELISIR D’AMORE → Melodramma giocoso in zwei Akten Musik Gaetano Donizetti Text Felice Romani

nach Daniel-François-Esprit Aubers und Eugène Scribes Oper Le Philtre Orchesterbesetzung 2 Flöten, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Schlagwerk, 1 Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass, Basso continuo Bühnenmusik Kornett, 3 Trompeten, 2 Hörner, 2 Posaunen (davon ein Euphonium), Schlagwerk Spieldauer 2 Stunden 15 Minuten (inklusive einer Pause) Autograf Partitur 1. Akt Bibliothek San Pietro a Majella, Neapel Partitur 2. Akt Museo Donizettiano, Bergamo Transposition »Una furtiva lagrima« nach g-Moll Pariser Nationalbibliothek Uraufführung 12. Mai 1832, Teatro della Canobbiana, Mailand Erstaufführung an der Wiener Hofoper 7. Juli 1876




DIE HANDLUNG

1. Akt Die junge Gutspächterin Adina, jung, reich und belesen, wird vom mittellosen und unsicheren Nemorino umschwärmt. In einer Arbeitspause trägt sie den Dorfbewohnern, nicht ohne Ironie, die Geschichte von Tristan und Isolde und dem wunderbaren Liebestrank vor. Sergeant Belcore rückt ein und bezieht mit seinen Soldaten Quartier. Sogleich wirbt er um Adina und fordert selbstbewusst ihre Liebe. Sie aber weicht aus und bittet um Geduld. Als Nemorino um sie wirbt, weist sie ihn zurück: Die Liebe sei für sie nur Spiel und sie wolle auch fortan ungebunden bleiben. Der Quacksalber Dulcamara trifft ein und preist dem Volk vollmundig sein Können an. Nemorino fasst sich ein Herz und fragt den Wunderarzt nach dem berühmten Liebestrank. Dulcamara durchschaut die Lage und verkauft dem dankbaren Nemorino um dessen ganze Barschaft das begehrte Elixier – in Wahrheit eine Flasche Wein. Nicht ohne Nemorino darauf hinzuweisen, dass der vermeintliche Trank erst nach 24 Stunden wirke (also nachdem Dulcamara das Dorf bereits wieder verlassen hat). Sogleich kostet Nemorino das Mittel – und seine Stimmung bessert sich. Adina gegenüber gewinnt er an Sicherheit und gibt vor, nicht mehr an ihr interessiert zu sein. Nun möge sie um ihn werben. Diese plötzliche Sinnesumkehr ist Adina auch wieder nicht recht. Sie will herausfinden, ob Nemorinos Gefühle tatsächlich erkaltet sind und erklärt kurzerhand, Belcore auf der Stelle heiraten zu wollen. Nemorino ist völlig verdattert. So hat er sich die Wirkung des Liebestranks nicht vorgestellt. DIE H A N DLU NG

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2. Akt Die Hochzeit wird vorbereitet, doch Adina verzögert den Abschluss des Ehekontrakts. In seiner Verzweiflung möchte Nemorino von Dulcamara eine zweite Flasche des Wunderelixiers. Da er kein Geld mehr hat, lässt er sich von Belcore als Soldat anwerben und beschafft sich für das erhaltene Handgeld eine weitere Flasche. Der vermeintliche Liebestrank wirkt unerwartet schnell: Eine ganze Schar Mädchen umschmeichelt Nemorino. Allerdings ahnt er den wahren Hintergrund der Zuneigung nicht: Giannetta hat die bis dahin geheime Neuigkeit verbreitet, dass Nemorinos begüterter Onkel gestorben sei und ihn als Alleinerben eingesetzt habe. Nemorino findet die Mädchengesellschaft äußerst angenehm und gibt vor, Adina zu ignorieren, was ihre Eifersucht weckt. Von Dulcamara erfährt sie schließlich, warum Nemorino sich hat anwerben lassen. Als der Quacksalber nun ihr den Liebestrank anbietet, lehnt sie ab: sie weiß ein probateres Mittel, um Nemorino, dem sie ja doch zugetan ist, zu gewinnen: ihre Augen. Sie zahlt Belcore das Handgeld zurück, kauft damit Nemorino frei und gesteht ihm ihre Liebe. Zu ihrem Liebesglück kommt das finanzielle: Nemorino und Adina erfahren von der Erbschaft. Zuletzt nützt Dulcamara die Situation für sich: Er brüstet sich mit seiner Kunst, dank welcher Nemorino sowohl zu seinem Liebesglück als auch zu Vermögen gekommen sei.

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DIE H A N DLU NG


SYNOPSIS

Act 1 Adina, a tenant farmer in a rather remote village, is young, rich – and well-read. She is greatly admired by Nemorino, a penniless worker. Adina reads the country folk a moving version of the story of Tristan and Isolde, which she, however, finds rather amusing: Tristan, whom Isolde does not love, obtains a love potion from a miracle-monger. Sergeant Belcore and his soldiers march into the village and take up quarters there. Belcore behaves chivalrously towards Adina, but at the same time asks for her love. However, Adina is not to be so easily won. Nemorino finds an opportunity to reaffirm how dearly he loves Adina. She, however, rebuffs him, saying that she wishes to remain free and untied. The arrival of Dulcamara causes considerable excitement. He announces that he is a wonder doctor of great repute who has a remedy for every conceivable ailment. Finally, Nemorino asks the charlatan whether he also has a love potion. Dulcamara immediately takes advantage of the situation and sells the grateful Nemorino the coveted potion for all the money he has. Dulcamara takes the precaution of saying that the potion will only take effect after 24 hours; what he has sold the unsuspecting Nemorino is in fact nothing more than a bottle of wine. Nemorino immediately drinks some of it, and notices a remarkable improvement in his mood. He pretends to be impartial to Adina: let her now court him! Adina is not happy with this sudden change of heart either. She wants to find out whether Nemorino’s feeling for her have actually grown cold, and at once declares her intention of marrying Belcore, and of doing so that very day, as the sergeant will have to move on next morning. Nemorino is now completely flabbergasted. This was not the effect he had expected from the love potion. SY NOPSIS

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Act 2 In the meantime, preparations for the wedding are in full swing. The notary appears with the marriage contract, but Adina says she will sign it later. Nemorino asks Dulcamara for a second bottle of the magic elixir. This can naturally be arranged – if Nemorino can pay for it. The latter, however, does not have a single penny left to his name. In his despair he lets Belcore enlist him as a soldier, and immediately buys the second bottle with the bounty which he receives. The supposed love potion takes effect unexpectedly rapidly: Nemorino is at once surrounded by a crowd of girls. However, he is completely unaware of the real reason for this sudden display of affection. Giannetta has divulged some news that until now has been a closely kept secret: Nemorino’s wealthy uncle has died, leaving Nemorino his sole heir. Nemorino takes great delight in the company of the girls. He ignores Adina completely, which arouses her jealousy. From Dulcamara she learns why Nemorino has signed up. The charlatan now offers her the love potion. However, she refuses it, as she knows a better means of winning Nemorino, of whom she is very fond after all: her own eyes. Nemorino believes he has seen a secret tear in Adina’s eyes. Does she love him after all? His suspicions are confirmed by Adina herself: she confesses her love for him, and gives him back his enlistment papers. She has paid the bounty back to Belcore and bought Nemorino free. Dulcamara takes advantage of the situation. He boasts that it is thanks to his magic potion that Nemorino has not only found love, but also inherited a fortune.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Mitte April 1832 erhielt Gaetano Donizetti den Auftrag, innerhalb kurzer Zeit ein neues Werk für das Mailänder Teatro della Canobbiana zu schreiben. Gemeinsam mit dem Librettisten Felice Romani schuf er die zweiaktige komische Oper L’elisir d’amore (Der Liebestrank), die im Mai 1832 uraufgeführt wurde. Der Handlungsrahmen basiert – wie Stefan Musil ab Seite 12 beschreibt – auf Le Philtre, einer damals beliebten französischen Oper von Daniel-François-Esprit Auber und Eugène Scribe, die Romani geschickt umdichtete und in ein italienisches Ambiente transferierte. Über die Produktionsbedingungen der Oper im Italien Donizettis, die musikalische Dramaturgie des Komponisten und die dem Liebestrank innewohnende Mischung aus buffoneskem Verwirrspiel und gefühlvollen Zügen schreibt Uwe Schweikert ab Seite 20, Daniel Brandenburg skizziert ab Seite 32 Elemente der musikalischen Figurencharakteristik in L’elisir d’amore. Alberto Zedda löst ab Seite 38 das Rätsel, warum die Autografen des ersten und zweiten Aktes getrennt wurden, und Andreas Láng beschreibt ab Seite 48 die eher kurze, aber seit 1980 sehr intensive Aufführungsgeschichte der Oper im Haus am Ring. Die Psychotherapeutin Rotraud A. Perner analysiert ab Seite 50 den Zauber der (militärischen) Montur, Bettina Steiner stellt ab Seite 56 die Frage nach der Beständigkeit der Beziehung zwischen Adina und Nemorino und der Jurist Peter Lewisch inszeniert ab Seite 58 einen fiktiven Strafprozess gegen Doktor Dulcamara. In einem Essay schreibt Grete De Francesco ab Seite 66 über den Arzt und guten Scharlatan Buonafede Vitali. Über Otto Schenks inszenatorische Arbeitsweise berichtet ab Seite 76 Diana Kienast, die langjährige Oberspielleiterin der Wiener Staatsoper, die den Regisseur bei zahlreichen Produktionen begleitet hat. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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Felix Mendelssohn Bartholdy

» ICH WÄRE SEHR FROH, WENN ICH DEN LIEBESTRANK KOMPONIERT HÄTTE. «




Stefan Musil

LACRYMA CHRISTI GEGEN BORDEAUX

»Wie süß gesangvoll und in der Hauptsache auch immer dramatisch sind diese Melodien, diese Scenen! Ein natürliches Ebenmaß, wie es nur der italienischen Musik eigen, verbindet sich hier mit reizender Frische und einer fast genial zu nennenden Leichtigkeit. Ungemein hübsch kontrastiert das idyllische Element im Liebestrank mit dem soldatischen, und diese beiden wieder gegen ihre gemeinsame köstliche Folie, den alten Charlatan!« So charakterisierte der gestrenge Eduard Hanslick Gaetano Donizettis L’elisir d’amore 1897 – und attestierte dem damals bereits 66 Jahre alten Stück »für eine leichte, heitere Oper eine ziemliche Unsterblichkeit«. Unsterblich ist der Elisir bis heute geblieben. Seinem unmittelbaren Vorläuferstück war das Schicksal nicht ganz so gnädig. Le Philtre, Der Zaubertrank, hieß jene zweiaktige Oper, die am 20. Juni 1831 an der Académie Royale de musique, also in der Pariser Salle de la rue ST EFA N MUSIL

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Le Peletier, zum ersten Mal gezeigt wurde. Eugène Scribe hatte das Libretto geschrieben, Daniel-François-Esprit Auber die Musik dazu komponiert. Der Inhalt ist bestens bekannt: Bauernbursche verliebt sich in junge Pächterin, wird nicht erhört und lässt sich von einem Quacksalber Wein als Liebestrank aufschwatzen. Als ihm das Geld für den Nachschub des Liebeselixiers ausgeht, heuert er für 20 Écus bei seinem Nebenbuhler, dem eitlen, aufgeblasenen Sergeant, an. Das Ganze geht natürlich gut aus. Die Pächterin erhört ihren Bauern, der am Ende durch Erbschaft auch noch reich geworden ist, kauft ihn vom Militär frei, der Sergeant zieht mit seiner Truppe weiter, der Quacksalber lässt sich für seinen vermeintlichen Erfolg feiern. Die Novität kam beim Pariser Publikum gut an. Bis 1862 wurden insgesamt 243 Vorstellungen in Paris gegeben. Heute wird Le Philtre höchstens noch in Zusammenhang mit Donizettis L’elisir d’amore erwähnt. Es ist nämlich genau jener Stoff, den Donizetti und sein Librettist Felice Romani wählten, als sie im Frühjahr 1832 unter erheblichem Zeitdruck eine Novität für das Teatro della Canobbiana in Mailand aus dem Hut zaubern mussten. Schon Donizettis Lehrer in Bergamo, der ursprünglich aus Mensdorf bei Ingolstadt stammende Opern- und Kirchenkomponist Simon Mayr hatte für viele seiner Opernstoffe auf Erfolgsstücke aus Paris zurückgegriffen. Romani dürfte auch dank des Sängers des Belcore, Henri-Bernard Dabadie, auf Scribes Libretto aufmerksam geworden sein. Dabadie stand nämlich schon im französischen Original bei der Uraufführung in Paris auf der Bühne. In der Rolle des Sergeant Joli-Cœur hat er der jungen Landwirtin Térézine sein hübsches Herz angetragen. Die wählt dann doch lieber den Bauernburschen Guillaume, nachdem der vom Liebestrank des Docteur Fontanarose, einem »Scharlatan«, gekostet hat. Der Wundertrank ist bei Scribe übrigens ein »Lacryma Christi«, der berühmte Wein von den Hängen des Vesuv. Dies alles passierte in Paris unter den Augen der Wäscherin Jeannette, der Soldaten aus Joli-Cœurs Kompanie und der Dorfbewohner jenes Ortes, der doch recht genau angegeben ist: in der Gegend von Mauléon, am Ufer des Adou, im Baskenland. Eugène Scribe stützte sich dabei für sein Libretto selbst auf eine Vorlage: Il filtro eines gewissen Silvio Malaperta, von Stendhal in einer Novelle verarbeitet, die 1830 in der Revue de Paris veröffentlicht wurde. Auber und Scribe waren zum Zeitpunkt, als Le Philtre herauskam, längst ein erfolgreiches Duo. Die immens fruchtbare Zusammenarbeit der beiden hatte mit Leicester, ou Château de Kenilworth 1823 ihren Anfang genommen. In der Folge etablierten sich die beiden als das führende Gespann der Opéra comique, etwa auch mit dem 1830 uraufgeführten Fra Diavolo, und kreierten mit dem Revolutionsstoff von La Muette de Portici 1828 die erste Grand opéra. Le Philtre nimmt unter all dem eine Sonderstellung ein, ist gattungsmäßig nicht ganz so leicht einzuordnen. Der Zweiakter ist durchkomponiert, besitzt Rezitative, es gibt relativ wenig Aktion, die Handlung ist einfach gestrickt 13

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und viel eher eine komische Oper als eine typische Opéra comique. Dennoch besitzt das Werk auch Merkmale dieser Form. Wenn Hanslick von der gekonnten Mischung des Pastoralen mit dem Militärischen spricht, hat er schon einen deutlichen Hinweis gegeben. Gerade diese Mixtur ist eine wichtige Konvention der Opéra comique, dank Scribe, der mit Le Philtre hier quasi einen Prototypen schuf. Es war auch nicht das letzte Mal, dass er diese Elemente in einem Opernlibretto miteinander verknüpfte. In Adolphe Adams Erfolg Le Chalet von 1834 begegnet man einer ganz ähnlichen Konstellation. Hier poltert erneut ein angeberischer Soldat in die ländliche Idylle und bringt ein bäuerliches Liebesglück in Gefahr, und auch hier schließt sich der vermeintlich nicht erhörte Bauernjunge aus Verzweiflung dem Militär an. Scribe bediente sich für diese einaktige Opéra comique, die diesmal auf eine Almhütte in die Schweizer Berge führt, bei Goethes Singspiel Jery und Bäteli von 1780. Eine Scribe-Vorlage, bei der auch Donizetti noch einmal zuschlug und Le Chalet selbst für sein Dramma giocoso Betly adaptierte, das 1836 herauskam. Die Rezitative in Le Philtre sind kurz gehalten, das Hauptgewicht liegt ganz auf den musikalischen Nummern. Vor allem Arien und Ensembles sind zu hören und nur wenige Couplets. Die pastorale Stimmung ist von Beginn an ein bestimmendes Element sowie eine eher gemächliche und arios geprägte Gangart. Die Partie des Guillaume schrieb Auber dem Sänger Adolphe Nourrit und damit einem der ganz großen Tenöre der 1820er und 1830er Jahre auf den Leib. Schon Rossini schätzte Nourrit und kreierte für ihn unter anderem die Titelrolle in Le Comte Ory sowie den Arnold in Guillaume Tell. Nourrit war aber auch der Held in anderen Grand opéra-Novitäten, sang in der Uraufführung von Aubers Muette de Portici, war der erste Robert in Meyerbeers Robert le Diable, kreierte den Raoul in Les Huguénots und war der Eléazar der Uraufführung von Halévys La Juive. Nourrit war demgemäß auch der große Stern der Uraufführung von Le Philtre. Das Magazin La Revue des Deux Mondes attestierte dem Sänger, der sich sowohl als Komödiant wie als Sänger hatte behaupten können einen großen Erfolg. Zur Musik meint der zeitgenössische Bericht höflich, aber wenig enthusiasmiert, dass es wenig Neues zu berichten gibt: »Schöne Details, eine graziöse und leichte Musik, bestimmt zum Erfolg [...] Aubers Partitur wimmelt vor hübschen Motiven: Es ist ein Bouquet aus frischen und brillanten Blüten; wobei es der Ouvertüre und der Romanze von Tristan ein wenig an Temperament zu fehlen scheint.« Die Novität wurde auch ins Deutsche, Englische, Dänische und Russische übersetzt – über das 19. Jahrhundert hinaus hat sich Le Philtre allerdings nicht auf den Bühnen behaupten können. Wie anders erging es doch dem Elisir, der heute noch zu den beliebtesten Opern im Repertoire zählt. In seiner Umarbeitung hielt sich Romani eng an die Vorlage. In dem hurtig ausgearbeiteten Libretto übernahm er den Aufbau, ST EFA N MUSIL

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das – freilich nunmehr italienisch benannte – Personal und die Handlungshöhepunkte. Einzig die Figur der Wäscherin Jeannette wird als Giannetta bei Romani deutlich reduziert, und statt Lacryma Christi verkauft der Wunderdoktor diesmal Bordeaux als Zaubertrank. In jedem Fall verstanden es die beiden Italiener, dem Werk eine andere, weiterreichende Dimension zu verleihen. Die Charaktere, allen voran die Hauptfiguren Nemorino und Adina, sind viel ausführlicher formuliert und differenzierter schattiert. Donizetti verzichtet zwar auf eine Ouvertüre, aber wo Guillaume am Beginn seine Térézine anhimmelt, schreibt Auber ein kurzes Arioso, während bei Romani/ Donizetti die Cavatina »Quanto è bella« folgt, die sogleich Nemorinos schmachtende Zuneigung vor Augen führt. Nach dem Auftritt des Jolie-Cœur und seinem Heiratsangebot besingt Térézine in einer Arie ihre kokette Veranlagung. Im Elisir verdichten sich dagegen Nemorinos Sehnen und Norinas Abweisung in einem großen Duett. Mit »Voglio dire... lo stupendo elisir che desta amore« folgt dann bei Donizetti das nächste herrliche Duett, diesmal zwischen Nemorino und Belcore. Auch diese Passage handelt Auber nur in einem Rezitativ ab, schenkt aber darauf mit »Philtre divin! Liqueur enchanteresse« seinem Guillaume seine erste und einzige Arie. Als Guillaume erfährt, dass Térézine ihrem Sergeant das Jawort gegeben hat, gönnt ihm Scribe einen knappen enttäuschten Ausruf. Romani dagegen greift hier in die Vollen: »Adina credimi« – Nemorino fleht in einem ergreifenden Gefühlsausbruch seine Adina an, die Hochzeit doch um einen Tag zu verschieben. Die markantesten Unterschiede zur Pariser Vorlage zeigen sich dann vor dem Finale: Sowohl das Duett zwischen Adina und Dulcamara als auch Nemorinos Klage »Una furtiva lagrima« sind von Romani und Donizetti hinzugefügt worden. Während also Le Philtre charmant entzückte, Publikum und Zeitgeschmack entsprechen wollte, gingen Romani und Donizetti origineller ans Werk. Nicht nur, dass Romani die französische Vorlage geschickt italianisierte und den Charakteren und ihrer Entwicklung weit mehr Raum und somit Plastizität verlieh als es das französische Vorbild tat, auch Donizetti schafft mit diesem »Melodramma in due atti« eine heitere Oper, die sich deutlich von seinen bis dahin komponierten Farcen unterscheidet. Im Elisir ist nichts überdreht oder grotesk, die Figuren sind in ihren wechselnden Gefühlen ernst genommen, behutsam, liebevoll und farbig gezeichnet. Das alles wird von Donizetti mit einer Überfülle an süffigen Melodien verschwenderisch ausgemalt. Gioachino Rossini und seine dahinschnurrenden Buffas standen hier wohl weniger Pate. Viel eher blickt Donizetti liebevoll durch die romantische Brille hinter diesen zurück, auf die italienische Buffooper-Tradition am Ende des 18. Jahrhunderts, wie sie schon von Mozart aber vor allem auch von Paisiello und Cimarosa, ebenso von Donizettis Lehrmeister aus Bergamo, Simon Mayr, geformt wurde. Eine Tradition, die Carlo Goldonis Theaterreform viel zu verdanken hatte, mit der der Dichter das in den Scha 15

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blonen der Commedia dell’arte erstarrte Theater reformierte. Auch hinter den Figuren im Elisir blitzen noch ein wenig die Typen der Commedia hervor: der tölpelhafte, bäuerliche Truffaldino, die gewitzte, aber auch liebliche Colombina, der Dottore, ein hemmungsloser Schwätzer und scheingelehrter Wicht, oder der Capitano, der Feigling, der mit seiner Tapferkeit prahlt. Goldoni ist es letztlich zu verdanken, dass all diesen Figuren neues Leben eingehaucht wurde. Er individualisierte sie, ließ sie nicht nur komisch, sondern auch ernst sein, mischte die sozialen Schichten. Donizetti und Romani führen dies alles in ihrem Elisir d’amore noch einmal unnachahmlich und mit den Mitteln ihrer Zeit auf die Spitze. Der Griff zum Bordeaux als ihrem »Liebestrank« hat sich für die beiden jedenfalls ausgezahlt: vielschichtig, nuancenreich, tiefgründig, aber auch süffig und enorm lagerfähig!

