Programmheft »Der Ring des Nibelungen«

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DER RING DES NIBELUNGEN Richard Wagner


Wie durch Fluch er mir geriet, verflucht sei dieser Ring! Gab sein Gold mir Macht ohne Maß, nun zeug sein Zauber Tod dem, der ihn trägt! Kein Froher soll seiner sich freu’n, keinem Glücklichen lache sein lichter Glanz! Wer ihn besitzt, den sehre die Sorge, und wer ihn nicht hat, den nage der Neid! Jeder giere nach seinem Gut, doch keiner genieße mit Nutzen sein! Ohne Wucher hüt’ ihn sein Herr, doch den Würger zieh’ er ihm zu! Dem Tode verfallen fessle den Feigen die Furcht: so lang’ er lebt, sterb’ er lechzend dahin: Des Ringes Herr als des Ringes Knecht!

Alberich, Das Rheingold


INHALT

Die Handlung 4 Synopsis in English 9 Über dieses Programmbuch

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Die Welt im musikalischen Modell → Interview mit Franz Welser-Möst 18

Was ist Musikdrama → Judith Staudinger 26 Mehr Dichter als Musiker → Joachim Reiber 32 Der lange Weg zum Ring → Oliver Láng 38 Woher kommen die Personen im Ring → Andreas Láng 46 Der Ring des Nibelungen im Haus am Ring → Peter Blaha 58

Der Ring in heutiger strafrechtlicher Sicht → Peter Lewisch 64

Am Nullpunkt der musikalischen Moderne → Tobias Janz 76

Alberichs Fluch → Konrad Paul Liessmann 82


Verhandeltes Schicksal → Sven-Eric Bechtolf 88 Anmerkungen zur Walküre → Andreas Láng

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Klangdramaturgie und Leitmotivgewebe → Tobias Janz 100

»Den Ring muss man träumen« → Sven-Eric Bechtolf 106

Vor diesem Menschen muss alle Götterpracht erbleichen → Oliver Láng 114

Zur Musikdramaturgie des Siegfried → Tobias Janz 120 »Beim Träumen machen wir keine Fehler« → Sven-Eric Bechtolf 126

Der ruchlose Optimist → Konrad Paul Liessmann 136 Alles überlebensgroß behandelt → Oliver Láng 144 Tragödie und Spiel → Tobias Janz 148 Liebe als menschliche Hoffnung → Gespräch mit Sven-Eric Bechtolf 156 Der Weltenbrand → Konrad Paul Liessmann 160


DER RING DES NIBELUNGEN → Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend Musik & Dichtung Richard Wagner

Allgemein → Seite 4 Das Rheingold → Seite 74 Die Walküre → Seite 90 Siegfried → Seite 112 Götterdämmerung → Seite 142




DIE HANDLUNG

Das Rheingold In der Tiefe des Rheins hüten die drei Rheintöchter das Gold. Der Zwerg Alberich, der Herr der Nibelungen, beobachtet sie und versucht, sich eines der Mädchen zu greifen – vergeblich. Als das Gold in der Morgensonne erstrahlt, erfährt Alberich, dass das Gold nur jener rauben könne, der der Liebe für immer entsagt. Dieser könne aus dem Gold einen Ring schmieden, der dem Träger unermessliche Macht verleiht. Alberich schwört daraufhin der Liebe ab, raubt das Gold und schmiedet den Ring. Die Riesen Fafner und Fasolt haben für die Götter die Burg Walhall erbaut. Wotan, der oberste Gott, hat ihnen als Preis für ihre Bautätigkeit die Göttin Freia versprochen. Als die Riesen den Preis einfordern, wird er ihnen von den übrigen Göttern verwehrt, doch Wotan weiß, dass er als Herr der Verträge seinem Wort treu bleiben muss. Alle warten auf Loge, den listigen Gott des Feuers, der einen Ausweg finden soll. Dieser kommt schließlich und erzählt von Alberichs Goldraub und Machtgewinn. Die Riesen hören aufmerksam DIE H A N DLU NG

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zu und erklären sich bereit, auf Freia zu verzichten, wenn sie stattdessen das Gold Alberichs innerhalb eines Tages zum Tausch erhielten. Doch zunächst schleppen sie Freia als Pfand mit sich fort. Augenblicklich beginnen die Götter zu altern, da Freia sich als einzige auf die Pflege der goldenen Äpfel verstand, die ewige Jugend verleihen. Wotan und Loge begeben sich daraufhin nach Nibelheim, um Alberich den Ring abzulisten. Dieser lässt die Nibelungen für sich arbeiten und einen unermesslichen Goldschatz zusammentragen. Mithilfe des Goldes möchte Alberich die höchste Macht der Welt erringen und die Götter stürzen. Sein Bruder Mime muss für ihn einen Tarnhelm schmieden, mit dessen Hilfe er sofort jede gewünschte Gestalt annehmen kann. Als Wotan und Loge von Alberich einen Beweis für die Wirksamkeit des Tarnhelms verlangen, setzt Alberich den Tarnhelm auf und verwandelt sich u.a. in eine Kröte. Sogleich wird er von Wotan und Loge gepackt, gefesselt und fortgeschleppt. Um seine Freiheit wiederzuerlangen, muss Alberich Gold, Tarnhelm und Ring an Wotan ausliefern. Doch im Abgehen verflucht Alberich den Ring: Er solle seinem Besitzer außer Macht Tod und Unglück bringen. Wotan gibt das Gold widerstrebend an die Riesen weiter, den Ring aber erst auf Einspruch der Göttin Erda, die vor dem Unglück warnt, das der Ring bringen wird. Freia wird ausgelöst, der Fluch aber zeigt sich bereits: Im Streit um das Gold erschlägt Fafner seinen Bruder Fasolt. Die Götter ziehen in die Burg ein, die Rheintöchter aber beklagen den Verlust des Rheingolds. Nur Loge sieht trotz des prächtigen Einzugs nach Walhall das Ende der Götter voraus.

Die Walküre Erster Aufzug Siegmund erreicht, auf der Flucht vor Verfolgern, schwer erschöpft die Wohnstätte Hundings. Dessen Frau, Sieglinde, empfängt den Helden und gibt ihm zu trinken. Als Hunding heimkehrt, erzählt Siegmund sein von Unglücksfällen erfülltes Leben. Hunding erkennt bald, dass er jenen Mann vor sich hat, den zu töten er ausgezogen ist. Da er das Gastrecht wahren will, verschiebt er den Zweikampf mit dem waffenlosen Siegmund auf den nächsten Morgen. Sieglinde gelingt es, ihrem Gatten einen Schlaftrunk zu kredenzen. Außerdem weist sie Siegmund ein Schwert, das von einem rätselhaften Fremden in den Stamm einer Esche gestoßen wurde. Siegmund und Sieglinde, die in Liebe füreinander entbrannt sind, erkennen, dass sie Zwillingsgeschwister sind und verletzen mit ihrer inzestiösen, ehebrecherischen Liebe das Gastrecht. Zweiter Aufzug Der rätselhafte Fremde ist der oberste Gott Wotan, Hüter aller Verträge. Mit einer Sterblichen zeugte er das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde. 5

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Er will nun die Walküre Brünnhilde – seine Tochter aus der Verbindung mit der Göttin Erda – zum Kampfplatz senden, um Siegmund gegen Hunding den Sieg zu geben. Doch da interveniert Wotans Frau Fricka: Der Herr der Verträge dürfe Ungesetzlichkeiten wie Ehebruch und Inzest nicht decken. Wotans Hoffnung, dass einst ein Held den Ring des Nibelungen zurückgewinnen könnte, wird zuschanden. Er befiehlt Brünnhilde, gegen seinen eigenen Wunsch, Siegmund zu töten. Diese verkündet Siegmund den bevorstehenden Tod, verheißt ihm aber den Einzug in Walhall. Siegmund lehnt letzteres ab, als er erfährt, dass Sieglinde ihn nicht begleiten kann. Brünnhilde, gerührt von seiner Liebe, widersetzt sich Wotans Befehl und kämpft für Siegmund. Wotan ist gezwungen, Siegmund selbst den Tod zu geben. Dritter Aufzug Brünnhilde rettet die schwangere Sieglinde. Für Sieglindes und Siegmunds Sohn, der Siegfried heißen soll, hinterlässt sie das im Kampf gegen Hunding bzw. Wotan zerbrochene Schwert. Da erreicht der wütende Wotan die abtrünnige Walküre, entzieht ihr die Göttlichkeit und verurteilt sie, die Frau des ersten Besten zu werden. Schließlich mildert er sein Urteil ab: des Besten. Er umgibt sie mit einem Feuerwall, den nur der Beste durchschreiten kann.

Siegfried Erster Aufzug Siegfried ist bei Mime, dem Schmied, im Wald aufgewachsen. Als er nach seinen Eltern forscht, erzählt ihm Mime von Siegfrieds Mutter, die an seiner Geburt starb und lediglich das zerbrochene Schwert Nothung, das sein Vater im letzten Kampf trug, hinterließ. Als Siegfried wieder einmal im Wald unterwegs ist, erscheint ein Wanderer, in dem man Wotan erkennt, und fordert Mime zu einer Wissenswette heraus, die dieser verliert. Vom Wanderer erfährt Mime, dass nur jener, der das Fürchten nicht kennt, das Schwert Nothung neu schmieden könne. Mime weiß, dass es sich bei dieser Person um Siegfried handelt und verspricht diesem das Erlernen des Fürchtens im Kampf mit dem Drachen Fafner. Insgeheim hofft er, durch Siegfried den von Fafner gehüteten Nibelungenring und den Nibelungenhort zu erlangen. Siegfried gelingt es auf Anhieb, das Schwert Nothung zu schmieden. Zweiter Aufzug Vor der Drachenhöhle wacht Mimes Bruder Alberich. Der Wanderer, der diesen aufsucht, kündigt ihm die Ankunft Mimes und Siegfrieds an. Alberichs Versuch, Fafner zur Herausgabe des Ringes zu überreden, schlägt fehl. Siegfried tötet nach kurzem Kampf Fafner. Nachdem das Drachenblut Siegfrieds DIE H A N DLU NG

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Mund benetzt hat, versteht dieser die Sprache der Vögel. Ein Waldvogel macht Siegfried auf Ring, Tarnhelm und Hort aufmerksam. Den wieder herbeieilenden Mime, der Siegfried nach dem Leben trachtet, tötet er mit dem Schwert Nothung und folgt dem Waldvogel, der ihm von der schlafenden Brünnhilde erzählt. Dritter Aufzug Der Wanderer weckt Erda und erklärt ihr, dass er zugunsten des jungen Siegfried abdanken wolle. Der herbeieilende Siegfried behandelt den Wanderer kaum anders als zuvor Mime. Er zerschlägt dem Wanderer den Speer, an dem einst das Schwert von Siegfrieds Vater Siegmund zerbrach, und bahnt sich den Weg zum Felsen. Dort findet er die schlafende Brünnhilde, die er erweckt. Beide erwachen in Liebe zueinander.

Götterdämmerung Vorspiel Drei Nornen spinnen am Schicksalsseil, schildern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Alberichs Raub des Rheingoldes, den Fluch des Ringes, Wotans Selbstkonstituierung durch das Schneiden seines Vertragsspeeres aus der Welt­esche, ihr Verdorren, ihre Fällung, Siegfrieds Zusammentreffen mit Wotan. Doch das Schicksalsseil reißt, die Nornen fliehen hinab zu ihrer Mutter Erda. Am Walkürenfelsen verabschiedet sich Siegfried von Brünnhilde und wird von ihr mit schützenden Runen versehen; als Liebespfand lässt ihr Siegfried den Ring des Nibelungen. Erster Aufzug Hagen, der Sohn Alberichs, rät seinem Halbbruder Gunther und dessen Schwester Gutrune, den Ruhm zu vermehren: Gunther soll Brünnhilde heiraten und Gutrune Siegfried. Als dieser zu ihnen gelangt, reicht ihm Gutrune auf Ratschlag Hagens einen Trank, der Siegfried Brünnhilde jäh vergessen lässt – er verliebt sich in Gutrune. Um sie zu gewinnen, verspricht er, für Gunther Brünnhilde vom Walkürenfelsen zu holen. Nachdem er mit Gunther Blutsbrüderschaft geschlossen hat, eilt Siegfried davon, um Brünnhilde für Gunther zu gewinnen. In der Zwischenzeit wird Brünnhilde von ihrer Schwester, der Walküre Waltraute, aufgesucht. Diese fleht sie an, den Ring den Rheintöchtern zurückzugeben, um den Fluch zu lösen. Brünnhilde verweigert jedoch den Ring, da es sich um Siegfrieds Liebespfand handelt. Siegfried erscheint, durch seinen Tarnhelm in die Gestalt von Gunther verwandelt, durchschreitet das Feuer und bezwingt Brünnhilde. Als Zeichen ihrer Vermählung – mit Gunther – entreißt er ihr den Ring. 7

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Zweiter Aufzug In einer nächtlichen Szene mahnt Alberich seinen Sohn Hagen, für ihn den Ring zu gewinnen. Als die mit Gunther ankommende Brünnhilde Siegfried und Gutrune als Paar sieht und den Ring an Siegfrieds Hand erkennt, bezichtigt sie ihn des Treuebruchs. Siegfried leugnet seine Schuld. Doch Hagen, Gunther und Brünnhilde beschließen seinen Tod. Dritter Aufzug Auf der Jagd begegnet Siegfried den Rheintöchtern, die ihn um den Ring bitten und ihn vor dem Fluch warnen. Doch der Ring bleibt bei Siegfried. Die Jagdgesellschaft stößt zu ihm, auf Aufforderung Hagens erzählt Siegfried aus seinem bisherigen Leben. Während er spricht, reicht ihm Hagen einen Trank, der die Erinnerung an Brünnhilde wiederherstellt. Hagen erreicht damit das Geständnis des Treuebruchs und stößt ihm einen Speer in den Rücken. Sterbend gedenkt Siegfried seiner Liebe zu Brünnhilde. Im Streit um den Ring tötet Hagen Gunther, doch Brünnhilde macht nun ihr ursprüngliches Recht auf Siegfried – und den Ring – wieder geltend: Sie ordnet Siegfrieds Verbrennung an und stürzt sich selbst ins Feuer. Der über seine Ufer steigende Rhein überflutet die Brandstätte, die drei Rheintöchter ziehen Hagen, der den Ring für sich gewinnen will, in die Tiefe, der Ring ist wieder an den Rhein zurückgefallen. Während Walhall in Flammen aufgeht, erleben die Menschen in höchster Ergriffenheit den Untergang des Göttergeschlechts mit.

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SYNOPSIS

The Rhinegold (Das Rheingold) Deep in the River Rhine, the three Rhinemaidens guard the Rhinegold. The dwarf Alberich, ruler of the Nibelungs, watches them and tries – in vain – to capture one of the maidens. When the gold gleams in the morning sun, Alberich learns that it can only be stolen by someone who has renounced love for all time. The owner will then be able fashion the gold into a ring that will invest its wearer with immense power. Alberich immediately renounces love, steals the gold and fash­ions the ring. 9

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The giants Fafner and Fasolt have built the castle of Valhalla for the gods. Wotan, king of the gods, has promised the goddess Freia to them as a reward for building Valhalla. When the giants demand their prize, the other gods try to defend her, but as the god of treaties, Wotan knows that he must keep his word. All of them await the arrival of Loge, the cunning god of fire, who they hope will come up with a solution to the problem. Loge finally arrives and tells them that Alberich has stolen the gold and in so doing has acquired enormous power. The giants listen attentively and agree to relinquish Freia if they can have Alberich’s gold as compensation within a day. However, in the meantime they drag Freia off with them as a hostage. The gods immediately begin to grow older, as Freia is the only one who knows how to cultivate the golden apples that give them eternal youth. Wotan and Loge set off for Nibelheim to trick Alberich out of the ring. Alberich has the Nibelungs labouring for him, amassing a huge hoard of gold. Alberich plans to accumulate enough gold to make him the most powerful being in the world so that he can depose the gods. His brother Mime must manufacture the Tarn helmet for him; it allows the wearer to assume any desired form. When Wotan and Loge ask Alberich for proof of the Tarn helmet’s magic powers, Alberich puts on the Tarn helmet and turns himself into a toad. Wotan and Loge immedi­ ately seize him, bind him and drag him away. To regain his freedom, Alberich must surrender the gold, the Tarn helmet and the ring to Wotan. But as he departs, Alberich curses the ring: besides power, it will bring death and misfortune upon its owner. Wotan reluctantly gives the gold to the giants, but hands over the ring only when the goddess Erda steps in and warns him of the misery the that ring will bring. Freia is set free, but the curse of the ring has already begun to work: in a dispute over the gold, Fafner slays his brother Fasolt. The gods return to the castle, and the Rhine maidens bemoan the loss of the Rhinegold. Only Loge foresees the downfall of the gods, despite the magnificent procession entering Valhalla.

The Valkyrie (Die Walküre) Act 1 Completely exhausted whilst trying to escape from his pursuers, Siegmund the Wälsung reaches Hunding’s hut. Sieglinde, Hunding’s wife, shelters the hero and gives him something to drink. When Hunding returns home, Siegmund tells him of a life filled with tragedy. Hunding soon realizes that the man before him is the one he had set out to kill. Bound by the laws of hospitality, he puts of his fight with the unarmed Siegmund until the next morning. Sieglinde gives her husband a sleeping potion, and helps Siegmund to obtain an enchanted sword which a mysterious stranger once drove into the trunk of an ash tree. A passionate love develops between Siegmund and Sieglinde, who realize that they are twin brother and sister, and that their incestuous, adulterous love is in contravention of the laws of hospitality. SY NOPSIS

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Act 2 The mysterious stranger was Wotan, the chief god and guardian of all pledges. He once fathered the twins Siegmund and Sieglinde by their mortal mother. He now resolves to send the Valkyrie Brünnhilde – a daughter from his marriage to the goddess Erda – to the scene of the fight to give Siegmund victory in his combat with Hunding. However, Wotan’s wife Fricka intervenes: surely the lord of all pledges cannot tolerate such unlawfulness as adultery and incest? Wotan sees his hopes dashed that a hero may one day win back the Ring of the Nibelung. Against his own wishes, he orders the Valkyrie Brünnhilde to kill Siegmund. Brünnhilde tells Siegmund of his impending death, but promises him a glorious entry into Valhalla. Siegmund declines when he learns that Sieglinde cannot follow him there. Brünnhilde, touched by his love, disobeys Wotan’s order and fights for Siegmund. Wotan is forced to kill Siegmund himself. Act 3 Brünnhilde then rescues Sieglinde, who is heavy with child. Sieglinde and Siegmund’s son will bear the name Siegfried, and Brünnhilde gives him his father’s sword, shattered in the struggle with Hunding and Wotan. Furious with his recalcitrant Valkyrie, Wotan takes away her divinity and condemns her to become the wife of the first man she encounters. Finally he relents and changes his verdict to the bravest man she encounters. He surrounds the sleeping woman with a wall of fire that only the bravest man will be able to penetrate to awaken Brünnhilde again.

Siegfried Act 1 Siegfried has grown up with Mime, the blacksmith, living in the forest. When Siegfried asks about his parents, Mime tells him about his mother, who died giving birth to him and left nothing behind but the fragments of the sword, Nothung, which his father carried into his last battle. When Siegfried goes back into the forest, Wotan enters disguised as the Wanderer and challenges Mime to a battle of wits, which Mime loses. Mime learns from the Wanderer that only a hero who does not know fear will be able to weld the pieces of the sword Nothung together again. Mime realizes that this must mean Siegfried and promises to teach him fear by fighting the dragon Fafner. His hope is that through Siegfried he will obtain possession of the Nibelung ring and the Nibelung treasure. Siegfried immediately succeeds in forging the sword Nothung. Act 2 Mime’s brother Alberich lies in wait near the dragon’s cave. The Wanderer seeks him out and announces the arrival of Mime and Siegfried. Alberich tries unsuccessfully to persuade Fafner to hand over the ring. 11

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After a short fight, Siegfried kills Fafner. The moment the dragon’s blood touches Siegfried’s lips, he acquires the power to understand the bird’s song. A woodland bird tells Siegfried about the ring and the treasure. Mime comes scuttling back, intent on taking Siegfried’s life. However, Siegfried kills him with the sword Nothung and then follows the bird, who tells him of the slumbering Brünnhilde. Act 3 The Wanderer awakens Erda and tells her that he intends to abdicate in favour of the young Siegfried. Siegfried storms in and treats the Wanderer with the same contempt as he treated Mime. He dashes the Wanderer’s spear, which once shattered the sword of Siegfried’s father Siegmund, and makes his way to the rocky summit. There he finds the sleeping Brünnhilde and awakens her. The couple declare their love for one another.

Twilight Of The Gods (Götterdämmerung) Prologue The three Norns are spinning the rope of Fate and discussing the past, the present and the future: Alberich’s theft of the Rhinegold, the curse of the ring, Wotan’s act of self-constitution in which he cleaved his spear, with all the scared pacts carved into it, out of the World Ash, which then withered and was cut down, and finally Siegfried’s meeting with Wotan. When the rope of Fate breaks, the alarmed Norns descend to their mother, Erda. On the Valkyries’ rock, Siegfried takes his leave of Brünnhilde; she recites runes to protect him. As a token of his love, Siegfried gives her the ring of the Nibelungen. Act 1 Hagen, son of Alberich, advises his half-brother Gunther and Gunther’s sister Gutrune on how to advance the fame of the Gibichungs: Gunther should marry Brünnhilde and Gutrune Siegfried. Siegfried enters, and, at Hagen’s prompting, Gutrune hands him a magic potion that immediately causes Siegfried to forget Brünnhilde – he falls in love with Gutrune. In order to win her, he promises to fetch Brünnhilde from the Valkyries’ rock for Gunther. After swearing an oath of blood brotherhood with Gunther, Siegfried departs to bring back Brünnhilde for Gunther. In the meantime, Brünnhilde’s sister, the Valkyrie Waltraute, comes to visit Brünnhilde. She begs her sister to return the ring to the Rhinemaidens so that the curse may be lifted. However, Brünnhilde refuses to give up the ring, as it was Siegfried’s pledge of love to her. Siegfried appears, transformed by the Tarn helmet into the figure of Gunther; he strides through the fire and overpowers Brünnhilde. As a sign of her marriage – to Gunther – he tears the ring from her finger. SY NOPSIS

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Act 2 At night, Alberich urges his son Hagen to win back the ring for him. When Brünnhilde arrives with Gunther, she sees that Siegfried and Gutrune are a couple and, spying the ring on Siegfried’s hand, she accuses him of betraying her. Siegfried denies any wrongdoing, but Hagen, Gunther and Brünnhilde plot to kill him. Act 3 Out hunting, Siegfried meets the Rhinemaidens, who beg him to give them the ring and warn him of its curse. Siegfried nonetheless keeps the ring. The hunting party joins him, and at the request of Hagen, Siegfried tells them the story of his life. As he talks, Hagen hands him a potion that restores his memory of Brünnhilde. Hagen regards this as an admission of betrayal and thrusts his spear into Siegfried’s back. As he dies, Siegfried recalls his love for Brünnhilde. In the fight for possession of the ring, Hagen kills Gunther, but Brünnhilde now asserts her primary right to Siegfried – and the ring: she orders a funeral pyre to be built for Siegfried and then throws herself into the flames. The Rhine floods its banks and consumes the pyre, the three Rhinemaidens drag Hagen, who wants to keep the ring for himself, into the depths of the river, and the ring falls back into the Rhine. As Valhalla goes up in flames, with great anxiety humans witness the twilight of the gods.

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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

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Richard Wagners Der Ring des Nibelungen ist eines der raumgreifendsten und faszinierendsten Werke der gesamten Musikgeschichte. Vier Teile lang verhandelt Wagner Themen wie Macht und Liebe, über Besitzverhältnisse und den (freien) Willen. Über kein anderes Opernwerk gibt es so viel Literatur, selten findet man so widersprüchliche Sichtweisen und Interpretationsansätze wie zu diesem Werk. Das vorliegende Programmbuch wird durch ein Gespräch mit dem Dirigenten Franz Welser-Möst eröffnet, der ab 2007 die Neuproduktion der Tetralogie leitete; wie rote Fäden ziehen sich Auseinandersetzungen mit Einzelaspekten des Werks durch das Buch: Regisseur Sven-Eric Bechtolf nähert sich in (Selbst-)Gesprächen und einem Essay den vier Opern, der Musikwissenschaftler Tobias Janz steuert zu jedem der vier Teile eine musikalische Analyse bei, die auf Besonderheiten der Klangsprache und der Kompositionstechnik Wagners eingeht. Und Konrad Paul Liessmann beleuchtet Fragen rund um den philosophischen Gehalt der Werke und zeigt Einflüsse etwa Schopenhauers und Feuerbachs. Die Aufführungsgeschichte im Haus am Ring wird von Peter Blaha skizziert, Judith Staudinger stellt die Frage nach den besonderen Kennzeichen des Musikdramas, Joachim Reiber beschäftigt sich mit dem Dichter und Musiker Wagner. Der Jurist Peter Lewisch analysiert die vier Teile auf das reichhaltige strafrechtsrelevante Handeln der Beteiligten hin und Andreas Láng zeigt auf, auf welche Figuren der unterschiedlichsten Sagenkreise, die Wagner als Steinbruch benutzte, das Ring-Personal zurückgreift. ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH




DIE WELT IM MUSIKALISCHEN MODELL

Interview mit Franz Welser-Möst


Der Ring entstand über einen Zeitraum von rund 25 Jahren, in denen sich Wagner stets weiterentwickelte. Dennoch vermittelt die Tetralogie das Gefühl einer Einheitlichkeit. Ähnliches gelang schon Johann Sebastian Bach mit seiner h-Moll-Messe, die auch ungefähr über einen Zeitraum von 25 Jahren geschrieben wurde und ebenfalls wie aus einem Guss geformt ist. Wagner begann spätestens nach dem Fliegenden Holländer aus der Dichtkunst stammende Formen – wie Barform oder Strophenform – für seine Musik fruchtbar zu machen, denen er bis zum Parsifal treu blieb. Dadurch schuf er eine Art Überbau, die eine grundsätzliche Geschlossenheit garantierte – beim Ring sogar trotz der Kompositions-Unterbrechung mitten im Siegfried. Interessant in diesem Zusammenhang finde ich, wie sehr sich Wagner bewusst war, dass der Fluss des Gesamten bereits im Rheingold zerfallen könnte. In seinen Probenanmerkungen von 1876 findet man daher immer wieder die Bemerkung: »Weiter, weiter, weiter!« Und zu den Sängern sagte Wagner sinngemäß: »Wenn ihr nicht solche Langweiler wäret, würde das Rheingold in zwei Stunden fertig sein…«

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Wir sprachen bei der Premiere der Walküre 2007 darüber, ob Sie persönlich die allgemeine Rezeptionsgeschichte des Ring als Ballast empfinden. Sie haben das damals bejaht und festgestellt, sich von ihr möglichst befreien zu wollen. Wie ist das nun mit der eigenen Rezeptionsgeschichte, der jahrelangen persönlichen Auseinandersetzung mit einem Werk – möchte man sich von dieser ebenfalls befreien? Versuchen Sie jedes Mal neu zu beginnen, gewissermaßen mit einer blütenweißen Partitur? Selbstverständlich ist es notwendig, wenn man eine künstlerische Auseinandersetzung ernst nimmt, ausgetretene Pfade zu meiden. Auch die eigenen. Was aber nicht heißt, dass die jahrelangen Erfahrungen nicht ebenfalls mit einfließen beziehungsweise einfließen sollten. Ein Neuanfang ist also immer möglich – allerdings basierend auf dem Weg, den man bis dahin zurückgelegt hat.

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Man entdeckt in jedem Meisterwerk immer wieder neue Kostbarkeiten. Wie kann man sie in ihrer Gesamtheit dem Publikum nahebringen, schließlich lässt sich nicht alles gleichzeitig verwirklichen? Bei einer Symphonie, einer Sonate ist das leichter: Da gibt es Wiederholungen, die ich unterschiedlich gestalten kann: Einmal unterstreiche ich eher die harmonischen Besonderheiten, dann lasse ich vielleicht bestimmte Gegenstimmen hervortreten. Solche Wiederholungen ganzer Passagen sind in der Oper aber eher selten. Hilft IN T ERV IEW MIT FR A NZ W ELSER-MÖST


es, wenn man das Tempo gelegentlich so weit wie möglich drosselt, um dadurch quasi ein Vergrößerungsglas auf bestimmte Stellen zu richten und auf diese Weise die Vielfalt der Partitur eindrücklicher zu vergegenwärtigen? Jedes Werk besitzt eine vom Komponisten geschaffene Architektur, die unbedingt gewahrt bleiben muss und in der alles aufeinander bezogen ist. Herbert von Karajan sprach in diesem Zusammenhang von der notwendigen Vogelperspektive, vom alles überschauenden Blick. Es wäre verfehlt, wenn man nach dem Motto aus Goethes Faust – »Verweile doch, du bist so schön« – nur von Moment zu Moment wechselte und dabei das große Ganze aus den Augen verliert. Wenn ich zum Beispiel ununterbrochen gewaltige Rubati oder Ritardandi mache und dadurch die Form ausfranse, nur um in einzelnen Passagen zu baden, können diese paar Takte im Augenblick jeweils sehr wirkungsvoll sein – im Gesamten stellt sich aber sehr bald unweigerlich das Gefühl der Abgegriffenheit und Langeweile ein. So etwas hat wenig mit dem Kunstwerk, aber viel mit der Selbstverliebtheit des Interpreten zu tun. Ich kann sehr wohl Nebenstimmen hervorholen oder harmonische Strukturen offenlegen, aber nicht durch die Ausbeulung der Form, sondern beispielsweise durch gezielte Klangfarbenmischungen.

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Wenn man von Klangfarbenmischungen spricht, kommt man in unserem Fall sehr rasch zum Staatsopernorchester und dessen unverwechselbaren Klang, der im Wesentlichen von der Akustik der Staatsoper und des Musikvereins geprägt wurde. Ergibt dieser automatisch eine Art Wiener Ring-Interpretation? Denkt man an den geradezu süchtig machenden Klang der Musik Wagners, verwundert es kaum, dass Friedrich Nietzsche diese einmal als Nervengift bezeichnet hat. Natürlich ist daher der Orchesterklang, den Wagner im Laufe des Rings – und ganz besonders in der Götterdämmerung – immer deutlicher zu einem der Hauptakteure macht, ganz essenziell für die Interpretation. Und in Wien kommt die besondere Tradition dieses unbestritten großartigsten Opernorchesters der Welt hinzu: Wir beide haben noch den ehemaligen Konzertmeister Walter Barylli erlebt, der wiederum Arnold Rosé erlebt hat, der unter Mahler gespielt hat und dessen Kollegen noch unter Wagner musizieren durften. Das ist eine nur kurze, wenig gliedrige Generationenkette, die unter anderem auch unterstreicht, dass dieser süße Wiener Geigenklang schon zu Wagners Lebzeiten genau in dieser Form existiert hat. Wir haben also in der Wiener Staatsoper tatsächlich eine Art Originalklang-Ensemble im Graben, wenn wir Wagner spielen – genauso wie im Fall von Richard Strauss, Johann Strauß, Gustav Mahler, Anton Bruckner usw.

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Welcher Teil des Rings ist hinsichtlich der Interpretation am herausforderndsten? Im gesamten Ring: Das Rheingold. Prinzipiell aber alle dialogischen Stellen, dort, wo viel »geredet« wird. Die musikalischen Hits, wie die Winterstürme in der Walküre, den Trauermarsch in der Götterdämmerung kann man nahezu nicht zugrunde richten. Die dialogischen Stellen hingegen sehr wohl. Wenn die nicht wirklich gut gemacht sind, dämmert das Publikum ganz sicher sehr schnell weg. Auch da geht es darum, dass man die Wellenbewegungen der quasi rezitativischen Stellen im Gesamten erfasst, das Konzept des Komponisten verinnerlicht und nicht nur versucht, sich von Satz zu Satz oder von Takt zu Takt weiterzukämpfen.

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Bleiben wir bei den dialogischen Stellen: Das Rheingold haben Sie einmal sogar als richtiges Konversationsstück bezeichnet. Warum hat Wagner gerade in diesem ersten Teil diese Form angewandt? Wenn man sich die Partitur genauer ansieht, merkt man, wie ausgedünnt der Orchesterpart im Rheingold eigentlich ist. Der Grund dafür ist, dass Wagner im gesamten Stück einen großen Wert auf das Wort legt, da er den Zuhörer in das Geschehen, in die Welt seines Nibelungenrings einführen will. Eine große Zahl an Erklärungen, die für das weitere Verständnis der Tetralogie notwendig sind, werden daher hier, in diesem Werk getätigt. Nicht umsonst nennt er den ersten Teil des Rings »Vorabend« und nicht »Oper«. In der Walküre – in meinen Augen von der Gattung her das Liebesdrama innerhalb der Tetralogie – beginnt er zwar nach dem einleitenden Sturm im ersten Akt ebenfalls in einem vergleichbaren Konversationston, verlässt diesen aber bald wieder. Es fällt außerdem auch auf, dass es im Rheingold wesentlich weniger symphonische Abschnitte gibt als in den drei nachfolgenden Stücken. Die Zwischenspiele sind sehr kurz gehalten und dienen lediglich als Verwandlungsmusiken. In der Götterdämmerung beispielsweise sieht die Sache ganz anders aus, dort wird auch in den rein orchestralen Teilen etwas erzählt – denken wir etwa an Siegfrieds Rheinfahrt oder den Trauermarsch.

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Wovon kann es abhängen, welchen Gegenständen, Ideen etc. Wagner Leitmotive zugedacht hat? Es geht nur um die Geschichte, die Wagner zeigen und behandeln will, nur die muss schlüssig, auch musikalisch schlüssig, erzählt werden. Das, was ihm wirklich wichtig war, wird gesagt, andere Dinge hingegen spielen einfach keine Rolle. Er muss nicht auch noch den dritten Baum von links mit einem Motiv bedenken: denn dieser hat keine Bedeutung!

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DIE W ELT IM MUSIK A LISCHEN MODELL


Die Walküre wirkt szenisch in vielen Elementen – trotz riesiger Orchesterbesetzung – kammerspielhaft. Wie geht man mit dieser Spannung zwischen Orchesterbesetzung und szenischer Gestaltung um? Zunächst gilt es zu erkennen, worum es gerade geht. Eine rezitativische Stelle ist eine rezitativische Stelle, wenn da das Orchester zu stark »draufdrückt«, verliert sie einfach ihren Sinn. Aber auch in den reichhaltiger instrumentierten Teilen gibt es Unterschiede. Etwa Passagen, die fast impressionistisch gestaltet sind, in denen vieles auf Claude Debussy vorausweist. In der Todesverkündigung, wenn Brünnhilde von den Wunschmädchen singt, muss es zum Beispiel ganz leicht klingen. Wenn der Dirigent das weiß, behandelt er sie entsprechend. Dann gibt es die üppigeren Stellen – ganz klar etwa der Walkürenritt –, die gänzlich anders gestaltet werden. Wichtig ist, Richard Wagner zu folgen, zu beachten, ob er mehr auf den Dichter, auf den Komponisten, in die Zukunft oder in die Gegenwart schaut; auf diese Blickrichtungen, sowohl vom Dichterischen als auch vom Musikalischen her, kommt es an! So kann der Dirigent genau dosieren, ob das Orchester als Begleitung oder als Untermalung einer Gesangslinie eingesetzt wird, oder ob es sogar die psychologische Deutung einer Szene übernimmt.

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Rheingold ist das Konversationsstück, Walküre das Liebesdrama. Kann man auch Siegfried zuordnen? Natürlich, denn Richard Wagner schreibt auch in einer Anmerkung, dass das Ganze wie eine komische Oper klingen soll. Also Siegfried ist schon – zumindest zu einem Teil – das Lustspiel im Ring, das Scherzo.

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Und die ernste Wanderer-Erda-Szene am Beginn des dritten Aufzugs? Diese Szene schafft einen Gegenpol. Denn in jeder Komödie ist auch das Element der Tragödie ganz wichtig. Gerade dieser Kontrast macht die komischen Aspekte insgesamt unterhaltsamer.

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Merkt man das Komische auch in der Musik? Oder anders gefragt: Gibt es Humor in der Musik? Unbedingt! Wenn Sie das Lebenslust-Motiv hernehmen, das immer wieder in den verschiedensten Formen vorkommt, oder die Stelle, an der Siegfried Mimes Wesen beschreibt: das ist ja alles humoristisch!

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Und wenn beide – Siegfried und Mime – zum Lachen anfangen, dann ist in der Musik sehr, sehr viel Humor drinnen. Der Götterdämmerung wurde von mehreren Kritikern, im Speziellen von Eduard Hanslick, vorgeworfen, dass sie vom musikalischen Material her nichts Neues mehr bringt. Wie weit ist dieser Einwand berechtigt? Wir wissen, dass Eduard Hanslick oft Unrecht hatte – wie auch in diesem Fall. Natürlich wäre man – wenn man nur das reine musikalische Material nimmt und alle Motive des gesamten Ring hintereinander stellt – in drei Minuten fertig. Aber darum geht es ja nicht. Sondern darum, dass Wagner aus diesen einzelnen Motiven, aus ihrer Veränderung sowie deren Beziehung zueinander ein komplexes Nervengeflecht aufgebaut hat. In dieser Verarbeitung und Weiterentwicklung liegt das Faszinierende.

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Mozart, Verdi sind bekannt dafür, alle ihre Bühnencharaktere zu lieben – so wie dies schon Shakespeare tat. Bei diesen dreien gibt es daher keine Parteinahme und keine Verurteilung einzelner Figuren. Wagner scheint mir einen anderen Weg zu gehen: Eine viel schwärzere, fahlere, unfrohere Musik beispielsweise als die Unterredung Hagen-Alberich in der Götterdämmerung gibt es fast nicht, und der Tritonus in Hagens »Zurück vom Ring« sagt ja wiederum etwas Wertendes über die Figur aus. Ich glaube, Wagner liebte zuallererst sich selbst. (lacht) Nein, im Ernst: Man muss bei Wagner differenzieren: Im Ring, Parsifal, Lohengrin, Holländer haben wir es mehr oder weniger mit mythologischen Figuren zu tun, die symbolhaft für etwas stehen. Da ist sein persönlicher Bezug ein anderer als in den Meistersingern, in denen Personen aus Fleischund Blut auftreten. Diese liebt Wagner sehr wohl – zumal er sich in Hans Sachs und Walther von Stolzing wiederfindet. Aber er liebt auch das Evchen. Beim antisemitisch gezeichneten Beckmesser sieht die Sache dann allerdings wieder anders aus…

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Im gesamten Ring weisen Wotan und Brünnhilde die größte Entwicklung auf. Ist dieses Reifen musikalisch ebenfalls nachvollziehbar? Rein von der Tessitura her entwickelt sich Wotan vom Rheingold bis zum Siegfried in die Höhe, ist also zum Schluss deutlich eher Bariton als zu Beginn. Grundsätzlich wirkt er im Rheingold noch richtiggehend selbstbewusst, was auch durch seine Redefreudigkeit unterstrichen wird. Je

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weiter die Geschichte aber voranschreitet, desto zielloser und verschlossener scheint er zu werden. Im Siegfried ist er als Wanderer – und das ist ja genau genommen auch keine Bezeichnung für einen Gott – einer, der sich im Prozess des Loslassens übt. Schauen Sie die Musik in dem Moment an, in dem er als Wanderer zum ersten Mal auf die Bühne kommt: sie hat etwas Stoisches, etwas sehr Schönes, ist nicht mehr so direkt materiell, zupackend wie in der Walküre oder im Rheingold. Ich finde es also sehr bezeichnend, dass er in der Götterdämmerung gar nicht mehr auftaucht. Bei der Brünnhilde geschieht interessanterweise vokal eine gegenläufige Entwicklung, die mit der charakterlichen Wandlung von der Schlachten-Heldin zum opferbereiten, liebenden Menschen Hand in Hand geht. Schmettert sie in der Walküre noch ihre hohen Hs und Cs heraus, so erinnert ihr Schlussgesang in der Götterdämmerung vom Ausdruck her an den Liebestod in Tristan und Isolde. Rein musikalisch sind die Meistersinger und Tristan gewissermaßen zwei Antithesen, die als Synthese dann Parsifal ergeben? Wo liegt der Ring in diesem Spannungsfeld? Mit dem Ring hat Wagner versucht, die Welt zu ergründen, im Modell zu erklären – und das über eine geradezu privat entwickelte, oder zumindest weiterentwickelte Mythologie. Wir haben also einen ganz eigenen Kosmos vor uns, der weit abseits von der Trias Tristan-Meistersinger-Parsifal liegt.

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Aber ist Parsifal inhaltlich nicht genau jener Held, der im Ring fehlt? Der Held, der aus eigener Erkenntnis heraus das Erlösende vollbringt, der Held, von dem Wotan in der Walküre träumt? Ich würde insofern dagegenhalten, als die sogenannte »Erlösung« im Parsifal letztlich in drei Minuten abgehandelt wird. So intensiv beschäftigt Wagner dieses Thema in seinem letzten Bühnenwerk gar nicht mehr. Im Ring zeigt er hingegen ein echtes Weltentheater, das nicht umsonst gern mit Goethes Faust verglichen wird. Ein Weltentheater, bei dem es im letzten Teil, in der Götterdämmerung, schließlich um ein großes Abschiednehmen geht. Aber wovon Abschied genommen wird, ist eigentlich nicht ganz klar. Wir wissen jedenfalls, dass Wagner nach einer Vorlesung des Ring in Zürich auf die Frage, was das Ganze denn soll, die Antwort »Das weiß ich auch nicht« gegeben haben soll. Vielleicht ist der Nibelungenring unbewusst Wagners Abschiednehmen von der Utopie, dass es die Menschen einst besser machen werden als die Götter, die ja kolossal in ihrem Weltenentwurf scheitern. →

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KS Nina Stemme Sieglinde, → Dieses Interview ist eine Kompilation aus Gesprächen, die Oliver Láng und als Die Walküre Andreas Láng mit Franz Welser-Möst zwischen 2007 und 2023 geführt haben. (2007)

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Judith Staudinger

WAS IST MUSIKDRAMA?

Heldensage und Göttermythos, Auseinandersetzung mit der menschlichen Gesellschaft und den archetypischen Motiven Liebe, Macht, Verrat und Vergebung – der Ring des Nibelungen stellt als Musikdrama von ungeheurem Ausmaß seit seiner Entstehung ein Faszinosum sondergleichen dar. Dabei ist dieser gigantische Opernzyklus in vier Teilen eine Umsetzung der zentralen kunstästhetischen Vision Richard Wagners: Die Verwirklichung des Gesamtkunstwerks. Die Oper als Kunstform scheint dafür prädestiniert, vereint sie doch vier Künste: Musik, Dichtung, bildende und darstellende Kunst. Was jedoch unterscheidet das Musikdrama im Sinne Richard Wagners von anderen Opern? In seiner theoretischen Schrift Oper und Drama (Zürich, 1851), die mit der Entstehungsgeschichte der Ring-Tetralogie eng verbunden ist, deckt Richard Wagner den »Irrtum«, der seines Verständnisses nach dem Kunstgenre der Oper innewohnte, in einem oft zitierten Satz auf: dass nämlich »ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht war.« Oder anders gesagt: »Bloß um der J U DIT H STAU DINGER

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Egon Friedell → Kulturgeschichte der Neuzeit

Wagners Musikdrama ist nicht bloß Gesang und Begleitung, sondern auch Bewegung und wird dadurch erst zum wahren Gesamtkunstwerk. Schritte, Gesten, Blicke sind bei ihm nicht dem Zufall oder der Willkür überlassen, sondern durch die Musik genau bestimmt. Dies erstreckt sich sogar auf die Bewegungen der stummen Natur: Der Strom im Rheingold, der Wald im Siegfried sind beseelte Wesen, deren Lebensäußerungen das Orchester aufmerksam begleitet. Hierin zeigt sich Wagner wiederum als grandioser Regisseur.


Wirksamkeit der Musik Anhalt zu irgendwie gerechtfertigter Ausbreitung zu verschaffen, wird die Absicht des Dramas herbeigezogen.« Und Wagner setzt sich das Ziel, zu beweisen, dass durch das Zusammenwirken von Musik mit der dramatischen Dichtkunst dem Drama eine neue, »noch nie zuvor geahnte Bedeutung zuteil werden könne und müsse.« Deutlicher noch wird Wagner in seinem Brief an den Weimarer Intendanten Ferdinand von Ziegesar: »Ein großer Irrthum ist es nun, wenn wir glauben, ein Publikum müsse im Theater speziell Musik verstehen, um den Eindruck eines musikalischen Drama’s richtig empfangen zu können; zu dieser ganz falschen Ansicht sind wir dadurch gebracht worden, das in der Oper fälschlich die Musik als die Absicht, das Drama aber nur als das Mittel der Musik verwendet worden ist.« So die Kritik, doch wie sieht Wagners Vision aus? Im Brief heißt es weiter dazu: »Umgekehrt soll nun die Musik nur in höchster Fülle dazu beitragen, das Drama jeden Augenblick auf das Sprechendste klar und verständlich zu machen, so dass beim Anhören einer guten Oper gewissermaßen an die Musik gar nicht mehr gedacht, sondern sie nur noch unwillkürlich empfunden werden, dagegen die vollste Theilnahme für die dargestellte Handlung uns ganz und gar erfüllen soll.« Um den Begriff des Musikdramas zu verstehen ist es wichtig, sich klar zu machen, dass Wagner mit der Bezeichnung »Drama« eben nicht bloß den Text meint. Das altgriechische δρᾶμα bedeutet Handlung. Bereits Aristoteles (383 – 322 vor Christus) grenzte es scharf vom Epos ab. Dieser kann sich zwischen zwei Buchdeckeln entfalten, wird doch nur erzählt, was geschieht. Ganz anders beim Drama, wo sich unmittelbar alles um die Handlung dreht und das auf die Bühne gehört: dargestellt von Schauspieler*innen (oder eben Sänger*innen), inszeniert von der Regie, durch alle Bühnenelemente von Licht, über Bühnenbild bis zu Kostümen unterstützt. Und Aristoteles definiert auch den Begriff der Tragödie: Ein Mensch mit edlem Charakter, der mit besten Absichten unverschuldet in einen Konflikt gerät, der zu seinem Untergang führt, steht im Zentrum der Tragödie. Kern der Handlung ist also der Konflikt. Durch das tragische Scheitern des Helden würden die mitfühlenden Zusehenden emotional erschüttert – sie verfallen ins »Jammern« und »Schaudern« – was laut Aristoteles der Seele zur Reinigung verhelfen soll, also die berühmte »Katharsis« herbeiführen. Doch ist Wagner eben nicht hauptsächlich Theoretiker. Die Probleme, mit denen er sich bei der Ausarbeitung des Siegfried-Stoffes kompositorisch befasste, beeinflussten die Ausführungen in Oper und Drama und umgekehrt: So formulierte er das Prinzip der »Vergegenwärtigung« als Grundsatz musikalisch-dramatischer Gestaltung. »Erinnerung« und »Ahnung« – Vergangenheit und Zukunft – sollten als dramatisch verdeutlichte musikalische Motive bestimmt und strukturell verknüpft werden. Wichtig ist die Handlung, wie J U DIT H STAU DINGER

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sie sich in Text, szenischer Aktion, Inszenierung, Bühnenbild und eben auch Musik manifestiert. Und da es möglich ist, das »Unaussprechliche« mittels Musik auszudrücken, fällt dieser die Aufgabe zu, Gefühlswegweiser auszubilden und mittels melodischer Momente (oder Leitmotive) zum dramatischen Ganzen zu entfalten.

Die Gestaltung des Ganzen » … denn bisher warf immer der Sonnengott die Dichtgabe mit der Rechten und die Tongabe mit der Linken zwei so weit auseinanderstehenden Menschen zu, dass wir noch bis diesen Augenblick auf den Mann harren, der eine ächte Oper zugleich dichtet und setzt.« So schrieb Jean Paul 1813 – dem Geburtsjahr Richard Wagners, und man könnte meinen, es gäbe einen Zusammenhang. Ist es doch Richard Wagner, dessen Bestreben nichts weniger ist als die Gestaltung des Ganzen. Musik ist für Wagner »Kunst des Ausdrucks«, die nicht aus eigenen Mitteln »dramatisch« zu sein vermag. Eine Handlung jedoch, die – wie er es traditionellen Opern unterstellt – nur als Vorwand für das Singen von schönen Arien dient, ist es ebenfalls nicht. Ganz anders im Musikdrama, wo Musik, Handlung, Text, Bühnenbild und Regie so ineinandergreifen, dass eine tiefgründige und einheitliche Erzählung entsteht. Als Verwirklicher seiner Vision vom Gesamtkunstwerk ist Richard Wagner nicht nur Komponist des Opernzyklus, sondern auch sein Textdichter und gibt darüber hinaus detaillierte szenische Anweisungen an die Regie. Aus der Ablehnung gegenüber einer Handlung, die nur dazu dient, eine Kette von Arien, Duetten oder Ensembles zu verbinden, entstehen Innovationen, die die Opernwelt revolutionierten und viele nachfolgende Komponisten und Opernproduktionen beeinflussten. Wagner schafft in seinen Musikdramen (zu denen neben dem Ring des Nibelungen auch die Opern Tristan und Isolde, Die Meistersinger von Nürnberg und Parsifal zählen) eine kontinuierliche Musik, die die Handlung und Emotionen der Charaktere ununterbrochen untermalt. Es gibt keine klar definierten Arien, sondern längere Musikpassagen, die sich organisch aus der Handlung entwickeln. In diesem Zusammenhang ist auch der von Wagner eingeführte Begriff der »unendlichen Melodie« zu verstehen, mit der er in der Schrift Zukunftsmusik seine durchkomponierten Werke mit ihrer durchgehenden melodischen Entwicklung von traditionellen Nummernopern abgrenzt. Wagner verwendete Musik auch als Symbol und zur Erzeugung von Atmosphäre und Stimmung. Besondere musikalische Themen oder Motive, die sogenannten Leitmotive, sind mit bestimmten Charakteren, Ideen oder Emotionen verbunden. Sie unterstützen den Handlungsverlauf und geben dem Publikum Hinweise etwa auf Querverbindungen. Da ihnen eine 29

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genuin epische Technik der Rekapitulation und der Reflexion innewohnt, evozieren sie Visionen oder erinnern an Vergangenes – die »Vergegenwärtigung« wird Wirklichkeit.

Auf den Schultern von … So stark das Musikdrama als spezifische Ausprägung des Musiktheaters als Gesamtkunstwerk auch mit der Person Richard Wagner verknüpft ist, der dieses in den späten 1840er Jahren entwickelte und zur in Europa führenden Ausprägung des großformatigen Operntypus aufsteigen ließ, lassen sich doch auch Vorbilder ausmachen. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert gab es Theaterreformen, deren Ziel es war, der Handlung ein stärkeres Gewicht zu geben und die genaue Ausdeutung der Handlung, Charaktere und Affekte durch die Musik forderten. Ein unmittelbarer Einfluss war die französische »Grand opéra«, die »Große Oper«, wie sie zwischen dem Vorabend der Julirevolution von 1830 und dem Jahrzehnt nach den Revolutionen von 1848/1849 in Paris vorherrschte. In aufwendigen, sehr sorgfältig ausgearbeiteten Inszenierungen wurden historische Stoffe in einer Verschränkung von Romantik und Realismus dargeboten, etwa in Giacomo Meyerbeers Robert le diable (Robert, der Teufel). Einen entscheidenden Bezugspunkt fand Richard Wagner jedoch in viel weiterer zeitlicher Ferne: Die attische Tragödie aus der Blütezeit Athens (circa 480 bis 430 v. C.) diente Wagner als ästhetisch-politisches Modell.

Und die Kritik? Richard Wagners neue künstlerische Konzepte und ihre Umsetzung stießen nicht nur auf Begeisterung. Einer der größten Gegner des Musikdramas war der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick. In seiner Schrift Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, die 1854 erstmals erschien, kritisiert er Wagners Musikdramen und formuliert seine Ablehnung gegenüber der Musik als Ausdruck von Emotionen. Hanslick argumentiert, dass Musik unabhängig von jeglicher Handlung oder Emotion besteht können müsse. Gegen Wagners Musikdramen brachte er etliche Argumente vor: Die musikalischen Leitmotive und die Symbolik in Wagners Musikdramen würde zu einer Überfrachtung der Musik führen und die Musik ihrer reinen Ästhetik berauben. Hanslicks Kritik an Wagners Musikdramen wurde von vielen seiner Zeitgenossen geteilt, insbesondere von Vertretern der »absoluten Musik«-Bewegung, die die Idee befürworteten, dass Musik ein rein ästhetisches Erlebnis sein solle. Und auch die Literaten tun sich mit Richard Wagners Konzepten nicht ganz leicht. Thomas Mann etwa reibt sich hinsichtlich des Gattungsbegriffs: J U DIT H STAU DINGER

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»Ich habe oft Mühe, ihn als Dramatiker zu empfinden. Ist er nicht eher ein theatralischer Epiker?« fragt der Schriftsteller in seinen Betrachtungen über Wagner und unsere Zeit (1963). Für Mann steht fest, dass »Wagners Verhältnis zur Sprache nicht dasjenige unserer großen Dichter […] war, dass es der Strenge und Delikatesse entbehrt […]«. Was Wagner unter Drama verstehe sei eine gemischte, dem Epos sich annähernde dramatische Form, ein »szenisches Epos«, schreibt der Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann, und die Literaturwissenschaftlerin Marianne Kesting will Beziehungen zwischen Bertolt Brechts epischem Theater und Richard Wagners Dramenkonzeption nachweisen: die Musik stelle mit ihrem Leitmotiv-Gewebe einen psychologischen Kommentar zur Bühnenhandlung dar – ein ästhetischer Vorläufer des von Brecht ins Politische gewandten Verfremdungseffekts. Arnold Schönberg wiederum sah Wagners Konzept aufgrund der Auswirkungen, die es auf die musikalische Syntax hatte, als Vorgänger der von ihm propagierten »musikalischen Prosa«: Die Musik ist nicht länger an den regelmäßigen Phrasenbau gebunden, ihre Gliederung wird deutlich freier. Der Komponist Alban Berg, Schüler Schönbergs, schuf mit seiner Oper Wozzeck ein Werk, das aufgrund seiner musikalischen Kontinuität und der Verwendung von Leitmotiven als ein frühes Beispiel für das Musikdrama im 20. Jahrhundert gelten kann. Richard Wagner selbst beschließt seine Schrift von Oper und Drama natürlich zukunftsgewandt: »Der Erzeuger des Kunstwerkes der Zukunft ist niemand anderes als der Künstler der Gegenwart, der das Leben der Zukunft ahnt, und in ihm enthalten zu sein sich sehnt. Wer diese Sehnsucht aus seinem eigensten Vermögen in sich nährt, der lebt schon jetzt in einem besseren Leben – nur einer aber kann dies: – der Künstler.«

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WAS IST MUSIK DR A M A?