→ Rolando Villazón als Nemorino und KS Anna Netrebko als Adina, 2005

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Arthur Scherle

» DONIZETTIS LIEBESTRANK IST EIN ÜBERSCHMÄUMENDES ELIXIER AN VIS COMICA UND KOMÖDIANTISCHEM REICHTUM. ER WIRD WOHL NOCH LANGE DER BEGEHRTESTE ZAUBERTRANK AUF DEM SEKTOR DES HEITEREN MUSIKTHEATERS BLEIBEN.«

HEIN R ICH HEIN E

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Uwe Schweikert

SCHERZ, SATIRE, IRONIE UND TIEFERE BEDEUTUNG Donizetti und seine Oper L’elisir d’amore

Anders als seine fast gleichaltrigen Zeitgenossen Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini, die in Stendhal und Hegel bzw. Wagner und Schopenhauer intellektuelle Bewunderer und Fürsprecher fanden, gilt Gaetano Donizetti, der Dritte in der Trias der italienischen Opernromantiker, diesseits der Alpen, und dies eigentlich bis heute, als ein Komponist zweiten Grades. Als Donizetti 1842 an den österreichischen Kaiserhof berufen wurde, schrieb Robert Schumann in einer Rezension: »Früher hieß der Wiener Hofcomponist W. A. Mozart, jetzt ist es Gaetano Donizetti geworden und mit einem Gehalte, der seinem innern schwerlich entspricht.« Und er ließ dieser aus Neid geborenen Sottise die weitere, chauvinistisch getönte folgen, der selbst Wagner – auch er ein Donizetti-Verächter – hätte zustimmen können: »Die höchsten Spitzen italiänischer Kunst reichen noch nicht bis an die ersten Anfänge wahrhafter deutscher.« So viel geballte Ablehnung, so viel mesquine Häme muss ihre Gründe haben. Donizetti war – nach dem Rückzug Rossinis vom Theater mit dem 1829 uraufgeführten Guillaume Tell, nach dem frühen Tod Bellinis 1835 und U W E SCH W EIK ERT

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bis zum Siegeszug des jungen Verdi, der 1842 mit Nabucco begann – der unumschränkte Herrscher über die italienische Opernbühne. Und dies nicht nur in seinem Heimatland, sondern gleichermaßen in Paris wie in Wien. Schumann sah darin die musikalische Todsünde des Kosmopolitismus erfüllt und wollte sich deswegen gern einen deutschen Philister schimpfen lassen. Der Weg auf die Höhen des Ruhmes war Donizetti nicht leicht gemacht worden. Nach der gründlichen Ausbildung durch den aus Bayern stammenden Giovanni Simone Mayr dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis er den Gipfel erreicht hatte. Der 18jährige Rossini dagegen reüssierte gleich mit der ersten, 1810 für Venedig geschriebenen Farsa, und selbst der jüngere Bellini überholte den vier Jahre älteren Donizetti mit dem Sensationserfolg seiner dritten, 1827 an der Mailänder Scala uraufgeführten Oper Il pirata. Donizettis Weg war ein steiniger, sein Aufstieg ein langsamer. Noch 1825 lesen wir in einem der Briefe an seinen Lehrer Mayr die Klage: »Ja, ich habe von Anfang an gewusst, dass der Beruf eines armen Opernkomponisten zu den unglücklichsten gehört, und nur die Not lässt mich daran festhalten.« Nicht weniger als 30 Opern schrieb er zwischen 1819 und 1830 – in manchen Jahren wie 1827 sollten es fünf sein –, weil er das Geld bitter nötig hatte. Das trug ihm den Ruf des Schnell-, des Vielschreibers ein. Eine Karikatur im Panthéon charivarique zeigt ihn, wie er mit beiden Händen gleichzeitig an zwei Partituren sitzt. Der scharfzüngige Heinrich Heine mokierte sich deswegen über seine »Fruchtbarkeit, worin er nur dem Kaninchen nachsteht«. Mendelssohn gar wollte das Tempo, mit dem Donizetti schrieb, mit der sprichwörtlichen Faulheit der Italiener erklären. Die Ursachen dafür hatten aber andere Wurzeln: Sie lagen im italienischen Opernsystem, das von Novitäten lebte und den Komponisten – es gab damals noch kein Urheberrecht, wie wir es heute kennen – nur für die »scrittura«, den Kompositionsauftrag also, die Einstudierung und die Leitung der ersten drei Vorstellungen honorierte. Danach war ein Werk vogelfrei, sein Erfolg zahlte sich für den Urheber nicht aus. Diese Voraussetzungen galten für Rossini, für Bellini, der sich nur mehr Zeit zwischen den einzelnen Opern ließ, ja selbst noch für den jungen Verdi. Rossini hat den Barbiere di Siviglia in kaum zwei Wochen geschrieben, und Donizetti benötigte für L’elisir d’amore nicht länger. (Don Pasquale entstand Ende 1842 in zehn Tagen, Maria di Rohan 1843 gar in wenig mehr als einer Woche, wenn wir der Überlieferung Glauben schenken.) Bei all dieser Hektik hatte ein Komponist noch auf die Zensur, die Wünsche der Sänger, die Bedenken des Impresario Rücksicht zu nehmen. Verständlich, dass diese frühindustriellen Zwänge, die die Produktionsbedingungen heutiger TV-Serien antizipieren, ihre Spuren im Werk Donizettis hinterließen. Das grobmaschige Raster der Dramaturgie, der stereotype Formelkram der Melodik, die ausgestanzte Harmonik und die mit breitem Pinsel ausgeführte Instrumentation waren nicht an genialer Originalität, son 21

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dern an handwerklicher Professionalität ausgerichtet. An sie die Maßstäbe der am Paradigma von Beethovens Instrumentalmusik gewonnenen Autonomieästhetik anzulegen – wie in Schumanns Urteil supponiert –, heißt die Voraussetzungen wie die Wirkungsabsicht von Theatermusik zu verkennen. »Lassen Sie den großen Musiker«, soll Verdi auf einem Bankett nach der römischen Premiere des Falstaff 1893 gesagt haben, »ich bin nur ein Mann des Theaters«. Die am 26. Dezember 1830 im Mailänder Teatro Carcano uraufgeführte Anna Bolena stellt die Wasserscheide in Donizettis Karriere dar. Mit diesem am Vorbild von Bellinis Il pirata modellierten Werk beginnt die Reihe jener romantischen Tragödien, mit denen Donizetti – bis 1835 in Konkurrenz mit Bellini, danach mit dem heute so gut wie vergessenen Saverio Mercadante – die ernste Oper, die traditionelle Seria, grundlegend umgestaltete. Was wir heute aufs Konto des jungen Verdi verbuchen – die Auflösung der starren, auf Rossini zurückgehenden Formen zugunsten komplexerer Strukturen, die emotionale Aufheizung der Affekte und Gefühle, schließlich die in größeren Einheiten, ja ganzen Akten disponierende Dramaturgie –, findet sich bereits im Spätwerk Donizettis. In Les Martyrs (1840) etwa, der Pariser Fassung des von der neapolitanischen Zensur 1838 verbotenen Poliuto, in La Favorite (1840) sowie in Dom Sébastien (1843) verschmilzt er italienisches Melodramma und französische Grand opéra zu einem neuen dramatischen Stil. Selbst das formal konventionellere, für Wien komponierte Melodramma Maria di Rohan ist bereits ein in Musik aufgelöstes Seelendrama, wie es Verdi erst in seiner mittleren Periode zu schreiben verstand. Alle diese Werke, zu denen man auch noch seine letzte Oper Caterina Cornaro (1844) rechnen muss, sind Meilensteine in der Entwicklung des romantischen Musiktheaters. Obwohl Donizetti heute weltweit eine Renaissance erlebt, ist er immer noch ein unterschätzter Komponist. Wie bei Rossini liegt die musik-, die operngeschichtliche Bedeutung von Donizettis Œuvre eindeutig im ernsten Genre. In beiden Fällen hat die Nachwelt den Blickwinkel einseitig auf die komischen Opern verengt. Die Buffa aber war im Italien des 19. Jahrhunderts eine absterbende Gattung, der Rossini mit dem Barbiere di Siviglia (1816) und La cenerentola (1817), die beide bezeichnenderweise nicht für Neapel, sondern für Rom geschrieben wurden, nochmals zu einer letzten Blüte verhalf. An diese Vorbilder knüpft der frühe Donizetti mit Werken wie L’ajo nell’imbarazzo (Der Schulmeister in Verlegenheit, 1824) und Le convenienze ed inconvenienze teatrali (1827 bzw. 1831) an. Die den »Bräuchen und Missbräuchen des Theaters« gewidmete Buffa hat es, als eine Art Operettenersatz unter dem Titel Viva la mamma!, in den letzten Jahrzehnten auf deutschen Bühnen zu zweifelhaftem Ruhm gebracht. Die wild überschäumende Theatergroteske ist ein spätgeborener Nachkömmling jener bis auf Benedetto Marcellos Teatro alla moda (1720) zurückreichenden Selbstkarikatur des Genres: »Die wechselseitige Charakterisierung der U W E SCH W EIK ERT

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Situation durch die Figur, der Figur durch die zwingende melodische Geste, der Melodie durch die Situation ist da bereits mit der gleichen reflektierten Phantasie wie in seinen berühmteren Lustspiel-Opern in Szene gesetzt« (Norbert Miller). Donizetti hat sich auch nach 1830, nach dem durchschlagenden Erfolg von Anna Bolena, hin und wieder der Buffa zugewendet. Aber der Schwerpunkt seines Schaffens lag jetzt eindeutig im ernsten Genre. Die Vorliebe des aristokratisch-bürgerlichen Publikums für das romantische Melodramma mit seinen lustvoll zelebrierten, hedonistisch genossenen Katastrophen und der gleichzeitig damit verbundene Niedergang der Buffa haben gewiss gesellschaftliche Ursachen, die man auch in den unterdrückten Revolutionen der Jahre 1820/21 bzw. 1830 suchen darf. Donizettis Opern jedenfalls sind ein Schreckensalbum schauriger Verbrechen und grausamer Todesarten, exemplifiziert an Stoffen aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte. Als Verdi 1847 für Neapel einen Stoff vorschlug, dessen Ende untragisch war, antwortete ihm Vincenzo Flauto, der Sekretär des Teatro San Carlo: »Was das Publikum wünscht, sind Katastrophen, Menschen, die tot sind, sterben und weinen, keine, die glücklich sind.« Donizettis Werk spiegelt diesen Geschmackswandel wider, der auch vor der Buffa nicht haltgemacht hat. Für die volkstümlichen Theater werden zwar weiterhin und bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus Farcen und musikalische Lustspiele nach dem bewährten Muster geschrieben. Die anspruchsvolle Buffa selbst aber amalgamiert – wie in L’elisir d’amore – romantische Züge, oder sie orientiert sich an der bereits im 18. Jahrhundert aus Frankreich eingedrungenen Comédie larmoyante, dem Rührstück, dem noch Semiseria-Opern wie Bellinis La sonnambula (1831) oder Donizettis Linda di Chamounix (1842) in ihrer folkloristischen Bukolik nahestehen. Eine waschechte französische Opéra comique mit gesprochenen Dialogen ist dagegen La Fille du régiment (1840), während der populäre Don Pasquale (1843) mit seinen Commedia-dell’arte-Elementen eine letzte Huldigung an die Typenkomödie der traditionellen Buffa darstellt. Mit Don Pasquale ging eine bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition zu Ende, an die 50 Jahre später erst wieder Verdi mit Falstaff und dann Ermanno Wolf-Ferrari mit seinen musikalischen Lustspielen im Geiste Goldonis anknüpfen sollten. Dem am 12. Mai 1832 im Mailänder Teatro Cannobiana uraufgeführten L’elisir d’amore kommt im Schaffen Donizettis eine ähnliche Bedeutung wie Anna Bolena zu. Bereits in der Gattungsbezeichnung Melodramma giocoso deutet sich die Abkehr von der Typenkomödie der Buffa an. (Den Don Pasquale bezeichnet Donizetti später ausdrücklich als Dramma buffo). Als Librettist fungierte – wie bei Anna Bolena und einigen weiteren seiner Opern in den Jahren unmittelbar vor und nach 1830 – Felice Romani, der in der Eile zu einem bereits vorliegenden französischen Textbuch von Eugène Scribe griff, Le Philtre, das in der Vertonung von Auber im Jahr zuvor an der Pariser 23

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Otto Schenk

» L’ELISIR D’AMORE BASIERT AUF DEM IM VORHINEIN GESTOHLENEN TEXTBUCH VON TRISTAN UND ISOLDE, VERTONT MIT DEMSELBEN GENIE WIE JENEM VON RICHARD WAGNER. «


Opéra erstmals gegeben worden war. Französische Boulevardstücke und Textbücher dienten als bevorzugte Stoffquelle der italienischen Librettistik in den Jahrzehnten nach 1820. Noch Verdi ließ für seinen 1859 uraufgeführten Ballo in maschera ein altes, von Auber, Mercadante und anderen vertontes Libretto Scribes bearbeiten. Der Überlieferung zufolge soll übrigens Romani sein Textbuch für L’elisir d’amore erst so spät geliefert haben, dass Donizetti gerade zwei Wochen Zeit zur Komposition blieben – ein Tempo, das angesichts seiner Arbeitsweise und der Leichtigkeit, mit der ihm die Melodien aus der Feder flossen, durchaus glaubhaft erscheint. Mit Le Philtre war Romani an ein höchst unkonventionelles Libretto des Literaturfabrikanten Scribe geraten. Was nämlich als besondere Leistung Donizettis gilt – die Einfärbung der komischen Handlung durch sentimentale Züge –, findet sich im Ansatz bereits bei Scribe und Auber. Le Philtre ist eine der frühesten französischen komischen Opern, die programmatisch die ernste und die heitere Gattung vermischen, durchkomponiert sind – also auf gesprochene Dialoge gänzlich verzichten – und folglich in der Pariser Opéra uraufgeführt werden konnten. Auch wenn Donizetti zu ausgedehnteren, seriöseren musikalischen Formen greift als Auber in seinen meist liedhaften Nummern, kann kein Zweifel daran bestehen, dass ihn an diesem Stoff die Gattungsmischung gereizt haben muss. Wie Auber die traditionelle französische Opéra comique, wollte auch er die traditionelle italienische Buffa durch Elemente der Seria bereichern. Diese bei Donizetti allerdings viel grundsätzlichere romantische Verinnerlichung macht sich bereits an den wenigen, aber bezeichnenden Akzentverlagerungen des Librettos bemerkbar. Schon bei Scribe ist die Handlung eine Dorfkomödie mit idyllisch-sentimentalen Zügen. Romani, der sich bei seiner Arbeit weitgehend auf die Rolle des Übersetzers beschränkte, hat sich im Aufbau, bei den Rollen wie den Höhepunkten eng an seine Vorlage gehalten. Auch den baskischen Schauplatz hat er beibehalten, nur die Namen der Personen italienisiert. Die Atmosphäre von Handlung und Musik aber – man denke nur an die diversen Liedeinlagen – ist durch und durch italienisch, sodass man sich als Ort des Geschehens eher ein Dorf hinter Donizettis Geburtsort Bergamo als die französisch-spanische Provinzregion vorstellt, die jedenfalls durch kein Lokalkolorit imaginiert wird. »Das leichtgewichtige Geschehen um die wechselseitig verstrickten Liebenden« – so Norbert Miller – »wird von Donizetti in einer nicht endenden Kette musikalischer Kabinettstücke zu einem Bilderbogen der Gesellschaft auf dem Land ausgedeutet«. Von allen Buffa-Opern Donizettis trägt L’elisir d’amore darum – so Miller weiter – »am deutlichsten italienischen Charakter«. Einerseits knüpft der Komponist mit seiner Partitur an den überschäumenden Elan Rossinis und dessen fintenreiches Spiel mit den stereotypen Mustern der Commedia dell’arte an. Andererseits legt er dem Bauernburschen Nemorino, der sich selbst als »idiota«, als »Tölpel« bezeichnet, eine elegische Musik in den 25

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Mund, die ihre Inspiration durch die melancholischen Melodien Bellinis nicht verbergen kann. Wem also soll man in diesem Stück glauben: der Komik oder dem Ernst der Gefühle? Keine Probleme scheint die Komik zu bereiten. Zwei der vier Hauptfiguren, der großsprecherische Sergeant Belcore und der Wunderdoktor Dulcamara, sind dem maskierten Figurenarsenal der italienischen Stegreifkomödie entsprungen. Im bramarbasierenden Belcore lässt sich unschwer der Capitano erkennen. Wie dieser ist auch Belcore von seiner unwiderstehlichen Wirkung auf das schöne Geschlecht so überzeugt, dass er sich unverblümt mit dem antiken Frauenhelden Paris vergleicht. Donizetti porträtiert ihn gleich im langsamen Larghetto-Teil seiner Auftrittsarie mit einer Musik, deren raumgreifende Melodik sich ebenso spreizt und brüstet wie der eitle Soldat. Im Quacksalber Dulcamara wiederum hat Donizetti – wie später im Malatesta des Don Pasquale – dem geschwätzigen Dottore der Commedia dell’arte ein Denkmal gesetzt. Der Wundermann, der alle Krankheiten mit seinem Spezifikum kuriert und damit zum Regisseur wider Willen im Hin und Her des amourösen Stellungskrieges zwischen Adina und Nemorino wird, ist »von nimmermüder musikalischer Beredsamkeit und musikalisch stets von einer Aura vulgär-exotischer Großartigkeit umgeben« (Norbert Miller). Wie in der gesprochenen Stegreifkomödie plappert auch Dulcamara unaufhörlich – seine Auftrittsarie, eigentlich eine Suada nicht enden wollender Überredungskunst, bewegt sich formelhaft und auf engstem melodischen Raum in einer Art Sprechgesang, wie wir ihn aus vergleichbaren Partien der älteren Buffa kennen. Mozarts Doktor Bartolo in Le nozze di Figaro zehrt von derselben Ahnenreihe des musikalischen Jahrmarkttheaters. Was die Figuren Belcores wie Dulcamaras aus der Dutzendware der Zeit – auch der des jungen Donizetti – heraushebt, ist die Äquilibristik, einerseits – und dies fast zynisch – an der traditionellen Buffa-Typik festzuhalten, deren musikalische Register andererseits aber dergestalt zu überdrehen, dass sich in dieser bewussten Zurschaustellung schon wieder ein Element ironischer Distanzierung breitmacht. Zu dieser Äquilibristik gehört auch, dass sich die beiden Handlungsebenen, die Liebesgeschichte und die Jahrmarktkomödie, Melancholie und Possenhaftigkeit also, gegenseitig hochschaukeln, kommentieren und pointieren. Die Zumischung von Elementen des Rührstücks wirkt – ähnlich wie in Bellinis ja gleichfalls in ländlicher Umgebung spielender Sonnambula – auf die Typenkomödie zurück. Es scheint kein Zufall, dass Donizetti, und dies gewiss nicht nur der gebotenen kompositorischen Eile wegen, für die Auftrittsszenen der beiden Buffa-Figuren auf bereits vorhandene Musik zurückgreift. Der Marsch, unter dessen Klängen der gockelhafte Belcore die Szene betritt, wurde zum ersten Mal im heroischen Kontext 1826 in Alahor in Granata verwendet. Und der Chor, der Dulcamaras Erscheinen ankündigt, diente ursprünglich dazu, den U W E SCH W EIK ERT