Joachim Reiber

MEHR DICHTER ALS MUSIKER?

Richard Wagner oder die Neuvermessung der Kunstwelt


Er wäre so gerne Dichter geworden. Für Richard Wagner, Quartaner der Dresdner Kreuzschule, war das nicht nur ein heimlicher Wunsch. Er wurde öffentlich genährt, als er, der Pennäler, ganz offiziell zum Dichter berufen wurde. Ein Mitschüler war verstorben, und Richard Wagner, 13, durfte im Auftrag des Kreuzschul-Rektors ein Trauerpoem verfassen. Gewisse »Ausschweifungen«, an die sich Wagner in seiner Autobiographie selbstironisch erinnert, mussten von einem kundigen Pädagogen eliminiert werden. Doch dann kam das Gedicht tatsächlich zum Vortrag. »Der Erfolg dieser Auszeichnung«, so Wagner in seinen Memoiren, »war außerordentlich sowohl bei meinen Mitschülern, als namentlich auch bei meiner Familie; meine Mutter faltete die Hände andächtig, und in mir ward ich nun einig über meinen Beruf. Ganz unzweifelhaft stand vor mir, daß ich zum Dichter bestimmt sei.« Gleichwohl war man überrascht, als Richard Wagner, 15, mit dem Entschluss herausrückte, die lästige Schulpflicht ad acta zu legen und sich fürderhin ganz dem Dichterberuf zu widmen. Ein Trauerspiel sollte den Familienrat von der Unabdingbarkeit seiner poetischen Mission überzeugen – Leubald und Adelaide, ein Dichtwerk der massivsten Art: fünf Akte, 42 Tote. »Shakespeare«, so Wagner wieder in seinen ironisch gefärbten Erinnerungen, habe zu diesem Drama »hauptsächlich durch Hamlet, Macbeth und Lear, Goethe durch Götz von Berlichingen beigetragen«. Vergeblich: Selbst Onkel Adolf, der literarische Mentor des Jungen, zeigte sich entsetzt. »Er konnte nicht begreifen, wie ich aus dem Lear und dem Götz von Berlichingen gerade nur diese exorbitanten Redensarten, und zwar noch mit der unglaublichsten Übertreibung herausgelesen und verwendet hatte.« Ohrenbetäubend, so Wagner, war das Wehklagen seiner Erziehungsberechtigten über die »verlorene Zeit« und die »verschrobene Richtung«. So blieb dem ambitionierten Teenager nur ein stiller Trost: »… ich wußte, was noch niemand wissen konnte, nämlich, daß mein Werk erst richtig beurteilt werden könnte, wenn es mit der Musik versehen sein würde, welche ich zu schreiben beschlossen hatte …« Er wäre so gerne Dichter geworden. Und er wurde Dichter. Jahrzehnte später sprach man im Hause Wagner über eine Äußerung von Arthur Schopenhauer. »Ich admirire«, soll der Philosoph gesagt haben, »wie Wagner in seinen Nibelungen die dunklen sagenhaften Gestalten uns menschlich nahegerückt hat«. Und dann weiter: »Er ist ein Dichter, aber kein Musiker.« – Ein bemerkenswertes Urteil, dem eine womöglich noch bemerkenswertere Reaktion folgt. Wagner nämlich war’s zufrieden. »Es sei jedenfalls besser«, so Wagner gegenüber Ehefrau Cosima, »als wie wenn er [Schopenhauer] ihn als Musiker und nicht als Dichter hätte gelten lassen«. Wann hätte es das je zuvor gegeben? Dass sich ein Opernkomponist lieber als Dichter denn als Musiker bezeichnen lassen wollte – war das nicht, historisch gesehen, etwas Ungeheuerliches? Ausdruck eines revolutionären Umsturzes? Die Umwertung aller Werte? Der gewaltige Paradigmenwechsel jedenfalls, den Wagner in der Kunstwelt herbeiführte, kann kaum schärfer auf den Punkt gebracht werden als hier, in Schopenhauers Diktum und Wagners Replik. Richard 33

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Wagner, der so gerne Dichter geworden wäre und tatsächlich zum Dichter wurde, hat auf seinem Weg dahin ein tektonisches Beben ausgelöst. Wort und Musik – getrennte Kontinente einst, zwischen denen man behutsam Brücken zu schlagen suchte –, wurden verschoben. Und was früher als natürliche Grenze galt, das wurde in einer gigantischen Eruption von der Landkarte gewischt. Die Geographie der Kunst musste neu bestimmt werden. Dichtung? Das war nun nicht mehr die Domäne der Sprachkunst allein – Wagner bewies es und Koryphäen wie Schopenhauer bestätigten es. Und die Musik? Sie war so sehr in den Bannkreis des Dichterischen geraten, dass sie sich schwer tat, auf ihre alten Rechte als autonome Kunst zu rekurrieren. Ein gigantisches Beben, eine Kontinentalverschiebung der Künste. Die Nachwirkung reichte weit – Strawinskis Erregung über Wagner etwa ist nichts anderes als ein Nachbeben dieser Erschütterung. Mit scharfer Polemik (»Wagners Musik ist Musik des dauernden Werdens, die weder einen Grund hat anzufangen, noch aufzuhören«) suchte Strawinski der Musik wieder zurückzugewinnen, was der Bayreuther Meister ihr aus seiner Sicht genommen hatte: das Recht auf eigene Formgesetzlichkeit. Wie bei jedem großen Beben – so gab es auch hier im Vorfeld Instanzen, die seismographisch genau die kommende Erschütterung registrierten. Eine davon war Franz Grillparzer. Von Wagner bekam er noch nicht viel mit, aber Grillparzer spürte, hochsensibel, die Tendenz, die ein Geist wie Wagner zur vollkommenen Revolution nützen konnte. Dass da einer kommen würde, der unterm Signum der »Dichtung« die Musik aus ihrem angestammten Dominium treiben könnte, das erkannte er, als noch niemand von Wagner wusste. Carl Maria von Weber, der später Wagners Vorbild werden sollte, wurde so – gleichsam als Proto-Wagner – zum Objekt des Grillparzer’schen Hasses. »Solche Musik ist polizeiwidrig, sie würde Unmenschen bilden, wenn es möglich wäre, daß sie nach und nach allgemeinen Eingang finden könnte…«, geiferte Grillparzer über Webers Euryanthe. Es war, trotz allem, nicht blinder Hass, der hier hervorbrach, sondern hellsichtiger. Grillparzer, der Dichter, kämpfte schon jetzt mit Vehemenz um die Wahrung der Grenze, auch der Musik zuliebe, der Musik, wie er sie liebte! Diese Musik, fand Grillparzer, gehorche ganz eigenen, von der Dichtung klar geschiedenen Gesetzen – auch in der Oper. Und daher, so Grillparzer schon 1821, sei »Rossinis kindisches Getändel doch mehr wert« als eine »prosaische Verstandes-Nachäffung, welche das Wesen der Musik zerreißt, um den hohlen Worten des Dichters nachzustottern«. Oder, so nochmals Grillparzer: »Keine Oper soll vom Gesichtspunkte der Poesie betrachtet werden – von diesem aus ist jede dramatisch-musikalische Komposition Unsinn –, sondern vom Gesichtspunkte der Musik …« Grillparzer starb 1872. Und erst jetzt wurden seine Äußerungen zur Musik richtig bekannt, publik gemacht durch einen, der Wonneschauer des Entzückens erlebt haben muss, als er sie – teils als Erster – aus dem Nachlass hob: Eduard Hanslick. »Klingt nicht vieles in diesen, vor Dezennien geschriebenen AphorisJOACHIM R EIBER

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men wie eine Polemik gegen Wagners Theorien und den Walkürenstil?«, fragte Hanslick triumphierend, als er Grillparzer in einer Neuauflage seines Manifests Vom Musikalisch-Schönen zitierte. Ein Dichter als Kronzeuge gegen den »Dichter« Wagner, ein Dichter als Anwalt der Musik als »tönend bewegter Form«: Das war eine Konstellation, die sich Hanslick bei seiner Kampagne gegen den Usurpator nicht entgehen lassen konnte. Denn genau darum ging es bei dem Kampf, den Hanslick an vorderster Front ausfocht: um die Sicherung von Territorien, die Wagner in seinem Welttheater-Furor so ineinanderschob, dass die Musik – wie Hanslick sie begriff – darunter begraben wurde. Die Musik, berichtete der Wiener Kritiker denn auch 1869 von der Rheingold-Uraufführung aus München, sei unter den Premierengästen kaum ein Thema gewesen. »Wer mit uns in München sein Brot mit Thränen aß, wird bezeugen, daß in allen Rheingold-Gesprächen fast ausschließlich von den schwimmenden Nixen, den farbigen Dämpfen, der Götterburg und dem Regenbogen die Rede war, nur selten von der Musik.« Dass die Musik marginalisiert werde: Das war eine scharfe These, mit der Wagner, der Musiker, zielgerichtet attackiert werden konnte. Und Hanslick, der versierte Pointenjäger, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Wo dieser Wagner aber vor allem angreifbar schien, das war das Gebiet der Sprache. Immer kühner griff Wagner auf das Terrain über, das einstmals Fremdland für Musiker und das Ureigenste der (Wort-)Dichter gewesen war. Und auch darauf schoss Hanslick sich ein: Wagner ganz einfach beim Wort zu nehmen. »Um den vollen Sinn des Rheingold zu verstehen«, ätzte er in seiner Premierenkritik, »müßte der Zuschauer beim Eintritt ins Parterre nebst dem Theaterzettel auch ein Handbuch der altgermanischen Mythologie und womöglich ein kleines Wörterbuch in die Hand bekommen. Denn in seiner alterthümelnden Passion gebraucht Wagner mit Vorliebe Wörter, die heutzutage kein Mensch mehr versteht. Stellen wie: ›Mein Friedel sei, du frauliches Kind‹, ›Bin glatt und glau‹, ›Glühender Glanz entgleißt weihlich im Wag!‹ trifft man auf jeder Seite … Diese unausgesetzte Buchstabenund Lautspielerei umschwirrt uns wie ein lästiger Schwarm von Wespen.« Der österreichische Parodist Fritz Mauthner legte 1878 noch kräftig nach, als er in einem »Bühnen-Weh-Festspiel« persiflierend drauflos wagnerte: »Das Winseln des Weltalls, ich kies’ es zum Kosen./ Was im Wogen der Welt verwirbelt, verwickelt/ Nur leise lispelt, ich hab’ es erlauscht…« Dazu gab er noch Erläuterungen à la Wolzogen: »Der Stabreim L bedeutet hauptsächlich Kummer (daher auch: Leid, Leberkrankheiten, Lampenfieber, Lehrgedicht, Lungenentzündung, Linsensuppe und ähnliches)…« Nichts leichter, so scheint es, als über Wagner, den Stabreimer, den Stab zu brechen. Mit seinem Rückgriff auf die altgermanische Alliteration hatte er sich auch als Sprachschöpfer weit vorgewagt, ja, extrem exponiert. Einen wirklichen Angriffspunkt aber bot er nur jenen, die bloß das Einzelne sehen wollten. Genau das aber war die Perspektive, die Wagner hinter sich gelassen hatte. Thomas Mann nahm den Meister aus solcher Sicht gegen detailversessene Sprachkritteleien in Schutz: »Und doch«, so Mann in Leiden und Größe Richard Wagners, »verbietet 35

MEHR DICH T ER A LS MUSIK ER?


jedes Gefühl für die eigentliche und wahre Natur dieses durch und durch auf Neuerung, Änderung, Befreiung gestellten Künstlertums es aufs strikteste, seine Sprache und Ausdrucksweise wörtlich zu nehmen und nicht als das, was sie ist: ein Künstleridiom eben sehr eigentümlicher Art, mit dem auf Schritt und Tritt ganz anderes, vollkommen Revolutionäres gemeint ist.« Wagner, so charakterisierte ihn Thomas Mann, war der Künstler des 19. Jahrhunderts: der »vollkommene Ausdruck« eines Zeitalters, das auf die große Synthese hin angelegt war. Geister wie E. T. A. Hoffmann und Carl Maria von Weber griffen ihr voraus, auch auf dem Gebiet der Oper. Doch weder Hoffmann, der Dichter, der komponieren konnte, noch Weber, der literarisch begabte Komponist, erreichten den Punkt, an dem alles, das Große und Ganze, in einer einzigen Person zur Verbindung drängte. Auch Wagner brauchte Zeit, bis er soweit war. Zwar schrieb er von Beginn weg selbst die Texte für seine Opern. Doch wohnten zunächst zwei Seelen, zwei Welten in seiner Brust: Wagner, der Librettist, arbeitete aus der einen hinüber in die andere, wo Wagner, der Komponist, auf Vorlagen für wirkungsvolle Opernmusik wartete. Mit dem Fliegenden Holländer änderte sich das: »Von hier an«, so Wagner dezidiert in Eine Mittheilung an meine Freunde, »beginnt meine Laufbahn als Dichter, mit der ich die des Verfertigers von Operntexten verließ«. Dichter zu werden – das hieß für Wagner, durch Verdichtung zum Wesentlichen vorzudringen. Da waren zunächst die Schlacken des Stofflichen, von denen er sich frei machte. Die »Volkssage«, die ihm beim Holländer nur »in einfach rohen Zügen« vorgelegen sei, dieser Urgrund des Mythos: Er gab – seiner eigenen Darstellung zufolge – den Nährboden ab für seine Entfaltung als Dichter. Das musikalische Ausdrucksvermögen aber, das er sich angeeignet hatte, war die Voraussetzung seiner spezifischen Art des Dichtens. Wagner – so führte er selbst es aus – dichtete nicht für die Musik, sondern aus einer verinnerlichten Musiksprachlichkeit heraus, konzentriert allein auf die »Natur des Stoffes«. Diese Natur des Stoffes, dichterisch erspürt und umgesetzt, bedinge von selbst die musikalische Ausführung, ohne Rücksicht auf Konventionen. Dieser Punkt war ihm wichtig: »Somit ging ich durchaus nicht grundsätzlich, etwa als reflektirender Formumänderer, auf die Zerstörung der Arien-, Duett- oder sonstigen Opernformen aus; sondern die Auslassung dieser Form erfolgte ganz von selbst aus der Natur des Stoffes, um dessen gefühlsverständliche Darstellung durch den ihm nothwendigen Ausdruck es mir ganz allein zu thun war.« Dichtung und Wahrheit. Sicher mag ein gerüttelt Maß an nachträglicher Stilisierung in dieser autobiographischen Wegbeschreibung liegen. Aber richtig ist, dass Wagner, der Dichter, immer stärker, immer intensiver die Verdichtung aufs Eigentliche hin suchte. Die Schlacken des Stofflichen, die Schlacken der alten Nummernopern hatte er schon abgestreift, als er sich dem Ring zuwandte. Was ihm nun als störender Ballast im Weg zu liegen schien, das war nichts weniger als »die moderne Sprache«. In ihr, so fand er, könne schlechthin »nicht gedichtet werden«. Alle gängigen Versuche, diese »moderne Sprache« für die Dichtung JOACHIM R EIBER

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tauglich zu machen – der irrtümlich vom Altgriechischen abgeleitete regelmäßige Wechsel von Hebungen und Senkungen und der »phantastische Trug der Endreime« –, warf Wagner rückhaltlos von sich, um sich erst einmal allein zu finden. »Der nach Erlösung schmachtende Dichter«, so Wagner in Oper und Drama, »steht jetzt im Winterfroste der Sprache da…« Doch Winterstürme wichen dem Wonnemond. Und Wagner fand die (Er-) Lösung im Stabreim. Wieder war es künstlerische Radikalität, die ihn hierher führte: die Suche nach den Wurzeln, in denen poetische Urkraft sich elementar verdichtet. Die geballte Lenzeskraft der Sprache, diese Urzelle von Sinn und Sinnlichkeit, glaubte Wagner im »stabgereimten Vers« zu finden, »in welchem einst das Volk selbst dichtete, als es eben noch Dichter und Mythenschöpfer war…« Ein Mythos auch das. Aber Wagner zog aus ihm die Kraft, sein Titanenwerk auch sprachlich auf eine revolutionär neue Basis zu stellen. »Wagner«, so Friedrich Nietzsche 1876, »zwang … die Sprache in einen Urzustand zurück, wo sie fast noch nicht in Begriffen denkt, wo sie noch selber Dichtung, Bild und Gefühl ist«. Dass man diesen Zwang nicht wirklich bemerkt, ist dem Musiker Richard Wagner zu danken. Einem Musiker, der Dichter war – und ein Gigant der Verwandlung. Nichts von dem, was Wagner berührte, blieb zurück, wie es vordem war. Nicht die Dichtung, nicht die Musik. Der exaltierte Pennäler der Dresdner Kreuzschule hatte es am Ende tatsächlich geschafft: Die Welt der Künste musste nach ihm neu vermessen werden.

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MEHR DICH T ER A LS MUSIK ER?


Gerhart Hauptmann

Ein Werk wie der Ring ist, was Ursprung, Wachstum und Vollendung anbelangt, das einzige seiner Art in der Welt und vielleicht das mächtigste Kunstgebilde der letzten Jahrtausende.


Oliver Láng

DER LANGE WEG ZUM » RING «

Das Thema lag freilich in der Luft. Die Idee der künstlerischen Ausformung und Gestaltung eines großen deutschen National-Mythos, genauer: des Nibelungenmythos, festigte sich zunehmend im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war im Besonderen auch die politische Situation, die eine solche Auseinandersetzung mit einem mythischen, gleichsam aus der Geschichte emporsteigenden Stoff evozierte und Künstler unterschiedlichster Bereiche zur Arbeit aufrief. Deutschland – ein Konglomerat unterschiedlichster Interessen wie Ideen – war nach Meinung mancher politisch geschwächt, vor allem aber 39

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in seiner Identität diffus. Dieser Unschärfe auf den verschiedensten Ebenen wollte man auch im Kulturschaffen begegnen, nicht zuletzt, da gerade in solchen instabilen Staats-Konstellationen der Kunst eine nicht zu unterschätzende Rolle in puncto Identitätsstiftung zugesprochen wurde und wird. Das entsprechend resultierende Schaffen war enorm. Um nur einige der entstandenen Werke im zeitlichen Umkreis von Wagners Ring des Nibelungen zu nennen: Friedrich Baron de la Motte Fouqué verfasste, basierend auf der Völsungen Saga, ein dreiteiliges Werk namens Der Held des Nordens, Johann Wilhelm Müller ein Trauerspiel in drei Abteilungen namens Chriemhilds Rache, Ernst Raupach schuf Der Nibelungen-Hort, Emanuel Geibel die Tragödie Brunhild, Guido Görre schrieb Der hürnen Siegfried und sein Kampf mit dem Drachen, Eduard Duboc ebenfalls ein fünfaktiges Trauerspiel namens Brunhild und nicht zuletzt Friedrich Hebbel Die Nibelungen. Flankierend und mit großem Einfluss erschien dazu eine stattliche Anzahl an Ausgaben deutscher Sagen und Märchen, angeführt von den Brüdern Grimm, weiters auch zahlreiche deutsche Lexika und Wörterbücher sowie eine kaum überschaubare Menge an Abhandlungen über den Stoff und Übersetzungen der Sage. Doch damit nicht genug. Friedrich Theodor Vischer, deutscher Kulturwissenschaftler, Autor und Philosoph, vertrat die Ansicht, dass gerade dem Nibelungenlied eine rein textliche, dramatische, szenische Gestaltung nicht genügen könne; vielmehr bedürfe es einer musikalisch-szenischen Auseinandersetzung; und er lieferte auch gleich eine detaillierte Analyse des Stoffes als auch ein Exposé. »Wir haben die Musik noch nicht gehabt, welche ein solcher Stoff fordert«, meinte er 1844 in seinen Kritischen Gesängen, »und wir haben einen solchen Stoff in unserer Musik noch nicht gehabt, so wie wir in unserer Poesie noch keinen Shakespeare, so wie wir noch keinen großen, nationalen, rein geschichtlichen Maler gehabt haben«. Kein Wunder, dass in dieser Siegfried-gesättigten Atmosphäre die Pläne rund um eine Vertonung hochschossen. Unterschiedliche Aufzeichnungen berichten von Felix Mendelssohn Bartholdys als auch Robert Schumanns Gedanken über eine Nibelungen-Musik; und Heinrich Dorn, Kollege und Konkurrent Richard Wagners, fertigte neben weiteren Komponisten endlich eine entsprechende »Große Oper in 5 Aufzügen«. Nicht zu vergessen das Schaffen der bildenden Künstler, wie etwa die Nibelungen-Fresken der Münchner Residenz von Julius Schnorr von Carolsfeld. Dies also das geistige Umfeld, in dem die Grundkonzeption des Ringes von Wagner entstand. Aber Wagner wäre nicht Wagner gewesen, hätte er sich nur von diesem Nibelungen-Mainstream leiten und nicht auch eine Reihe weiterer Aspekte in sein Werk einfließen lassen: Die soziale Vision eines ganzheitlichen Gesellschaftstheaters nach antikgriechischem Vorbild stand zumindest zeitweilig im Raum, politisch-umstürzlerische Überlegungen ragten immer wieder in den Schaffensprozess hinein. Natürlich auch die Philosophie: Entsprechendes Gedankengut schöpfte er aus vielerlei unterschiedlichen Quellen, wobei Ludwig Feuerbachs OLI V ER LÁ NG

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kritische Auseinandersetzung mit der Religion von einiger Bedeutung war und Wagner eigenes Geschriebenes und Gedachtes in Arthur Schopenhauers Werk wiederfand: »So verstand ich erst selbst meinen Wotan und ging nun erschüttert von neuem an das genauere Studium des Schopenhauerschen Buches«, meinte er 1854 nach der Lektüre von Die Welt als Wille und Vorstellung. Genau diesem Ideenamalgam entspringt freilich zumindest teils die vielfältige, disparate und nicht immer ausgeglichene Werktektonik der Tetralogie. Wie nur wenige andere Werke ist der Ring des Nibelungen zwar kein Lebenswerk, doch zumindest ein Lebensabschnittswerk. Rund ein Vierteljahrhundert beschäftigte Wagner die Erschaffung dieses 17-stündigen Zyklus. Von der Konzeption bis zur Vollendung und Uraufführung aller vier Teile lag nicht nur viel persönliche Biografie, sondern maßgebliches kompositorisches und dichterisches Schaffen sowie bewegte europäische Geschichte. Wie die eben genannte komplexe Quellenlage sorgte auch die lange Schaffenszeit für Brüche und Uneinheitlichkeiten in der (musikalischen) Textur. In seiner Autobiografie Mein Leben berichtet Wagner vielfach über die Entstehung des Zyklus, auch über die politischen Umstände und Überlegungen, die mit der Konzeption einhergingen. »Auf meinen nun gänzlich vereinsamten Spaziergängen arbeitete ich dagegen in meinem Kopfe, zu meiner großen Gemütserleichterung, immer mehr die Vorstellung von einem Zustande der menschlichen Gesellschaft aus, zu welchem die kühnsten Wünsche und Bestrebungen der damals im Aufbau ihrer Systeme so tätigen Sozialisten und Kommunisten mir eben nur die gemeine Unterlage boten, während eben diese Bestrebungen erst von da ab Sinn und Bedeutung für mich gewannen, wo ich sie am Ende der erzielten politischen Umwälzungen und Konstruktionen angelangt sah, um dort nun mit meiner der Kunst zugewandten Neubildung meinerseits zu beginnen. Zu gleicher Zeit beschäftigte mich der Gedanke eines Dramas, dessen Held der Kaiser Friedrich Barbarossa sein sollte. Der Begriff des Herrschers war hier in seiner kraftvollsten und ungeheuerlichsten Bedeutung aufgefasst; sein würdiges Weichen vor der Unmöglichkeit der Behauptung seiner idealen Ansprüche sollte, wie es die Teilnahme für den Helden erweckte, zugleich die richtige Erkenntnis der eigentätigen Vielgestaltigkeit der Dinge dieser Welt geben«, notierte er. Dieser Gedanke eines neuen Werkes wurde allerdings bald verdrängt von einem für Wagner noch imposanteren und noch stärker drängenden Wunsch – jenem, sich ganz der Nibelungensage zuzuwenden. Und noch eine Idee trug Wagner in diesen Jahren mit sich: durch das Lesen der Evangelien inspiriert, dachte er an eine Jesus von Nazareth-Tragödie, eine Idee, die er einem seiner damaligen Weggefährten, dem Anarchisten Bakunin, vortrug. Dieser bat »ihn mit der Bekanntmachung zu verschonen«, wünschte Wagner aber Glück – und griff in die Konzeption ein. »[Bakunin] bat mich aber völlig inständig, Jesus jedenfalls als schwach erscheinen zu lassen«, so Wagner in Mein Leben. Und ein weiteres Werk, Wieland der Schmied, schwebte Wagner in zeitlicher Engführung vor, auch dieses kam jedoch 41