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Auftritt der englischen Königin Elisabeth I. in der 1829 uraufgeführten Oper Elisabetta, o Il castello di Kenilworth zu untermalen. Beide Nummern stammen also aus Seria-Opern. In L’elisir d’amore gelten sie keinen Standespersonen mehr, sondern Lustspielfiguren und bewirken durch das Missverhältnis von Erwartung und Realität, Schein und Sein einen komischen Kontrast. Romanis und Donizettis Anleihen bei der Typenkomödie der Commedia dell’arte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das buffoneske Verwirrspiel um den angeblichen Liebestrank nur die eine Seite der ländlichen Idylle darstellt. Schon Romani hat bei seiner Adaption Scribes Libretto mit gefühlvollen Zügen angereichert, Donizetti seinerseits sie begierig aufgegriffen und verstärkt. Seine Musik tut ein Übriges und überträgt ganz bewusst Techniken der Seria auf die Buffa – und hat damit beim kenntnisreichen Publikum der Zeit gewiss einen Überraschungseffekt hervorgerufen. Schon die die szenische Spannung gezielt ausreizende Introduktion ist nicht die einer Buffa. Ohne große Unterbrechung durch Rezitative, die im gesamten Verlauf des Stückes vielmehr wie bei einer Seria aufs Knappste zurückgedrängt sind, kombiniert Donizetti den üblichen Eröffnungschor mit den Auftrittsnummern von Nemorino, Adina und Belcore zu einer durchgehenden Szene und rundet das Ganze durch eine Coda ab, die in ihrer geradezu manischen Phrenesie den Geist Rossinis beschwört. Musikalisch sind auf diese Weise so unterschiedliche Formen wie Nemorinos Ständchen, Adinas Erzählung von Tristans Liebesschicksal und die zweiteilige Arie Belcores zu einer Großform zusammengeschlossen, die von allem Anfang an dem Ernst einen ironischen und der Komik einen ernsten Unterton zumischt. Ähnliches gilt für das große Finale des ersten Aktes. Die Musik beleuchtet damit die Figuren und ihre Handlungen von Anbeginn aus einander widersprechender Perspektive. Donizettis musikalische Dramaturgie jedenfalls nimmt das Stück ernster, als Scribe und selbst Romani es gemeint haben. Mit handfester Deutlichkeit erklärt die knappe Bemerkung, die Romani dem Druck des Librettos vorangestellt hat: »Gli è un scherzo; e come tale è presentato ai cortesi Lettori.« (»Dies ist ein Schabernack; und als solcher wird er auch den geneigten Lesern dargeboten.«) Daraus, wie geschehen, eine Distanzierung des Librettisten von der Vertonung herauszulesen, geht gewiss zu weit. Donizetti hat dem Schabernack sein Recht gegeben, ja, ist selbst vorm Klamauk nicht zurückgeschreckt, wo das Libretto ihm eine solche Richtung wies. Den gönnerhaften Blick Romanis auf den tumben Toren allerdings wollte er nicht komponieren. Angesichts des melodramatischen Ernstes, der sich gerade in Nemorinos Musik immer wieder Bahn bricht, von einem radikalen Missverständnis der Dichtung Romanis durch Donizetti zu sprechen, scheint dennoch nicht richtig. Selbst durch die Figur der reichen jungen Pächterin Adina zieht sich ein Riss. Anders als bei Scribe ist schon bei Romani ihre Koketterie nur die Schale, unter der sich der empfindsame Kern verbirgt. Nemorino gegenüber spielt 27

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sie zwar die launenhafte, spröde Schöne und entspricht mit diesen Zügen ihres Wesens der flatterhaften, die Männer zum Narren haltenden Colombina der Commedia dell’arte. Zugleich aber sehen wir sie abseits lesend sitzen, dieweil die Dorfbevölkerung sich von der Erntearbeit ausruht. »Sie liest, studiert und lernt«, stellt Nemorino fest: »Nichts gibt es, was sie nicht weiß, bloß ich bleib stets der Dummkopf, der nur seufzen kann.« Nicht nur der Standes-, auch ein Bildungsunterschied trennt sie von Nemorino, der am liebsten hinter der Maske des kleinen, bedeutungslosen »Niemand« versteckt bliebe. Mit ihrer Lektüre der Liebesgeschichte von Tristan und Isolde gibt Adina der Handlung eine Wende, deren Folgen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen kann. Sie lässt sich von Belcore den Hof machen, willigt gar in eine überstürzte Hochzeit mit dem Aufschneider ein. In Wirklichkeit reizt sie auf diese Weise einzig Nemorino und gießt Öl ins Feuer seiner Leidenschaft, von der sie keineswegs nur genervt ist, sondern sich auch geschmeichelt fühlt. Der naive, ein wenig arg einfältige Bauernbursche lässt sich vom Scharlatan Dulcamara einen Liebestrank aufschwatzen und glaubt – und das Stück und wir sollen es in kurioser Verkehrung des mittelalterlichen Epos mit ihm glauben –, dass sein Genuss ihm die Liebe Adinas beschert. Auch dies ist blanke Ironie. Den entscheidenden Bruch mit der französischen Vorlage stellt die Figur des Nemorino dar. Weder sein emphatischer Einspruch im Finale des ersten Aktes (»Adina, credimi«) noch seine Romanze im zweiten Akt (»Una furtiva lagrima«) finden sich in Scribes Originallibretto. Zusätze Romanis sind übrigens auch das Duett Adina/Nemorino »Chiedi all’aura lusinghiera« im ersten Akt sowie Adinas große Arie »Prendi, per me sei libero« im zweiten Akt unmittelbar vor dem glücklichen Ende – Nummern, in denen Donizettis Musik Adina immer wieder über den koketten Ziergesang hinaus- und in den gefühlvolleren Tonfall Nemorinos hineintreibt. Damit wird aber auch manifest, in welchem Ausmaß schon Romani die emotionale Befindlichkeit des Liebespaares gegenüber der Buffa-Komik aufgewertet hat. Donizetti ging das offensichtlich noch immer nicht weit genug. Erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin hat Romani – so berichtet es dessen Witwe Emilia Branca in ihren Erinnerungen – die Romanze Nemorinos und damit die berühmteste Nummer der Partitur ins Textbuch aufgenommen. Wenn Romani seinem Komponisten wirklich riet: »Glaube es, eine Romanze an dieser Stelle kühlt die Situation ab. Was geht uns dieser einfältige Bauer an, der daherkommt und eine pathetische Heulerei anfängt, wenn alles festlich und heiter sein soll«, so hat er dessen musikdramaturgische Sicht auf das Stück allerdings gründlich missverstanden. Donizettis individualisierender Vertiefung der musikalischen Komik auf der einen entspricht die Romantisierung der Idylle auf der anderen Seite. Bei ihm ist Nemorino alles andere als ein einfältiger Bauer, sondern ein LiebenU W E SCH W EIK ERT

→ Isidore-Stanislas Helman nach Jean DuplessiBertaux, Le charlatan français, 1777

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der, den die Musik gleichzeitig mit emotionalem Pathos wie mit distanzierendem Humor illuminiert. Ein wenig schimmert aber selbst bei der Figur des romantischen Liebhabers noch das Vorbild der Stegreifkomödie durch: Der wie Donizetti aus Bergamo stammende Arlecchino verkörpert dort den Typ des erfolglosen, weinerlichen Liebhabers und hat damit nicht wenig auf Nemorino abgefärbt. Der Komponist charakterisiert ihn gleich bei seinem ersten Auftritt (»Quanto è bella, quanto è cara!«) mit einem schmachtenden Larghetto, dessen rhythmische Akzentverlagerung auf den zweiten Schlag des 2⁄4-Taktes so nachdrücklich hervorgehoben ist, dass man schon hier bei aller Emphase die unterschwellige Ironie mithören kann. Geradezu pathetisch – und wiederum im Larghetto-Tempo – ist Nemorinos Einspruch gegen die plötzlich angesetzte Heirat Adinas mit Belcore im Finale des ersten Aktes (»Adina, credimi«). Mit diesem aus einer einzigen Phrase durch melodische Fortspinnung so meisterhaft wie wirkungssicher gebauten Solo beginnt der langsame Teil der Ensembleszene. Während Belcore und Dulcamara den Narren verhöhnen, übernimmt Adina Melodik und Gestus ihres Verehrers. Dass Sopran und Tenor dieselbe Melodie singen, ist zwar die Regel im Concertato, gibt bei aller verbalen, ja szenischen Distanz aber doch auch einen subtilen Hinweis darauf, wer in diesem Spiel zusammengehört. Als Gipfel der Romantisierung gilt seit jeher Nemorinos Romanze, die Romani für verfehlt hielt. Donizetti war ein kluger, erfahrener Theaterpraktiker und wie Verdi stets auf Kürze bedacht. »Der Erfolg«, lesen wir in einem Brief an den Librettisten Jacopo Ferretti, »beruht darauf, wenig, dies Wenige aber schön zu machen und vor allem nicht zu viel zu singen und so das Publikum zu langweilen«. Beides trifft hier ersichtlich nicht zu. Erst die Romanze rundet das musikalische Porträt Nemorinos ab. Die Arie unterbricht die Handlung genau in jenem Augenblick, in dem die gewollten und ungewollten Missverständnisse zwischen Adina und Nemorino auf ihren Höhepunkt zusteuern. Nemorino weiß nicht, dass Adina sich unmittelbar zuvor im Duett mit Dulcamara zu ihrer Liebe bekannt hat: »... Ich will nur Nemorino.« Aber er spürt es. Und diese Gewissheit – die verstohlene Träne, die er besingt, ist ja nicht seine eigene, sondern die Adinas –, dass nicht nur er sie, sondern auch sie ihn liebt, fasst die Musik in Klang. Die konventionelle Form der abgeleierten Moll-Dur-Romanze erhält so einen präzisen szenischen Sinn: Die erste Ausweichung in die Durparallele Des findet beim Ausruf »M’ama...« (»Sie liebt mich«) statt, die abschließende Modulation nach B-Dur bei der Schlusswendung »Cielo, si può morir« (»Himmel, dann kann ich auch sterben«). Die Musik konnotiert dieses emphatische Sterben mit dem »kleinen Tod«, der körperlichen Vereinigung der Liebenden. Weil wir uns aber in einem Dramma giocoso, einem heiteren Drama befinden und weil Donizetti weiß, dass das Pathos selbst im Moment eines solchen Höhenerlebnisses gleichzeitig des lächelnden Augenzwinkerns bedarf, hat er U W E SCH W EIK ERT

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den ironischen Kommentar in Form eines mitgehenden Obligatinstruments gegeben. Über dem Harfenpedal und den hingetupften Pizzicati der Streicher erklingt nicht etwa, wie zu erwarten – und wie von Felix Mottl 1906 in seiner Bearbeitung denn auch prompt und plump in Donizettis Partitur hineinkorrigiert – das schwermütige Englischhorn, sondern das meckernde Fagott. »Sein Ton« – so Hector Berlioz 1843 in der Instrumentationslehre – »ist nicht sehr stark, und sein Klang hat, ganz ohne Glanz und Adel, eine Neigung zum Grotesken, was man immer berücksichtigen muss, wenn man es solistisch verwendet... Der Charakter der hohen Töne hat etwas Peinliches, Leidendes, ja ich möchte sagen Jämmerliches, das sich bisweilen in langsamen Melodien oder Begleitungsfiguren mit überraschendstem Erfolge verwerten lässt.« Das Fagott als Instrumentalstimme mischt mit dem »gequälten Klang« seiner »seltsam schluchzenden Laute« der melancholischen Gefühlsemphase Nemorinos jedenfalls etwas Jämmerliches bei. Genau diese Ambivalenz aber war Bearbeitern wie Mottl ein Dorn im Auge, sodass sie sie umstandslos begradigt haben. Donizetti beweist – wie Schubert und Schumann in ihren aus demselben Grund oft missverstandenen Heine-Vertonungen –, dass Musik selbst in pathetischen Augenblicken durchaus der distanzierenden Ironie fähig ist. Das Zusammenspiel von Melodie und Instrumentation erlaubt es uns, Nemorino in diesem Moment zugleich von innen und von außen wahrzunehmen. Ironie und Ernst, Possenhaftigkeit und Melancholie sind, übrigens schon in der alten Buffa, keine Gegensätze, sondern nur die verschiedenen Seiten ein und derselben Handlung. Donizetti betrachtet beides – die Jahrmarktszenen wie die Liebesgeschichte, die Farce wie das Rührstück – mit der Brille des Humoristen. Humor aber – so wusste es schon Jean Paul – ist das umgekehrt Erhabene. Als Regisseur wider Willen hält Dulcamara die Fäden in der Hand und führt die Figuren mit sicherem Gespür durch das Spiel. Darum kommt ihm auch das letzte Wort zu – ein Lob des Liebestranks, der in dieser Geschichte wahre Wunder bewirkte. Donizetti greift dafür auf die Barkarole zurück, die Dulcamara und Adina als Einlage auf dem Hochzeitsfest zu Beginn des zweiten Aktes vortragen. So wie dort im Spiel, in dem die Gondoliera Nina die Avancen des reichen Senators Tredenti ausschlägt und den jungen Toren Zanetto erhört, kommt es auch in der Wirklichkeit. Belcore aber wünscht dem verfluchten Scharlatan, er möge samt seinem Wagen im Graben landen. Selbst dem glücklichen Ende steckt Donizetti mit der Lebensfülle seiner Musik noch ein ironisches Licht auf! Glauben wir also beidem, dem Ernst der Gefühle und der Komik.

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Daniel Brandenburg

L’ELISIR D’AMORE

oder von der tiefgründigen Heiterkeit

Gaetano Donizettis Oper L’elisir d’amore ist einer verbreiteten Meinung zufolge seine beste Opera buffa. Er selbst bezeichnet sie hingegen als »Opera comica« und stellt sie damit eher zur französischen Opéra comique in Beziehung als zu der italienischen Tradition der heiteren Oper, wie sie z.B. auch von Gioachino Rossini gepflegt wurde. Beide Zuordnungen erweisen sich jedoch bei näherer Betrachtung als durchaus berechtigt und zeigen, welch enger Austausch zwischen der italienischen und der französischen Operntradition Anfang des 19. Jahrhunderts bestand. Paris war zu jener Zeit bereits eine aufstrebende europäische Metropole mit einem florierenden Opern- und Theaterleben, das auch italienische Komponisten in seinen Bann zog. 1831 feierte der französische Komponist Daniel-François-Esprit Auber mit der DA N IEL BR A N DEN BU RG

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zweiaktigen Oper Le Philtre, die auf einem Libretto von Eugène Scribe fußt, einen durchschlagenden Erfolg, der auch in Italien wahrgenommen wurde. Dieser regte den Librettisten Felice Romani und die Verantwortlichen des Teatro della Canobbiana in Mailand dazu an, die Erfolgsgeschichte des Stoffs in einer passenden, für das italienische Publikum erstellten Bearbeitung fortzuschreiben. Italien war das Mutterland der Opera buffa, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dank Komponisten wie Giovanni Paisiello und Domenico Cimarosa in ganz Europa Begeisterung auslöste. Gioachino Rossini knüpfte mit seinen komischen Werken direkt daran an und wurde auf diese Weise der letzte große Vertreter dieser Operngattung. Die heitere, spritzige musikalische Schwerelosigkeit, die seine Kompositionen kennzeichnet, half seinem Publikum, die politisch unruhigen Zeiten der Napoleonischen Kriege zu vergessen und hat bis heute nichts von ihrer prickelnden Faszination verloren. Donizetti hingegen ging ein wenig anders vor. Auch er beschäftigte sich im Laufe seiner Karriere und vor seinem Don Pasquale von 1843 mehrfach mit komischen Stoffen und schrieb u.a. komische Einakter wie Viva la mamma! (eigentlich Le convenienze ed inconvenienze teatrali). Allerdings setzte er nicht den Weg Rossinis fort, sondern wandte sich auch seinerseits in musikalisch-formaler Hinsicht noch einmal den großen Vorbildern des späten 18. Jahrhunderts zu und entwickelte diese auf andere Art weiter. So komponierte er im Falle von L’elisir d’amore eine Oper, die zwar den Errungenschaften der Opera buffa des 18. Jahrhunderts verpflichtet ist, zugleich aber auch neue, den gewandelten Zeiten entsprechende Wege beschritt und damit zu einem komischen Ausdruck fand, der sowohl von Heiterkeit als auch von seelischem Tiefgang gekennzeichnet ist. Romani übernahm aus Scribes Le Philtre den Aufbau, die Verteilung der Rollen und die Höhepunkte, passte aber das baskische Dorf, in dem die Handlung spielt, an das Italien des großen Komödiendichters Carlo Goldoni an. Donizettis Librettisten gelang es so gut, ein der Vorlage entsprechendes spezifisch italienisches Pendant zu schaffen, dass die französischen Vorbilder der Figuren kaum noch durchscheinen. Der Stoff wurde in ausgefeilte italienische Verse gefasst, die sich an der Sprache Goldonis orientieren und in ihrem Rhythmus die Grundlage für italienisches Melos und Momente buffatypischer Artikulation bilden. Ihnen verdankt die Partitur ihre italienischen Charakterzüge, die eingängige, anmutige Melodik sowie den auch in lärmenden Jahrmarktszenen zu findenden zierlichen Gestus, der z.B. in Paisiellos L’osteria di Marechiaro und Cimarosas Mercato di Malmantile und Fischiettis Mercato di Malmantile seine Vorbilder hat. Die Opera buffa des 18. Jahrhunderts lebt einerseits von unbeschwertem Witz, Lebensfreude und Lust an der Intrige, kennt aber andererseits auch anrührend-empfindsame Töne, die dem Trubel Einhalt gebieten. Und genau das sprach offensichtlich auch Romani und Donizetti an. Sie entwarfen einen 33