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aufgrund der Vorreihung des Nibelungenstoffes nicht zustande. Gut dokumentiert sind glücklicherweise aufgrund eines Briefes aus 1856 an den Regierungsrat Franz Müller die Quellen, auf die sich Wagner bei seiner Auseinandersetzung mit dem Nibelungenstoff bezog: Der Nibelunge Noth u. die Klage herausgegeb. von Lachmann. Zu den Nibelungen etc. von Lachmann. Grimm’s Mythologie. Edda. Volsunga-Saga (übersetzt von Hagen-Breslau). Wilkina- und Niflungasaga. (ebenso. –) Das deutsche Heldenbuch – alte Ausgabe. auch erneuert von Hagen. – Bearbeitet in 6 Bänden von Simrock. die Deutsche Heldensage von Wilh. Grimm. Untersuchungen zur deutschen Heldensage von Mone – (sehr wichtig) Heimskringla – übersetzt von Mohnike. (glaub ich!) (nicht von Wachter – schlecht.) Im Spätsommer 1848 ist schließlich der Aufsatz Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage anzusetzen, in dem Richard Wagner sich dem Stoff näherte. Am 4. Oktober 1848 beendete und veröffentlichte er die Prosa-Vorstudie Der Nibelungen-Mythus. Inmitten der revolutionären Wirrnisse dieser Zeit, in die Wagner involviert war – später wird man ihn nach seiner Flucht aus Dresden steckbrieflich suchen –, entwickelte er den Stoff weiter, schloss den Prosa-Entwurf Siegfrieds Tod ab und verfasste die Urschrift der gleichlautenden Dichtung. Der erste große Schritt zum Ring des Nibelungen war somit getan, ein beachtlicher Teil des Grundkonzepts existierte. So schrieb Wagner: »[Die Absicht der Götter] würde erreicht sein, wenn sie in dieser Menschenschöpfung sich selbst vernichteten, nämlich in der Freiheit des menschlichen Bewusstseins ihres unmittelbaren Einflusses sich begeben müssten.« Auffällig ist die Parallele der göttlichen Selbstauslöschung zwischen dem angedachten Jesus-Stoff und diesem SiegfriedGrundkonzept – eine Idee, die sich letztlich bis zur finalen Götterdämmerung, ein Vierteljahrhundert später, halten sollte. Ganz im Stile Richard Wagners ist freilich auch der (wohl erfundene) Mythos rund um den musikalischen Beginn seiner Tetralogie. Wagner erzählt, wie sich bei ihm in Italien »infolge des unvorsichtigen Genusses von Gefrorenem, sehr bald die Dysenterie« einstellte und er zur Erholung und auf der Suche nach Ruhe einen Ausflug nach Spezia unternahm. Die Schifffahrt dorthin sorgte für Seekrankheit, der Gasthof, in dem er logierte, lag in einer »engen geräuschvollen« Gasse, die Gegend kam ihm »nackt und öde« vor. Von einer Wanderung heimgekehrt, ruhte er sich im Gasthof aus, konnte aber keinen Schlaf finden. »Dafür versank ich in eine Art von somnambulen Zustand, in welchem ich plötzlich die Empfindung, als ob ich in ein stark fließendes Wasser versänke, erOLI V ER LÁ NG

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hielt. Das Rauschen desselben stellte sich mir bald im musikalischen Klange des Es-Dur-Akkordes dar, welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahinwogte; … Mit der Empfindung, als ob die Wogen jetzt hoch über mich dahinbrausten, erwachte ich in jähem Schreck aus meinem Halbschlaf. Sogleich erkannte ich, dass das Orchester-Vorspiel zum Rheingold, wie ich es in mir herumtrug, doch nicht genau hatte finden können, mir aufgegangen war; und schnell begriff ich auch, welche Bewandtnis es durchaus mit mir habe: nicht von außen, sondern nur von innen sollte der Lebensstrom mir zufließen« – so zumindest die vom Komponisten verbreitete Schöpfungslegende. Zwei Jahre nach Abschluss der Urschrift der Dichtung Siegfrieds Tod (die spätere Götterdämmerung), 1850, entstehen die ersten – nicht fortgeführten – Skizzenblätter der Komposition zu dem Text, wenig später, 1851, kommt es nach einem kritischen Diskurs mit Eduard Devrient zu einer Erweiterung des Werkes: Wagner setzt Siegfrieds Tod die unmittelbare Vorgeschichte – Der junge Siegfried (später umbenannt in Siegfried) – voran und ergänzt das Werk um zwei weitere vorangestellte Teile – die spätere Walküre und das Rheingold. Denn er erkannte, wie er in einem Brief an Theodor Uhlig schrieb, dass es den kompletten Stoff brauchte, um die Zusammenhänge klar werden zu lassen. »Jetzt sehe ich, ich muss, um ganz verstanden zu werden, den ganzen Mythos plastisch ausführen. Nicht diese Rücksicht allein bewog mich aber zu meinem neuen Plane, sondern namentlich auch das hinreißend Ergreifende des Stoffes, den ich somit für die Darstellung gewinne und der mir einen Reichtum für künstlerische Bildung zuführt, den es Sünde wäre ungenützt zu lassen.« An dieser Stelle ein kleiner Exkurs: Spannend ist am Ring des Nibelungen, dass die Rezeptionsgeschichte in diesem Fall weit vor der eigentlichen Aufführungsgeschichte angesetzt werden muss. Bereits 1850 kommt es zur ersten, heute bekannten, öffentlichen Erwähnung des Projekts: »Dem Tannhäuser, welcher hier in Weimar sehr tief gewirkt zu haben scheint, folgt jetzt der Lohengrin, dem Lohengrin binnen kurzem der Siegfried«, vermerkte die Allgemeine Zeitung. Dabei allerdings ist zu beachten, dass, wie Hubert Kolland feststellt, »die ersten Erwähnungen und Notizen … stillschweigend von der damaligen Praxis [ausgehen], dass zwischen dem Bekanntwerden einer in Arbeit befindlichen Oper und ihrer Uraufführung nur kurze, zumindest aber überschaubare Zeit verstreicht«. Von da an ist ein ständiges, unterschiedlich intensives öffentliches Interesse an dem Projekt zu orten, das natürlich auch von Wagner selbst genährt wird. 1851 entstehen die Prosa-Skizzen zu Das Rheingold und Die Walküre, 1852 schließlich die Urschrift der beiden Teile sowie die überarbeitete Fassung vom Jungen Siegfried und von Siegfrieds Tod. Rückschauend betrachtet ist die Dichtung der vier Teile also im Krebsgang erfolgt, ausgehend von der späteren Götterdämmerung hin zum Rheingold. Ab 1853, nach Erscheinen eines Privatdrucks der gesamten Dichtung, wurde die endgültige Kompositionsarbeit – nun in »richtiger« Reihenfolge – begonnen. 1854 beendete er die Reinschrift der Partitur des Rheingoldes, 1856 jene der Walküre. – In diesem Jahr änderte Richard Wagner 43

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die Titel des Jungen Siegfried in Siegfried und Siegfrieds Tod in Götterdämmerung. – 1857 begann er mit der Partitur-Reinschrift des 1. Aktes von Siegfried, brach allerdings die Arbeit ab. Es kam erst 1864 mit weiteren Unterbrechungen zur Fortsetzung, 1871 schließlich war die Partitur-Reinschrift des Siegfried gelungen, 1874 auch die Götterdämmerung abgeschlossen. Entgegen Wagners Willen kam es allerdings in der Zwischenzeit durch den bayerischen König Ludwig II. zur Uraufführung des Rheingold (1869) und der Walküre (1870) in München. Daran konnte auch das Bittschreiben des Komponisten an seinen königlichen Gönner nichts ändern: »Noch einmal beschwöre ich Sie: lassen Sie die Walküre für Sich aufführen, schließen Sie aber das Publikum aus. Wählen Sie für diese Entscheidung jeden beliebigen Vorwand: lassen Sie mehrere Generalproben (für Sie allein) stattfinden, und erklären Sie dann, dass Sie – aus inneren Beweggründen – die Aufführung auf später verlegen. … Der Gott, der mir mein Werk eingab, lasse Sie verstehen, was ich meine und Ihnen mitteile; dieses ist kein leerer Eigenwille! Ich hoffe auf Ihre Großherzigkeit! Tief bekümmert, aber treu bis zum Tode: der Ihrige Richard Wagner«, schrieb er am 15. Juni 1870 an den Monarchen. Es half nichts, die Walküre wurde gespielt, der Zyklus als Ganzer jedoch kam erst sechs Jahre später, im August 1876, im Bayreuther Festspielhaus zur Erstaufführung. Die letzte Eintragung auf der letzten Partiturseite der Götterdämmerung spricht freilich Bände, genauer: die Sprache der glücksamen Erschöpfung am großen Werk: »Vollendet in Wahnfried am 21. November 1874. Ich sage nichts weiter!! R.W.«

→ Jochen Schmeckenbecher als Alberich, Götterdämmerung (2016)

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Andreas Láng

WOHER KOMMEN DIE PERSONEN IM » RING « ?

Auch wenn die Ring des Nibelungen-Tetralogie bezüglich Handlung, psychologischer Ausformung der Akteure sowie philosophischen Überbaus eindeutig eine Schöpfung Richard Wagners darstellt, so finden sich in diversen von ihm benutzten Quellen sehr wohl für alle wesentlichen Figuren dieses gewaltigen Musiktheaterwerkes Vorbilder, deren Eigenschaften, Taten und Schicksale Wagner aufgriff und in seine Konzeption einbaute und nach Bedarf entsprechend umformte. Im Folgenden sollen nun überblicksmäßig einige dieser mythologischen Vorbilder aufgezeigt werden, die in die Charaktere des Ring eingeflossen sind. A N DR EAS LÁ NG

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Sieglinde → Die Walküre

Ein Fremder trat da herein: Ein Greis in grauem Gewand, tief hing ihm der Hut, der deckt ihm der Augen eines.


Wotan (Wanderer) Der oberste germanische Gott tritt in den Götterliedern der Edda nicht nur unter dem nordischen Namen Odin auf, sondern weist darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Titel auf, von denen Wagner etwa Allvater, Heervater, Siegvater, Walvater oder Hüter des Felsens übernahm. In der sogenannten Heimskringla, die Wagner ebenfalls kannte, wird Odin als sterblicher, allerdings hochtalentierter schwedischer Stammeshäuptling beschrieben, der nach seinem Tod auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Dieser menschliche Odin aus dem mächtigen Geschlecht der Asen führte in seinem Land die Gesetzgebung ein, war ein erfolgreicher Feldherr und stets auf Wanderschaft. In seiner Begleitung befanden sich zwei von ihm dressierte, sprechende Raben. In Siegfried, dem dritten Teil seiner Tetralogie, lässt Wagner den obersten Gott Wotan sogar nur noch unter dem Namen »Wanderer« auftreten. In der Edda stammt der einäugige Gott Odin von Riesen ab und hat darüber hinaus zwei Brüder namens Wili und We. Gemeinsam mit den Göttern Donner und Froh schuf er einst die Menschenwelt. In seinen Speer, mit dem er auch das Kriegsglück entschied, waren die Runen der Gesetze eingeschnitzt. Zu seinen Fähigkeiten gehörte auch, andere durch einen bloßen Wink in den Tod zu schicken. Sein Auftauchen konnte großen, wolkenverhangenen Sturm, Donner und Feuer beziehungsweise helles Licht auslösen. Er galt als großer Rhetoriker, der seine Gattin Fricka (Frigg) regelmäßig betrog, sich praktisch nur von Met ernährte und auf einem gewaltigen, achtbeinigen Pferd zu reiten pflegte. Manchmal werden ihm auch Wölfe oder Adler als Weggefährten zugesprochen. Wie alle wichtigeren Asen trug Wotan/Odin ein blaues Gewand. Sowohl in der Edda als auch in der von Wagner ebenfalls zur Kenntnis genommenen Völsungensaga und in der Deutschen Mythologie von Jacob Grimm kleidete sich Wotan/Odin überdies mit einem großen Mantel und einem herabhängenden Hut. In Wagners Siegfried macht sich der Titelheld genau über diese Bekleidung lustig. »Wie siehst du denn aus? Was hast du gar für ’nen großen Hut? Warum hängt er dir so ins Gesicht?« Seinem dichten Bart verdankte er darüber hinaus noch den Namen Graubart. Gelegentlich wird er als Greis beschrieben. Er ist der Bauherr von Walhall, dem die gefallenen Helden zugeführt werden. Er gilt als Erfinder des Würfelspiels und der Schrift, führt gerne Wissenswettstreite und war nach Jacob Grimm für die Fruchtbarkeit der Felder mitverantwortlich.

Erda Wagner orientierte sich bei der von Wotan aus ewigem Schlaf erweckten Urgöttin Erda sowohl literarisch als auch inhaltlich sehr stark an der Älteren Edda. »Erwach, Groa! Erwach, gute Frau!« heißt es im Zauberlied der Groa in der Älteren A N DR EAS LÁ NG

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Edda – »Wache, Wala! Wala, erwach!« bei Richard Wagner in Siegfried. In die Figur der Wagner’schen Erda selbst sind einerseits die sogenannte Seherin als auch die Göttinnen Jörd und Fjörgyn sowie weissagende Walküren eingeflossen. In der Mythologie hat die Erdgöttin Fjörgyn mit Wotan ein gemeinsames Kind – den Gott Donner, bei Wagner entstammt aus der Beziehung Erda–Wotan die Walküre Brünnhilde. In der berühmten Weissagung der Seherin aus der Edda wird geschildert, dass Wotan der Seherin »Ringe und Halsschmuck« überreicht und dafür »Weisheitssprüche und Sehzauber« erhält. Bei Wagner wird aus Ring und Halsschmuck eine Liebesbeziehung, die Gegengabe ist auch in diesem Fall höhere Weisheit und Zukunftsvorhersage.

Mime Für Wagners Mime standen vor allem die Zwerge Reginn und Mimir sowie der Riese Wafthrudnir und Wölund, der verkrüppelte Schmied, aus der Edda Pate. Im Reginnlied wird der Zwerg Reginn als kunstfertiger und zauberkundiger Schmied beschrieben, der seinen Zögling Sigurd – im Gegensatz zu Mime – tatsächlich liebt. Sigurd muss sich sein Schwert auch nicht selbst schmieden, sondern erhält es von Reginn – auf dessen Rat er dann den Drachen Fafnir tötet. Reginns Charakter ist allerdings insofern fragwürdig, als es sich bei Fafnir, den er töten lässt, um seinen eigenen Bruder handelt. Bei der durchaus positiven Gestalt von Mimir handelt es sich um einen Weisen, der zunächst in einem Brunnen unter der Weltesche Yggdrasill als Ratgeber Wotans haust. Später wird er zwar geköpft, doch ist sein Kopf weiterhin weissagend tätig. Der Riese Wafthrudnir führt – wie Mime und Wotan in Siegfried – mit dem obersten Gott einen Wissenswettstreit, den er verliert und dadurch sein Leben verwirkt.

Fricka In Wagners Fricka sind mehrere weibliche Gottheiten aufgegangen – unter anderen War, die Göttin der Ehe, und Fricka (auch Frigg oder Hlin), die Gattin Wotans/Odins. Die Fricka in der Edda gehört ebenfalls zum Geschlecht der Asen, hat einen eigenen Wohnsitz (Fensalir), kennt das Schicksal der Menschen im Voraus und berät Wotan/Odin in wichtigen Fragen. Aus der Ehe Fricka-Wotan stammt der Gott Balder. Loki (der in Wagners Loge aufgeht) wirft Fricka in einer Spottrede vor, dass sie mit Wotans Brüdern die Ehe gebrochen haben soll.

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WOHER KOM MEN DIE PERSON EN IM »R ING«?


Alberich In der Nibelungensage wird Alberich als heldenmütiger, zwergenhafter Ritter beschrieben, der Siegfried letztlich ergeben dient. In der Edda wird von einem Zwerg Andwari berichtet, der sich in Gestalt eines Hechtes in einem Wasserfall lebend das Essen fängt. Eines Tages wird er von Loki gefangen und muss diesem, um wieder freigelassen zu werden, seinen reichen Goldschatz und den Ring Andwaranaut übergeben. Nach seiner Freilassung verflucht Andwari den Schatz mit den Worten: »Das Gold, das Gust besaß, wird zwei Brüdern den Tod bringen und acht Edlen Streit. Mein Schatz wird niemand nützen.«

Fafner und Fasolt Riesen gehören in zahlreichen Kulturkreisen zu den Feinden der Menschheit. Nach der germanischen Mythologie entstanden sie bereits vor oder gleichzeitig mit den Göttern aus den Spritzern der giftigen Unterwelt-Flüsse Eliwagar. Zwischen den Göttern und Riesen herrscht meist Feindschaft, allerdings wird auch von Verehelichungen zwischen Göttern und Riesinnen berichtet. Selbst der Hauptgott Wotan soll ebenso von Riesen abstammen wie die meisten Zwerge, und auch die Welt selbst wurde aus den Urriesen hergestellt. Manchen Riesen wird in der Edda große Weisheit nachgesagt. Die direkte Vorlage für Fafner fand Richard Wagner im Fafnirlied der Älteren Edda.

Freia Gleich drei altgermanische Göttinnen wurden von Richard Wagner in Freia vereint: Die Göttin Idun, die jene Äpfel zu kultivieren versteht, deren Genuss das Altern der Götter verhindert, weiters die schöne und freundlich gesinnte Göttin Holda sowie die Jugendgöttin Freia aus dem Geschlecht der Wanen. Letztere ist nach der germanischen Mythologie – anders als bei Wagner – nicht mit Fricka verwandt hatte mit jedem Gott ein Verhältnis, selbst mit ihrem Bruder Freir. Verheiratet wurde Freia nach der Älteren Edda mit dem Riesen Odr, der sie allerdings nach einiger Zeit verließ. Wotan schenkte Freia, laut der Edda, die Hälfte der gefallenen Helden, die nach Walhall gebracht wurden, zum eigenen Gebrauch.

Froh Als Vorlage für Froh dienten Richard Wagner einerseits Gott Freir sowie Gott Heimdall. Freir soll laut Edda ein Verhältnis mit seiner Schwester Freia gehabt A N DR EAS LÁ NG

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haben. Heimdall bewachte die Brücke Bifröst, die eine Verbindung zwischen der Götter- und Menschenwelt darstellte. Freir war der Gott der Fruchtbarkeit, der Liebe, des Friedens sowie der Felder und Äcker. Ihm waren Pferde geweiht und wurden Menschenopfer dargebracht. Außerdem besaß er einen Wagen, der von einem goldborstigen Eber gezogen wurde.

Loge In der Älteren Edda wird der Feuergott Loki, der Wagner in erster Linie als Vorlage für Loge diente, als verschlagen, jähzornig und mordlustig dargestellt. Loki galt als schön, aber nicht besonders männlich, da er sogar selbst Kinder gebären konnte. Er kämpfte gelegentlich mit und gelegentlich gegen die Götter und war schlussendlich Mitverursacher des Untergangs derselben. Seine Kinder, der Fenriswolf und die Midgardschlange, kämpft im Endkampf Ragnarök ebenfalls gegen die Götter.

Donner Donar oder Thor ist in der germanischen Mythologie der mächtigste Gott nach Wotan. Er erhielt die Knechte der gefallenen Helden zum persönlichen Gebrauch. Er gebot über Wolken, Regen, Blitze und Donner und war der Gott der Strafe und des Zorns. Er galt sowohl dem Wesen als auch dem Aussehen nach als derb und war nicht sehr intelligent. Mit dem Hammer Mjöllnir entfachte er die Blitze und tötete regelmäßig Riesen (siehe auch Donner in Das Rheingold: »Schon oft zahlt ich Riesen den Zoll.«). Beim Untergang der Götter wurde er von Lokis Kind, der Midgardschlange, getötet.

Rheintöchter Die drei Rheintöchter Wagners gehen am ehesten auf die Schwanenjungfern zurück, die in unterschiedlichen Quellen der germanischen Mythologie erwähnt werden – etwa im Wölundlied. Beschrieben wird, dass sie sich ihrer Schwanenhülle entledigen können, und dann den Menschenfrauen gleichen. Raubt jemand den Schwanenjungfern die Schwanenhüllen, hat der Betreffende Gewalt über sie. Jacob Grimm spricht in seiner Deutschen Mythologie davon, dass Hagen drei weissagenden Meerweibern das Gewand raubt. Im Kurzen Sigurdlied wird darüber hinaus vom Metall des Rheines als Umschreibung vom Rheingold gesprochen.

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Walküren In der nordischen Mythologie müssen die Walküren nicht göttlicher Abstammung sein. (Die Mutter der acht Walküren ist bei Wagner ja auch nicht definiert!) Die genaue Zahl der Walküren ist in der nordischen Mythologie nicht begrenzt. Manchmal dienen sie gänzlich entgöttlicht als Schildmaid. In diesem Fall wurden sie von Wotan aus Königsgeschlechtern ausgewählt und lediglich erst zu Walküren gemacht. Zwischen Nornen und Walküren ist in der nordischen Mythologie die Grenze manchmal nicht klar. Ihre Zahl ist weitaus höher als bei Wagner. Sie bringen zwar die gefallenen Helden nach Walhall, doch beschränken sich ihre Aufgaben nicht nur auf kriegerische Aktivitäten: so verhelfen sie unter anderem unfruchtbaren Frauen zur Empfängnis. Sie treten im Allgemeinen als schöne, nicht zwingend jungfräuliche Damen mit Helm, Panzer und Waffen in Erscheinung, können aber auch ihre Gestalt wechseln. Zumeist reiten sie auf Pferden, sind aber durchaus des Fliegens mächtig.

Brünnhilde In Wagners Brünnhilden-Figur sind zahlreiche unterschiedliche Frauengestalten aus diversen Götter- und Heldenliedern verarbeitet (vor allem aus den Nordischen Nibelungen, dem süddeutschen Nibelungenlied und aus Teilen der Edda) – etwa die Walküren Brynhilde, Sigrdrifa, Skögull, Hljod, Sigrun. Aber auch eine Riesin namens Gerd, in die sich der Gott Froh (Freir) verliebte, erinnert ein wenig an Wagners Brünnhilde. (Diese Gerd ist ebenfalls von einem Feuerwall umgeben, den der Diener Frohs durchreiten muss, um ihr die Liebe seines Herrn zu verkünden.) Im Zauberlied der Groa (Edda) erinnert hingegen die Gestalt der Jungfrau Menglöd, die von Swipdag nur unter größten Schwierigkeiten gewonnen werden kann, an Wagners Brünnhilde. Die Vorlage-Gestalten für Wagners Brünnhilde sind nicht in allen Quellen als Göttinnen ausgewiesen, manches Mal sind sie nur Königinnen oder Königstöchter. Manche von ihnen werden aufgrund ihrer blonden Haare und ihres hellen Teints wegen als Flachsgöttin bezeichnet. In der Edda oder den Völsungen hört das Pferd der jeweils entsprechenden Dame auf den Namen Wingskornir, das Ross mit dem Namen Grani (bei Wagner: Grane) gehört hingegen Sigurd. Der Charakter dieser unterschiedlichen entsprechenden Frauengestalten wird als liebevoll, treu, aber auch als rachsüchtig, kämpferisch, charismatisch beschrieben.

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Siegmund Verhältnismäßig kompliziert wird es bei jenen Personen in der nordischen Mythologie, die als Vorlage für Wagners Siegmund dienten. Zum einen ist dies der Gott Balder, der Sohn von Wotan und Fricka, der getötet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Dann ist es Sigi, in der Völsungensaga als Wotans Sohn bezeichnet. Da dieser Sigi ein Mörder war, musste er als Außenseiter die Gesellschaft meiden. Erst sein Enkel trägt den Namen Völsung (bei Wagner Wälse, Wälsung), dessen Zwillingskinder wiederum heißen Sigmund (sic) und Signy. Aus dieser Zwillingsverbindung stammt Sinfjötli, der mit seinem Vater Sigmund gemeinsam in den Wäldern jagen geht. Sigmund und sein Sohn Sinfjötli verwandeln sich gelegentlich durch das Anziehen von Wolfsfellen in Werwölfe. Sigmund heiratet darüber hinaus Borghild, mit der er einen Sohn namens Helgi hat. In einigen Versionen wird Sigmund von Hunding ermordet, den wiederum Helgi tötet. Dem vorerst namenlosen Helgi wird wiederum in einer anderen Version (Helgi der Hundingstöter) von der Walküre Swawa der Name Helgi verliehen (vergleichbar in der Walküre: erster Akt, dritte Szene: »So lass dich heißen, wie ich dich liebe: Siegmund, so nenn ich dich.«). Helgi wird in dieser Version Opfer von Wotans Speer. In der Völsungensaga zerspringt hingegen bereits Sigmunds Schwert am Speer Wotans.

Sieglinde Wagners Sieglinde entspricht im Wesentlichen der Signy in den Nordischen Nibelungen. Sie ist dort die Tochter von Völsung und die Zwillingsschwester von Sigmund, mit dem sie gemeinsam das Kind Sinfjötli hat. Sie wird mit Siggeir verheiratet, mit dem sie mehrere Kinder hat, die schließlich alle von Sigmund und Sinfjötli getötet werden. Sie stirbt freiwillig beim Brand des Hauses von Siggeir.

Hunding Wagners Hunding geht hauptsächlich auf Siggeir und Hunding in der nordischen Mythologie zurück. Siggeir wird als mächtiger südschwedischer König beschrieben, Hunding als sohnreicher Stammesfürst. Siggeir heiratet Signy (gegen ihren Willen) und hat mit ihr mehrere Söhne, die von Sigmund und Sinfjötli getötet werden. Sowohl Siggeir als auch Hunding werden immer als hinterhältig beschrieben. In der Völsungensaga ergrimmt Siggeir gegen Völsung, da dieser in Siggeirs 53

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Anwesenheit das von Odin in einen Eschenstamm gestoßene Schwert herauszuziehen vermag (was Siggeir nicht vermochte). Er tötet Völsung und in einigen Versionen auch Sigmund. In einer anderen wird er selbst von Sigmund getötet (er stirbt in seinem brennenden Haus, das von Sigmund und Sinfjötli angezündet wurde). In der Edda wird Hunding von Helgi erschlagen.

Siegfried Vielfältig sind die Vorlagen, die Wagner beim Konzipieren seines Sympathieträgers Siegfried inspiriert haben. Sie reichen u.a. vom Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen der Gebrüder Grimm über Sigurd, Helgi, Swipdag sowie Sinfjötli aus der Völsungensaga und der Edda, Siegfried aus dem Nibelungenlied bis hin zum angelsächischen Beowulf-Lied und dem Gott Balder bzw. Gott Widarr aus der Edda. Ein in vielen Quellen oftmals wiederkehrendes Element ist, neben der Furchtlosigkeit und der Unbesiegbarkeit, der Drachenkampf. Im Beowulf-Lied vermag Beowulf mit der Hilfe Wig­lafs zwar den Drachen Grendel zu überwinden, wird aber selbst von dessen giftigem Atem tödlich verwundet. Wagners Siegfried hingegen spottet über Fafners giftigen Speichel: »Dass des Geifers Gift mich nicht sehre, weich ich zur Seite dem Wurm.« In der Völsungensaga überwindet Sigurd den Drachen durch Geduld und List. Er gräbt eine Grube, in die er sich hineinsetzt, und wartet, bis der Drache Fafnir über ihn hinwegkriecht, um diesem dann von unten das Schwert ins Herz zu stoßen. Muss Sigurd das komplette Herz Fafnirs essen, um die Sprache der Vögel zu verstehen, reicht bei Wagner der Kontakt von Siegfrieds Lippen mit dem Drachenblut, um dasselbe Ergebnis zu erzielen. Im Nibelungenlied wächst Siegfried wohlbehütet und unter der Obhut seiner königlichen Eltern Siegmund und Sieglinde auf, im Völsungenlied und in der Edda wird er vom Zwerg Reginn erzogen, in anderen Quellen heißen die entsprechenden Eltern Siegmund und Signy, Siegmund und Borghild oder Siegmund und Hjördi. Wie im Nibelungenlied erwirbt sich Siegfried auch bei Wagner den Nibelungenschatz und wird gleichfalls von Hagen getötet. Im kurzen Sigurdlied wird Sigurd schlafend im Ehebett ermordet, sein Leichnam verbrennt, allerdings ähnlich wie jener von Siegfried in der Götterdämmerung, auf einem Scheiterhaufen. Wagner übernahm aber auch unbedeutende Details aus den Quellen: So etwa den Namen des Pferdes Grane – im Sigurdlied ist von Grani die Rede. Kompliziert gestaltet sich in den Vorlagen die Liebesbeziehung Siegfried zu Brünnhilde. Im Nibelungenlied verhilft er Gunther mit Hilfe einer Tarnkappe zur isländischen Königin Brünnhilde – eine eindeutige Parallele zur entsprechenden Episode in der Götterdämmerung. In der Edda und der Völsungensaga weisen die unterschiedlichen Helden, wie Sigurd, Helgi oder Sinfjötli, ebenso viele Geliebte auf. Swipdag muss sich seine Frau Menglöd erst erobern, da sie von einem Riesen bewacht wird, der ihm den Zugang verwehrt. Eine AnA N DR EAS LÁ NG

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regung fand Wagner für den Schluss von Siegfried im Sigrdrifa-Lied: Sigurd findet auf einem hellerleuchteten Berg, die in Kriegsbewaffnung schlafende Sigrdrifa, die er erweckt.