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Bilderbogen einer ländlichen Gesellschaft mit treffend charakterisierten Protagonisten und schufen auf diese Weise eine heiter-sentimentale Verklärung der Opera buffa, die dem romantischen Selbstverständnis der 1830er Jahre auf besondere Weise entgegenkam. Während Rossini in seinem Barbier davon ausging, dass sich die Konflikte der Liebe und Angelegenheiten des Herzens von selbst erklären und sich deshalb auf eine quirlig-naive Art der Beschreibung von Situationen aus einer äußeren Perspektive beschränkte, versuchte Donizetti hingegen die Gefühle selbst zu evozieren, den Zuschauer gewissermaßen von innen heraus an ihnen teilhaben zu lassen und ihnen damit eine größere Wahrhaftigkeit zu verleihen. Folgerichtig werden die Verwicklungen der Handlung in L’elisir d’amore auch nicht durch irgendwelche Tricks oder Intrigen gelöst, sondern dadurch, dass Adina schließlich die Beständigkeit und Treue Nemorinos anerkennt und damit das Happy End herbeiführt. Jede der Figuren wird auf ganz eigene Weise charakterisiert. Nemorino ist ein schlichter, naiver junger Mann vom Lande, der Adina aus tiefstem Herzen liebt. Seine Sprache ist – auch musikalisch – entsprechend schlicht, verrät aber tiefe Gefühle. In diesem Sinne beispielhaft ist sein Solo »Adina, credimi« im Finale des ersten Akts: Es verrät genuine Hingabe, ist voll lyrischem Pathos und zugleich musikalisch doch eher einfach gehalten. Donizetti ordnet hier kurzgliedrige, schlichte melodische Phrasen über einer modulierenden Begleitung in einem emotionalen Crescendo an, das von großer Intensität ist. Und auch die vielleicht berühmteste Arie dieser Oper, »Una furtiva lagrima« (2. Akt) entspricht diesem Charakterbild: Ein ständchenhafter Gesang in zwei Strophen spiegelt wider, wie Nemorino langsam Adinas Liebe gewiss wird und in dieser wachsenden Überzeugung (»Cielo«) einen emotionalen Höhepunkt voller Leidenschaft erreicht, ehe alles (»si può morir d’amor«) wieder so verhalten verklingt, wie es angefangen hat. Gerade die musikalische Ausgestaltung des Nemorino trug wesentlich dazu bei, dass L’elisir d’amore sich über das 19. Jahrhundert hinaus im Repertoire hielt, und »Una furtiva lagrima« zum Repertoirestück vieler großer Tenöre wurde. Adina ist weniger tiefgründig, doch selbst ihr von leichtfüßigem Flirten geprägter Ton überdeckt nie ganz ihre empfindsame Seite. Sie durchlebt im Laufe der Handlung eine Veränderung, lässt ihre Gefühle immer deutlicher hervortreten. Während Nemorino sehnsuchtsvoll schmachtet, begegnet sie ihm in »Chiedi all’aura« (1. Akt) zunächst mit kokett ausgeziertem Gesang, doch spätestens mit »Prendi per me sei libero« (2. Akt) macht sie dann deutlich, dass sie sich nicht mehr verstellt. Ganz anders Dulcamara und Belcore, deren sprechende Namen (»Süßundbitter« bzw. »Schönesherz«) dem Publikum schon andeuten, dass sie dem eindeutig komischen Personal zuzuordnen sind. Dulcamara präsentiert sich in seinem Auftritt mit großspurigem Declamato und buffoneskem Geplapper, die die Grundlage für eine musikalisch abwechslungsreiche Arie bilden. Mit den traditionellen Stilmitteln des buffonesken Gesangs wird er DA N IEL BR A N DEN BU RG

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als geschwätziger Quacksalber vorgestellt, der sämtliche Register der verkaufsfördernden Überredungskunst beherrscht. Die Arie ist ein Musterbeispiel für die musikalische Idiomatik der Opera buffa und erfordert einen Sängerschauspieler, der dieses komische Solostück seinem Charakter entsprechend als komische Soloszene gestaltet. Als Figur steht Dulcamara in der Tradition des Bologneser Dottore der Commedia dell’arte, ein Umstand, der dem damaligen Publikum sofort bewusst gewesen sein wird. Belcore ist Soldat, knüpft aber weniger eindeutig an die aufschneiderischen Landsknechte der Opera buffa an. Er ist schon städtischer, weniger grob und deshalb mehr von eitler Männlichkeit denn von militärischem Selbstbewusstsein geprägt. Sein Solo »Come Paride vezzoso« (»Wie der hübsche Paris«) hat in seiner Anspielung auf den trojanischen Prinzen Paris etwas Geckenhaftes, das ihn sogleich der Lächerlichkeit preisgibt. Auch musikalisch wird sein Pathos als aufgesetzt entlarvt, da sein Gesang von vielen kleinen Verzierungen gekennzeichnet ist, die so überhaupt nicht zu einem Haudegen passen wollen. Aber nicht nur die Ausgestaltung der einzelnen Gesangsnummern selbst, sondern auch deren musikdramaturgische Positionierung nutzt Donizetti, um den Situationen Leben einzuhauchen. So weicht er auch in der sogenannten Introduzione, der Eröffnungsszene des Werks, von dem Muster seiner komischen Einakter neapolitanischer Prägung zugunsten eines Modells ab, das sich formal an der Anna Bolena orientiert: Den Rahmen bildet ein Chor von Landleuten, in dessen Mitte zunächst Nemorinos schmachtendes »Quanto è bella« erklingt. Es folgt Adinas »Della crudele Isotta«, in zwei nicht ganz identischen Strophen, in denen der erste Abschnitt musikalisch ein Walzer, der zweite eine Mazurka ist. Gerade die unbeschwerten Tanzrhythmen, in denen Adina die Geschichte von der »Grausamen Isolde« (»Crudele Isotta«) vorträgt, charakterisieren sie als heiter unbekümmertes Wesen, und in der Gegenüberstellung wird der Eindruck, den die beiden Sologesänge hinterlassen, kontrastreich verstärkt. Ein Marsch bringt sodann Nemorinos Nebenbuhler ins Spiel, den Soldaten Belcore. Er tritt mit einer Abteilung Soldaten auf und produziert sich in seinem bereits angesprochenen Solo (»Come Paride vezzoso«), das von der musikalischen Form her erster Teil einer Art Doppelarie ist, deren zweiter Teil Adinas Antwort bildet. Auch hier erfolgt also wieder eine direkte Gegenüberstellung, die aber durch die formale Anlage enger ausfällt und damit bereits andeutet, wem die Protagonistin zunächst zugeneigt ist. Donizetti gelingt es auf diese Weise bereits in der ersten Szene durch geschickte Disposition der einzelnen Auftritte und Sologesänge in einem lebendigen Bild die Personen und den sich anbahnenden Konflikt treffend zu skizzieren. Genau diese Lebendigkeit, die das gesamte Werk durchzieht, macht aus L’elisir d’amore eines der gelungensten Beispiele des heiteren Opernrepertoires.

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» Über Donizettis Zustand werden die Berichte täglich trauriger. Während seine Melodien Freude gaukelnd die Welt erheitern, während man ihn überall singt und trillert, sitzt er selbst, ein entsetzliches Bild des Blödsinns, in einem Krankenhaus bei Paris. Nur für seine Toilette hatte er vor einiger Zeit noch ein kindliches Bewusstsein bewahrt, und man musste


ihn täglich sorgfältig anziehen, in vollständiger Gala, der Frack geschmückt mit allen seinen Orden; so saß er bewegungslos, den Hut in der Hand, vom frühesten Morgen bis zum späten Abend. Aber das hat auch aufgehört; er erkennt niemand mehr; das ist Menschenschicksal.«

Heinrich Heine


Alberto Zedda

DIE ERWEITERTE CABALETTA

Anmerkungen zur musikkritischen Ausgabe des Liebestrank


Das Autograf des Liebestrank wirft interessante Fragen auf. Als einziges unter den mir bekannten Originalmanuskripten von Opern werden seine Teile an verschiedenen Orten aufbewahrt: der erste Akt in einer Bibliothek in Neapel, der zweite im Donizetti-Museum in Bergamo. Im Manuskript des zweiten Aktes sind verschiedene Blätter des abschließenden Teils im Duett Adina-Nemorino, das an die »Furtiva lagrima« anschließt, entfernt worden. Unter Voraussetzung der strengen Vorschriften, die den Bestand und die Konservierung der Autografen für die Ausübung einer Elementarform von Copyright sicherten, und bei der Ehrerbietung, die schon in damaliger Zeit die Originalhandschriften der großen Komponisten umgab, kann nur Donizetti selbst in der Lage gewesen sein, die Partitur aus Mailand (wo die Oper am 12. Mai 1832 im Teatro della Canobbiana uraufgeführt wurde) mitzunehmen und ihr eine derartige Verstümmelung zuzufügen. Auch wenn die fehlenden Seiten im Großen und Ganzen dem zur Tradition gewordenen Strich entsprechen, ist es undenkbar, dass ein anderer Dirigent als der Komponist selbst so weit gegangen wäre, sie zu beseitigen. Auszuschließen ist auch die Annahme eines Diebstahls, denn ein manischer Sammler hätte nicht jene Seiten herausgesucht, sondern andere, viel berühmtere und naheliegendere. Man muss also nach den Motiven forschen, die Donizetti dazu gebracht haben, in drastischer Weise einen so beträchtlichen Strich endgültig anzubringen. Bei einer Aufführung des Liebestrank ergibt sich als das eigentliche Hauptproblem die Frage, welche Gestalt der letzte Teil des zweiten Aktes bekommen soll. Denn das erwähnte Duett Adina-Nemorino weist Inkonsequenzen und Schwierigkeiten bei der Ausführung auf, und es ist von jeher durch Striche entstellt worden. Unmittelbar nach dem entzückenden Chor der Frauen, die erörtern, dass Nemorino unerwartet reich geworden ist, wird gewöhnlich das einzige Ensemble des zweiten Aktes gestrichen, in dessen Verlauf Adina die Absicht erwägt, ihr trotziges Spiel aufzugeben und ihre Liebe zu gestehen. Dieses Ensemble enthält nun eine der bemerkenswertesten Wiedereingliederungen durch die kritische Ausgabe: In dem abschließenden Allegro folgt auf den Chor der Frauen ein Männerchor, der in den Quellen nicht vorhanden ist. Den Chorpart hat Donizetti in einer kleinen Partitur aufgezeichnet, in der keine Angaben stehen, die seine Bestimmung erleichtern könnten. Trotz dieses Mangels und einiger unerklärlicher struktureller Abweichungen gegenüber der Originalpartitur scheint es mir außer jedem Zweifel, dass der Fund dem Männerchor zuzuteilen ist, dessen Anwesenheit durchaus auf der Linie der szenischen Vorgänge liegt. Die Mädchen fordern Nemorino zum Tanz auf, und bei dem nun folgenden Fest ist es natürlich, dass die jungen Männer aus dem Dorfe sich dazu einfinden. Wenn das Fest zu Ende und die Euphorie des Bordeaux-Liebestrankes verflogen ist, kehrt Nemorino zu der klärenden Begegnung mit Adina auf die Szene zurück und singt in banger Erwartung mit der »Furtiva lagrima« eines der bewegendsten Liebesgeständnisse. Für diese berühmte Arie hat Donizetti eine Transposi 39

A LBERTO ZEDDA


tion nach g-Moll zur Wahl gestellt, die sich als Originalhandschrift in der Nationalbibliothek in Paris befindet. Diesem Manuskript kommt erstrangige Bedeutung zu, weil es neben der ursprünglichen Fassung auf einem eigenen Liniensystem Kadenzen und Abwandlungen anbietet, auch sie in der Originalhandschrift des Komponisten, die unwiderlegbar beweisen, dass Donizetti auch in reifsten Jahren (die Überarbeitung ist, wie weiter unten ausgeführt, auf Herbst 1843 anzusetzen) auf Kunstmittel des reinsten Belcanto-Stils zurückgriff. Damit bekräftigte er unausgesprochen die Aufforderung, Arien und Cabaletten beim »da capo« zu variieren, nicht anders, als Rossini und andere unbestrittene Meister des Belcanto es verlangt hatten. Adina kommt hinzu und gibt Nemorino den Anwerbeschein zurück, den sie Belcore abgekauft hat, damit der Geliebte nicht fort muss. Ihr Gesang »Prendi, per me sei libero« ist zärtlich und liebevoll, auch wenn das Gefühl in formelhafter Manier gezügelt erscheint. Am Ende der Arie überrascht eine auffallende dramaturgische Ungereimtheit. Aufgefordert, ihre Absichten zu erklären, versichert Adina, dass sie weggehen wolle und nichts Weiteres hinzuzufügen habe. Es erscheint jedoch unglaubwürdig, dass nach den ausgiebigen Liebesbeteuerungen in der vorherigen Szene das Mädchen noch einmal das Risiko eingehen sollte, den Geliebten zu verlieren. Tatsächlich bekräftigt Nemorino nun seine Absicht, den Militärdienst aufzunehmen. Wenn dann Adina nach den allzu vielen Verzögerungen endlich ihre Empfindungen offenbart, findet sie nicht den angemessenen Ausdruck, und die Cabaletta, die ihre Freude schildern sollte, erstarrt in trockenen und schwierigen Koloraturübungen von geringem Interesse. Der Augenblick ist jedoch entscheidend und kann nicht ohne besondere Hervorhebung übergangen werden. Für die Ausführenden bieten sich zwei Wege an: die fragwürdige Cabaletta hinzunehmen oder auf den üblichen Strich zurückzugreifen, der mit der plötzlichen Verabschiedung von Belcore und Dulcamara die Reaktion der Hauptpersonen auf die Liebesenthüllungen unnatürlich unterbindet. Ich habe mich immer gefragt, was Donizetti als Dirigent (den Rossini so sehr gelobt hat) gegenüber Problemen wie diesem versucht haben mag. – Heute wissen wir, dass auch er sich mit diesen Fragen beschäftigte und sie beantwortete. Es ist bekannt, dass in der Nationalbibliothek in Paris ein Fragment von seiner Hand existiert, vier eng beschriebene Partiturseiten in länglichem Großformat. Es ist dies eine Arie, die mit den Worten der Adina »Prendi, per me sei libero« beginnt und mit einer Cabaletta weitergeht, von der nur der Anfang und der Schluss erhalten sind. Als ich die Seiten sah, dachte ich, es handele sich um eine zur Wahl gestellte Umarbeitung, um der üblichen Praxis entsprechend besonderen Wünschen nachzukommen, und ich vermerkte am Rande »Neue Arie zum Liebestrank, nicht gesungen (ein Blatt in der Mitte fehlt)«. Als ich zum Kernpunkt der kritischen Ausgabe gelangt war, die alles authentische Material zu der in Frage stehenden Oper wiedergeben soll, zwang mich das Problem, wie dieses Fragment zu deklarieren sei, über neue Lösungen nachA LBERTO ZEDDA

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zudenken. Ich versuchte, die unterbrochene Komposition in Gedanken fortzusetzen, wobei ich mich an das in der Cabaletta vorgegebene Verfahren hielt, und ich verglich die ausgedachte Komposition mit den in der Nationalbibliothek aufbewahrten Fragmenten und Entwürfen. Dann entdeckte ich unter einigen als »unbekannte Fragmente italienischer Opern« katalogisierten Blättern die originale Fortsetzung. Bei näherer Untersuchung der beiden Fragmente schwand jeder Zweifel: das Papier, die Tinte, die Schrift, alles stimmte überein. Die Cabaletta erwies sich als vollständig, und die Rekonstruktion führte noch zu anderen unerwarteten Überraschungen: es handelt sich nicht nur um eine Arie und Cabaletta, sondern um eine vollständige Szene, die vom Cantabile der Adina »Prendi, per me sei libero« bis zum Einsatz des Belcore reicht. Die Arie der Adina bietet sich in einer ganz anderen musikalischen Gestalt dar. Zwar ist der Wortlaut des Textes unverändert beibehalten, doch die Melodie drückt sich im Tonfall echter Anteilnahme aus, und die Gliederung nimmt einen weiten Atem an, wobei gegen Schluss anspruchsvolle und ausdrucksstarke Verzierungen auftreten. Nach der Arie ist das unlogische Wortgefecht zwischen den beiden jungen Menschen verschwunden. Dann fährt Nemorino gleich fort mit der schönen Phrase »Poiche non sono amato voglio morir soldato«, die wie in der ersten Fassung weitergeht bis zu den Worten der Adina »Ah! fù con te verace, se presti fede al cor«. Statt mit dem verworrenen Zwiegespräch fortzusetzen, das in der ersten Fassung zur Cabaletta führt, besingt Nemorino in wenigen leidenschaftlichen Takten sein Glück, während Adina sich auf eine entzückende und frische Cabaletta vorbereitet, die übersät ist mit Köstlichkeiten im Belcanto-Stil und der Hauptdarstellerin die Gelegenheit bietet, dem Erfolg der »Furtiva lagrima« die Waage zu halten. Der zentrale Abschnitt, der zur Wiederholung der Cabaletta führt, gibt dann auch Nemorino die Möglichkeit, seiner Freude schwungvollen Ausdruck zu geben. Aus dem Pariser Manuskript geht klar hervor, dass Donizetti die Komposition dieser Szene als Neufassung und nicht als Alternative zur ersten Fassung verstanden wissen wollte. Nach der Arie der Adina, wenn an die Takte des Originals wieder angeknüpft wird, vermerkt er tatsächlich, dass die Instrumentation dieses Stückes in der »alten Partitur« zu finden sei. Donizetti hatte also das Autograf des zweiten Aktes bei sich, und auf dieses verweist er den Kopisten für die beibehaltenen Takte, wobei er es als »alte Partitur« definiert, in offensichtlichem Gegensatz zur »neuen«. Es stellt sich also heraus, warum das Autograf des zweiten Aktes nicht mehr beim ersten ist. Als er Neapel verließ, nahm er es mit in der Absicht, jenes Teilstück neu zu machen, das sich in der Praxis als unbefriedigend erwiesen hatte. Es erklärt sich aber auch die jähe Beschädigung der Originalpartitur. Zufrieden mit dem Gelingen der neuen Szene, wollte Donizetti ihr einen endgültigen Charakter geben und entzog darum die einfache Cabaletta der Weiterverwendung. Dass die Arie der Adina »Prendi, per me sei libero« in 41

DIE ERW EIT ERT E CA BA LET TA



ihrer ersten Fassung stehen blieb, deutet darauf hin, dass Donizetti nicht in gleicher Weise überzeugt war, die neue würde die ursprüngliche für immer verdrängen. Die wiederaufgefundene Umarbeitung gehört zur letzten Schaffensperiode Donizettis; denn im Manuskript kommen französische Ausdrücke vor, die der Meister nur nach seinen Erfahrungen in Paris angewendet hat. Ein glücklicher Umstand erlaubt mir, das Datum genauer zu präzisieren. Ebenfalls in der Nationalbibliothek in Paris wird eine handschriftliche Kopie der Partitur des Liebestrank aufbewahrt, in der Eingriffe von Donizettis eigener Hand zu erkennen sind. Am Rand der Seite vor der »Furtiva lagrima« meldet ein solcher Vermerk »Geschrieben in... im Herbst 1843«.