Tiere Einige Tiere nehmen in der Edda wichtige Positionen ein: So bewacht der Hund Garm den Eingang zum Totenreich, so gibt die Ziege Heidrun den Göttern Met statt Milch, und aus dem Geweih des Hirsches Eikthyrnir entspringen alle Flüsse der Welt. Eine Sonderstellung nehmen die Vögel ein. Wotan wird zum Beispiel von zwei dressierten, sprechenden Raben begleitet. In Jacob Grimms Deutscher Mythologie wird darauf verwiesen, dass in der nordischen Mythologie unterschiedlichen Vögeln wie Specht, Kuckuck und Meisen weissagende Qualitäten zugesprochen wurden. Im Wölundlied verwandeln sich Walküren in sprechende Schwäne.

Hagen Im mittelhochdeutschen Nibelungenlied ermordet Hagen Siegfried mit seinem Speer: er trifft Siegfried an jener Stelle am Rücken, an dem dieser verwundbar ist. Die Stelle wurde ihm von Siegfrieds Gattin Krimhild verraten. Vorbilder für Hagen fand Wagner auch in der Älteren Edda: So tötet Dag seinen Schwager Helgi mit jenem Speer, den er von Odin ausgeliehen hatte. Im SigurdliedFragment ist es allerdings Högni, also Hagen, der von der Ermordung Sigurds (Siegfrieds) erfolglos abrät. Wie bei Wagner muss er schließlich Gudrun, der verwitweten Gattin Sigurds, die Ermordung des Ehemannes mitteilen. In diesem Fall fiel Sigurd jedoch nicht durch einen Speer, sondern durch das Schwert. Im mittelhochdeutschen Nibelungenlied wird Hagen von Krimhild, Siegfrieds Witwe, geköpft. Nach der Älteren Edda wurde Högni an den Hof Atlis gelockt, wo ihm das Herz herausgeschnitten wurde.

Gunther Im mittelhochdeutschen Nibelungenlied ist Gunther der König der Burgunder. In älteren, unter anderem in skandinavischen Quellen, wird er Gunnar aus dem Geschlecht Gjukis (entspricht Wagners Gibichungen) genannt. Wie bei Wagner lässt er sich Brynhild durch Sigurd erobern. Im Gegensatz zu Wagner ist es jedoch in erster Linie Gunnar, der schlussendlich Sigurds Tod fordert und daher auch von seiner Schwester Gudrun entsprechend angeklagt wird. 55

WOHER KOM MEN DIE PERSON EN IM »R ING«?



Gutrune Geht unter anderem auf Gudrune in der Älteren Edda sowie auf Krimhilde in der mittelhochdeutschen Nibelungensage zurück. Den Vergessenstrank, der Sigurds Erinnerung an Brynhild löschen soll, erhält Gudrune – anders als in Wagners Götterdämmerung – aus den Händen ihrer Mutter Grimhilde und nicht von Hagen. Sie wird nach dem Tod Sigurds die Gattin Atlis beziehungsweise als Krimhilde im mittelhochdeutschen Nibelungenlied die Gattin von Etzel.

Nornen Im Gegensatz zu den drei Rheintöchtern weisen die drei Nornen in Wagners Götterdämmerung keine Namen auf. Das im späten 10. Jahrhundert entstandene Völuspá-Gedicht nennt sie jedoch Urd (Schicksal), Werdandi (die Werdende) und Skuld (Schuld). Wie bei Wagner sind sie für das Schicksal der Welt verantwortlich, nur spinnen sie keinerlei Schicksalsseile, sondern ritzen entsprechende Runen in das Holz der Weltesche, an oder unter der sie kauern. In den etwas später entstandenen Heldi-Liedern hingegen knüpfen die Nornen goldene Schicksalsfäden, die sie über das Himmelsgewölbe ausbreiten.

← KS Adrian Eröd als Loge, Das Rheingold (2011)

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WOHER KOM MEN DIE PERSON EN IM »R ING«?


Peter Blaha

» DER RING DES NIBELUNGEN « IM HAUS AM RING Der erste Wiener Ring Mit der ersten kompletten Aufführung des Ring des Nibelungen wurden 1876 die Bayreuther Festspiele eröffnet. Am Pult stand Hans Richter, die Brünnhilde hat Amalie Materna gesungen. Beide Künstler gehörten dem Ensemble der Wiener Hofoper an und konnten in Bayreuth nicht ohne Zustimmung des Wiener Operndirektors Franz Jauner mitwirken. Und Jauner hatte diese Zustimmung von einer Gegenleistung Wagners abhängig gemacht: Er sicherte sich für Wien die Aufführungsrechte der Walküre, die nach 254 Einzelproben am 5. März 1877 in Anwesenheit der kaiserlichen Familie PET ER BLA H A

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und aller Erzherzöge über die Bühne ging. Wie in Bayreuth wirkten auch in Wien Hans Richter und Amalie Materna sowie Emil Scaria als Wotan mit. Die Ausstattung basierte auf Entwürfen Josef Hoffmanns, die dieser für Bayreuth geschaffen hatte. Der Erfolg war groß: Allein im Jahr 1877 wurde Die Walküre 19 Mal gezeigt, sodass Franz Jauner den Entschluss fasste, die gesamte Tetralogie an der Wiener Oper zur Aufführung zu bringen. Dabei kam ihm zugute, dass die ersten Bayreuther Festspiele mit einem finanziellen Debakel geendet hatten. Wagner benötigte Geld und trat daher die Aufführungsrechte des kompletten Ring an Jauner ab, wofür ihm zehn Prozent an Tantiemen zugesagt wurden. Am 24. Jänner 1878 hatte Das Rheingold Premiere, am 9. November 1878 folgte Siegfried, und am 14. Februar 1879 war mit der Götterdämmerung der erste Wiener Ring zu Ende geschmiedet. Die erste Gesamtaufführung der Tetralogie ging zwischen 26. und 30. Mai über die Bühne. Am Pult stand Hans Richter, für die Ausstattung waren Carlo Brioschi, Hermann Burghart und Johann Kautsky verantwortlich. Das Rheingold wurde damals noch mit Pause gespielt, in den anderen Teilen wiederum hat man etliche Szenen gestrichen, in der Götterdämmerung etwa die gesamte Nornenszenen, bei späteren Reprisen auch den Auftritt Waltrautes sowie die Szene zwischen Siegfried und den Rheintöchtern. Diese Striche stammen allerdings von Wagner selbst, an dessen Anweisungen sich Hans Richter penibel hielt. In der Saison 1896/97 wurden die Dekorationen von Anton Brioschi teilweise erneuert, im Prinzip blieb diese erste Wiener Ring-Inszenierung jedoch fast 30 Jahre lang im Repertoire.

Gustav Mahler und der Ring 1897 übernahm Gustav Mahler die Direktion der Wiener Hofoper. Schon im August dieses Jahres leitete er erstmals eine Gesamtaufführung der Tetralogie. Ein Jahr später konfrontierte er das Wiener Publikum erstmals mit dem ungestrichenen Ring, was von der Kritik nicht nur mit Wohlwollen quittiert wurde. Mahler setzte den Der Ring des Nibelungen darüber hinaus auch nur mehr in einheitlichen Zyklen an, wovon 1898/99 vier, 1899/1900 fünf zur Aufführung gelangten. 1903 holte Mahler Alfred Roller als Ausstattungsleiter an die Wiener Oper, mit dem er sich an eine Neuinszenierung des Ring machte. Roller löste sich in seinen Bühnenbildern von den Bayreuther Stilvorgaben, zukunftsweisend wurden der Einsatz von plastischen Dekorationsteilen und farbigem Licht anstelle von gemalten Bildern und Pappmaché. Am 23. Jänner 1905 hatte Das Rheingold – erstmals in Wien in einer pausenlosen Aufführung – Premiere, am 4. Februar 1907 folgte Die Walküre. Anna Bahr-Mildenburg sang im Rheingold die Fricka, in der Walküre die Brünnhilde, Erik Schmedes verkörperte Loge und Siegmund. Im Sommer 1907 legte Mahler sein Amt als Hofoperndirektor nieder. Er hatte im Kampf gegen die Hofbürokratie, »DER R ING DE S N IBELU NGEN« IM H AUS A M R ING


die ihn in seinem Reformwerk nicht unterstützte, und den Antisemitismus resigniert. Die Neuinszenierung des Ring des Nibelungen wurde zwar fortgesetzt, doch mit Rückkehr zu den überholt geglaubten Konventionen. Mahlers Nachfolger Felix von Weingartner führte schon in der Walküre wieder Striche ein, leitete dann am 26. September 1908 zwar eine strichlose Premiere des Siegfried, nahm aber in der Götterdämmerung, die am 21. November 1910 herauskam, erneut Striche vor. Schwerer freilich wog, dass man szenisch einen Schritt zurück machte. Zwar lagen auch der Ausstattung des Siegfried und der Götterdämmerung Entwürfe von Alfred Roller zugrunde. Doch nach dessen Demission 1909 setzte man bei der Ausführung, für die Anton Brioschi verantwortlich zeichnete, wieder auf gemalte Dekorationen und Pappmaché.

Die Zwischenkriegszeit Dieser erste Rollerʼsche Ring hielt sich bis 1930/31 im Repertoire, nur Das Rheingold wurde bereits 1928 durch eine Neuinszenierung abgelöst, die am 17. Oktober 1928 Premiere hatte. Am Pult debütierte an jenem Abend Wilhelm Furtwängler, der damit so großen Erfolg hatte, dass man ihn als Direktor der Wiener Staatsoper gewinnen wollte. Als man davon in Berlin erfuhr, wo Furtwängler Chefdirigent der Philharmoniker war, bot man ihm und seinem Orchester verbesserte Konditionen an. Furtwängler brach daraufhin die bereits im Gang befindlichen Verhandlungen mit Wien ab, zum Nachfolger Franz Schalks als Staatsoperndirektor wurde Clemens Krauss ernannt. Dieser setzte die Neuinszenierung des Ring fort, wofür – wie schon beim Rheingold 1928 – erneut Alfred Roller, diesmal gemeinsam mit Robert Kautsky, als Ausstatter gewonnen werden konnte. Für die Regie war Lothar Wallerstein verantwortlich. Stilistisch zeichnete sich dieser Ring dadurch aus, dass nebensächliche malerische Details weitgehend ausgespart blieben, wodurch Raum gewonnen wurde, in dem die Tragödie der Leidenschaften im Mittelpunkt stand. Die Walküre hatte am 20. April 1930 Premiere, wobei Maria Jeritza erstmals die Brünnhilde sang. Siegfried folgte am 21. Mai 1931, die Götterdämmerung am 11. Oktober 1931. Diese Inszenierung – es war die dritte in der Geschichte des Hauses – stand bis 1944 auf dem Programm. Kriegsbedingt wurde kurze Zeit später der Vorstellungsbetrieb eingestellt, am 12. März 1945 ging die Staatsoper nach Bombentreffern in Flammen auf.

Die Nachkriegszeit im Theater an der Wien Das Theater an der Wien, das zwischen 1945 und 1955 der Wiener Staatsoper als Ausweichquartier diente, kommt den Musikdramen Wagners auf Grund seiner beschränkteren räumlichen Verhältnisse nicht entgegen. Daher PET ER BLA H A

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sah man von einer Gesamtaufführung des Nibelungenrings ab, lediglich Die Walküre kam in einer Neuinszenierung am 2. Dezember 1946 heraus. Rudolf Moralt dirigierte, Erich von Wymetal führte Regie. Bis zum 30. Mai 1955 erlebte diese Produktion insgesamt 46 Aufführungen.

Der Ring unter Herbert von Karajan Zu einer Gesamtaufführung des Ring des Nibelungen kam es erst in der wiedererrichteten Staatsoper. 1956, also ein Jahr nach der feierlichen Eröffnung, übernahm Herbert von Karajan die künstlerische Leitung und startete am 2. April 1957 mit der Premiere der Walküre seine Ring-Neuinszenierung, bei der er nicht nur am Dirigentenpult stand, sondern auch für die Regie verantwortlich war. Als Ausstatter wurde Emil Preetorius verpflichtet, der bereits in den dreißiger Jahren in Bayreuth Ring-Bühnenbilder entworfen hatte. Manches kehrte davon in Wien wieder, etwa der Walkürenfelsen, sodass man diesem Ring ein merkwürdiges Schwanken zwischen Alt- und Neu-Bayreuth zum Vorwurf machte. Auf einhellige Begeisterung stieß jedoch die musikalische Interpretation durch Karajan und die Sängerinnen und Sänger, allen voran Hans Hotter als Wotan, Birgit Nilsson als Brünnhilde, Leonie Rysanek als Sieglinde, Ludwig Suthaus als Siegmund und Gottlob Frick als Hunding. Am 23. Dezember 1957 folgte die Premiere des Siegfried, dann erst reichte Karajan Das Rheingold nach (Premiere: 23. Dezember 1958), und zuletzt hatte am 12. Juni 1960 die Götterdämmerung-Premiere.

Die Zeit der Ring-Fragmente Karajans Ring-Inszenierung wurde im Juni 1977 zum letzten Mal komplett gezeigt. Sie sollte durch eine Neuinszenierung von Harry Kupfer in den Bühnenbildern von Peter Sykora abgelöst werden. Doch deren Konzept wurde von Staatsoperndirektor Egon Seefehlner abgelehnt, der daraufhin Filippo Sanjust als Regisseur und Ausstatter mit der Neuinszenierung des Ring beauftragte. Seefehlners Absicht, noch vor Ablauf seiner Amtszeit 1982 den Ring abzuschließen, ließ sich nun zwar nicht mehr einhalten, doch zumindest Das Rheingold (Premiere: 22. März 1981) und Die Walküre (Premiere: 22. November 1981) kamen unter Zubin Mehtas Leitung noch in seiner Amtszeit heraus. Allerdings stieß Sanjusts romantischer Ansatz, der alle ästhetischen Innovationen der letzten 80 Jahre zu ignorieren schien, auf massive Ablehnung. Seefehlners Nachfolger Lorin Maazel entschied daher, diesen Ring abzubrechen und tröstete das Wiener Publikum vorerst mit zwei konzertanten Aufführungen der Walküre im Mai 1984 unter seiner Leitung über die Ring-lose Zeit hinweg. Maazel wollte nach einem neuen Regisseur Ausschau halten, 61

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kam allerdings nicht mehr dazu, da er 1984 vorzeitig demissionierte. Egon Seefehlner kehrte noch einmal in die Direktion der Staatsoper zurück und nahm Die Walküre und Götterdämmerung aus dem alten Karajan-Ring wieder ins Repertoire. Götterdämmerung wurde zuletzt 1987, Die Walküre 1991 gezeigt.

Der Ring als Vermächtnis Eberhard Waechters Als Eberhard Waechter 1991 die Direktion der Wiener Staatsoper übernahm, kündigte er für seine zweite Spielzeit 1992/93 eine Neuinszenierung des kompletten Ring an. Waechter selbst konnte aufgrund seines überraschenden Todes im März 1992 die Realisierung dieses Projekts nicht mehr erleben, das nun von seinem Nachfolger Ioan Holender zur Ausführung gebracht wurde. Regisseur war Adolf Dresen, am Pult stand beim Rheingold (Premiere: 14. Oktober 1992), der Walküre (Premiere: 19. Dezember 1992) und der Götterdämmerung (Premiere: 17. Mai 1993) Christoph von Dohnányi. Die Premiere des Siegfried (14. März 1993) musste er krankheitshalber absagen. Für ihn sprang Antonio Pappano ein. Dohnányi leitete allerdings im Juni 1993 einen kompletten Zyklus dieser Produktion, die noch bis 2006 an der Wiener Staatsoper zu sehen war.

Der aktuelle Ring Von 2007 bis 2009 entstand ein neuer Ring-Zyklus, die musikalische Leitung hatte Franz Welser-Möst inne, die Inszenierung stammte von Sven-Eric Bechtolf – diese Produktion wird von der Wiener Staatsoper nach wie vor gespielt.

→ KS Johan Botha als Siegmund, Die Walküre (2013)

»DER R ING DE S N IBELU NGEN« IM H AUS A M R ING

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Loge → Das Rheingold

»Was ein Diebstahl, das stiehlst du dem Dieb; ward leichter ein Eigen erlangt?«


Peter Lewisch

» DER RING DES NIBELUNGEN « IN HEUTIGER STRAFRECHTLICHER SICHT

Der Ring zeigt eine Entwicklung vom »Göttlichen« zum »Menschlichen«. Die Anwendung des Strafrechts auf einen solchen Sachverhalt muss naturgemäß darüber hinwegsehen, dass für sich genommen nach geltendem Recht Zwerge, Riesen und Götter weder Deliktssubjekt sind noch als solche Strafrechtsschutz genießen und es die Götter wohl für sich in Anspruch nehmen würden, außerhalb der menschlichen Verantwortlichkeitsregeln zu stehen. Ein – wenn auch nur skizzenhafter – Blick auf den Ring durch die Brille des geltenden Strafrechts verspricht aber jedenfalls Lug und Trug sowie Mord und Totschlag in großer Zahl. 65

PET ER LEW ISCH


Das Rheingold Der Vorabend beginnt mit dem sogenannten »Raub« des Rheingolds durch Alberich. Durch die Rheintöchter erst »aufgegeilt« und dann zurückgewiesen, entsagt er – durch Fluch – der Liebe und bricht das Gold aus dem Riff, um sich daraus den (»maßlose Macht« verleihenden) Ring zu schmieden. Wirklich ein Raub? Ein Raub (§ 142 StGB) kann es nach österreichischem Strafrecht nicht sein, weil dieser Tatbestand das Wegnehmen einer fremden beweglichen Sache durch Gewalt gegen Personen oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben voraussetzt und Alberich weder das eine noch das andere – er übt durch das Herausbrechen des Goldes ja bloße Sachgewalt – verwirklicht. Aber hat Alberich durch Sachwegnahme zumindest einen Diebstahl (§ 127 StGB) begangen? So überraschend die Frage erscheinen mag; sie ist weniger juristische Spitzfindigkeit als eine Frage der Interpretation von Text und Sinn des Dramas. Unklar ist nämlich, ob der Liebesfluch bloß Voraussetzung dafür ist, den Ring zu schmieden (die Unrechtmäßigkeit einer Wegnahme des Goldes aber bestehen lässt), oder aber auch zur An-sich-Nahme des Goldes berechtigt. Ist Letzteres der Fall, dann hat Alberich nach den Regeln – und daher insoweit befugt (»tatbestandsausschließendes Einverständnis«) – das Gold an sich genommen. Er hätte diesfalls nämlich durch den Liebesfluch zwar etwas Ungeheuerliches, nicht aber etwas Rechtswidriges, geschweige denn etwas Strafrechtswidriges getan. Obwohl Alberich oft genug, so auch von den Rheintöchtern, als Räuber bezeichnet wird, lässt uns Wotan in seiner großen Erzählung in der Walküre wissen, dass Alberich durch seinen Fluch das Gold erlangte (»er fluchte der Lieb’ und gewann durch den Fluch des Rheines glänzendes Gold«). Glaubt man dem Gott – ob man das bei Wotan darf, ist allerdings nie so ganz sicher –, dann hat Alberich nichts Unrechtes getan, sondern durch den Fluch gewissermaßen nur den Preis für die An-sich-Nahme des Goldes bezahlt. Ansonsten wäre Alberich aber in der Tat wegen Diebstahls strafbar. Weiter geht es recht unfreundlich: Wotan hat von den Riesen Fasolt und Fafner die Götterburg Walhall erbauen lassen und hat ihnen dafür, vielleicht doch etwas leichtfertig, die Jugendgöttin Freia als Lohn versprochen. Auf diesen Lohn wollen die Riesen nur verzichten, wenn ihnen Wotan stattdessen Alberichs Goldschatz übergibt; derweilen nehmen sie Freia einmal als Pfand mit. Ob Fasolt und Fafner dadurch eine erpresserische Entführung (§ 102 StGB) verwirklichen, hängt nach dem überwiegenden Verständnis dieses Delikts davon ab, ob die Entführer unter Errichtung einer echten Geiselherrschaft letztlich den Eindruck erwecken, Leib und Leben der entführten Person hänge von ihren Gnaden ab. Was bleibt Wotan angesichts des moralischen Drucks der Göttergesellschaft schon anderes übrig, als Schatz und Ring Alberichs zu erlangen? Da klar ist, dass Alberich den Ring nicht freiwillig herausgeben wird, bleibt – Loges Rat folgend – kein anderer Weg als ein Raub (§ 142 StGB): Durch List bringen WoPET ER LEW ISCH

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tan und Loge Alberich dazu, sich in eine Kröte zu verwandeln; diese können die beiden nun packen. Wotan und Loge halten die Gewaltanwendung gegenüber Alberich solange aufrecht, bis dieser den Schatz samt Tarnhelm und Ring herausgibt. Der Fluch, mit dem Alberich seinen Ring belegt, ist unschön, für sich genommen aber – weil keine anerkannte Beteiligungshandlung für all das nachfolgende Unheil – nicht strafrechtswidrig. Die Riesen übernehmen Schatz, Tarnhelm und Ring und betätigen sich diesbezüglich zumindest als Hehler. Das Hehlereigut bekommt nicht gut: Der Fluch Alberichs beginnt zu wirken, die beiden Riesen geraten über die Aufteilung des Schatzes in Streit und Fafner erschlägt Fasolt; der erste Mord (§ 75 StGB) im Ring. Weitere sollen folgen – auch wenn der Einzug der Götter in Wallhall zunächst noch eine schöne, heile (Götter-)Welt suggeriert.

Die Walküre In der Walküre geht es zunächst recht deftig zu: Vielfacher Mord im Vorspiel, Inzest im ersten Akt, die Tötung Siegmunds und Hundings im zweiten; erst im dritten Akt läuft die Handlung mit der »Freiheitsentziehung« an Brünnhilde vergleichsweise zahm aus. Schon das Vorspiel – ein Gewitter, das Siegmund in die Hütte seines Feindes Hunding treibt –, verheißt nichts Gutes: Und wirklich, alsbald erfährt man durch Erzählungen Siegmunds, dass dieser Männer in erheblicher Zahl erschlagen hat. Ob in Notwehr oder (aufgedrängter) Nothilfe, lässt seine Erzählung letztlich im Dunkeln. Solcherart »waffenlos in Feindes Haus gefallen«, trifft Siegmund immerhin – wiewohl zunächst noch nicht als solche erkannt – seine mit Hunding verheiratete Zwillingsschwester Sieglinde. Diese verabreicht Hunding einen mit Betäubungsmittel versetzten Schlaftrunk und macht sich dadurch nach herrschender Auslegung einer Freiheitsentziehung (§ 99 StGB) strafbar; eine Gesundheitsschädigung (§ 83 StGB) hat sie aber deshalb nicht verwirklicht, weil der Schlaftrunk bei Hunding nicht zu einem echten Betäubungszustand von zumindest zeitweiligem Krankheitswert führt. Kaum ist Hunding eingeschlafen, können sich die Geschwister einander näher zuwenden. Zunächst zieht Siegmund das Schwert aus der Esche und nimmt es an sich. Gestohlen hat er das Schwert, auch wenn es sich in der Hütte Hundings befindet, natürlich nicht: Denn dazu müsste er es »wegnehmen«; das Schwert ist aber – vom Vater »verheißen« – gerade ihm, Siegmund, hingegeben. Schließlich kommt es – unter Geschwistern selbstredend strafbar (§ 211 Abs 3 StGB) – zwischen Siegmund und Sieglinde zum Inzest, über dessen Vollzug Richard Wagner gnädig den Vorhang des ersten Akts fallen lässt. Im Ehestreit des zweiten Akts zwischen Wotan und Fricka geht es zwar hart, nicht aber strafrechtswidrig her; sieht man einmal davon ab, dass Fricka zur Wiedergutmachung den Tod Siegmunds fordert. Wotan beauftragt seine 67

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Lieblingstochter Brünnhilde damit, Siegmund dessen bevorstehenden Tod zu eröffnen. Dies wiederum führt dazu, dass Siegmund – durch die Nachricht wohl im Affekt – Sieglinde und mit/in ihr den noch ungeborenen Siegfried töten will. Das Zücken des Schwertes begründet zwar für sich genommen insoweit strafbaren Deliktsversuch, von dem Siegmund aber – durch freiwillige Tataufgabe – strafbefreiend zurücktritt. Brünnhilde widersetzt sich – zwar unfolgsam, aber nicht strafrechtswidrig – den Befehlen Wotans und unternimmt es einerseits, insoweit vergeblich, Siegmund zu retten, und andererseits, insoweit erfolgreich, Sieglinde zur Flucht zu verhelfen. Letztlich kommt es zum Aufeinandertreffen von Hunding und Siegmund: Wotan lässt Siegmunds Schwert an seinem Speer zerbrechen, sodass es Hunding ein Leichtes ist, Siegmund zu töten (§ 75 StGB). Auch wenn sich Götter nicht leicht strafrechtlich zur Verantwortung ziehen lassen, sind an der Ermordung Siegmunds sowohl Wotan selbst als auch Fricka mit beteiligt. Weil Wotan aber Hunding gar so verachtet, lässt er ihn mit einer Handbewegung tot zu Boden sinken; elegant zwar – im Grunde aber auch ein Mord (§ 75 StGB). Als Strafe für ihren Ungehorsam »entgöttlicht« Wotan Brünnhilde und versenkt sie hinter einem Feuerkreis in festen Schlaf, wobei er sich nicht eines plumpen Schlaftrunks, sondern seiner göttlichen Zauberkraft bedient. An der Verwirklichung einer – auch als Erziehungsmaßnahme nicht zu rechtfertigenden – Freiheitsentziehung (§ 99 StGB) ändert das nichts. Auch dafür wird es aber schwierig sein, Wotan zur Verantwortung zu ziehen; so mag es trostvoll erscheinen, dass Wotan – wie der Zuseher spätestens nach dem zweiten Akt weiß – mit seiner Fricka eigentlich ohnedies »gestraft genug« ist.

Siegfried

← Günther Groissböck als Hunding, Die Walküre (2011)

Siegfried ist ein »junger Wilder«: Er hat das Fürchten nicht gelernt und offenbar auch sonst nicht viel Gescheites. Als troublemaker – insoweit seinem Vater Siegmund sehr ähnlich – fordert er Gefahren heraus und besteht diese durch Gewaltausübung. Fast möchte man ihn als »Notwehrspezialisten« bezeichnen. Zur ersten »Notwehrsituation« kommt es dadurch, dass Mime eine Konfrontation zwischen seinem Ziehsohn Siegfried und Fafner herbeiführt, der – zum riesenhaften Wurm geworden – den Eingang zum Nibelungenhort versperrt. Während Siegfried, der das wahre Wesen des Drachen nicht kennt, glaubt, es handle sich bloß um die von Mime versprochene Gelegenheit zum verlässlichen Erlernen des Fürchtens, hat es der Zwerg darauf angelegt, dass ihm Siegfried den Riesen aus der Welt schafft und so den Weg zum Ring eröffnet. So kommt es zunächst auch; Siegfried ersticht Fafner mit dem – aus den Resten Nothungs eben erst neu geschmiedeten – Schwert.

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»DER R ING DE S N IBELU NGEN« IN HEU T IGER ST R A FR ECH T LICHER SICH T


Die Anwendung des Mordparagrafen auf die Tötung Fafners einmal vorausgesetzt, bleibt die Frage, ob sich Siegfried vielleicht auf Notwehr – und damit einen zur Straflosigkeit führenden Rechtfertigungsgrund – berufen kann. Siegfrieds Konfrontation mit Fafner ist eine solche von duellhaftem Charakter, bei der Angriffs- und Verteidigungsrolle nicht leicht zu trennen sind. Gerade aus diesem Grund (weil nämlich jede Seite zugleich Angreifer und Verteidiger ist) haben ältere Rechtsordnungen regelmäßig die Anwendung des Notwehrrechts für Duelle generell ausgeschlossen. Nach geltendem Recht, das naturgemäß eine »Duellregel« nicht kennt, gilt (durchaus notwehrfreundlich), dass sich der Verteidiger auch dann auf sein Notwehrrecht berufen darf, wenn er sich sehenden Auges in eine gefährliche Situation begeben hat, also auch etwa in eine solche, in der er mit einem Angriff eines anderen konkret rechnet. Lediglich in Fällen der sogenannten »Absichtsprovokation«, wenn also der »Verteidiger« den Angriff gerade deshalb herausfordert, um die Rechtsgüter des Angreifers zu beeinträchtigen, ist das Notwehrrecht verwirkt. Zwar lässt der Ablauf der Geschehnisse manches im Dunkeln, doch liegt die folgende Deutung nahe: Siegfried sucht zwar die Auseinandersetzung mit Fafner (»Doch fahr ich dir zu Leibe, lehrst du das Fürchten mich nicht!«). Er braucht den Drachen, der im Übrigen ohnedies gewohnt ist, alles, was sich ihm in den Weg stellt, zu töten, allerdings nicht wirklich zu provozieren: Denn der Drache hat bereits – von Wotan und Alberich über das Kommen Siegfrieds in Kenntnis gesetzt – beschlossen, Siegfried bei dessen Kommen aufzufressen (»mich hungert sein«). So reicht schon das bloße Erscheinen Siegfrieds als Auslöser für die nachfolgende Konfrontation und den Angriff Fafners, mögen sich die beiden Streitteile auch noch wechselseitig durch provokante Sprüche reizen: für eine Absichtsprovokation Siegfrieds bleibt insoweit kein Raum. Als sich Fafner sohin anschickt, Siegfried zu fressen (»dich zu verschlingen, frommt der Schlund«), also bei dessen unmittelbar bevorstehendem Angriff auf das Leben des Siegfried, stößt ihm dieser – eine andere taugliche Verteidigung gibt es in diesem Moment nicht – das Schwert Nothung ins Herz. Da diese Verteidigung Siegfrieds zur Abwehr des Angriffs auf sein Leben notwendig ist, kann sich Siegfried auf Notwehr berufen. Für die Wegnahme von Tarnhelm und Ring wäre Siegfried nach geltendem Recht – weil dieses davon ausgeht, dass man auch nach dem Tod des Berechtigten Nachlassgegenstände nicht einfach wegnehmen darf – an sich wegen Diebstahls (§ 127 StGB) strafbar. Immerhin hat Siegfried gute Aussichten darauf, dass der diesbezügliche Rat des – grundsätzlich wohlinformierten – Waldvögleins (»Hei! Siegfried gehört nun der Niblungen Hort!«) zu einem (im Übrigen von den österreichischen Gerichten nur höchst selten angenommenen) entschuldigenden Verbotsirrtum hinreicht. Sogleich geht es mit dem Töten weiter. Das Drachenblut verschafft Siegfried die Fähigkeit, die wahren Absichten von Menschen aus deren Reden herauszuhören. So versteht er, dass Mime plant, ihn mit einem Betäubungstrank einzuschläfern und alsdann zu töten. Er streckt Mime sogleich mit dem Schwert nieder. Auch PET ER LEW ISCH

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damit ist der Tatbestand des Mordes (§ 75 StGB) verwirklicht. Diesmal kann sich Siegfried nicht auf Notwehr berufen: Denn diese besteht ja – wie oben dargetan – in der notwendigen Abwehr eines gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden Angriffs. Sieht man im Verabreichen des Betäubungstranks einen Angriff Mimes auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit von Siegfried, so lässt sich dieser Angriff – einmal durchschaut – ganz einfach dadurch abwehren, dass Siegfried den Trank nicht konsumiert; die Tötung Mimes ist dafür nicht erforderlich. Natürlich plant Mime auch, den betäubten Siegfried zu töten: Der diesbezügliche Angriff auf das Leben Siegfrieds steht aber erst in der Zukunft bevor, und das Strafrecht lässt insoweit Präventivnotwehr nicht zu. Die letzte – wiederum duellhafte – Auseinandersetzung ist jene zwischen Siegfried und Wotan. Immerhin geht es hier nicht wirklich um Leben und Tod, sondern – nur, aber immerhin – um den Zugang zu Brünnhilde, die ja – vom Feuerkreis immer noch umgeben – im Schlafe auf ihren Erretter wartet. Wie so häufig, ist es der potenzielle Schwiegervater, der dieser Verbindung – im buchstäblichen Sinn (und noch dazu mit einem Speer bewaffnet) – im Wege steht. Siegfried zerschlägt den Speer Wotans und verwirklicht dadurch für sich genommen den Tatbestand einer Sachbeschädigung (§ 125 StGB). Dass er damit auch die Herrschaft Wotans beendet, unterfällt keinem eigenen Straftatbestand. Ist Siegfried für die Sachbeschädigung durch Notwehr gerechtfertigt? Soweit sich Wotan bloß zum wehrhaften Hindernis macht, also Siegfried nicht vorbeilässt, wäre Siegfried der Angreifer – ein Notwehrrecht stünde ihm daher insoweit nicht zu. Siegfried könnte sich aber auf Nothilfe (also Notwehr im Interesse eines Dritten) zugunsten von Brünnhilde berufen. Dadurch, dass Wotan Siegfried den Zugang zum Flammenfelsen verwehrt, perpetuiert er deren rechtswidrige Freiheitsentziehung (§ 99 StGB). Und selbst wenn das Einschläfern und Einschließen Brünnhildes seinerzeit rechtmäßige Bestrafung gewesen sein sollte, so ist nach den von Wotan selbst gesetzten Regeln gerade der Furchtlose – also Siegfried selbst – dazu berufen, Brünnhilde zu befreien. Zu ihren Gunsten darf Siegfried Nothilfe üben. Er bleibt daher für die Sachbeschädigung an Wotans Speer straflos. Das Durchschreiten des Feuerkreises ist selbstredend genauso straflos wie das Erwecken Brünnhildes durch einen Kuss. Aus Sicht der Nicht-Wagnerianer mag es allerdings nur bedingt nachvollziehbar erscheinen, dass Siegfried nun – über vier Stunden nach Beginn – nochmals eine gute halbe Stunde ungestraft weitersingen und – gemeinsam mit Brünnhilde – die Liebe in höchsten Tönen preisen darf.

Götterdämmerung Die Götterdämmerung – musikalisch die Krönung des Rings – kann in strafrechtlicher Hinsicht mit den anderen Teilen nicht mithalten. Lange plätschert die Handlung ohne strafrechtsrelevante Elemente dahin, um erst gegen Ende in einigen Morden und dem Untergang Walhalls zu kulminieren. Mit dem 71

»DER R ING DE S N IBELU NGEN« IN HEU T IGER ST R A FR ECH T LICHER SICH T


Abschied Siegfrieds von Brünnhilde, die er am Flammenfelsen samt Ring zurücklässt, und seiner Fahrt zu Gunthers Hof beginnt eine verhängnisvolle – von Alberich und Hagen gesteuerte – Entwicklung: Gunther lässt sich von Hagen überreden, Siegfried einen Vergessenstrank zu verabreichen, der Siegfried die Erinnerung an seine Braut Brünnhilde nimmt: In neu entflammter Liebe zu Gunthers Schwester Gutrune soll Siegfried – kraft Tarnhelms in der Gestalt Gunthers – Brünnhilde aufsuchen, diese (für Gunther) als Braut »er­obern« und sie gemeinsam mit dem Ring zu Gunthers Palast bringen. Hagens Plan gelingt. Das Verabreichen eines Vergessenstranks ist zwar etwas ziemlich Gemeines, strafrechtlich aber – soweit sich damit überhaupt eine krankhafte Funktionsstörung des Körpers verbindet – allenfalls als Gesundheitsschädigung (und damit nur als Trivialdelikt) strafbar. Jedenfalls sorgt der Vergessenstrank dafür, dass Siegfried alles, was er tut, in Unkenntnis seiner Verbindung zu Brünnhilde – und insoweit vorsatzlos – verwirklicht. Und so schwört Siegfried auch, als ihn Brünnhilde als ihren wahren Gemahl bezeichnet und deshalb auch des Treuebruchs gegenüber Gunther beschuldigt, bei seinem Leben, all seine Treuepflichten stets eingehalten zu haben. So kommt es, wie es kommen muss: Zutiefst verletzt, verrät Brünnhilde Hagen, der zur Erlangung des Rings ohnedies die Tötung Siegfrieds plant, dessen verwundbare Stelle, die – vielleicht etwas überraschend – auf dem Rücken Siegfrieds liegt. Hagen durchbohrt Siegfried von hinten mit dem Speer und begeht so einen Mord (§ 75 StGB). Brünnhilde hat – durch ihren Rat – die Ermordung Siegfrieds als sonstige Tatbeteiligte mit zu verantworten. Und auch Gunther unterstützt – in Ehrfragen etwas »übersensibel« – durch psychischen Beitrag (»So soll es sein! Siegfried falle!«) die Ermordung Siegfrieds. Letztlich bedauert Gunther zwar – zumindest ein wenig und nach außen hin – die Ermordung Siegfrieds (»Hagen, was tatest du?«); zur Straflosigkeit hätte er aber die Tatausführung verhindern müssen (»Rücktritt vom Versuch«), und das hat er jedenfalls nicht getan. Für seine Tatbeteiligung an Siegfrieds Ermordung zur Verantwortung ziehen kann man Gunther aber nicht mehr: Denn als Gunther Hagen den Ring als Belohnung für die Ermordung Siegfrieds verwehrt, tötet ihn Hagen (erneut § 75 StGB). Im Grunde folgt – etwas sublimiert – ein weiterer Mord: Diesmal trifft es Hagen selbst: die Rheintöchter, denen Brünnhilde den Ring zurückgibt, ziehen Hagen, als dieser nach dem Ring fasst, mit sich ins Wasser. Des Tötens nicht genug, steckt Brünnhilde nicht nur den für Siegfried errichteten Scheiterhaufen in Brand, sondern wirft auch noch »den Brand in Walhalls prangende Burg«. Brünnhildes strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Untergang der Götterwelt (zu denken ist zumindest an eine vorsätzliche Brandstiftung, wohl mit Todesfolge in großer Zahl gemäß § 169 Abs 3 StGB) bleibt allerdings – weil sie sich in diesem Scheiterhaufen gleich selbst mitver- → KS Camilla Nylund als brennen lässt – letztlich eine akademische Frage. → Dieser Text entstand 2008 und spiegelt das damals aktuelle Strafrecht wider. »DER R ING DE S N IBELU NGEN« IN HEU T IGER ST R A FR ECH T LICHER SICH T

Sieglinde, Die Walküre (2013)

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DAS RHEINGOLD → Vorabend des Bühnenfestspiels Der Ring des Nibelungen Musik & Dichtung Richard Wagner

Orchesterbesetzung 3 Flöten, Piccoloflöte, 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 8 Hörner (5. und 6. auch Tenortuba, 7. und 8. auch Basstuba), 3 Trompeten, Basstrompete, 4 Posaunen (4. auch Kontrabassposaune), Kontrabasstuba, Pauken, Schlagwerk (Becken, Triangel, Tamtam), 3 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 18 Ambosse, Hammer, Harfe Spieldauer ca. 2,5 Stunden (keine Pause) Autograph Partitur-Erstschrift teilweise Richard-WagnerNational-Archiv Bayreuth, teils verschollen Uraufführung 22. September 1869, Hoftheater, München Erstaufführung im Rahmen der ersten Gesamtaufführung des Ring des Nibelungen im Bayreuther Festspielhaus 13. August 1876 Erstaufführung an der Wiener Hofoper 24. Jänner 1878


Johannes Brahms

Wagner, das ist jetzt der Erste. Da kommt lange nichts nach ihm. Alles andere verschwindet momentan vor seiner Bedeutung, die nicht sobald einer begreift oder würdigt, so wie ich und gewiss am allerwenigsten die Wagnerianer.


Tobias Janz

AM NULLPUNKT DER MUSIKALISCHEN MODERNE Zu den vielen Widersprüchen der Person Richard Wagner gehört sein zwiespältiges Verhältnis zur Kategorie des Modernen in der Kunst und in der Kultur. So kann Wagner einerseits als Wegbereiter der ästhetischen Moderne gelten, als ein Künstler, der wie kaum ein anderer des 19. Jahrhunderts für den Bruch mit Konventionen und für den Einsatz des Neuen einsteht. Auf der anderen Seite findet man die in vielerlei Hinsicht von Ressentiments und Ängsten getragene Zivilisationskritik besonders des späteren Wagner, der in der modernen Kultur Gefahren der Entfremdung, der Zersetzung und allgemein kunstfeindliche Tendenzen witterte und darauf mit antimodernen, antiurbanistischen, antikapitalistischen und antisemitischen Statements reagierte. Der Ring des Nibelungen ist von der sich daraus ergebenden Spannung weitaus stärker geprägt als andere Werke Wagners. Denn während sein Stoff, von dem Wagner gegenüber Theodor Uhlig sagte, er habe darin seiner »ganzen Weltanschauung […] ihren vollendetsten künstlerischen Ausdruck« gegeben, eine negative Allegorie der 77

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modernen Welt des Kapitalismus, der Ausbeutung der unteren Klassen, der auf Unrecht und Gewalt beruhenden Gesellschaftsordnung entwirft, bedient sich die künstlerische Darstellung dieses Stoffes sprachlicher und musikalischer Mittel, die zu ihrer Zeit radikal neu waren und deren Modernität noch heute spürbar ist. Modern waren diese Mittel freilich nicht im Sinne eines ›up-todate‹, sondern im Sinne eines utopischen Vorgriffs auf eine andere und bessere Zukunft, deren Imagination bei Wagner verschmilzt mit dem verklärten Bild einer mittelalterlich-vormodernen Vergangenheit. Für die Versdichtung des Ring schuf Wagner eine Kunstsprache, die in modernem Hochdeutsch vergessene Sprachschichten aufzudecken versucht, indem sie sich in zeitgenössischer Diktion eines abgelegten, archaischen Wortschatzes und altertümelnder Syntax bedient, oft aus sprachrhythmischen oder dem Stabreim geschuldeten Gründen, aber auch zu exzentrischen Neubildungen findet, die an moderne Lautpoesie denken lassen. Eine ähnliche Ambivalenz lässt sich an der Musik des Ring beobachten, wo allerdings das Neue insofern weitaus stärker ins Gewicht fällt, als Wagner bei der musikalischen Komposition keine historischen Quellen zur Verfügung standen, an die sich zur Überwindung des zeitgenössischen Opernidioms hätte anschließen lassen. Oszilliert die Sprache des Ring zwischen der Annäherung an eine illusionäre germanische Hochsprache und der sprachkünstlerischen Verfremdung bzw. Überhöhung der modernen Prosa, so geht vieles in der Musik zum Ring radikal von einem Nullpunkt aus. Dies beginnt bereits bei der Konzeption des Klangkörpers, bei der Disposition des Ring-Orchesters. Dessen massiver Korpus (102 In­strumente ohne Schlagzeug und Harfen) stellt gegenüber dem Orchester des Lohengrin nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ eine signifikante Veränderung und Erweiterung dar. Kompositionstechnisch brachte die Besetzung ganz neue Probleme mit sich, und dies vor allem, weil Wagner das Orchester des Ring im Kompositionsprozess nur als ein virtuelles Medium zur Verfügung stand – als ein Medium, mit dem er weder aufführungspraktisch vertraut war, noch sich an vorliegenden Kompositionen orientieren konnte. Grundsätzlich erweitert das Ring-Orchester den Klangbereich durch Integration der Bassklarinette, der Basstrompete, der Horn-, Bass- und Kontrabass-Tuben sowie der Kontrabassposaune signifikant in die Tiefe. Die sich daraus ergebende Vergrößerung der Bläser-Chöre glich Wagner durch eine massive Erweiterung des Streicherchors aus, die ihrerseits ganz neue Möglichkeiten der Teilung und Gruppenbildung mit sich brachte. Möglichkeiten, die Wagner etwa zur klanglichen Symbolisierung des leuchtenden Rheingolds oder des Brünnhilde umgebenden Feuerkreises raffiniert zu nutzen wusste. Von einem konzeptionellen Nullpunkt ging Wagner auch in der Komposition aus. Das Vorspiel zum Rheingold, mit dem die Tetralogie beginnt, macht dies gleichsam zum Programm: 136 Takte ohne harmonische Bewegung, ohne dynamische und melodische Entwicklung. Man hört allein das Wachsen eines TOBI AS JA NZ

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intern belebten, aber gleichzeitig in sich ruhenden Klangs, in dem die Instrumente des Orchesters eigentlich noch keine artikulierte Musik, sondern vielmehr sich selbst spielen: zuerst leere Saiten die unteren Kontrabässe, dann seinen tiefsten Ton das dritte Fagott (sofern dies nicht durch ein Kontrafagott ersetzt wird), darauf folgend die acht Hörner mit den Naturtönen 2 bis 6, 8 und 10 über dem Kontra-Es der Kontrabässe, später in immer schnelleren Bewegungen die hohen Bläser und Streicher mit Brechungen des Es-Dur-Klangs und Ausschnitten der Es-Dur-Skala. Ohne ihn intentional zu gestalten, scheint die Musik des Vorspiels den Klang sein lassen zu wollen, wie er von Natur her ist. Das Vorspiel ist insofern nicht nur eine tonmalerische Darstellung des flutenden Rheins, es ist auch eine akustische Metapher für eine Natur vor oder diesseits der Geschichte – eine Natur, die sich als lebendige Vielfalt, gleichzeitig aber heute noch unverändert, in sich ruhend, wie am ersten Tag nach der Schöpfung präsentiert. Mit dem Öffnen des Vorhangs beginnt dann nicht allein die Geschichte um den Ring des Nibelungen, sondern überhaupt Geschichte als das Andere der Natur, als Sphäre des Wollens, des Sinns und des intentionalen Handelns. Die Gesänge der Rheintöchter scheinen mit genau diesem Übergang zu spielen, wenn sie Klang in Sprache übergehen und Sprache wiederum in Klang, Sinn in Nonsens zurücksinken lassen: »Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagalaweia! Wallala weiala weia!« Ein Großteil der musikalischen Dramaturgie des Rheingold beruht dann auf der Idee, diesen Übergang von Natur zu Geschichte und die damit zusammenhängenden polaren Gegensätze zwischen Liebe und Macht, Freiheit und Unfreiheit, kindlichem Spiel und roher Gewalt plastisch Gestalt werden zu lassen. Der heiteren Welt der Rheintöchter in der ersten Szene stellt Wagner mit der dritten Szene – der Nibelheim-Szene – ein kontrastierendes Pendant gegenüber, dessen klangliche Charakteristik – grelle Instrumentalfarben, extreme Register – bereits mit dem Auftritt Alberichs in der ersten Szene den ungetrübten Naturklang infiltriert. Dem freien Fließen der Naturklänge kontrastiert in der dritten Szene die futuristisch anmutende Maschinenmusik der 16 Ambosse der Nibelungen, den jubelnd-leuchtenden »Rheingold«-Rufen der Rheintöchter deren verzerrtes und klanglich-harmonisch deformiertes Gegenbild in dem Moment, als Alberich, den Nibelungen drohend, den Ring präsentiert (»Zitt’re und zage, gezähmtes Heer: rasch gehorcht des Ringes Herrn!«). Alberichs Fluch macht aus dem strahlend-positiven C-Dur der Erscheinung des Rheingolds eine harsche Dissonanz, eine Vorhaltsbildung innerhalb eines FisDur-Klangs – Symbol der Negativität des Goldes, das zum Zwecke der Macht der Natur entrissen und ihr entfremdet wurde. Erdas Ankündigung des Endes der Götter kehrt schließlich, nicht weniger symbolträchtig, die aufsteigenden Naturmotive des Vorspiels um in niedersinkende Bewegungen. Neben dieser plastischen und sprechenden Klangsymbolik herrscht im Rheingold über weite Strecken, insbesondere in den Szenen »auf Bergeshöhen« bei den Göttern, aber auch ein leichtes Parlando, ein oft ironisch 79

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gebrochener Tonfall, der deutlich werden lässt, dass Wagner hier keine Tragödie, sondern (auch) ein heiteres Vorspiel zur Trilogie der Tragödien Die Walküre, Siegfried und Götterdämmerung geschrieben hat – das Satyrspiel, das im klassischen Athen abschließend eine Tragödien-Trilogie zur Tetralogie rundete. Es dominiert das Rezitativ. Musik der charakteristischen ersten und dritten Szene oder gewichtige neue Leitmotive wie das Walhall-Motiv werden mehr wie die Gegenstände eines Smalltalks aufgegriffen, als wirklich musikalisch verarbeitet und integriert. Auch die ironische Distanz, die Passagen wie Loges-Erzählung (»Immer ist Undank Loges Lohn ...«) in diesem Sinne auszeichnet, ist ein Bestandteil von Wagners musikalischer Moderne. Sie ist ein Instrument, das es Wagner paradoxerweise ermöglicht, eine größere Nähe zum musikalischen Kontext der Entstehungszeit des Ring einzunehmen, als dies in den pseudo-archaischen und gleichzeitig avancierten Abschnitten geschieht. Manches klingt nach Marschner, Lortzing, Nicolai oder Spohr, wenngleich es durch ein der ›Bricolage‹, dem Verbinden unzusammenhängender präexistenter Elemente, nahestehendes Kompositionsprinzip spürbar verfremdet wird. Das Rheingold markiert in vielerlei Hinsicht einen Anfang in der ästhetischen Moderne. Dass das Moderne im Ring sich einer prinzipiell moderneskeptischen Haltung verdankt, mag angesichts von Wagners Faible für alles Alte, Altertümliche und Altehrwürdige als widersprüchlich erscheinen. Gerade in seiner Verbindung von Gesellschaftskritik und utopischem Geist entfaltet Wagners Ring zu einem historisch frühen Zeitpunkt jedoch eine Konstellation, die im Anschluss an Wagner zum prägenden Bewegungsgesetz der ästhetischen Moderne werden sollte.