← KS Bryn Terfel als Dulcamara, 2016

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DIE ERW EIT ERT E CA BA LET TA


Eduard Hanslick

DIE GERETTETEN INSELN

→ Fanny Persiani (Adina) und Antonio Tamburini (Belcore) in einer Produktion am Théâtre des Italiens in Paris, 1839

Ich beabsichtige nicht, den Lebenslauf Donizettis hier Schritt für Schritt, Oper für Oper zu beschreiben. Im Laufe von sechsundzwanzig Jahren hatte Donizetti vierundsechzig Opern geschrieben. Ja, wäre mit dieser aufreibenden Geistestätigkeit nur alles getan gewesen! In Italien muss aber der Komponist persönlich stets an Ort und Stelle kommen, die Stimmen seiner Sänger studieren und die Oper dirigieren. Als der alte Simon Mayr in Neapel (wo er die Eröffnungskantate für San Carlo aufführte) die Äußerung tat, er wolle nicht mehr reisen, so hieß es: er werde keine Oper mehr komponieren. Einige Jahre früher bot die Administration der Scala dem berühmten Paisiello 10.000 Francs für eine neue Oper; er antwortete: mit 80 Jahren könne man nicht mehr herumreisen, er wolle jedoch seine Musik einsenden. Man lehnte EDUA R D H A NSLICK

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dankend ab. Auch Donizetti musste, um eine neue Oper heute in Rom, dann eine andere in Florenz, eine dritte in Neapel oder Mailand einzustudieren und zu dirigieren, die italienische Halbinsel von einem Ende zum andern durchfahren – im Postwagen, denn Eisenbahnen gab es dort noch keine. Und kein Ausruhen zwischen all diesen Reisen, Arbeiten, Gesellschaften und Vergnügungen. Donizetti wollte von allem haben und überall dabei sein. So rastlose Tätigkeit und Genussfreude mussten allmählich seine Gesundheit untergraben. Der Liebestrank, Don Pasquale und die Regimentstochter gelten mir als das Reizendste und in sich Vollkommenste, was Donizetti geschaffen hat. Seine besseren lyrischen Tragödien glänzen jede durch schöne Einzelheiten; einheitliche Werke jedoch, in denen das Schwache gegen das Gute verschwindet, sind wohl nur die drei komischen Opern. Zweifellos neigte Donizettis Temperament und Talent (wie Rossinis) stärker zum Heiteren, Komischen als zur Tragik. Wie erklärt sich trotzdem die so überaus geringe Zahl komischer Opern von Donizetti? Zunächst gewiss aus äußeren Umständen. Die Opera buffa nahm in Italien von jeher den zweiten Rang ein; sie verfügte nicht über die allerersten Gesangskräfte und war schlechter bezahlt als die ernste Oper. Für den echteren Kunstwert jener heiteren Werke Donizettis spricht auch ihre ungleich stärkere Lebensdauer; die drei komischen Opern ragen heute noch wie gerettete Inseln aus einem Meer durchgefallener Tragödien Donizettis hervor. L’elisir d’amore, zuerst 1832 aufgeführt, ist heute, 1897, 65 Jahre alt, für eine leichte, heitere Oper eine ziemliche Unsterblichkeit. In diesem Liebestrank tritt alles, was an der italienischen Musik eigentümlich und liebenswert ist, uns unbeirrt entgegen. Wie süß gesangvoll und in der Hauptsache auch immer dramatisch sind diese Melodien, diese Szenen! Ein natürliches Ebenmaß, wie es nur der italienischen Musik eigen, verbindet sich hier mit reizender Frische und einer fast genial zu nennenden Leichtigkeit. Ungemein hübsch kontrastiert das idyllische Element im Liebestrank mit dem soldatischen, und diese beiden wieder gegen ihre gemeinsame köstliche Folie, den alten Scharlatan! Ohne Frage den Höhepunkt von Donizettis Schaffen bezeichnet L’elisir gemeinschaftlich mit Don Pasquale – und zugleich den Höhepunkt der Nach-Rossini’schen Opera buffa.

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DIE GER ET T ET E INSEL




Andreas Láng

EINE GENIALE EINSPRINGEROPER

Als Donizetti 1832 seinen Liebestrank schrieb (und zur Uraufführung brachte), galt sein Name schon viel in der Musikwelt, obwohl er noch lange nicht ganz oben angekommen war. Der damals 35jährige hatte schon bleibende Meisterwerke zu Papier gebracht – etwa die heute noch beliebte Anna Bolena –, die bedeutendsten Sängerinnen und Sänger interpretierten seine Musik, Donizetti konnte auf rauschende Publikumserfolge zurückblicken, durfte mit den besten Librettisten seiner Zeit zusammenarbeiten, stand auf den Gehaltslisten der berühmtesten Impresarii, war also, wie man so schön sagt, gut im Geschäft und daher finanziell bestens abgesichert. Privat lief es für den unermüdlich Arbeitenden ebenfalls ganz passabel. Und auch wenn 1829, im zweiten Ehejahr, sein erstes Kind als Fehl- und Frühgeburt zur Welt kam und nach wenigen Tagen qualvoll starb – die großen Schicksalsschläge, die ihn später in kürzesten Abständen treffen sollten, waren noch nicht über ihn hereingebrochen: Seine geliebte Ehefrau Virginia weilte noch an seiner Seite, mit den Eltern, genauer mit dem Vater, stand er in regelmäßigem Briefkontakt, und die grauenhaften Folgen der Syphilis, mit der er sich irgendwann angesteckt hatte, sollten erst Jahre später erkennbar zutage treten. Kurzum: 1832 gehörte für Donizetti im Großen und Ganzen zu den angenehmen und glücklichen Jahren seines Lebens. Die schier unversiegbare Inspiration, die ihm stets neue Melodien und Motive zutrug, ließ seine Werkliste auch in diesem Jahr um einige Titel anwachsen: Neben L’elisir d’amore schrieb er noch zwei weitere Opern, außerdem einen Hymnus anlässlich der A N DR EAS LÁ NG

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Hochzeit von Ferdinand II. von Neapel, eine Kantate sowie eine Sinfonia. Dass er im Zusammenhang mit der Uraufführung der Oper Ugo, Conte di Parigi an der Mailänder Scala (13. März 1832) Sträuße mit der Zensur auszufechten hatte, ärgerte Donizetti zwar ebenso wie ein anonymer Schmähbrief, der mit »guten Ratschlägen« gespickt war, doch solche Vorkommnisse gehörten zum Dasein eines Komponisten des 19. Jahrhunderts einfach dazu. Den fraglos größten und bleibendsten Erfolg des Jahres feierte Donizetti aber mit L’elisir d’amore – auch wenn aufgrund der Umstände der Entstehung alles andere als ein Triumph zu erwarten gewesen war: Die Direktion des Mailänder Teatro della Canobbiana hatte sich Mitte April 1832 händeringend mit der Bitte um eine Oper an den bekanntlich schnell arbeitenden Donizetti gewandt, weil ein anderer Komponist kurzfristig vertragsbrüchig geworden war und ein zu erwartendes neues Bühnenwerk nicht abliefern konnte. Und da nur wenige Wochen zur Verfügung standen, bot man Donizetti sogar einen Kompromiss an: Um Zeit zu sparen, möge er lediglich eine seiner älteren Partituren überarbeiten, sodass sie vom Publikum nicht sofort wiedererkannt werden konnte. Angeblich soll Donizetti den Vorschlag mit den entrüsteten Worten »Wer will sich über mich lustig machen, ich pflege nicht eigene Opern zusammenzustückeln« abgelehnt haben. Tatsächlich schuf er gemeinsam mit Felice Romani, einem bedeutenden, aber im Allgemeinen eher langsam dichtenden Librettisten, innerhalb kürzester Zeit – in der Literatur findet sich stets der Hinweis »innerhalb von zwei Wochen« – eine neue zweiaktige Opera giocosa, eben L’elisir d’amore. Und im Gegensatz zu vielen anderen heute populären Opern der Musikgeschichte zeigte das Werk keinerlei Anlaufschwierigkeiten bei den Zuschauern: Der Liebestrank war von der Uraufführung am 12. Mai 1832 an ein Publikumsrenner, sehr bald von zahllosen Opernhäusern in und außerhalb Italiens nachgespielt und noch zu Lebzeiten Donizettis in vielen verschiedenen Sprachen (u.a. Deutsch, Spanisch, Russisch, Englisch, Französisch, Ungarisch, Finnisch, Polnisch) aufgeführt. Außerdem gehört das Werk nicht zu jener Gruppe von Stücken, die im 20. Jahrhundert erst ausgegraben und wiederentdeckt werden mussten, sondern kann auf eine bis heute durchgehende Aufführungsgeschichte verweisen. Lediglich an der Wiener Staatsoper dauerte es interessanterweise seine Zeit, bis sich der Liebestrank dauerhaft im Spielplan etablieren konnte: Zwischen 1876 und 1980 kam es insgesamt nur zu 36 Aufführungen. Erst mit der Premiere der aktuellen Produktion in der Regie Otto Schenks im Jahre 1980 konnte L’elisir d’amore im Haus am Ring jenen Platz erringen, der dieser Oper gebührt und den sie seither auch hier innehat. (Wobei es sich damals, also am 24. April 1980, gar nicht um eine Neuinszenierung, sondern um eine Übernahme einer sieben Jahre alten Festwochenproduktion aus dem Theater an der Wien handelte.) Und es vergeht nun kaum eine Saison, in der Der Liebestrank nicht über die Bühne des Hauses geht.

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EIN E GEN I A LE EINSPR INGEROPER


Rotraud A. Perner

BLENDUNGEN

Über die Erotik des Militärs und den Zauber der Montur


Der Erotick Schönheit liegt im Auge des Betrachters, wusste schon William Shakespeare – aber was zu nah oder zu fern ist, sieht man nicht gut. Deswegen dichtete auch Joachim Ringelnatz: »Wenn man das zierlichste Näschen / Von seiner liebsten Braut / Durch ein Vergrößerungsgläschen / Näher beschaut, / Dann zeigen sich haarige Berge, / Dass einem graut.« Auch was jemand als erotisch findet, hängt mit neuronalen Verschaltungen zusammen und ist daher subjektiv – und unterliegt situativen Veränderungen. Aber genau die wollen viele Menschen nicht, denn es soll alles so bleiben wie bisher… Risikofreude wird schon im Kleinkindalter, meist zu Recht, ausgetrieben, und wer später zu stark vom Normideal abweicht, landet meist in den Systemen Polizei und Justiz oder alternativ in der Psychiatrie. Dafür wird sie bei anderen bewundert – oder belächelt. Man braucht nur prüfen, welche Berufe die Helden in Film und Fernsehen ausüben (und wie sich dies in verschiedenen Zeiträumen verändert). Es sind vor allem Berufe mit spezifischen Herausforderungen, an die sich Otto Normalverbraucher oder Lieschen Müller nicht herantrauen – die, wo man mit dem Wilden, dem Unberechenbaren in Kontakt kommt. Die erotische Anziehungskraft, die diesen Berufen zugesprochen wird und die zu einem Tick in der ersehnten Partnerwahl von Frauen ausufern kann, stammt aber aus der Sehnsucht des kleinen Mädchens nach dem beschützenden Vater, und der war und ist leider noch immer häufig eine Illusion, weil nicht da oder tyrannisch oder desinteressiert – außer auf Familienfotos. Da wird dann oft genau das Gegenteil vorgetäuscht.

Federkleider Um andere zu täuschen, werden vielerlei Techniken (vom altgriechischen Wort techné, das bedeutet Kunst) angewendet. Das Herstellen der Distanz der Unüberprüfbarkeit ist eine. Sich mit »fremden Federn« zu schmücken, eine andere. In der Urzeit des Menschen behängten sich siegreiche Kämpfermänner mit den Tierzähnen und -fellen oder anderen Trophäen, weil sie meinten, sich dadurch die Macht des Gegners anzueignen. Nicht nur Waffen, sondern auch Kleider galten als Träger von Mana – der geheimnisvollen Lebenskraft des Anderen, sondern auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs (nicht nur des Besitzes). Ähnliches kann man bei kleinen Kindern beobachten, wenn sie Vaters Hut aufsetzen oder Mutters Stöckelschuhe anziehen und meinen, jetzt wären sie »groß«. Und genau diese Größe ist das, was Trophäenjäger (und Jägerinnen wie etwa Groupies) ersehnen – nur wollen viele nicht an ihrem eigenen Größenwachstum arbeiten, sondern nur zu den »Großen« dazugehören, egal, durch welche Mittel. 51

ROT R AU D A. PER N ER


»Kleider machen Leute«, beschrieb schon Gottfried Keller in den Leuten von Seldwyla am Beispiel des schüchternen Schneidergesellen Wenzel Strapinski, wie dieser mit seinem selbst genähten Prachtanzug Eingang in die städtischen Patrizierkreise erlangt und sich nicht getraut, den Irrtum aufzuklären. Anders hingegen, vor allem tatsächlich, gelang es dem mehrfach wegen Diebstahls, Raubüberfällen und Urkundenfälschung inhaftierten Schuster Wilhelm Voigt mit zusammengestoppelten Uniformteilen als Hauptmann von Köpenick zuerst einen Trupp von der Straße weg abkommandierter Gardesoldaten und mit ihnen die Rathausbeamtenschaft des Berliner Stadtteils so zu blenden, dass er ohne deren Widerstand die Stadtkasse »konfiszieren« konnte. Und auch in der Fledermaus reüssiert das Stubenmädchen Adele in der heimlich ausgeliehenen Abendrobe seiner Herrschaft als aufstrebende Sängerin. In allen drei Beispielen zeigt sich das Phänomen des sozialen Aufstiegs durch Kostümierung – denn Kleider wie auch Kleidungsdetails sind traditionelle Zeichen von Rang und damit Macht. Kleider machen nicht nur Leute, sie machen auch Angst, und zwar an beiden Endpolen der Bandbreite sozialer »Ordnungen«: der Macht der wohlhabenden sogenannten Stützen der Gesellschaft steht die Macht der unberechenbaren Outlaws gegenüber, deren Rangabzeichen nicht Orden und Titel sind, sondern beispielsweise drei eintätowierte Punkte an der Hand...

Zusammenrottungen Militär, Polizei, Wachdienste… sie alle haben ihren Ursprung in der Urzeit des Menschen, als die stärksten Kerle den Schwächeren Hab und Gut, bevorzugt Frauen, Reittiere und Waffen, wegnahmen und damit ihre Dominanz durch Aufbau eigener Clans, erhöhte Mobilität und bessere Ausrüstung absichern konnten. Die Unterlegenen erkannten bald, dass sie dieser Gefahr weniger durch Kampf Mann gegen Mann als durch interne wie externe Gruppenorganisation Herr werden konnten: dazu wurden die ersten Ordnungshüter bestimmt und durch Späher und Spione mit zweckdienlichen Informationen versorgt, und: sie mussten in dieser Funktion gesellschaftlich anerkannt und unterstützt werden. Dem dienten damals wie heute Zeichen und Auszeichnungen. Das primäre Zeichen ist der durchtrainierte Körper: er signalisiert den kampferprobten Recken und löst damit das Stammhirnsignal zur Kontaktvermeidung oder gar Flucht aus. Trainierte Kämpfer zeigen üblicherweise andere Körpermaße als hirnlastige Intellektuelle. In Thomas Manns hinreißender Novelle Die vertauschten Köpfe kann sich die lebenslustige Sita nicht zwischen dem besonnenen Schridaman und dem wohltrainierten Schmied Nanda entscheiden; als sich ROT R AU D A. PER N ER

→ Benjamin Bernheim als Nemorino, 2018

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beide in Liebesverzweiflung entleiben und Sita im Anblick der Toten jammert, bekommt sie von der Göttin Kali den Rat, die Köpfe wieder auf die Rumpfe zu setzen – nur tut sie das in Eile verkehrt und kann sich nun völlig dem klugen Kopf auf dem schönen Körper widmen und den Dummkopf mit Bäuchlein ignorieren – nur: der Klugkopf will den ganzen Tag nur denken und beginnt langsam zu verfetten, während der andere eben nur körperlich agiert und bald wieder durchtrainiert von Kraft strotzt – heißt: Zurück an den Start! Im Kampf zählt aber nicht nur Qualität, sondern auch Quantität: in Gruppen, Corps, Kompanien, Hundertschaften etc. auf Gleichschritt organisiert und mit Fahnengeflatter erhöht und Lautgetön verstärkt, wird Stärke in und durch Einigkeit vermittelt. In dieser Horde Mann das einzige Weib zu sein, und sei es auch nur als Regimentsmaskottchen, bekommt für manche weibliche Wesen Auszeichnungscharakter – und auch heute treten manche Showstars bevorzugt als singuläre Diva vor einem Dutzend männlicher Körperprotze auf und spielen so mit der irrealen Botschaft von einer Rollenumkehr der Macht.

Montierzauber »Montur« bedeutete ursprünglich Ausrüstung und insbesondere Arbeitskleidung; das Zeitwort »montieren« hingegen gibt es nicht nur in der Bedeutung, zwei Gegenstände zu verbinden, sondern auch in Anlehnung an das lateinische Wort »Mons« für Berg im Sinne von aufsteigen (und außerdem auch für das »aufschlagen« von Saucen). Wenn man sich nun erlaubt, ein bisschen über das Montieren zu phantasieren, wird wohl klar, wie wir durch allerlei Montagen versuchen, Eindruck zu schinden: vom Körperschmuck der sogenannten Primitiven (der ja seit einigen Jahren auch im angeblich so zivilisierten Europa mit Tatoos, Piercings und Brandings fröhliche Wiederkehr feiert) bis zur Fotomontage änderte sich ja nur die Technik, aber nicht Ziel und Sinn: andere zu be- oder verzaubern. Wenn man Uniformen betrachtet, so zeigt sich schon in der Farbwahl, ob ein textiles Pfauenrad beabsichtigt ist oder diskrete Dschungeltarnung. Letztere muss durch Tropenhelme und Schnürstiefel aufgemotzt werden, um ein Flair von Großwildjäger zu erzeugen – sonst bleibt es bei Assoziation zu Schlamm und sonstigem Dreck. Zum Pfauenrad hingegen gehört der mehr oder weniger dominante Einsatz von Glanz – seien es nur Goldknöpfe, Epauletten und Kordeln und Orden, Orden, Orden… von Lampassen ganz zu schweigen. Wo der junge, schlanke Soldat noch mit seiner Silhouette punkten kann, muss der gewichtig gewordene Militärangehörige mittels der Zauberkraft ROT R AU D A. PER N ER

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seiner Auszeichnungen »den Blick nach oben« lenken – so wie auch matronig gewordenen älteren Frauen vielfach angeraten wird, mittels üppig baumelnder Chandeliers und Falten verdeckender Colliers von »formloser« Leibesfülle abzulenken (was semantischen Müll darstellt – der Körper hat immer eine Form, nur halt nicht die, die dem Wortschöpfer gefällt). Zu den nonverbalen Geheimbotschaften zählt die Kunst, mittels Montagen und Inszenierungen Rangordnungen herzustellen. Körpersprachlich ist es nicht nur der »Polizeischritt« (Beine stark gegrätscht, Daumen in den Gürtel eingehakt und dadurch mittels ausgefahrener Ellbogen deutlich mehr Revier beanspruchend als durch die rücksichtsvolle mehr oder weniger aufrechte Normalhaltung), sondern auch das Berührungsverhalten oder das Deponieren eigener Gegenstände in das Revier anderer (man achte, wer am Familientisch sein schmutziges Geschirr wem ins Revier schiebt!). So signalisiert auch das Marschieren in Reih und Glied, die Trittgeräusche womöglich noch durch Einheitschor verstärkt, die Macht der Zugehörigkeit zu den Auserwählten – denn die Zeit ist noch nicht so lange vergangen, als es noch Schande bedeutete, »untauglich« – welch ein Wort mit Gesamtanspruch! – zu sein. Dieser Gesamtanspruch an denjenigen, der Leib und Leben dem Dienst am Vaterland widmen soll, ist es auch, der durch Hochstilisierung des Militärs kompensiert werden sollte: eigentlich dressiert zum gehorsamen »Menschenmaterial«, soll durch Erotisierung des unausgesprochenen Blutopfers mystische Transzendenz erzeugt werden. Die Erotik liegt in der Tiefe diffuser Vermischung von humantitätsverachtender Funktionalisierung und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten jenseits von Geburtsrechten bzw. intellektuellen oder finanziellen Erfolgsleistungen, von Aufgabe von Individualität und Korpsgeist, Machtlosigkeit und Macht, Gefährdung und Bedrohlichkeit. Welchen Aspekt davon man sich emporholt, hängt von den eigenen Kompensationsbedürfnissen ab.

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BLEN DU NGEN


Bettina Steiner

BLEIBEN ADINA UND NEMORINO ZUSAMMEN? Ach, armer, oft erniedrigter Nemorino. Einen »dummen Pinsel« nennt ihn der Quacksalber Dulcamara und zieht ihm den letzten Taler aus der Tasche. Einen Gimpel, ja, einen Pavian schimpft ihn ungestraft sein Rivale Belcore – und die von beiden angebetete Adina hört dabei zu und hat nur schales Mitleid für ihn übrig. Selbst die Wäscherin Giannetta, die später an Nemorino Gefallen finden wird (aus zweifelhaften Gründen übrigens), schüttet Spott über ihn aus: »Ei, sehet doch den Gecken an / Den armen übermüt’gen Toren!« Warum der arme und gutmütige Landmann, der hier nicht gerade als Alphamännchen Punkte sammelt, die so schöne wie reiche und hochmütige Pächterin am Ende doch bekommt? Nun: An der Wirkung des Liebestrankes kann es nicht liegen, das bleibt unbestritten. Ist es das neue Selbstbewusstsein, das Nemorino plötzlich so unwiderstehlich macht? Hat ihm also Dulcamara – absichtlich aus Menschenliebe oder zufällig aus Geldgier – eine »Self fulfilling prophecy« verkauft? Das wäre eine moderne Deutung, die wohl auch die Zustimmung mancher Psychologen finden dürfte. Eine andere: Es liegt ganz schnöde am Mammon, auch wenn der über Umwege wirkt: BET T INA ST EIN ER

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Dass Nemorino eine große Erbschaft macht, sichert ihm zunächst das Interesse der Bauernmädchen: »Jetzt wagt kein Mädchen, ihn auszuschlagen / Und die er nimmt, kann vom Glücke sagen!«, singen sie, und die vorher noch so scharfzüngige Wäscherin Giannetta sieht in ihm statt eines Gecken nun einen »lieben, schmucken Jungen«, der sich artig zu betragen wisse. Und Adina? Die ist zwar diesbezüglich unverdächtig, im Gegensatz zu Bauern, Schnittern und Wäscherinnen weiß sie nämlich zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts vom unverhofften Reichtum ihres Verehrers. Aber dass Nemorino plötzlich nicht mehr geschmäht, sondern umschwärmt wird, das fällt ihr auf. Da muss man gar nicht erst die gute alte Eifersucht bemühen – allein dass ein Mann in Begleitung einer Frau ist, macht ihn für andere begehrenswert, hat man in Experimenten nachgewiesen. Motto: Wenn eine andere sich für ihn interessiert, muss es dafür Gründe geben. Man nennt das den »Girlfriend-Effekt« und sein Prinzip kannte offenbar schon Donizetti. Aber man kann es auch billiger geben. Da wäre noch eine dritte, eine profane Begründung: Es liegt in Wirklichkeit doch am Liebestrank, denn der ist ein Bordeaux, und mit circa 13 Prozent Alkohol kann er einem, der ihn nicht gewohnt ist, schon die Zunge lockern und ihm jenes Draufgängertum verleihen, das ihn das Herz der hochmütigen Adina erobern lässt. Was aber, wenn die Trunkenheit vergeht? Was, wenn der Vorhang gefallen ist, wenn die Sänger abgeschminkt und die Requisiten verräumt sind? Werden die beiden glücklich, trotz des eher holprigen Beginns? Es wurde viel darüber geforscht, welche Beziehungen halten und welche nicht: Und da geht es keineswegs nur um Status (denn da hat Nemorino nach dem Tod seines Oheims ja gleichgezogen). Ähnliche Herkunft etwa spielt eine Rolle. Und ähnliche Bildung. Und wenn man Adina nimmt, die sich in die Geschichte von Tristan und Isolde vertieft, und sie vergleicht mit dem leichtgläubigen Nemorino, der sich von jedem schlitzohrigen Tandler übers Ohr hauen lässt: Oh weh, da sieht es weniger gut aus und das weiß er auch selbst: »Sie gebildet und belesen / Und ich arm beschränktes Wesen / Ich kann nichts von all den Dingen«, seufzt Nemorino. Ein Glück, dass die beiden katholisch sind: Katholizismus ist laut aktuellen Forschungen ein Pluspunkt, wenn es um die Dauer von Beziehungen geht. Ach, die Forschung! Wo bleibt die Romantik? Wo bleibt Donizetti? Wo die Erfahrung, die uns zeigt, dass die seltsamsten Beziehungen halten und dass ausgerechnet jene beiden, die immer ein Herz und eine Seele waren, getrennte Wege gehen? Wie sagte doch eine Kollegin, die selbst in Liebesdingen einiges erfahren und noch mehr beobachtet hat: »Der Unterschied zwischen Paaren, die sich trennen, und Paaren, die sich nicht trennen, ist die Tatsache, dass die einen sich trennen und die anderen nicht.« Adina und Nemorino bleiben beisammen. Der Grund: Es ist eine Geschichte. Glaubwürdigkeit ist gut. Schönheit ist besser.

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BLEIBEN A DINA U N D N EMOR INO Z USA M MEN?


Peter Lewisch

DER LIEBESTRANK VOR DEM STRAFGERICHT

Ein fiktiver Strafprozess nach österreichischem Recht


Plädoyer des Staatsanwalts Hohes Gericht! Der Angeklagte, ein Herr Dulcamara, oder auch »Doktor« Dulcamara, wie er sich gerne nennen lässt, er ist kein Doktor und auch kein Arzt; seine sogenannten »Wundermittel«, sie sind keine Wundermittel; sein »Liebestrank«, es ist eine Flasche Wein, und er selbst – er ist ein Betrüger; vielleicht kein gewöhnlicher Betrüger, aber ein Betrüger. Echt an unserem Herrn »Bittersüß« ist nicht einmal sein Name. Warum sitzt nun dieser »Doktor Dulcamara« als Angeklagter hier vor uns? Weil er dem edlen Gutsherrn Nemorino eine Flasche Bordeaux als ein Liebeselixier verkauft hat. Angepriesen als ein Wundermittel, als »Isoldes Liebestrank«, hat er einen Golddukaten für eine gewöhnliche Flasche Bordeaux genommen. Ein kleines Vermögen für eine Bouteille Wein! Und das ist – blinde Liebe hin, leichter Glaube her – ein Betrug. Und ein dreister obendrein. Denn einen Betrug begeht, so will es das Gesetz, wer einen anderen über Tatsachen täuscht, auf dass der Getäuschte – solcherart in Irrtum geführt – über sein Vermögen verfügt und eben dadurch einen Schaden erleidet.1 All das ist hier geschehen: Nemorino hat den Anpreisungen des Dulcamara vertraut und – sohin durch Täuschung über den Inhalt der Flasche – sein gutes Geld für schlechte Ware, nämlich eine Flasche gewöhnlichen Weins statt eines Liebestranks, hingegeben. Sein gutes Geld! Denn mit diesem Golddukaten hätte man wohl hundert Flaschen Bordeaux kaufen können; ein Schaden also jedenfalls. All das – und auch an Nemorino sich zu bereichern – hat Dulcamara so gewollt; ein vorsätzlicher Betrüger ist er also! Und ein gewerbsmäßiger noch dazu: Denn zur Gewerbsmäßigkeit braucht’s nicht mehr, auch das steht in unserem Strafgesetz2, als die bloße Absicht, sich aus wiederkehrender Tatbegehung eine – wie unsere Hohen Gerichte sagen: zumindest tröpfelnde – Einnahmequelle zu erschließen. Für den Dulcamara waren seine Geschäfte kein tröpfelndes Rinnsal, sondern ein sprudelnder Quell; und seine Taten wiederholt hat er – auch wenn schon eine einzige, begangen in dieser Absicht, dafür hingereicht hätte – gar noch häufig. Aber der Reihe nach. Kaum im Ort hier angekommen, zieht der »Doktor« Dulcamara den Bauern schon ihr Geld aus der Tasche. Für »Wundermittel«; Wundermittel, die alle Krankheiten heilen sollen! Schon das ist ein Betrug; in großer Zahl begangen noch dazu. Und Kurpfuscherei noch obendrein, behaupte ich hier.3 Denn dieser Quacksalber behandelt Krankheiten mit seinen »Zaubersäften«, aber Arzt, das ist er nicht! Und nun zu unserem Nemorino, was sage ich denn, dem edlen Gutsherrn Nemorino. Damals, nota bene, ein armer Mann, sein Onkel war ja noch nicht gestorben! Diesem Nemorino lockte der »Doktor« Dulcamara sein ganzes Vermögen heraus, einen Dukaten – und wofür? Für eine Flasche Wein; verkauft als Liebestrank, damit er für seine angebetete Adina unwiderstehlich 59

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werde! Ein Betrug ganz sicher, gewerbsmäßig begangen schon dieser. Und ein Wucher obendrein.4 Denn wann soll man davon sprechen, dass der Täter die Leichtfertigkeit und Unerfahrenheit eines Menschen gewerbsmäßig ausbeutet, wenn nicht in einem solchen Fall? Und der Dulcamara hat gleich noch einen Betrug begangen, wieder am edlen Gutsherrn Nemorino, als dieser in Verzweiflung nochmals zu ihm kommt, weil – wen wundert es – die erste Flasche nicht gewirkt hat. Er kommt in letzter Hoffnung auf eine zweite Flasche »Liebestrank«, um mit deren Hilfe doch noch – immerhin steht die Hochzeit Adinas mit dem Nebenbuhler Belcore unmittelbar bevor – seine große Liebe zu gewinnen. Geld hat unser Nemorino keines mehr; sein ganzes Vermögen hat er ja schon dem Dulcamara für die erste Flasche Wein hingegeben. Und was macht nun Dulcamara? Er kennt keine Gnade: Kann Nemorino nicht bezahlen, so kriegt er die zweite Flasche nicht. Als Soldat muss Nemorino deshalb anheuern und die 20 Scudi Handgeld – Blutgeld gewissermaßen – dem Dulcamara als Kaufpreis für die zweite Flasche »Liebeselixier« lassen. Welche Niedertracht! Wieder ein Betrug, und ein Wucher obendrein! Seinen Missetaten reiht Ducamara eine weitere an; noch ein Betrug, begangen als Versuch an Adina, ja, auch an unserer gnädigen Frau Adina. Welche Dreistigkeit auch hier! Ihr selbst will er den Bordeaux als »Liebestrank« verkaufen, als sie sich – nun in ehrlicher Liebe zu Nemorino – von diesem zurückgewiesen wähnt. Ein Betrugsversuch ganz sicherlich; fehlgeschlagen nur, weil sie den Anpreisungen des Herrn Dulcamara nicht glaubt – und man kann’s ja sagen – lieber den eigenen, den weiblichen, Verführungskünsten traut. Der Übeltaten nicht genug, verkauft der Dulcamara – kaum haben Nemorino und Adina sich gefunden – den Bewohnern dieses Dorfes seinen »Liebestrank« nun noch in großer Zahl als »Universalzauberelixier«. Dabei ist es eben klar geworden, dass das plötzliche Interesse der jungen Damen an Nemorino mehr dessen plötzlichem Reichtum – immerhin ist gerade sein Onkel gestorben und hat ihm ein Vermögen vererbt – als, nun ja, sonstigen Gründen zu verdanken war. Und wie dreht nun Dulcamara diese Sache? Er verkündet – die Zeugen heute haben es bestätigt –, dass sein Trank eben nicht nur Liebesglück, sondern auch Reichtum beschert. Unverfroren auch dieser vielfache Betrug! Zum Rechtlichen: Anpreisen darf man seine Ware und übertreiben auch; soweit dies reklamehaft geschieht, wie unsere Gerichte sagen. Doch täuschen, das darf man nicht, ob man nun eine Tinktur ganz ohne Wert als Medizin verkauft oder einen Bordeaux als Liebestrank. Dass es einen solchen Wundertrank gar nicht geben kann, tut nichts zur Sache: Denn verkauft hat Dulcamara nicht den bloßen Anschein eines solchen Tranks, vielmehr das echte Elixier, und eben dafür hat Nemorino auch bezahlt (»Zaubertrank, wer dich erfunden, ist fürwahr ein großer Mann«). Nicht für eine Illusion! Es betrügt, PET ER LEW ISCH

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wer über Wunderkräfte täuscht, ob’s nun ein Liebestrank ist oder Zauber gegen dunkle Mächte, wie von unseren Gerichten schon entschieden.5 Ob raffiniert, ob dreist, ist einerlei; auch täuscht, wer einen Irrtum bloß verstärkt. Vertraut hat Nemorino auf die Zauberkraft des Tranks, die – wie zugesagt von Dulcamara – wirksam wird am nächsten Tag. Warum die 24 Stunden? Damit sich »Doktor« Dulcamara besser aus dem Staube machen kann. Deshalb! Ein Glück, dass man seiner habhaft wurde, bevor er noch verschwinden konnte. Ich komme, Hohes Gericht, zur Strafbemessung. Mildernd sehe ich hier keinen Umstand, aber erschwerend eine ganze Menge: Die mehrfache Tatbegehung, die Unverfrorenheit und die Uneinsichtigkeit des Täters, die Rücksichtslosigkeit, mit der er zunächst mit Adina und Belcore Verlobung feiert und es sich an deren Tafel gutgehen lässt, um im nächsten Augenblick dem Nemorino für dessen Liebe zu Adina 20 Scudi abzuluchsen. 20 Scudi für die zweite Flasche Liebestrank, sehenden Auges, dass das Militär in Wahrheit die Trennung von Adina bedeutet! Hohes Gericht, der »Doktor Dulcamara« hat seinen Trank – von den Zeugen haben wir es hier gehört – auch damit angepriesen, dass dieses Elixier »Teufel zu Engel macht und die Gauner ehrlich«. Eigentlich sollte er alle seine Flaschen austrinken müssen, der »Doktor Dulcamara«. Eine Strafe wäre schon das; und Vorsorge gegen weitere Übeltaten überdies! Doch das allein wär’ nicht genug. Ich beantrage, Hohes Gericht, eine Verurteilung dieses Quacksalbers, dieses Wucherers, dieses gewerbsmäßigen Betrügers zu einer strengen, ja zu einer exemplarischen Strafe!

Plädoyer des Dulcamara Hohes Gericht! Ich weiß nicht recht, was ich nun sagen soll. Um Worte bin ich ansonsten nicht verlegen; nur heute schon: Zu sehr kränkt mich, was ich höre. Ein Kurpfuscher soll ich sein? Mitnichten. Verkauft hab ich meine Säfte, in seit Jahren wohlbewährter Mixtur. Was soll ich sagen, den Leuten geht es nachher besser; ja, so berichten sie es mir, soll ich ihnen denn nicht glauben? Überprüft hab ich’s bei keinem. Wie auch? Selbst untersuchen die Leute, das kann ich nicht und das hab’ ich auch noch nie getan. Ich soll heilsam sein, sagen die Leute, mehr als all die Mediziner? Nun ja, vielleicht; doch behandelt hab’ ich niemanden, nur meine Tinkturen angepriesen und verkauft. Als ob das nur die Ärzte dürften! Ein Betrüger – ich? Sein Lebensglück hab’ dem Nemorino ich verschafft, ja, das habe ich »verbrochen«. Damals war er freilich noch kein Gutsherr, sondern ein armer Bauer, ein Niemand, ein Nemorino eben. Reich und glücklich, das ist er jetzt, ewig dankbar – er selbst hat es uns so gesagt – seinem 61

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Dulcamara. Einen Dukaten dafür zu nehmen, das scheint nun wahrlich nicht vermessen. Eine Täuschung? Mitnichten: Er, Nemorino, war es, der mich gefragt hat nach dem Liebestrank, nach »Isoldes Liebeselixier«; Adina selbst hat ihm davon erzählt. Von solchen Dingen hatt’ ich zuvor noch nie gehört. Doch hab’ ich gleich erkannt, was er nun wirklich brauchte. Nicht einen Liebestrank, sondern einen Trank, der zwei Dinge schafft: Zunächst, ihm seine Schüchternheit zu nehmen, um ihn sein zu lassen, wie er wirklich ist. Und auch Adina aufzuzeigen, wie groß doch seine Liebe war; so groß, dass – nur um sie endlich zu gewinnen – er für den kostbaren Trank sein ganzes Geld hingab. Beides hat der Trank bewirkt; geholfen hat er, ihm und ihr. Als er dann auch noch eine zweite Flasche kaufen wollte, hab’ ich auch diese ihm gegeben. Er brauchte sie, um sich wirklich was zu trauen; und bewirkt hat – just sie – die große Liebe. Verkauft hab’ ich die Flasche, ja, um 20 Scudi – im Grunde eine Okkasion. Hätte ich sie denn gar verschenken sollen? Davon, dass der Kaufpreis das Handgeld war fürs Militär, davon hab’ ich nun wirklich nichts gewusst. Das hätte mir auch nicht gefallen. Wobei, wenn ich’s recht bedenke: War ihm die Liebe gar so wichtig, dass er dafür zu den Soldaten geht, sollte ich ihm dann just den Trank verweigern, auf den er seine ganze Hoffnung setzt? Der Vorwurf mit dem Wucher aber ist – mit Verlaub – ein grober Unfug: Wenn es jemanden hier gab, der die Not eines anderen ausgenützt hat, dann doch der Sergeant Belcore: Verlockt zum Militär hat er Nemorino; mehr um einen Rivalen kalt zu stellen, als dem jungen Mann zu helfen. Und ja, ich habe Adina gefragt, ob sie nicht selbst vielleicht auch noch eine Flasche von dem Tranke braucht – kann eine solche Frage strafbar sein? Sie hat ihn letztendlich nicht gebraucht, und ich habe ihn ihr nicht verkauft. Basta. Gewirkt hat es, mein Elixier. Wen wundert’s da, dass die Bauern, als sie das Glück des Nemorino mitangesehen haben, mich sogleich bestürmten, es auch ihnen zu verkaufen. Hat es einmal schon genützt, warum soll es, wenn alle daran glauben, nicht auch den and’ren helfen? Verkauft habe ich nur, was meine Kunden von mir wollten. So hab’ ich’s immer schon gemacht. Und gerade so hat der Doktor Dulcamara den Leuten oft ihr Glück gebracht. Hohes Gericht! Einen Betrug ohne Geschädigten, das kann es nicht geben. Für den edlen Gutsherrn Nemorino war es – wer will das bestreiten? – der beste Kauf in seinem ganzen Leben. Und auch von den Bauern hier im Ort hat niemand sich beschwert. Fast scheint es, als habe mein Saft ein zweites Mal gewirkt; zuerst bei Nemorino und dann bei ihnen. Dafür gebührte mir im Grund’ der größte Dank des ganzen Orts; doch will ich mich, zunächst einmal, mit einem Freispruch auch begnügen.

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Urteil des Gerichts Das Hohe Gericht hätte Dulcamara tatsächlich wegen gewerbsmäßigen Betrugs, und zwar auch wegen des Versuchs an Adina, verurteilen müssen. Doch hat ihn der Richter freigesprochen, nicht ohne sich – wie man hört – zuvor zwei Flaschen des wundersamen Liebeselixiers ausbedungen zu haben.

1 Der Tatbestand des Betrugs (§ 146 Strafgesetzbuch) lautet: »Wer mit dem Vorsatz, durch das Verhalten des Getäuschten sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, jemanden durch Täuschung über Tatsachen zu einer Handlung Duldung oder Unterlassung verleitet, die diesen oder einen anderen am Vermögen schädigt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.« 2 § 70 StGB. Im Falle gewerbsmäßiger Begehung wird die Tat – als »gewerbsmäßiger Betrug« – strenger bestraft (§ 148 StGB). 3 Der Tatbestand der Kurpfuscherei (§ 184 StGB) lautet: »Wer, ohne die zur Ausübung des ärztlichen Berufes erforderliche Ausbildung erhalten zu haben, eine Tätigkeit, die den Ärzten vorbehalten ist, in Bezug auf eine größere Zahl von Menschen gewerbsmäßig ausübt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.« 4 Der (Grund-)Tatbestand des Sachwuchers (§ 155 StGB) lautet: »Wer außer den Fällen des § 154 gewerbsmäßig die Zwangslage, den Leichtsinn, die Unerfahrenheit oder den Mangel an Urteilsvermögen eines anderen dadurch ausbeutet, dass er sich oder einem Dritten für eine Ware oder eine andere Leistung einen Vermögensvorteil versprechen oder gewähren lässt, der in auffallendem Missverhältnis zum Wert der eigenen Leistung steht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, wenn er jedoch durch die Tat eine größere Zahl von Menschen schwer geschädigt hat, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.« Der Tatbestand ist ohne nennenswerte praktische Bedeutung. 5 Ein Betrug liegt nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs etwa in den folgenden Konstellationen vor: Bei Täuschung über die Befähigung, durch magische Dienste eine zerbrochene Partnerschaft wiederherstellen (OGH 29.06.2004, 11 Os 50/04), jemanden von schwarzer Magie befreien (OGH 23.02.2006, 12 Os 132/05m; auch 01.12.2004, 13 Os 127/04) oder durch spiritistische Sitzungen und Rituale alle Probleme der betreffenden Person lösen und dieser Reichtum verschaffen zu können (OGH 03.10.2007, 13 Os 74/07t). Die Betrugsopfer haben für diese Dienste jeweils sehr nennenswerte Beträge geleistet.