→ KS Tomasz Konieczny als Wotan und Norbert Ernst als Loge, Das Rheingold (2013)

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Konrad Paul Liessmann

ALBERICHS FLUCH

Liebesverzicht und Machtbegehren in Richard Wagners Rheingold


Die Botschaft ist einfach und klar: Die Macht erringt nur, wer der Liebe entsagt. Wer diesen Schritt setzt, wird aber der Macht nicht mehr entrinnen. Denn die Macht ist verflucht. Ihr Symbol ist das Gold, und die Gier danach kennt keine Grenzen. Nur durch eine Liebe, die sich nicht korrumpieren lässt, könnte dieser Bann wieder gebrochen werden. Mit diesen wenigen Sätzen kann die Grundkonstellation von Richard Wagners Ring des Nibelungen skizziert werden. Im Rheingold, dem »Vorabend« zur Tragödie der Ring-Trilogie, von der man nicht zu sagen wüsste, ob sie der Logik des Mythos oder der Notwendigkeit des geschichtlichen Prozesses entspricht, erzählt Wagner die Urgeschichte dieser Verstrickung von Liebesverzicht und Machtbegehren. Dieses Vexierspiel des Begehrens enthält allerdings einige Aspekte, die sich nicht ganz leicht auflösen lassen und eine nähere Betrachtung verdienen. Man muss nicht George Bernard Shaws The Perfect Wagnerite zustimmend gelesen haben, um im Rheingold eine Parabel auf den Kreislauf von Macht, Geld und Kapital zu erblicken, die in manchem an Goethes Allegorien dieser Grundkonfigurationen der modernen Gesellschaft aus Faust II erinnern. Zu deutlich sind diese Motive ausgearbeitet, als dass darüber hinweggesehen werden könnte. Das Verhängnis beginnt mit der Gier nach dem Gold und der damit verbundenen Macht, es setzt sich fort in einem Zirkel von Gewalt und Verrat, und endet mit einer Weltordnung, die, ohne es zu wissen, dem Untergang geweiht ist. Allerdings: das ist nicht nur Kapitalismuskritik im mythischen Gewand. Wagners Ring des Nibelungen bezieht wohl seine Personen und Motive aus den nordischen Sagen und dem Nibelungenlied, die Konzeption allerdings gehorcht in vielem den Gesetzen der antiken, griechischen Tragödie. Es sind Grundkonstellationen der menschlichen Existenz, die als ein Verhängnis erscheinen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Der Ring bringt das Entstehen, Werden und Vergehen einer Welt auf die Bühne. Entscheidend aber ist, welche Mechanismen, welche Konflikte genau diese Welt und deren Verlauf bestimmen. Denn vor der Gier nach Macht und Geld, vor dem Verrat, vor der Gewalt hat Wagner etwas anders gesetzt, das überhaupt erst das aus den Tiefen des Rheins entstehende mythische Geschehen verständlich werden lässt: die Verletzung. Es ist Alberich, der Schwarzalbe, der Nibelung, der hässliche, widerwärtige, geile Gnom, dem am Beginn des Wagner’schen Welttheaters so übel mitgespielt wird, dass sich aus dieser Demütigung alles Weitere ergeben wird. Wohl ist Alberich ein lüsterner Zwerg, aber es sind die Rheintöchter, die dies für ihre frivolen Spiele weidlich ausnützen: »Höre, was wir dich heißen! Warum, du Banger, bandest du nicht das Mädchen, das du minnst? Treu sind wir und ohne Trug dem Freier, der uns fängt. Greife nur zu und grause dich nicht! In der Flut entfliehn wir nicht leicht.« Sie necken den Alben, reizen ihn, umgarnen ihn, lassen ihn so nah an sich heran, dass er seine Erregung erst gar nicht mehr verbergen muss, und stoßen ihn doch immer wieder und schadenfroh zurück, lachen ihn aus, wissend, dass der ungeschickte Tölpel ihren geschmeidigen Körpern im Wasser nichts anhaben 83

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kann. Und sie tun dies, wie wir von Fricka wissen, wohl nicht zum ersten Mal: »Von dem Wassergezücht mag ich nichts wissen: schon manchen Mann – mir zum Leid – verlockten sie buhlend im Bad.« Diesmal aber gehen die Wasserfrauen einen Schritt zu weit: Sie geben selbst Alberich die Mittel zur Rache in die Hand. Sie verraten ihm das Geheimnis des Rheingoldes, allerdings nicht aus Leichtsinn oder Unbedarftheit, sondern aus Hochmut und sadistischer Berechnung. Sie wollen Alberichs Qual erhöhen. Gerade, weil sie von seiner Lüsternheit überzeugt sind, können sie annehmen, dass er den Preis für die Erlangung des Goldes, die Liebesentsagung, nicht wird erbringen können: »Wohl sicher sind wir und sorgenfrei: denn was nur lebt, will lieben; meiden will keiner die Minne [...] Am wenigsten er, der lüsterne Alb: vor Liebesgier möcht’ er vergehn!« So, wie zuerst ihre Körper, von denen sie wissen, dass sie für Alberich unerreichbar sind, präsentieren sie ihm nun das ebenfalls unerreichbare Gold und das damit verbundene Versprechen der Macht. Alberich soll doppelt düpiert werden: Nicht nur, dass seine Lust unbefriedigt bleibt, ist eben diese peinigende Lust der Grund dafür, dass er sich durch den Gewinn des Ringes an seinen schönen Quälgeistern nicht wird schadlos halten können. Doch es kommt anders. Die Rheintöchter haben nicht mit einem Willen gerechnet, der imstande ist, die eigenen Begierden zu beherrschen, um sie durch diesen Verzicht über einen Umweg letztlich doch noch zu befriedigen: »Der Welt Erbe gewänn’ ich zu eigen durch dich? Erzwäng’ ich nicht Liebe, doch listig erzwäng’ ich mir Lust?« In nuce legt Wagner in dieser Szene die Grundzüge einer Sublimationstheorie fest, die Sigmund Freud Jahrzehnte später ausarbeiten wird und eine psychoanalytische Deutung des Rings bis heute in manchem plausibel erscheinen lässt. Denn der Verzicht auf unmittelbare Triebbefriedigung und die Verlagerung der damit verbundenen libidinösen Energie ist nach Freud die Voraussetzung für alle anderen menschlichen Aktivitäten, nicht zuletzt für sein ökonomisches, politisches und kulturelles Handeln. Im ersten Moment, als ihm dies bewusst wird, denkt Alberich allerdings nicht nur an die Macht, die ihm das Gold und der Ring verschaffen werden, sondern vor allem an die listige, nachträgliche Befriedigung seiner sexuellen Begier. Und deshalb kann Alberich die Liebe verfluchen: »Das Licht lösch’ ich euch aus; entreiße dem Riff das Gold, schmiede den rächenden Ring; denn hör’ es die Flut: so verfluch’ ich die Liebe!« Der Handel, den Alberich mit sich selbst schließt, hat die Einsicht zur Voraussetzung, dass die Liebe, die nicht erzwungen werden kann, ersetzbar ist durch käufliche Lust. Denn Alberich leis­tet eigentlich keinen Triebverzicht, sondern er unterwirft sich einem Triebaufschub. Er befriedigt seine Begierden nicht jetzt, sondern er muss und kann warten. Und wie wir wissen, wird es Alberich tatsächlich gelingen, eine Frau, eine Königin gar, zu bezwingen und mit ihr Hagen, seinen düsteren Sohn, zu zeugen. Damit ist es aber Alberich, der als Erster aus dem unmittelbaren Naturbann heraustritt und sich einem Zivilisationsprogramm unterwirft. Denn alle Zivilisation lebt vom Triebaufschub. Gegenüber seiner Frau Cosima hatte KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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Richard Wagner einmal bemerkt, dass er durchaus Sympathien für Alberich hege. Er wusste wohl, warum. Denn der Schwarzalbe repräsentiert auch eine fatale Form der Freiheit, die dennoch die einzige ist, zu der wir uns bekennen können: »Frevelte ich, so frevelt’ ich frei an mir.« Wotan aber, der Gott, wird später durch seine Gier an allem freveln, »was war, ist und wird«. Wagner skizziert so nicht nur die Urszene seines mythischen Weltentwurfes, sondern auch eine Urszene im Verhältnis der Geschlechter, die auf den libidinösen Zusammenhang von Eros und Zivilisation verweist. Welcher ob seiner mangelnden Attraktivität abgewiesene Mann könnte nicht Alberichs Gedankengang nachvollziehen? Vorerst auf die Befriedigung der Begierde zu verzichten, die frei werdende Energie auf den Gewinn von Reichtum, Macht und das damit verbundene Ansehen verwenden, um dann, ausgestattet mit diesen glänzenden Insignien, vor allem dem Geld, der Lust dennoch frönen zu können? Das Geld, und dies grundiert bis heute seine Faszinationskraft, scheint imstande, fast alle körperlichen, charakterlichen und intellektuellen Defizite eines Menschen zu kompensieren. »Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld vernichtet« – diesen Satz notierte sich der junge Karl Marx zur selben Zeit, als sich Richard Wagner mit dem Nibelungenstoff zu beschäftigen begann. Alberich hat den Ring zu Recht erworben. Es ist sein Ring, der Ring des Nibelungen. Er hat die Bedingungen, die ihm die Rheintöchter höhnisch vorgaben, erfüllt – wenn auch nicht ohne Hintergedanken. Was Alberich allerdings übersah: Das Gold und die im Ring symbolisierte Macht gehorchen einer eigenen Logik, der man sich nicht entziehen kann. Zum einen besagt diese Logik, dass dort, wo ein materieller Wert vorhanden ist, mehr Wert entstehen soll. Reichtum will sich vermehren, Geld will mehr Geld werden. Alberich benutzt die Macht seines Ringes auch gleich einmal, um sich die Nibelungen – also seine Artgenossen – zu unterwerfen und zu zwingen, nach mehr und immer mehr Gold zu schürfen: »Durch des Ringes Gold errät seine Gier, wo neuer Schimmer in Schachten sich birgt: da müssen wir spähen, spüren und graben, die Beute schmelzen und schmieden den Guss, ohne Ruh’ und Rast dem Herrn zu häufen den Hort.« Aber nicht nur das: Er zwingt seinen Bruder Mime, einen Tarnhelm zu schmieden, der es ihm erlaubt, gleichsam als anonymer, unsichtbarer Herr das Leben und Arbeiten der Nibelungen zu kontrollieren und zu steuern, bis hin zu einem Zeitrhythmus, der sich, angestachelt durch die Gier nach dem Gold, unablässig beschleunigen muss: »Niblungen all, neigt euch nun Alberich! Überall weilt er nun, euch zu bewachen; Ruh’ und Rast ist euch zerronnen; ihm müsst ihr schaffen, wo nicht ihr ihn schaut; wo nicht ihr ihn gewahrt, seid seiner gewärtig: untertan seid ihr ihm immer!« Man begeht wohl keine falsche Aktualisierung, wenn man in diesen Versen die Beschleunigungsekstasen und Kontrollpathologien der modernen Wettbewerbsgesellschaft präformiert sieht. Zum anderen aber bedeutet die Logik der Macht: Du wirst sie verlieren. 85

A LBER ICHS FLUCH


Macht ist nie dort, wo sie gerade noch vermutet wird. Und die Macht erzeugt sich stets diejenigen, die ebenfalls begierig nach ihr greifen. Bei Alberich sind es die Götter Wotan und Loge, die, um ihre Schuld bei den Riesen-Baumeistern zu begleichen, nach dem Gold und nach der damit verbundenen Macht gieren. Nebenbei: Wotan bekommt die Lizenz zum Raub des Goldes von seiner Ehefrau Fricka nicht zuletzt, weil diese ebenfalls dem Bann des »goldnen Tandes gleißend Geschmeid«, das ihr zum Schmucke taugen soll, unterliegt. Und das Verhängnis der Macht besteht nicht zuletzt darin, dass sie den Mächtigen in einer vermeintlichen Sicherheit wiegt, die ihn übermütig, hochmütig und letztlich dumm werden lässt. Wie ein Tölpel lässt sich Alberich den Ring, der ihm angeblich grenzenlose Macht verleihen sollte, wieder abnehmen. Die Macht der Macht, so könnte man sagen, endet immer an der Hybris der Mächtigen. Die weitere Geschichte des Ringes verdeutlicht dies. Keinem, der den Ring besaß, verlieh er jene entscheidende Macht, die es ihm erlaubt hätte, dem Schicksal eine Wendung zu geben. Wotan verliert den Ring gleich wieder, Fafner kann sich durch den Ring nicht vor Siegfried schützen, Siegfried begreift erst gar nicht, was er am Finger trägt, Mime geht an der Gier danach zugrunde, Brünnhilde bekommt den Ring, vermag aber weder Siegfrieds Verrat noch seinen Tod noch den Untergang der Götter zu verhindern, und auch Hagen bleibt nur der Wahnsinn und der Sprung in die Fluten des Rheins. Angesichts dieses Befundes kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass die Macht ein Phantasma ist, das nur über diejenigen Macht ausübt, die von ihm besessen sind. Alberichs zweiter Fluch galt nicht mehr der Liebe, er galt dem Ring, also der Macht selbst. Dieser Fluch legt die innere Logik der im Ring symbolisierten Macht frei: »Kein Froher soll seiner sich freun, keinem Glücklichen lache sein lichter Glanz! Wer ihn besitzt, den sehre die Sorge, und wer ihn nicht hat, den nage der Neid! Jeder giere nach seinem Gut, doch keiner genieße mit Nutzen sein!« Hier schließt sich der Kreis. Der Liebesverzicht war die Voraussetzung für den Erwerb des Ringes. Und alle, die nach dem Ring und der Macht gierten, haben auf ihre Art dann auch eine Liebe verraten. Aber kein Nietzscheanischer Wille zur Macht treibt die Götter, Helden und Zwerge ins Verderben, sondern die Gier nach einer Chimäre, die sie mit der Macht verwechseln. Aus dem Begehren eines anderen, Alberichs »Liebesgier«, wird so die nackte Gier, die sich selbst verzehrt, weil es letztlich keinen Gegenstand gibt, an dem sie Befriedigung finden könnte. Die fatale Eigendynamik der Gier ist der hohe Preis für die Zivilisierung der Triebe. Denn die Gier entspringt nicht der Lust, sondern resultiert aus ihrem Verzicht. Denn alle Lust – Friedrich Nietzsche wusste es – will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit. Gier aber will nur mehr und mehr und immer mehr. Die Lust will Verausgabung, die Gier will Vereinnahmung. Die Freudlosigkeit ist deshalb der Schatten der Gier. Die Hoffnung aber, die Wagner am Ende der Götterdämmerung skizziert hatte, dass die Liebe selbst stark genug sein möge, KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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den zerstörerischen Kreislauf der Gier zu durchbrechen, ist aus guten Gründen nicht komponiert worden. Am Ende ist alles, wie es am Anfang war: In den Tiefen des Rheins spielen die Rheintöchter wieder ihr frivoles Spiel, und niemand weiß, wann das tödliche Spiel um Liebesverzicht und Machtbegehren von Neuem beginnt.

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A LBER ICHS FLUCH


Sven-Eric Bechtolf

VERHANDELTES SCHICKSAL Macht ist etwas Notwendiges. Vor der Macht sich zu fürchten ist nur scheinbar verdienstvoll. Mit dem Machtverzicht zu kokettieren unsauber. Ohne Macht geht es nicht. Aber natürlich ist sie nicht der Zweck, sondern nur das Mittel. Wotan hat Macht, aber wozu nützt er sie? Und um welche Macht ist es ihm zu tun? Darf er als Gottheit sich seine Macht durch die des verfluchten Ringes sichern oder gar mehren? Ist der Ring nicht das Zeichen einer von Zwecken befreiten Macht? Einer Macht um der Macht willen? Oder ist die später in der Szene scheiternde Usurpation des Ringes durch Wotan eine in Geheimschrift verfasste Umkehrung ihrer äußerlichen Botschaft? Geht es nicht nur um das Verlangen, sondern auch um die Furcht Wotans vor der Macht? Um in meinem Bilde zu bleiben, das den Ring und seine Wesen als Anteile einer Persönlichkeit annimmt, hätte der gedemütigte Anteil, Alberich, die Macht erlangt, der versuchend-schöpferische und zerstörerische Anteil, Loge, die Macht vermittelt, und der gesetzgebende Anteil, Wotan, die Macht ergriffen, weil er musste. Bald aber wird er sie ganz anderen Anteilen der Psyche wieder zurückerstatten. Nachdem Alberich nun den Ring verflucht hat, verschwindet er behände in der Kluft. Wotan aber steht in die Betrachtung des Ringes verloren. Der Nebeldunst, der eben noch über der Bühne hing, klärt sich auf und Fasolt und Fafner nahen zum verabredeten Tausch. Über was sinniert Wotan, den Ring betrachtend? In diesem Moment hat er all seine Ziele erreicht oder steht wenigstens SV EN-ER IC BECH TOLF

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unmittelbar davor. Den Riesen kann er das Gold aushändigen, er wird Freia und die goldenen Äpfel wiedererlangen, und in ferner Höhe prangt bezugsfertig die Burg. Was haben die furchtbaren Worte Alberichs in ihm ausgelöst? Ahnt er die endlose Verstrickung, in die er geraten wird, oder hofft er, nun alle bisherigen Ketten losgeworden zu sein? Glaubt er dem Fluch, so hätte er allen Grund zu tiefster Besorgnis, aber sein Misstrauen scheint noch der Stimme Erdas bedürftig. Glaubt er ihm nicht, so sieht er sich mithilfe des Ringes aus allen ihn konstituierenden, aber auch fesselnden Verträgen befreit … Der Ring erzählt uns davon, dass wir, geführt und erfüllt von Liebe, der Macht entraten, uns entgöttern, die wesentlichen Anteile in uns in ihr Recht setzen sollen. Er ist gewissermaßen eine utopische Erinnerung. Die Erinnerung an etwas, das es nie gegeben hat, dessen Existenz wir aber noch deutlich spüren: die Unschuld. Unschuldig waren wir vielleicht in der Kindheit, nicht, weil die Kindheit sündenlos gewesen wäre, nein, nur weil wir von der Sünde nichts wussten. Das Rheingold von Richard Wagner war in der Tetralogie des Ringes für mich immer das Stück der Kindheit. Der Kindheit, der Individuation und dem Begehen und Erkennen der ersten Sünde. Die Protagonisten der extremen Pole, nämlich der des nach Macht gierenden Tagesbewusstseins und der in Unschuld mit der Natur verbundenen Welt der Nacht, des Wassers, des Traumes oder Schlafes, sind im Ring vielfach durch Mann und Frau symbolisiert. Auch zwischen ihnen versucht Wagner später im Ring die Erlösung, die Überwindung der Dualität, und findet sie erst im Tode. Ein Teil der Prozesse unserer Psyche lässt sich auch auf diese Weise allegorisch oder archetypisch fassen. Wir werden zwischen den Polen der unschuldigen, aber regressiven und manchmal auch unberechenbaren »Weiblichkeit« und unseren Projektionen auf sie sowie den schöpferischen, aber anmaßenden oder mörderischen der »Männlichkeit« und unseren Projektionen auf sie bewegt, und in dieser Bewegung bilden wir uns aus. Wotan und Erda, Mutter und Vater, Bruder und Bruder, Schwester und Bruder und Schwester und Schwester: diese Paarungen nimmt sich Wagner immer wieder vor. In ihnen verhandelt er unser Schicksal. → Dieser Text des Regisseurs Sven-Eric Bechtolf wurde aus dem Buch Vorabend, erschienen im Haymon-Verlag, entnommen.

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V ER H A N DELT E S SCHICKSA L



DIE WALKÜRE → Erster Tag des Der Ring des Nibelungen Musik & Dichtung Richard Wagner

Orchesterbesetzung Piccoloflöte, 3 Flöten (3. auch 2. Piccoloflöte), 4 Oboen (4. auch Englischhorn), 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 8 Hörner (5. und 6. auch Tenortuba, 7. und 8. auch Basstuba), 3 Trompeten, Basstrompete, 4 Posaunen (4. auch Kontrabassposaune), Kontrabasstuba, Pauken, Schlagwerk (Rührtrommel, Becken, Triangel, Glockenspiel, Tamtam), 3 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Stierhorn, Donnermaschine Spieldauer ca. 4 Stunden 45 Minuten (inkl. 2 Pausen) Autograph Partitur-Erstschrift teilweise Richard-WagnerNational-Archiv Bayreuth, teils verschollen Uraufführung 26. Juni 1870, Hoftheater, München Erstaufführung im Rahmen der ersten Gesamtaufführung des Ring des Nibelungen im Bayreuther Festspielhaus 14. August 1876 Erstaufführung an der Wiener Hofsoper 5. März 1877


Andreas Láng

ANMERKUNGEN ZUR » WALKÜRE « Jeden, der sich zum ersten Mal Richard Wagners Die Walküre annähert, werden vermutlich alsbald einige Aspekte beschäftigen, die vorerst noch gar nichts mit der Musik zu tun haben, sondern ganz Grundsätzliches betreffen. Etwa, dass es sich bei dieser Oper zwar um den zweiten Teil des Ring des Nibelungen-Zyklus handelt, sie aber dennoch als Untertitel die Zusatzinformation 1. Tag aufweist. Oder, warum als eigentliche Hauptgestalt des Werkes genau genommen der oberste germanische Gott Wotan fungiert und weniger eine kämpferische, nordische Amazone, wie der Name des Werkes eigentlich vermuten lassen würde. Und weshalb Wagner darüber hinaus im Stück-Titel die Singular-Form verwendete, wo doch im Laufe der Handlung nicht weniger als neun Walküren zu erleben sind. Für eine weitere Überraschung könnte außerdem noch die Tatsache sorgen, dass das Werk ursprünglich von Wagner gar nicht von Anfang an geplant gewesen war, sondern sich lediglich, quasi erst während der Arbeit am vielschichtigen Nibelungenstoff, im Nachhinein ergab. Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Walküre zeigt ferner die Popularität dieses Stückes, das, hinsichtlich der Publikumsgunst, als zugkräftigster Teil der gesamten Tetralogie im Allgemeinen die übrigen drei Opern des Zyklus an Aufführungsdichte deutlich überragt. Was hat es nun mit dieser Walküre (die Betonung liegt übrigens auf dem a und nicht auf dem ü) auf sich, von der Wagner selbst schrieb, dass seine »ganze Weltanschauung in [ihr] ihren vollendetsten Ausdruck gefunden« hat? Das primäre Vorhaben, ein vor allem auf Episoden aus der norddeutschen Sagensammlung der Edda zurückgehendes Nibelungen-Drama zu schaffen und A N DR EAS LÁ NG

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in diesem eine Verknüpfung von Göttermythos und Heldentragödie zu kreieren, misslang Wagner bei seinem ersten Versuch 1848. Er erkannte die dramaturgische Notwendigkeit, die zunächst entworfene Geschichte mit der zentralen Figur des jugendlichen Helden Siegfried zu erweitern – und zwar um zeitlich vor der ursprünglich konzipierten Handlung liegende Geschehnisse, um auf diese Weise die Motivation der handelnden Personen und die inhaltlichen Strukturen schlüssig zu untermauern. Siegfrieds Tod (der späteren Götterdämmerung) stellte Wagner also Der junge Siegfried (später Siegfried) voran, und diesem wiederum Die Walküre. Die drei Dramen sollte schließlich noch ein »großes Vorspiel« – Der Raub des Rheingoldes (später Das Rheingold) gleichsam als Auftakt einleiten und zur Tetralogie ergänzen.

Entstehung Die Prosa-Skizze für das Walküren-Libretto (Wagner gebrauchte zu Beginn noch den Arbeitstitel Siegmund und Sieglinde: Der Walküre Bestrafung) entstand bereits im November 1851, dieser folgte im Mai 1852 der Prosa-Entwurf, den Wagner einen Monat später wiederum in einen Vers-Entwurf, den er als Urschrift der Walküre bezeichnet, umarbeitete. Beim Kompositionsvorgang wandte Wagner dann eine ähnliche, mehrstufige, in zahlreiche Einzelschritte aufgeteilte Arbeitsweise an wie bei der Text-Dichtung: Erste musikalische Skizzen im Sommer 1852, vollständiger Entwurf zwischen 28. Juni und 27. Dezember 1854, Instrumentation (»Partitur-Erstschrift«) zwischen Jänner 1855 und 20. März 1856 sowie Partitur-Reinschrift zwischen 14. Juli 1855 und 23. März 1856. Freilich, bis zur Uraufführung vergingen dann noch einmal 14 Jahre, in denen die fertige Partitur gleichsam in der Schreibtischschublade schlummerte, wie die schlafende Brünnhilde auf ihrem von Feuer umloderten Felsen. Als sich aber in München, 1870, endlich der Vorhang zur weltweit ersten öffentlichen Aufführung der Walküre hob, geschah dies dennoch gegen den Widerstand Wagners. Dieser hatte sich nämlich nicht damit begnügt, mit dem Ring des Nibelungen die bis dahin gewaltigste Schöpfung für das Musiktheater überhaupt hervorzubringen, sondern verfolgte zusätzlich den bereits 1851 gefassten hybriden Plan eines eigenen Festspiels, bei dem – an hintereinander liegenden Tagen – ausschließlich die einzelnen Teile seiner Tetralogie zu erklingen hatten, wie er in der Mitteilung an meine Freunde erklärte: »An einem eigens dazu bestimmten Feste gedenke ich dereinst im Laufe dreier Tage mit einem Vorabend jene drei Dramen nebst dem Vorspiel aufzuführen ... Eine weitere Folge ist mir ebenso gleichgültig, als sie mir überflüssig erscheinen muss.« Dass Wagner dieses Vorhaben schließlich durchsetzte, ist Musikgeschichte, dass allerdings zahlreiche »weitere Folgen« von kompletten Aufführungen mit der größten Zustimmung ihres Schöpfers über diverse Bühnen gingen und es nicht bei einer einzigen Serie blieb, selbstverständlich ebenso. 93

A NMER K U NGEN Z U R »WA LK Ü R E«


Drei Dramen und ein Vorspiel Die Terminologie »Vorabend« beziehungsweise 1., 2. und 3. Tag, die Wagner in der eben zitierten Passage verwendete, kam nicht von ungefähr. In seiner Opposition gegen den Klassizismus suchte er sich am antiken griechischen Theater neu auszurichten, insbesondere an der aischyleischen Form der Tragödie, bei der zu einer thematisch einheitlichen Trilogie ein abschließendes Satyrspiel als viertes Stück hinzukam. Diese Form griff Wagner auf, änderte sie aber insofern ab, als er die drei zusammengehörenden Stücke Die Walküre, Siegfried und Götterdämmerung nicht mit einem Nachspiel beenden, sondern mit einem Vorspiel – eben dem Rheingold – eröffnen lässt. (Die Sonderstellung des Rheingoldes als Auftakt zum eigentlichen Drama zeigt sich schon an der verhältnismäßig geringen Aufführungsdauer von rund zweieinhalb Stunden gegenüber den jeweils rund fünf Stunden der übrigen Stücke des Zyklus.) Aus dem heraus ergibt sich, dass die Walküre zwar den ersten Teil (und daher den ersten Vorstellungs-Tag) der Haupthandlung darstellt, in der gesamten Tetralogie jedoch nach dem Rheingold-Vorabend an zweiter Stelle steht. Die oben erwähnte Uraufführung am Münchner Hoftheater musste Wagner aber letztlich schon deshalb gegen den Strich gehen, da die Walküre eben nicht als »einzelnes Werk« erdacht war, »sondern als Teil eines viel größeren Ganzen«, das jedoch zur damaligen Zeit noch auf die endgültige Fertigstellung wartete – der Komponist beendete Siegfried 1871, die Götterdämmerung überhaupt erst 1874. Doch der Wagner-begeisterte König Ludwig II. von Bayern setzte die (bejubelte) Uraufführung der Walküre, wie schon jene des Rheingoldes im Jahr zuvor, durch. Sechs Jahre später ging allerdings der große Traum doch noch in Erfüllung: Als Eröffnung des eigens für Wagners Werke erbauten Bayreuther Festspielhauses konnte im August 1876 erstmals die komplette Tetralogie erlebt werden, und zwar genauso, wie es sich ihr Schöpfer gewünscht hatte: mit vier Aufführungstagen für den gesamten Zyklus.