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Grete De Francesco

BUONAFEDE VITALI – DER GUTE SCHARLATAN Im 17. Jahrhundert wurde unter einem neuen und veränderten Aspekt gereist. Nicht mehr innere Unrast, auch nicht die Sehnsucht, die Welt als Abenteuer zu erleben, trieb in die Ferne, sondern der Drang, seine Kenntnisse zu bereichern, neues Wissen zu dem alten sich zu gewinnen. Zum ersten Mal blieb der Reisende Zuschauer, er kam nicht mehr wie der Wanderer der Renaissance, um sein eigenes Leben für eine unbestimmte Zeitspanne dem fremden Rhythmus eines fremden Landes einzufügen, mit ihm zu atmen, sondern er sah zu, beobachtete und trug das Beobachtete als neu erworbenes Wissen nach Hause. Das berufliche Reisedasein des Scharlatans stand im Gegensatz zu dieser Art von Reisen, die die Sesshaftigkeit nur zeitweise unterbrachen, während die Existenz des Berufs-Scharlatans eine Verneinung der Sesshaftigkeit überhaupt bedeutete. Ein Mensch, der seinem Charakter nach im Protest stand gegen sesshafte Gleichförmigkeit und alle Berufe, die zu dieser Gleichförmigkeit zwingen, konnte sich sehr wohl zu der Lebensweise der Scharlatane hingezogen fühlen, ohne Scharlatan zu sein. Das ist der Fall eines von den medizinischen Fakultäten dreier italienischer Städte graduierten, zu seiner Zeit hochberühmten Arztes, Buonafede Vitali (1686-1745), der freiwillig, nur dem Gebot der eigenen Natur gehorchend, seine wissenschaftlichen Titel niederlegte und zum »Saltimbanco« wurde. Carlo Goldoni, der

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einmal mit dem merkwürdigen Mann zusammentraf, erkannte in ihm sofort den »ciarlatano d’una specie molto rara« (»eine ganz seltene Spielart des Scharlatans«). Vitali stammte aus Busseto im Herzogtum Parma, der Heimat Verdis. Mit zwölf Jahren schon war er ein so vollendeter Redner, dass er an der Universität von Parma öffentlich philosophische Fragen erörtern und in der Diskussion vertreten durfte. Er soll kurze Zeit lang Mönch gewesen sein, sicher ist, dass er im Regiment seines Vaters Fahnenträger war, dann aber Medizin und Chirurgie studierte ohne die geringste Absicht, die Universitätslaufbahn einzuschlagen. Als Feldscherer trat er wieder in militärische Dienste, machte die Schlachten von Cassano und Turin mit, wurde verwundet und ging, kaum geheilt, nach Canterbury, wo er drei Jahre blieb. Als 1710 in England eine Pestepidemie ausbrach, legte er die Resultate seiner ärztlichen Beobachtungen in einer Schrift nieder. Seiner Meinung nach ist ein parasitischer Wurm als Krankheitserreger anzusehen. Von England ging Vitali nach Frankreich, Belgien, Holland, Hamburg, Lübeck, Danzig, Stockholm und Petersburg. In Lappland wurde er Leiter eines Bergwerkes, aber bald wendete er sich südwärts, und wir finden ihn wieder als Verwalter der Königlichen Bergwerke in Lissabon. 1714 kehrte er nach Italien zurück und legte sich in Genua zum ersten Male den Namen l’Anonimo zu, den er sein Leben lang behalten hat. Es ist merkwürdig, dass Vitali diesen Namen im Augenblick der Heimkehr annimmt. Es ist, als hätten ihn die vielen fremden Länder, die er gesehen, die vielfältigen Leben, die er gelebt, zweifeln lassen, dass die Gestalt des Menschen durch einen Namen umschrieben und festgelegt werden könne. Namenlos wollte er sein und durch keinen Namen gebunden an das Dasein, das er in der Heimat geführt und verlassen hatte. Namenlos wollte er auch bleiben, in genauem Gegensatz zu den vielen wohlklingenden Namen, die große Scharlatane – der Graf von St. Germain zum Beispiel – angenommen haben. Die Abenteurer wollten sich hinter ihren Namen wie hinter einer schimmernden Festung verkriechen, denn sie glaubten immer das Gespenst des Galgens zu sehen. Vitali sah keinen Galgen vor sich, er fühlte sich durch seine Reisen nur ununterbrochen verwandelt, ausgelöscht, um in neuer Gestalt zu erstehen und wieder zu verlöschen. Die Problematik des Schicksals, das dem Menschen Gestalt gibt und wieder nimmt, scheint sich dem Erschütterten in all ihren Tiefen offenbart zu haben, sodass ihn ein Name mehr dünkte, als ein Mensch tragen und verantworten kann. Der Heimgekehrte trat wie ein Scharlatan auf den Plätzen auf und machte sich anheischig, auf jede ihm gestellte Frage, berühre sie welches Gebiet auch immer, aus dem Stegreif zu antworten. Als Redner und als Mensch mit Kenntnis und Lebenserfahrung appellierte er an die Aufmerksamkeit des Publikums – von vornherein nicht als Fachmann und Arzt. Das war als Protestkundgebung gegen die gelehrten Ärzte gemeint, seine eigentlichen Berufsgenossen an den Universitäten. Der Anonimo besuchte die Bäder von Acqui, schrieb über ihre Heilwirkungen und wendete sich dann über Livorno 67

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und Civitavecchia nach Rom, wo er im Auftrag des Papstes Clemens XI. Faustina, die Tochter eines berühmten Malers und Gattin des Dichters Zappi, behandelte, und zwar mit bestem Erfolg. Das Aufsehen, das diese Heilung machte, verschaffte ihm in Italien den Ruf eines großen Arztes. Mit offenen Armen nahmen ihn die Neapolitaner auf, und er erlangte so großen Ruhm, dass noch 50 Jahre später ein Textbuch zu einer Oper des Paisiello, L’idolo cinese, einen Salbenkrämer mit der Bezeichnung »il nuovo Anonimo« rühmt. Aber eine Natur wie die des Vitali verlangte nicht nach Ruhm, sondern nach Erleben. Er verließ Neapel bald, zog durch viele italienische Städte und heilte Papst Innozenz XIII., der sich gegen alle anderen Ärzte voll Misstrauen gezeigt hatte. Bald wurde ihm Italien wieder zu eng, er zog nach Lissabon, von dort zurück nach Palermo. In dieser Stadt wurde er 1723 vom Senat zum Dozenten für Chemie, Physik und Philosophie gewählt und zum Direktor der staatlichen Laboratorien bestellt. Um in Sizilien dozieren zu dürfen, musste er, der 1717 in Parma, 1719 in Bologna als Doctor medicinae promoviert hatte, noch das Doktorexamen an der Universität Catania ablegen. Obgleich in Palermo alle kirchlichen und weltlichen Würdenträger ihn zu halten suchten – der Kardinal war ihm in inniger Zuneigung verbunden –, zog er auch aus dieser Stadt wieder weiter, ja, er erzwang entgegen den Wünschen des Senats ein früheres Abreisedatum. So entging er dem fürchterlichen Erdbeben, das nur sehr kurze Zeit nach seinem Abschied Palermo heimsuchte. Im Norden, in Schio (Trient), taucht er wieder als Bergwerksverwalter auf, 1730 aber ist er in Florenz, wo ihn das medizinische Doktorenkollegium zum »maestro di Sapienza« diplomierte. Wieder zog er durch die Städte Italiens, nur in Mailand längeren Aufenthalt nehmend. Den Lebensausschnitt Mailand kennzeichnet ein in Buchform veröffentlichter Brief, in dem Vitali den Beruf des Scharlatans verteidigt; in Mailand war es auch, wo er mit Goldoni zusammentraf. Obgleich der Anonimo in seinen Schriften und durch sein ganzes Dasein sich zu dem Beruf des Saltimbanco bekennt und nicht müde wird, Universitätsprofessoren und Ärzte anzugreifen, galt er seinen Zeitgenossen als bedeutender Arzt, den sich die Adligen und Großen der Welt kommen ließen. Über sein Eintreffen in Verona 1743 berichtet Goldoni, dass er mit Jubel begrüßt wurde wie Äskulap in Griechenland. Er hatte während einer in Verona ausgebrochenen Epidemie Heilerfolge, die Stadt ernannte ihn als Dank zum Protomedikus. Sein Ruf bewog den König von Preußen, ihn an die junge Universität Halle mit einem Gehalt von 5.000 Gulden zu berufen, aber der Anonimo starb, bevor er diesem Ruf folgen konnte, am 2. Oktober 1745. »Quel mio genio di viaggiator!« (»Dieser mein Genius des Reisens!«) ruft Vitali einmal aus, und es ist wirklich der Genius des Reisens, der ihn durch die Welt führt. Weder der Zwang zu verdienen noch der Zwang zu fliehen ist bei ihm Anlass zu dem »continuo peregrinatur«, sondern es ereignet sich, dass bei diesem Scharlatan all das ehrlich und wahr ist, was bei den andern nur fingiert wurde oder aus Zwang geschah. Mehr noch: er wählte den Beruf des ScharGR ET E DE FR A NCE SCO

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latans aus Protest gegen jene Zeiterscheinungen, die er im Sinne unserer Definitionen als Scharlatanerie empfand. Es ist überraschend und von seltenem Reiz zu beobachten, wie in der Interpretation des Anonimo gerade jene Manifestationen, die wir als spezifisch scharlataneske Meinungsfälschung kennengelernt haben, als Protestaktionen aus Ehrlichkeit erscheinen. Dieser Philosoph und Komödiendichter, Schauspieler und leidenschaftliche Liebhaber des Theaters war ein glänzender Redner und ein sehr mäßiger Schriftsteller. Es ist fast rührend, wie ungelenk, wie gänzlich »unaufgemacht« die Sätze dastehen, die die originellsten und erstaunlichsten Ansichten kundtun. Immer wieder lächelt es zwischen diesen Zeilen. Der Anonimo hatte Humor, ihn hätte des Volkes Gemurmel und Geraune niemals gestört wie Bragadino. Die Schrift, die er in Mailand veröffentlichte, trägt den Titel Lettera in difesa della Professione del Saltimbanco und verteidigt einem adligen Gönner gegenüber (es soll Scipione Maffei gewesen sein) den Beruf des Scharlatans. Schon aus den ersten Zeilen ist erkennbar, dass der dem Anonimo in Verehrung zugetane Adlige ihn gebeten hat, doch diesen entwürdigenden Beruf, der sich mit seiner Ehre nicht vertrage, aufzugeben. Sofort repliziert Vitali als Frondeur: die Ehre, so meint er, sei nur Ansichtssache, eine subjektive Meinung, nichts mehr, die aus Laune von den Menschen demjenigen zugesprochen werde, der ihnen gerade genehm sei, und die gar nichts zu tun habe mit dem Verdienst eines Menschen, der wirklich und wahrhaftig ehrlich ist. Er gibt zu, dass es viel Gesindel unter den Scharlatanen gebe, aber das sei in jedem Beruf so und entehre diesen noch lange nicht. Das Verderben für die medizinische Wissenschaft erblickt er darin, dass sie sich von der Empirie abwendete. Er distanziert die empirische Medizin vom verwerflichen Risiko des Experiments und stellt sie als die einzig wahre Medizin hin, »diese aber ist die Kunst des Saltimbanco, der, was er kann, öffentlich zeigt«, denn kein anständiges Gewerbe scheut die Öffentlichkeit, »und da die Kunst der Medizin die wichtigste ist, scheint es mir Pflicht, sie mehr als jede andere vor den Augen des Volkes auszuüben«. Dieses Streben, mit offenen Karten zu spielen, ist das genaue Gegenteil der Spekulation auf die Sucht nach Geheimnis, die alle anderen Scharlatane auszeichnet. Dieser Drang zur Öffentlichkeit, dieser Wunsch nach Kontakt mit dem Volke, hat bei Vitali, dem Theaterliebhaber, etwas Schauspielerisches, denn war der Platz eines Tages etwas weniger voll von Menschen, dann erklärte er, nicht behandeln zu können. Er brauchte, wie der Schauspieler, das Fluidum zwischen sich und dem Publikum. Aber nicht das allein ist der Grund für des Vitali Vorliebe für das Brettergerüst. Wie sein ganzes Wesen, so musste sein ganzes Gehaben eine ständige Herausforderung sein, ein Protest gegen die Menschenkaste, die er nicht nur verachtete, sondern hasste, die Kaste der vom Leben Abgeschlossenen, die Universitätsprofessoren, gegen sie konnte er nicht genug eifern. Er wirft ihnen in Schrift und Rede vor, dass sie sich in uferlosen Disputen verlieren, anstatt zuzugreifen und zu helfen, dass sie sich in ihren Hörsälen wie in 69

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Festungen verschanzen, um mit der Realität, die sie über ihre Irrtümer aufklären könnte, gar nicht zusammenzutreffen. Hier wendet sich ein menschlicher Typus in offenem Kampf gegen den andern, und Vitali wäre es niemals eingefallen, die Wissenschaft, die er angriff, hinterher mit Attesten für seine Mittelchen zu bemühen. »Die Professoren«, sagt er, »denen ihre Bequemlichkeit zu viel gilt und die die Mühen der Reise scheuen, die weder Klimanoch Luftwechsel an sich selbst erlebt haben und nicht ahnen, wie verschieden auf der Welt die Sitten sind, wie traurige Begegnungen tun und wie einem zumute ist an jenen erfolglosen Tagen, an denen die Menge mit Fingern nach einem zeigt«. Und da er den Professoren Mangel an Lebenserfahrung vorhielt, so konnte er ihnen in ihrer Wissenschaft vorwerfen, dass bei ihnen die Erfahrung zur Magd der Theorie geworden sei, während doch die Theorie dazu da sei, der Erfahrung nachzuhelfen. Er, der ein so hinreißender Redner war, dass zeitgenössische Berichte von ihm sagen, er habe die Gabe gehabt, »mit seinen Worten die Dinge zu malen und fassbar (palpabili) zu machen«, tadelt nichts so wie die wortreichen Dispute der Professoren. In seiner Wertwelt steht die Geistesgegenwart an erster Stelle, und sie verlangt Lebensnähe. Er verachtet diejenigen, die die Bretter – und meint sowohl im wörtlichen Sinn die Bretterbühne als im übertragenen die Bühne des Ruhmes – mit der Hilfe anderer, getragen von fremden Armen, also mühelos ersteigen. »Es ist ja gerade schön«, so ruft er aus, »sich selbst hochzubringen ohne die Hilfe anderer, und das muss der Scharlatan jeden Augenblick tun.« Das ist nun wieder das genaue Gegenteil der scharlatanesken Gepflogenheiten, immer andere, hohe und höchste Herrschaften oder einfache Patienten zu Zeugen aufzurufen und mithilfe ihrer Atteste die Bühne des Ruhmes zu erklimmen. Keiner der Berichte erwähnt Beglaubigungen oder Atteste, die Vitali beigebracht hätte zur eigenen Beweihräucherung. Zeitgenössische Biografen behaupten, dass es kein Porträt des Anonimo gebe, und es würde dem Namenlosen durchaus gleichgesehen haben, wenn er keine Bilder von sich hätte anfertigen lassen. Er wird beschrieben als mittelgroß, dick, stattlich aussehend, von lebhafter Gesichtsfarbe und löwenartigen Zügen. Ein Stich, den zu finden gelungen ist, bestätigt diese Beschreibung, erscheint aber so konventionell, dass gerade noch ein schwacher Glanz von Güte erhalten, Humor und Eigenart des Mannes jedoch kaum zu ahnen sind. Viel lebendiger werden die Züge des Anonimo in dem bezaubernden Porträt, das Carlo Goldoni in seinen Memoiren von ihm entwirft. In der Lebensgeschichte Vitalis, die Goldoni erzählt, heißt es, dass er einen ungestümen Ehrgeiz hatte, die ganze Weite seines Wissens zur Geltung zu bringen (»aveva un’ ambizione sfrenata di far valere l’estesa delle sue cognizioni«) und dass er deshalb den Entschluss fasste, seine ehrenvolle Stellung (Universitätsprofessor) aufzugeben und das Brettergerüst zu besteigen, um zum Publikum sprechen zu können. Dass Vitali diesen Ehrgeiz hatte, ist sehr wohl zu glauben, der Grund ist aber darin zu suchen, dass er nicht nur an den Berufskollegen Kritik übte, sondern GR ET E DE FR A NCE SCO

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Sigmund Freud

» Ich meine die allgemeine Neigung der Menschen zur Leichtgläubigkeit und Wundergläubigkeit. Von allem Anfang an, wenn das Leben uns in seine strenge Zucht nimmt, regt sich in uns ein Widerstand gegen die Unerbittlichkeit und Monotonie der Denkgesetze und gegen die Anforderungen der Realitätsprüfung. Die Vernunft wird zur Feindin, die uns soviel Lustmöglichkeit vorenthält. Man entdeckt, welche Lust es bereitet, sich ihr wenigstens zeitweilig zu entziehen und sich den Verlockungen des Unsinns hinzugeben. «


sich selbst in seinem Beruf unbefriedigt gefühlt hat. Der Hörsaal war ihm zu eng, der Wirkungskreis zu klein. Goldoni erzählt, wie dieser Scharlatan auf die schwierigsten Fragen aus jedem Wissensgebiet und über die abstraktesten Probleme (»le materie più astratte«) von seiner Bude herab in der glänzendsten Weise geantwortet hat. Die Medizinen Vitalis lobt Goldoni sehr. Über des Anonimo Aufenthalt in Mailand wird berichtet: »Der Anonimo hatte in Mailand die Genugtuung, den Platz, auf dem er sich zeigte, voll von Menschen zu Fuß und zu Wagen zu sehen; da unter seinem Publikum die Gebildeten und Gelehrten aber spärlich waren, musste er Darbietungen bringen, die die unwissende Menge anziehen konnten. So verteilte der neue Hippokrates seine Heilmittel und übte seine Rhetorik umgeben von vier Masken der italienischen Komödie. Herr Buonafede Vitali war selbst ein Liebhaber der Komödie und unterhielt auf seine Kosten eine vollzählige Truppe von Komikern, die, nachdem sie ihrem Herren geholfen hatten Geld einzunehmen, das ihnen in verknoteten Taschentüchern zugeworfen wurde, die sie wieder mit Medikamenten gefüllt zurückwarfen, eine Komödie in drei Akten aufführten. Sie spielten mit freigebiger Großzügigkeit beim Lichte vieler weißer Wachskerzen. Ich wünschte den Anonimo kennenzulernen, und dies nicht nur wegen seiner außerordentlichen Eigenschaften, sondern wegen seiner Truppe. Eines Tages suchte ich ihn, unter dem Vorwande, eines seiner Heilmittel kaufen zu wollen, auf. Er fragte mich, an welcher Krankheit ich leide oder zu leiden glaube, und merkte aus meinen Antworten sehr rasch, dass mich nur die Neugierde zu ihm geführt hatte. Er ließ mir eine Tasse guter Schokolade bringen und sagte mir, dass das in meinem Zustande die beste Medizin sei. Ich fand diese Aufmerksamkeit außerordentlich fein (›… la galanteria graziosissima‹); als ich mich einige Zeit mit ihm unterhalten hatte, überzeugte ich mich, dass er im Privatleben ebenso liebenswürdig ist wie in seinem öffentlichen Auftreten kenntnisreich.« Goldoni, der noch jung und unbekannt war und eine Truppe suchte, die eine Komödie von ihm aufführen wollte, fand in Vitali, der selbst eine Komödie geschrieben hatte, einen teilnehmenden Förderer. Die Truppe des Anonimo zählte hervorragende Stegreifkünstler unter ihren Mitgliedern, und für sie schrieb Goldoni dann eine Komödie, den Gondoliere von Venedig. Gegen Fälschung und Lüge trat in offenem Kampf ein sehr origineller Scharlatan, Giuseppe Colombani, auf, der durch 24 Jahre auf dem Markusplatz zu Venedig als Zahnzieher tätig war. Wie Vitali war auch er aus Parma (geb. 1670) und begann als Söldner eine militärische Laufbahn. Er kam durch ganz Italien, auch nach Spanien, und brachte es zu einer seltenen Fertigkeit im Spielen der Trompete, Flöte, Oboe und Gitarre, auch hatte er in Spanien die Kastagnettentänze zu tanzen gelernt. Außerdem aber war er ein brillanter Fahnenschwinger und Florettfechter. In Malta wurde ein persischer Wundermann auf ihn aufmerksam und versprach ihm seine Tochter Angelika zur GR ET E DE FR A NCE SCO

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Frau, falls er mit seinen Künsten die Kunden des Persers, der Gegenmittel gegen Schlangengift verkaufte und sich im Besitz des Steines der Weisen rühmte, anlocken wollte. Colombani zog mit dem Perser, als er aber Angelika einmal fragte, ob der Vater auch Gold machen könne, verriet sie ihm, dass alles nur Schwindel sei. Colombani machte hierauf den Ehekontrakt rückgängig und kämpfte sein Leben lang gegen die betrügerischen Scharlatane. In einem Buch, das er ganz entgegen der Geheimniskrämerei der Scharlatane den »Offenen Schatz, aus dem Jeder Tugend, Gesundheit und Reichtum gewinnen kann« nannte (Venedig 1724), schuf er die Figur des Aufschneiders, Monsù Guascon, der, wie bei den Scharlatanen üblich, sich rühmt, schmerzlos alle Operationen ausführen zu können und dergleichen mehr. Ihm antwortet der »onorato Cavadenti«, der rechtschaffene Zahnzieher, also der Autor selbst, und erklärt ihm, dass es Zähne gebe, die beim Ziehen nicht schmerzen, und andere, die man ohne Schmerz nicht ziehen könne. In diesen Wechselreden beweist der »Alfier Lombardo«, so wurde Colombani genannt, viel Fachkenntnis. Auf seinem Bild findet man die Worte »Quod Tibi fieri non vis Alteri ne feceris« (»Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu«), gewiss ein löbliches Motto für einen Zahnarzt. Dass seine Berufsgenossen auf dem Markusplatz, wo er mit einem auf der Trommel exekutierten Menuett seine Patienten zusammenrief, ihn wütend anfeindeten, ist nicht zu verwundern. Unter ihnen befanden sich Herren, die hoch zu Ross behandelten, und wenn sie einen Zahn beim Ziehen abbrachen, dem Pferd die Schuld gaben, das sich im unrechten Moment geschüttelt habe. Sie mussten es sehr unangenehm empfinden, wenn Colombani seinem Monsù Guascon erklärte, dass die Angehörigen des geschädigten Patienten berechtigt wären, dem Zahnzieher und nicht den widrigen Umständen die Schuld zu geben. Dieser venezianische Zahnarzt war dem Anonimo geistesverwandt, allerdings ohne sein Format zu erreichen. Vitali war ein Genie, das unter die Scharlatane ging, weil es ihr schweifendes Leben liebte, dieses Leben auf den Marktplätzen, das in die erregende Nähe vieler unbekannter Menschen führte, mitten hinein in die lebendige Wirklichkeit. Eine merkwürdige Namenssymbolik will, dass im Namen des Namenlosen Vitalität mitschwingt wie ein Glockenton seines wahren Wesens. Der Mangel an Sesshaftigkeit zog den Anonimo an, die Heimatlosigkeit des Scharlatans hatte in seiner Vorstellung etwas Selbstgewähltes und Großes. Aber gerade die Heimatlosigkeit empfanden viele Scharlatane als bitteres Geschick. Bragadinos und Thurneyssers Heimweh war echtestes Gefühl. Es war sein immer wacher Protest gegen die Lebensblindheit der Professoren, der Vitali freiwillig unter die Scharlatane gehen ließ, die doch nicht mehr als einen »neckenden Triumphton gegen Vernunft und Wissenschaften« anzuschlagen wussten. Der künstlerische Impuls, der zur Kunst der Fälschung gehört, war bei ihm in Persönlichkeit und Lebensgestaltung begründet, niemals hat Vitali Meinung, Wissen und Wahrheit gefälscht. Aber 73

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er fälschte sein eigenes Wissen um die Eigenschaften der Scharlatane, indem er sie für sich und seine Ideale umdichtete. »Die Welt ist ein Theater«, so schrieb der Anonimo, »das aus Mimen und Zuschauern zusammengesetzt ist. Gespielt wird auf der Bühne der Welt das Leben, und der Autor dieser Vorstellung hat bestimmt, dass jede Figur sich anders kleide...« Und – das war die Meinung des Anonimo – wer Scharlatan ist, der soll auch als Scharlatan auftreten. Nicht Maskierung, sondern Demaskierung hatte er im Sinne. Wenn er sich Scharlatan nannte, so glaubte er sich zu sich selbst zu bekennen, aber er täuschte sich über das Wesen des Scharlatans und über sein eigenes. Der Scharlatan wollte anders scheinen als die andern, Vitali war anders. Was ihn mit dem Charakter des Scharlatans verband, ein scharlatanesker Zug seines Wesens, wenn man so will, das war die Überbetonung seiner Besonderheit, die zu einseitiger Betrachtung von Welt und Leben aus der Perspektive des Andersseins führte. So erklärt es sich, dass der vitale Protest dieses genialen Mannes nicht an die Tore der Universitäten pochte und sich in revolutionierende und produktive Mitarbeit umsetzte, sondern in einem ungemein liebenswerten, künstlerisch-schönen, abseitigen und im Grunde unfruchtbaren Scharlatan­-Dasein seinen Ausdruck fand. So wie der Anonimo sein eigenes Wissen vom Scharlatan verfälschte, weil er es nach seiner Sehnsucht umdichtete, so verfälschte er unwissentlich auch das Urteil, das die Kritischen unter seinen Zeitgenossen sich über den Typus des Scharlatans gebildet hatten, indem er, der kein Scharlatan war, als Scharlatan lebte und seine »Protestaktionen aus Ehrlichkeit« mit den charakteristischen Hilfsmitteln scharlatanesker Fälscherkunst in Szene setzte.

← Lawrence Brownlee als Nemorino, 2014

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ZWISCHEN MENSCH UND MENSCHELN

Diana Kienast im Gespräch mit Oliver Láng über Otto Schenk


Otto Schenk hat an der Wiener Staatsoper rund 30 Inszenierungen geschaffen, quer durch das Repertoire, von Mozart bis Cerha. Sie lernten ihn noch als Hospitantin kennen und haben im Laufe Ihres Wirkens sehr viele seiner Arbeiten miterlebt, mitbetreut, später als Oberspielleiterin auch neu einstudiert. Lässt sich im groben Überblick beschreiben, wie Otto Schenks Arbeitsweise, wie der von ihm geleitete Probenprozess aussah? Fangen wir am ersten Probentag an: Kam er mit einem fix-fertig eingerichteten Regiebuch? Erläuterte er sein Konzept? Nein, er kam nie mit einem Buch. Er hatte alles im Kopf. Und er sprach nie über allgemeine konzeptuelle Überlegungen, sondern ging immer gleich direkt an die Sache heran. Es gab bei ihm auch nie ein sogenanntes Konzeptionsgespräch, also eine erste Probe, bei der er alle Mitwirkenden in einem Referat über seine Ideen informiert hätte. Natürlich, im Vorfeld erarbeitete er mit seinen Bühnen- und Kostümbildnern die gemeinsamen Ideen und Vorstellungen – wobei ich glaube, dass er ihnen durchaus auch freie Hand ließ –, ab Probenbeginn aber ging es nur noch um die praktische Umsetzung. Das hat ihm ja – ganz offenkundig – die größte Freude bereitet. Um das technische Wo und Wie, also etwa um Probenpläne, hat er sich nie ernsthaft geschert – das machten seine Assistentinnen und Assistenten. DIANA KIENAST

Wie muss man sich eine Probe vorstellen? Otto Schenk im Zentrum, neben ihm die Assistentinnen und Assistenten? Ja, sie saßen ihm möglichst nahe, sie mussten immer exakt wissen, wo man gerade im Stück war und was als nächstes kam. Sie mussten auch Protokoll führen, um, wenn eine Szene nach einiger Zeit wieder an die Reihe kam, Auskunft geben zu können, was bisher erarbeitet worden war. Otto Schenk wollte übrigens, ganz im Gegensatz zu vielen anderen, kein Regiepult. Sondern er saß, und das ist schon legendär, immer auf einem leicht erhöhten Podest, einem möglichst imposanten Regiestuhl – in der Staatsoper war das meist ein Requisit aus einer älteren Produktion. DK

Sie sagten, dass er alles im Kopf hatte. Daraus folgt, dass er stets gut vorbereitet war. DK

Er war immer exzellent vorbereitet. Er kannte Text, Musik, Quellen, Literatur, einfach alles. Aber war, zum Beispiel beim Liebestrank, alles von Anfang an komplett ausgearbeitet? Oder entwickelte er das Meiste in der Probe?

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Er wusste immer, was er wollte. Er ist nicht der Typ von Regisseur, der sich etwas anbieten lässt und dann erst daraus seine Gedanken zum Stück ableitet. Also kein: »Schauen wir mal, was da herauskommt.« Aber dennoch war nichts in Stein gemeißelt, sondern alles wurde kreativ auf der Probe entwickelt. Wenn etwas gut war, dann hielt er es fest, was nicht bedeutete, dass es nicht auch überarbeitet werden konnte. Auch bei späteren Wiederaufnahmen seiner Inszenierungen hat er ja vieles neu entwickelt und Altes verworfen, im Sinne von: »Das war ein früher Schenk, jetzt aber machen wir es so.« Einerseits also genaue Vorbereitung und eine vorgegebene Richtung, die dank seiner Intellektualität und immensen Bildung zutiefst fundiert war, andererseits ein sehr vitales, emotionales Arbeiten im Augenblick. Ganz generell galt aber: Wie eine Rolle letztlich entwickelt wurde, hing bei ihm immer vom jeweiligen Gegenüber ab. Mit den Begabten, Spielfreudigen erarbeitete er gerne gemeinsam etwas – und sie arbeiteten alle sehr gerne mit ihm. Wenn allerdings nichts vom anderen kam, dann konnte er durchaus ungeduldig werden. DK

Hat er in der Probe mit den Sängerinnen und Sängern die Figur erst einmal in einem Vorgespräch umrissen? DK

Nein, auch das nicht. Es war immer ein: »Fangen wir an!« Ich erinnere mich an eine Fledermaus-Probe im Jahr 2011, die einerseits besonders spielerisch schien, es gab aber auch Momente eines sehr reschen Zugriffs.

An sich war die Probenatmosphäre immer lustvoll. Er ist ja ein Komödiant und das spielte er stets – zur Freude aller – voll aus. Aber er konnte auch ungemütlich werden, und das ungebremst. Ich erinnere mich da an eine Anekdote aus meiner Zeit als Hospitantin, als Otto Schenk die Meistersinger inszenierte. Man muss vorausschicken, dass er Wert darauf legte, dass ab der Orchesterhauptprobe, wenn es szenisch ums Essen geht, immer echte Speisen auf der Bühne waren. Geprobt wurde der dritte Akt, Festwiese, sämtliche Solisten, Chor und Statisterie waren versammelt, es gab Brezeln, Wurststände und so weiter. Wir kamen zum »Wach auf«-Chor, vor dem es eine Generalpause gibt. Ein Moment der besonderen Spannung – den einer der Statisten, ein älterer, hochgewachsener Mann, der sehr exponiert stand, dafür nützte, herzhaft in seine Semmel zu beißen. Otto Schenk erstarrte, dann rannte er aus dem Zuschauerraum, man hörte ihn am Gang schreien, toben, weinen, Christoph von Dohnányi unterbrach die Probe, eilte ihm nach, um ihn zu beruhigen. Den Rest kann man sich ausmalen. Der arme Herr Hammer, so hieß der Statist, wusste gar nicht, was er ausgelöst hatte. Aber diese Unsensibilität an einer so hochemotionalen Stelle – die riss Otto Schenks Geduldsfaden. DK

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Also es gab diese Heiligkeit des Theaters, die zu verteidigen war? Ja. Wobei man mit der Heiligkeit aufpassen muss, denn was Otto Schenk zutiefst zuwider ist, ist ein opernhaftes Pathos. Die große Geste. Ihm war selbst in den großen emotionalen Liebesduetten immer eher das Kleinteilige wichtig, kleine Verlegenheitsgesten oder ein Aufkeimen des Vertrauens. Auch große Momente hat er aus dem Menschlich-Unzulänglichen entwickelt, selbst und gerade, wenn es um ganz intensive Gefühle ging, die ja durch die Musik ohnehin schon überhöht wurden. Bei ihm – und das werfen ihm manche Kritiker vor – menschelte es halt immer. Aber was denn sonst? Oper ist ja von Menschen durch Menschen und für Menschen geschaffen. DK

Er ist ja Schauspieler, bedeutet das, dass er in der Probe vorspielte? Er hat sehr viel gespielt, manchmal Dinge auch ad absurdum geführt. Wie gesagt, er ist ein Komödiant und das machte die Proben, wenn es gut lief, für alle zu einem großen Vergnügen. Gleichzeitig war er unglaublich präzise und bestand auf Genauigkeit. DK

Im Sinne eines Timings oder eines Ausdrucks? Eher auf einen Ausdruck, eine Aktion, eine Gestik bezogen. Bleiben wir bei den Meistersingern. Ihm war ganz wichtig, dass Hans Sachs im 2. Akt seine Schusterarbeit richtig ausführte, also nicht nur einfach ein wenig am Leder herumklopfte, sondern die Werkzeuge und Arbeitsschritte in der richtigen Reihenfolge anwendete. Nicht, um einer handwerklichen Wahrheit willen, sondern um zu zeigen, dass Sachs jemand ist, der ein guter Dichter und ein guter Schuster ist, beides gewissenhaft ausführt. Und nicht einfach so tut als ob. Was er macht, macht er richtig, und diese Ernsthaftigkeit muss erfahrbar sein und sie musste daher gezeigt werden. DK

Ganz berühmt ist Otto Schenks Liebe zum Chor, die in gleichem Maße erwidert wurde. Seine Kunst, Choristinnen und Choristen zu führen, wurde ja schon oft gelobt. Es ist ganz simpel: Er hatte einfach keine Angst vor dem Chor. Man ahnt ja gar nicht, wie vielen Regisseurinnen und Regisseuren es da ganz anders geht: Da sind plötzlich sehr viele Menschen auf der Bühne, eine Masse, die man nicht kennt. Und die soll man bewegen. Otto Schenk sah das anders. Das war für ihn eben keine namenlose Masse, sondern eine Menge an Einzelpersönlichkeiten. Und er durfte auf jeden Einzelnen, jede Einzelne eingehen – und machte das auch mit größter Hingabe. Gerade dafür liebte ihn der Chor! Und dennoch verstand er es, diese vielen Einzelnen DK

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zu einem homogenen Ganzen zu verschmelzen. Da war er für viele ein großer Lehrmeister! Und viele könnten sich, was den Umgang mit dem Chor angeht, ein Stück abschneiden. War er ein effizienter Arbeiter? Ja, absolut. Und er nützte jede verfügbare Minute, so passierte es fast nie, dass er eine Probe früher beendet hätte als zu der vorgegebenen Endzeit. Das hat aber auch dazu geführt, dass er mit der vorhandenen Probenzeit ausgekommen ist. Da war er ganz der Theaterpraktiker, der nicht kompliziert war, sondern die Gegebenheiten kannte. Man hat so und so viele Wochen – und das muss sich ausgehen. DK

War es ihm wichtig, immer wieder einen auch für ihn neuen Blick auf Werke zu finden? Er hat, innerhalb der Probenarbeit, aber auch bei wiederholter Begegnung mit einem Werk, stets aufs Neue überprüft, ob seine Sicht für ihn noch Gültigkeit hat. Daran richtete er sich aus. Wenn er eine bessere Lösung fand, dann wurde sie natürlich angewandt. Ob diese Sicht aber nun ungewöhnlich oder etabliert war, war für ihn kein Kriterium. DK

Heute gelten seine Arbeiten als »klassisch«, doch vor Jahrzehnten wurden einige seiner Inszenierungen von Rezensenten als »modern« kritisiert. Es gab Proteste, als er in Don Carlo zum Beispiel den König Philipp im schmucklosen grauen Kostüm und nicht im königlichen Gewand zeigte. Er hat das nicht getan, um »modern« zu wirken, sondern, wie oben erwähnt, weil er stets vom Menschen ausging. Was immer König Philipp für eine mächtige Persönlichkeit war, in der Oper wird in seiner Arie »Ella giammai mʼamò!« seine ganze Verwundbarkeit gezeigt, da ist er ganz menschlich. Dass er ein König war, das weiß man ohnedies, das muss durch keine Krone unterstrichen werden. Wichtiger ist: Da singt ein Mensch, der Einsamkeit fühlt. Und daher ist, wenn man über Otto Schenks Arbeiten spricht, die Kernaussage wohl, dass es ihm immer um den Menschen ging. DK

Dem er sich mit Mitgefühl zuneigte. Ja, mit Mitgefühl, mit einem liebevollen, aber durchaus auch kritischen Blick. Vor allem aber, bei aller Bildung, bei allem Wissen und seiner Intellektualität, ganz unverkopft. Er arbeitete lieber mit einer Sinnlichkeit des Lebens und der Figuren, die sein Theater letztlich ausmachte. DK

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→ KSCH Otto Schenk auf seinem »Regiestuhl«

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Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


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Impressum Gaetano Donizetti L’ELISIR D’AMORE Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion 24. April 1980) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng basierend auf dem Elisir-Programmheft der Wiener Staatsoper der Spielzeit 2012/13 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Zwischen Menschen und Menscheln Übernahmen aus dem Elisir-Programmheft der Wiener Staatsoper der Spielzeit 2012/13: Die Handlung (übernommen aus dem Premierenprogrammheft dieser Produktion; englische Übersetzung: Andrew Smith) – Stefan Musil: Lacryma Christi gegen Bordeaux – Daniel Brandenburg: L’elisir d’amore oder von der tiefgründigen Heiterkeit – Alberto Zedda: Die erweiterte Cabaletta (übernommen aus dem Premierenprogrammheft dieser Produktion) – Eduard Hanslick: Die geretteten Inseln – Andreas Láng: Eine geniale Einspringeroper – Rotraud A. Perner: Blendungen – Bettina Steiner: Bleiben Adina und Nemorino zusammen? – Peter Lewisch: Der Liebestrank vor dem Strafgericht Weitere Übernahmen: Uwe Schweikert: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, in: Erfahrungsraum Oper, Metzler, 2018 – Grete De Francesco: Buonafede Vitali – der gute Scharlatan, in: Die Macht des Charlatans, Die andere Bibliothek, 2021

BILDNACHWEISE Coverbild: LAS VEGAS - JULY 29: A view of a neon Milkman sign on Fremont Street on July 29, 2009 in Las Vegas, Nevada. (Photo by Joan Adlen/Getty Images) Fotos Seite 2/3, 10/11, 19, 42, 53, 74, 81: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbild Seite 17: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH AKG-Images Seite 29, 46-47, 64-65 Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


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→ wiener-staatsoper.at


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