Wotans Wille Für die Handlung der Walküre ließ Wagner unterschiedliche Themen der norddeutschen Mythologie zusammenfließen: etwa die Siegmundsage, die Brünnhildensage oder den Wotan-Mythos. Wobei Wagner zwar wesentliche inhaltliche Details übernahm – wie etwa die Episode mit dem Schwert im Eschenstamm, das nur Siegmund wieder herauszuziehen vermag, oder die Idee der vom Feuerwall umgebenen schlafenden Brünnhilde –, die Abfolge der Vorgänge und vor allem die aus den einzelnen Sagenbausteinen zusammengesetzte Opernhandlung aber nach eigenen Überlegungen erstellte und sie ins Gesamtkonzept seines Ring des Nibelungen einverleibte. A N DR EAS LÁ NG

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In diesem vielschichtigen Gesamtkonzept nimmt nun die Figur des Gottes Wotan eine ganz zentrale Position ein. Zunächst war zwar der idealisierte Held Siegfried von Wagner als Hauptgestalt in den Mittelpunkt seines Nibelungen-Dramas gestellt worden, doch durch die Erweiterung der ursprünglichen Siegfried-Tragödie durch die Walküre und das Rheingold entstand Siegfried im obersten Gott der Germanen ein Gegengewicht. Genau genommen ist es sogar Wotan, der – wie es der Musikwissenschaftler und Wagner-Forscher Carl Dahlhaus formulierte – »die aus heterogenen Handlungen zusammengesetzte Tetralogie zu umspannen« vermag. Das, was Siegfried nämlich durch die Gewinnung des Ringes im dritten Teil des Zyklus vollbringt, ist nichts anderes als die Ausführung des großen Gedankens von Wotan, den dieser bereits in der Walküre ausspricht: Nur einer könnte, was ich nicht darf: ein Held, dem helfend nie ich mich neigte. Der fremd dem Gotte, frei seiner Gunst, unbewusst, ohne Geheiß, aus eigner Not, mit der eignen Wehr schüfe die Tat, die ich scheuen muss, die nie mein Rat ihm riet, wünscht sie auch einzig mein Wunsch! Der, entgegen dem Gott, für mich föchte, den freundlichen Feind, wie fände ich ihn? Die gesamte Existenz Siegfrieds erhält ja eigentlich erst durch diesen ausformulierten, scheinbar unerfüllbaren Wunsch Wotans ihre Berechtigung (auch wenn er den Untergang Walhalls schlussendlich nicht verhindern kann). Und diesen verzweifelten Wunsch äußert Wotan ja nur deshalb, weil sich die von ihm ursprünglich ausersehene Person, die entsprechende Heldengestalt der Walküre, also Siegfrieds Vater Siegmund, als unbrauchbar erwies. In einem gewissen Sinne ist Siegmund also eine misslungene Generalprobe des von Wotan ersehnten Helden. Er weist zwar zahlreiche notwendige Tugenden auf, muss aber zwangsläufig scheitern, da er nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern von Wotan entsprechend gelenkt wird, was Fricka im 2. Akt der Walküre auch klar zur Sprache bringt. Schon aus diesem Grund kann dieser 95

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zweite Teil der Tetralogie folgerichtig auch nicht Siegmund heißen. Warum aber Die Walküre und nicht Wotan? Im Gegensatz zu den acht Walküren, die nur im dritten Akt auftreten (die von Wagner gewählten Namen dieser Walküren sind mit Ausnahme von Siegrune in den mythologischen Quellen übrigens nicht bezeugt) kommt Brünnhilde, der wichtigsten und von Wotan am meisten geliebten, eine ganz eigene Bedeutung zu. Sie ist nämlich nichts weniger als der Wille ihres Vaters Wotan schlechthin, wie Brünnhilde es im Gespräch mit ihm selber sagt: Zu Wotans Willen sprichst du, sagst du mir, was du willst. Wer bin ich, wär’ ich dein Wille nicht? Der bereits erwähnte Carl Dahlhaus bezeichnete Brünnhilde sogar als Allegorie, ebenso wie Wotans Gattin Fricka: »Die Wotan-Handlung ist ... ein Mono- oder Psychodram: Brünnhilde und Fricka verblassen beinahe zu Allegorien, in denen die entgegengesetzten Regungen, die in Wotan im Widerstreit miteinander liegen, Gestalt geworden sind. Ist Brünnhilde Wotans Wille ... so ist Fricka Wotans Gewissen.« Nun fordert aber Wotans Wille beziehungsweise Wunsch ja die Existenz jenes »freien Helden, der die Tat schüfe, die er selbst scheuen muss«. Die, die aber diese Existenz durch die Rettung der schwangeren Sieglinde und die Aufbewahrung des zerbrochenen Schwertes Nothung letztendlich ermöglicht, ist eben die Walküre Brünnhilde. Folgt man diesem Gedanken zu Ende, so ist der Titel der Oper Die Walküre (eben die eine besondere Walküre Brünnhilde) lediglich ein Synonym für Wotans Willen, der dann im darauf folgenden Teil Siegfried seine Erfüllung zu finden scheint.

Die Walküre, ein »Wurf« Bleibt noch die Frage, weshalb die Walküre in den Vorstellungsstatistiken im Allgemeinen jene Oper der Tetralogie ist, die, dem Publikumszuspruch gehorchend, deutlich häufiger aufgeführt wird als die restlichen drei Teile. Als Erklärung sei an dieser Stelle die Antwort des Premieren-Dirigenten der aktuellen Produktion, Franz Welser-Möst, angeführt: »Die Walküre ist ein Wurf, was vom Publikum natürlich entsprechend erkannt wird. Die Situation ist im Grunde vergleichbar mit einem anderen großen Weltentheater – mit Goethes Faust, genauer mit Faust I. Selbst wenn man das gesamte ungekürzte Werk vorgesetzt bekommt, vergehen die Stunden während der Aufführung im Flug. Faust II hingegen wirkt durch die zahlreichen inhaltlichen und strukturellen Nebengeleise im Vergleich dazu deutlich komplizierter, ja, sperriger A N DR EAS LÁ NG

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und ist daher insgesamt schwerer aufzunehmen. Ähnlich verhält es sich beim Ring: Im Rheingold, in Siegfried oder in der Götterdämmerung sind im Gegensatz zur Walküre zusätzlich zum wesentlichen Handlungsverlauf sehr viele weitere Seitenwege beschreitbar.«

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Tobias Janz

KLANGDRAMATURGIE UND LEITMOTIVGEWEBE

Zur Musik der Walküre


↑ Vorige Seiten: Szenenbild Die Walküre (2011)

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Als Richard Wagner im Herbst 1848 den ersten Entwurf zum Nibelungenmythos niederschrieb, ahnte er noch nicht, zu welchen Ausmaßen sich das Unternehmen später entwickeln sollte. Ausmaße der Aufführungsdauer und des szenischen Geschehens, zu denen sich vor und nach dem Ring des Nibelungen kaum Vergleichbares findet. Die immensen Stoffmengen der Geschichte, die mit dem Raub des Rheingolds beginnt und Generationen später mit Siegfrieds Tod und dem Untergang der Götterburg Walhall endet, gingen weit über das hinaus, was sich auf einer konventionellen Opernbühne realisieren ließ, und es überrascht daher nicht, dass sich Wagner zwischen der Versdichtung zum Nibelungenring und dem Beginn der Komposition des Rheingold zuerst umfangreichen kunsttheoretischen Essays widmen sollte. In diesen Essays entstand als zunächst rein theoretisches Konstrukt die utopische Vision einer neuen musikdramatischen Kunstform, mit der die zumindest in Wagners Perspektive überholten Formen der traditionellen Oper abgelöst werden sollten. Mit dem Nibelungenring wollte Wagner diesem »Kunstwerk der Zukunft« dann eine konkrete Gestalt geben. Wagner hatte bereits in der Versdichtung von 1848 nach dem Vorbild der Aufführung von Tragödien im antiken Griechenland eine Verteilung des Nibelungenmythos auf drei Dramen und ein Vorspiel vorgesehen. Diese allein konnte das Problem einer überzeugenden dramaturgischen Bewältigung der Stoffmengen aber noch nicht lösen. Der Ring mit seiner Vielzahl von Handlungsorten und Personen, seinen Haupt- und Nebenhandlungen und seinen komplexen zeitlichen Dimensionen forderte vielmehr ganz neue Prinzipien der musikalisch-dramatischen Gestaltung. Wagner benötigte, um den Konnex dieser auseinanderstrebenden Elemente zu stiften, wirkungsvolle Mittel, die vor allem die zum Verständnis notwendige Vergegenwärtigung des übergreifenden Zusammenhangs ermöglichen sollten. Auf der Ebene des Dramentextes leisten dies vor allem die ausgedehnten erzählenden Passagen der Ring-Dichtung. Musikalisch entwickelte Wagner jenes dichte Gewebe wiederkehrender Motive, die er selbst zwar nicht als »Leitmotive« bezeichnete, die aber unter diesem Titel seit den ersten Bayreuther Festspielen im Jahr 1876 Karriere machten. In der Aufführungsgeschichte des Ring entwickelten sich damit zusammenhängend allerdings bald Rezeptionsformen, die Wagner so nicht intendiert hatte und die seinem Ideal einer unmittelbaren emotionalen Verständlichkeit des dramatischen Geschehens in gewissem Sinne auch widersprachen. Zum Besuch einer Wagner-Aufführung gehörte bereits bei den ersten Festspielen unverzichtbar einer der berühmten »Leitfäden«, jenen Broschüren in Taschenbuchformat, in denen die Hauptmotive eines Musikdramas in ihrer musikalischen Notation mit zugehörigem Namensetikett aufgelistet wurden. Mit den Leitfäden trat dann zeitgleich ein besonderer Typus des Hörers auf, dem allein schon das Wiedererkennen der Leitmotive ästhetischen Genuss bereiten und das Gefühl vermitteln konnte, zu den Eingeweihten zu gehören. Anspruchsvollere Hörer begannen sich über diese recht primitive Form der Rezeption zu mokieren, wobei sich die Polemik nicht selten auch gegen WagTOBI AS JA NZ


ners Musikdramen selbst richtete: Claude Debussys Witz über die Tetralogie als »musikalisches Adressbuch der Götter« und der oft gezogene Vergleich der Leitfäden mit den Baedeker-Reiseführern werden bis heute gerne zitiert. Mit dem älteren »Erinnerungsmotiv« der romantischen Oper teilt das Wagner’sche Leitmotiv die Koppelung einer musikalischen Gestalt an eine dramatische Situation oder ein Handlungselement, die durch die Wiederholung des musikalischen Motivs bedeutungsvoll in Erinnerung gerufen werden können. Wagner weitet dies im Ring allerdings in einer nun die gesamte Musik durchdringenden Weise aus, die kompositionstechnisch durchaus mit der thematischen Arbeit in einer klassischen Instrumentalkomposition – einer Symphonie oder einer Sonate – verglichen werden kann. Ein Vergleich, der vor allem aufgrund der Art und Weise, mit der Wagner die Motivgestalten in einem beziehungsreichen System struktureller Verwandtschaften auseinander ableitet, plausibel scheint. Von den motivischen Elementen einer Sonate unterscheidet die Leitmotive aber ihre semantische Funktion, das heißt ihre Fähigkeit, zu inhaltlichen Bedeutungsträgern des Dramas werden zu können. Wesentlich für ihre dramaturgische Funktionsweise ist dabei das Prinzip einer dem jeweiligen Kontext angepassten Variation der Leitmotive. Wagner unterscheidet beispielsweise konsequent zwischen der Form eines Leitmotivs im Zustand seiner szenischen Gegenwart und Formen der Vergegenwärtigung und der Vorausahnung, also seiner szenischen Abwesenheit. Die Musik erhält so – dies ist eine von Wagners wesentlichen musikgeschichtlichen Innovationen – Möglichkeiten zu einer plastischen musikalisch-dramatischen Differenzierung der unterschiedlichen Zeitdimensionen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die Walküre ist unter dem Aspekt der dramatischen Stringenz vielleicht das gelungenste der vier Dramen der Nibelungentetralogie. Besonders schlüssig erscheint die Dramaturgie der Walküre, da hier Szenen, in denen das unmittelbare dramatische Präsens der szenischen Aktion vorherrscht, sich recht klar von Abschnitten abheben, in denen die Handlung um das Wälsungenpaar Siegmund und Sieglinde in den größeren Zusammenhang der Ring-Handlung gestellt wird. Szenen, die aufgrund des Handlungsverlaufs eine relative dramatische Geschlossenheit erzeugen, stehen also reflektierenden Partien gegenüber, in denen der Fortgang der Handlung innehält und die leitmotivische Vernetzung der verschiedenen zeitlichen Dimensionen der Ring-Erzählung in den Vordergrund tritt. Der erste Akt ist ein kleines geschlossenes Drama für sich und gehört zu den handlungsbezogenen Teilen der Walküre. Vom Gewittersturm des Vorspiels, dessen Musik später mit dem Einbruch der Frühlingsnacht in transformierter Gestalt wiederkehren wird, vom anfänglichen Kontrast zwischen der schwärmerischen Musik der Wälsungenliebe und den markanten Hunding-Motiven in den Tuben bis zum leidenschaftlichen Finale (»Braut und Schwester bist du dem Bruder, so blühe denn Wälsungen-Blut!«) entfaltet sich ein durchgehender musikalisch-dramatischer Zug von geradezu sogartiger Wirkung. Markante TOBI AS JA NZ

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Wendepunkte der in wellenartigen Schüben verlaufenden dramaturgischen Kurve sind der Durchbruch des Schwert-Motivs (in der Trompete, umkleidet von einer Gloriole tremolierender Streicher) bei der ersten Erscheinung des Schwerts im Eschenstamm; dann die zart vibrierenden Orchestertexturen der Frühlingsmusik, die auf Siegmunds »Winterstürme wichen dem Wonnemond« folgen; schließlich das Finale, eingeleitet von einem erneuten Durchbruch des Schwert-Motivs, nun im vollen Orchester-Tutti, zu Siegmunds gelungenem Versuch, das Schwert aus dem Stamm zu ziehen. Wotans großer Monolog im zweiten Akt gehört zu den reflektierenden Partien. An der Tragik der Figur Wotans und ihrem Scheitern in der Walküre wird deutlich, was insgesamt die Dialektik von Wissen und Handeln im Ring ausmacht: Je mehr eine Figur weiß, desto weniger kann sie handelnd in das Geschehen eingreifen, während die »unwissenden Figuren«, zu denen Siegmund, Sieglinde und später Siegfried zählen, zwar handeln, sich der hinter ihren Handlungen wirksamen schicksalhaften Verstrickungen aber nicht bewusst sind. In Wotans reflektierendem Monolog kommt der verhängnisvolle Weltlauf dagegen gewissermaßen zum Bewusstsein seiner selbst. Dramaturgisch ist er eines der Zentren, in denen alle Handlungsstränge des Ring zusammenlaufen und in kompakter Form gegenwärtig werden. Entsprechend hoch ist hier die Dichte der leitmotivischen Verweise auf Zurückliegendes und Zukünftiges. Der Beginn des Monologs (»Als junger Liebe Lust mir verblich …«) schreitet im Sinne dieser Verweise einfach Stationen im Netzwerk der Leitmotive ab: Anfangs nackt wie in einem Rezitativ, wird Wotans Parlando lediglich von dem Unmut-Motiv in den tiefen Streichern begleitet. Ein informierter Hörer kann dann leise das Ring-Motiv in den Fagotten hören, wenig später das Walhall-Motiv, mit dem die Musik in die Walhall-Tonart Des-Dur moduliert und die charakteristischen Farben der Wagner-Tuben einsetzen lässt, und gleich darauf das Erda-Motiv mit einem nahtlosen Wechseln des Klangs harmonisch nach cis-Moll und farblich zu den Klarinetten und Bratschen. Zu Bedeutungsträgern werden diese musikalischen Motive aber erst in ihrer Verbindung mit dem gesungenen Text, der die entsprechenden Stichwörter und Auslöser für den Einsatz eines Motivs liefert. Die Musik des Monologs ist so über weite Strecken eine reine Aneinanderreihung von Leitmotiven. Musik und Text reagieren sensibel aufeinander, einmal vorauseilend, dann wieder simultan oder bestätigend hinterher. Die Dichte dieser Leitmotivkette und die viele Takte lang zunächst fehlende dramatisch-musikalische Entwicklung haben viele Kommentatoren den Monolog als spröde und konstruiert beschreiben lassen. Seine Abstraktheit, die die Leitmotivgestalten quasi als nacktes Gerippe hervortreten lässt, wird indessen seiner dramaturgischen Funktion durchaus gerecht. Wagner war als Theaterschaffender aber klug genug, diesem dramaturgisch komplexen Monolog eine seiner wirkungsvollsten Szenen überhaupt, die sogenannte Todesverkündigungs-Szene folgen zu lassen. Der musikalisch-dramatische Verlauf wird hier von ganz anderen Formprinzipien vorangetrieben, 103

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von einer Art Ritornell-Form, bei der ein größerer Formabschnitt insgesamt fünf Mal wiederkehrt, dabei aber von einer kontinuierlich ansteigenden Spannungskurve durchkreuzt wird. Man kann hier hören, wie Wagners musikalische Dramaturgie immer auch eine Dramaturgie des orchestralen Klangs ist. So gestaltet Wagner die Distanz der Akteure Siegmund und Brünnhilde zu Beginn des Dialogs als Distanz getrennter Klangräume des Orchesters: Hier der Blechbläserchor für die erhabene, transzendente Erscheinung der Walküre, dort Violoncelli und Holzbläser für Siegmund. Im Moment des dramatischen Wendepunkts der Szene kehrt Wagner die Zuordnung von Klang und Figur nun aber um in ihr Gegenteil. Siegmund erweckt mit seiner ebenso verzweifelten wie unerschütterlichen Liebe zu Sieglinde Brünnhildes Mitleid. Diese, entwaffnet und erschüttert, fällt zunehmend aus ihrer Rolle und spricht schließlich ratlos wie zu sich selbst: »So wenig achtest du ewige Wonne? Alles wär’ dir das arme Weib …?« Die Musik des hiermit einsetzenden Ritornells ersetzt zum ersten Mal die Brünnhilde zugeordneten Blechbläserklänge durch zarte, gleichsam verunsicherte und dadurch humanere Klänge des mit Dämpfern spielenden Streicherchors. Das Schicksalskunde-Motiv harmonisiert Wagner dabei instabil – nicht mehr wie zu Beginn der Szene in sequenzierenden, choralartigen Dreiklangsharmonien, sondern mit vagierenden Klängen. Der Effekt ist in seiner Inszenierung eindrücklicher als das ganze stürmische Finale der Szene, das bloß noch ausführt, wozu in diesem Moment die Weichen bereits gestellt sind. Der Moment ist für die Dramaturgie der Walküre von zentraler Bedeutung, denn er markiert die Wandlung der Hauptfigur Brünnhilde von der transzendenten Erscheinung einer mythologischen Geistergestalt zu einem mitfühlenden menschlichen Wesen. Die beiden großen Szenen des zweiten Aktes nehmen nicht nur in der Handlung der Walküre eine Schlüsselposition ein, sondern sie bilden für die gesamte Tetralogie eine Art Zentrum. Die Götterdämmerung nimmt sowohl in ihrem Vorspiel (in der Waltraute-Szene) als auch im Schlussakt Bezug auf beide Szenen. Wotans Monolog zitiert ausgiebig aus dem Rheingold und wirft seine Schatten voraus auf die Wanderer-Szene am Beginn des dritten SiegfriedAktes. Die beiden Rahmenakte der Walküre ziehen sich dagegen mehr aus dem großen Geschehen um den Ring zurück. Konzentriert sich der erste Akt auf das Geschwisterpaar Siegmund und Sieglinde und ihre keimende Liebesbeziehung, schließt der dritte Akt mit einer ähnlich intimen, wenn auch ganz anders gearteten Szene, dem Abschied Wotans von seiner in einen Zauberschlaf gebannten Tochter Brünnhilde. Der dritte Akt beginnt wie der erste mit einem Gewittersturm, mit der Darstellung der durch die Wolken jagenden Walküren, dem berühmten »Walkürenritt«. Das virtuose Orchesterstück entfaltet sich in Form einer lange Zeit beibehaltenen Orchestertextur. Wagner gestaltet deren raffinierte Klang-Architektur, indem er in räumlicher Schichtung unterschiedlicher Klangmassen wellenartige Linienzüge der Holzbläser, durch den Klangraum fahrende Gesten TOBI AS JA NZ

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der Streicher, springende Rhythmen der Hörner und Fagotte sowie schließlich die hervortretenden Walküren-Motive der Blechbläser gegeneinander ausbalanciert. Im Verlauf des Aktes vollzieht sich dann eine Transformation dieser Textur: Bis zum Auftritt Wotans und weiter bis zum Davonjagen der Walküren am Ende der zweiten Szene bestimmt sie noch das Geschehen, allerdings immer mehr durchsetzt mit dialogischen Partien und anderen in die Handlung eingeflochtenen musikalisch-dramatischen Elementen. Mit der dritten Szene ändert sich dann die Atmosphäre: der Sturm legt sich, Abenddämmerung bricht ein – Nacht. Die Musik des Gewittersturms weicht im Schlussbild dem Aufflackern des die schlafende Brünnhilde bergenden Feuers. Auch dies ist eine der berühmten Orchesterpassagen des Ring. Richard Strauss bewunderte den Effekt der hier in rasend schnellen Figurationen nicht anders als unsauber und damit unscharf spielen könnenden Streicherstimmen, die zusammen mit Piccoloflöten, Glockenspiel und Harfen die Assoziation eines irisierend lodernden Feuers hervorrufen. Die Musik des »Feuerzaubers« beruhigt sich schließlich immer mehr zu einem abschließenden E-Dur – gehalten vom orchestralen Klangkern des Hornquartetts. Die Schlusskadenz der Walküre, auch dies ein Beispiel des »Beziehungszaubers« im Ring, lässt dann verborgen aber noch einmal das Schicksalskunde-Motiv vom Beginn der Todesverkündigung anklingen, nachdem zuvor zweifach das Siegfried-Motiv erklungen war. Die Musik behält so am Ende das letzte »Wort« und sie deutet damit zugleich an, dass die Geschichte eine Fortsetzung haben wird.

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» DEN › RING ‹ MUSS MAN TRÄUMEN «

Elf Fragen an Sven-Eric Bechtolf


Wie nähert man sich dem Ring heute an? Empfindet man die Rezep­tionsgeschichte als Ballast oder als Inspiration? Sowohl als auch. Am Ende aber gilt: Man muss SEINEN Ring machen. Wie jedes große Werk, bietet auch der Ring eine Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten. Dass die Uraufführung des Ringes in Bayreuth so gut dokumentiert ist, ist allerdings besonders hilfreich! Verzweifelt und enttäuscht stöhnte Wagner über das von ihm georderte Bühnenbild: »Das ist realistisch und nicht – phantastisch!« Womit die Umsetzungsmöglichkeit oder Unmöglichkeit recht eindrucksvoll umrissen ist!

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Wagner hat sehr viele Details in der Partitur notiert, szenische wie musikalische Hinweise: Wie viel Raum bleibt überhaupt noch für eine Interpretation? Viel. Wertvoll sind diese Hinweise dennoch! Mögen die Anweisungen für das Bühnengeschehen bisweilen auch von bizarrer Maßlosigkeit sein, die musik-dramatische Sprache Wagners ist durch und durch gestisch und theatralisch! Da kann und soll man sich auf ihn verlassen. Das ist ja nicht minutiöse Sklaverei, in die man da gerät. Es ist ein Gerüst, das er uns bietet. Er will: Ausdruck, und zwar im Einklang mit der Musik. Da wird sicher trotzdem jeder Regisseur seinen eigenen Weg finden. Regeln bedeuten ja auch, paradoxerweise: Freiheit.

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Gibt es etwas, das sich erst im Laufe der Probenarbeit ergeben hat, eine neue Erkenntnis in Bezug auf den Ring oder die Walküre? Ja, sicher. Erst auf der Probe erweist sich der Plan. Oder eben nicht. Am Schreibtisch geht vieles. Oder alles. In der konkreten Situation verlangt aber die Szene nach ihrem Recht. Wollen die Figuren plastisch ins Leben treten. Die Konflikte behandelt sein. Und da der Dramatiker Wagner viel besser ist als sein Ruf, kann man sich ihm nicht entziehen. Ja, man muss den Ring gedanklich durchdringen, aber man muss ihn auch zur Verlebendigung bringen. Ihn atmen lassen. Manchmal ist Einfachheit und Genauigkeit mehr angebracht als Ungeduld und Übermalung. Man kann Wagner in der Treffsicherheit seiner Wirkungen vertrauen, und manchmal ist es angezeigt sich selbst ein wenig zurückzunehmen. Wagner ist imstande, und das ist ein Hinweis auf die Welthaltigkeit des Werks und seine dichterische Qualität, den Figuren und ihren jeweils subjektiven Motivationen ohne Verurteilungen nachzugeben. Natürlich hat Fricka recht. Aber Wotan ebenfalls. Und Brünnhilde sowieso. All seine Figuren haben ihre guten

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Gründe! Diese psychologische Vielstimmigkeit ist zu inszenieren. Auf die Gefahr hin, dass die Ideenträgerei und der allegorisch/metaphorische Gehalt ein wenig zurücktreten. Vielleicht hat Wagner aber auch das grade gewollt. Bei Feuerbach hatte er gelesen: Alle Religion ist Anthropologie. Wem also sollten diese Götter ähneln, wenn nicht uns. Gab es im Laufe der Vorbereitung einen zweiten alternativen – oder sogar dritten, vierten – konzeptionellen Ansatz, der zugunsten der aktuellen Interpretation verworfen wurde? Rolf Glittenberg, ein Wagnerkenner, hat mir lange vor Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Stoff gesagt: »Den Ring muss man träumen.« Als Neugieriger hab ich ihm nicht geglaubt. Nach allen Umwegen in die Papierirrgärten der Sekundärliteratur, nachdem ich tausend Sachen erwogen und verworfen habe, aber muss ich gestehen: Ich träume vom Ring! Und oft träume ich ihn auch. Der Ring ist ja selbst schon eine ungeheuerliche Interpretation. Deshalb hat der schlaue Lars von Trier in seinen Schriften über seinen nicht stattgehabten Ring Interpretationsabsichten weit von sich gewiesen. Was der Ring interpretieren will, ist nicht weniger als: die Welt. Genauer gesagt den Menschen auf der Welt. Da bleibt ja nichts ungesagt! Er ist ja manchmal gradezu platt in seiner Beweissucht! Das Widersprüchliche, Dunkle, Inkonsequente, Ahnungsvolle reizt mich mehr. Denn die politisch/weltanschauliche Aussage des Ringes ist ja nun nicht so bestürzend neu für uns. Meine Geistestätigkeit und mein Leben beschränken sich ja auch nicht auf Sätze wie: »Ich bin für den Weltfrieden und Nieder mit der Ungerechtigkeit.« Selbst die philosophischen Inhalte à la Schopenhauer sind doch mit einiger Vorsicht zu genießen. Der Ring ist angenehmerweise vielmehr als die Summe seiner Absichten! So wie wir selber auch! Auch die Tetralogie hat ihr »Unbewusstes«.

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Welcher Teil des Rings ist hinsichtlich der Interpretation am schwersten? Welcher Teil der Walküre? Na, üblicherweise wird im Rheingold und in der Götterdämmerung alles bewiesen. Für mich persönlich sind die vier Stücke gleich »schwer«. Oder schön. Bei der Walküre? Keine Ahnung … die mach ich ja grade. Anschließend werde ich es wissen.

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Gibt es für Sie eine Schlüsselszene in der Walküre?

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Ja. Den Dialog zwischen Wotan und Brünnhilde am Ende des dritten Aktes. Da wohnen wir den Tätigkeiten der Psyche bei. Jemand streitet mit sich. Denn Brünnhilde ist, ganz wörtlich zu nehmen, ein Teil Wotans. Man sieht sich selbst bei der Verdrängung zu. Von Sieglindes Niederkunft will er nichts hören. Darf er nichts hören. Auch wenn er Siegfried schon ahnt. Jetzt noch auf ihn hofft. Und indem er sich selbst in Stücke schneidet, erlangt er, was er verneint, aber doch eigentlich will. Nicht wollen darf. Den Helden. In der Götterdämmerung erst wird seinem anderen, von ihm bestraften, abgetrennten Teil, Brünnhilde, gewahr, was er eigentlich zutiefst wollte. Und in der Walküre und im Siegfried noch nicht wollen konnte. Auch wenn er es in seinem großen Monolog behauptete: das Ende. Denn alles, was er dann noch in der Walküre und im Siegfried versucht, selbst die Entsendung Waltrautes noch in der Götterdämmerung, beweist uns ja das Gegenteil. Er hofft dort immer noch. Er versucht nur willentlich den Willen zu bezwingen. Aber auch die ja angeblich revolutionäre Brünnhilde verdankt erst ihrer Bestrafung ihre Befreiung. Ich kann mich nicht erinnern, eine ähnlich verrückt konstruierte Szene gelesen oder gehört zu haben. Gleichzeitig gehört es zu den erschütterndsten Momenten im Ring. Es ist eben auch der Abschied zweier Liebender. Ein Abschied von sich selbst. Ein Opfer. Eine Bestrafung. Ein Verhängnis. Ein Verzicht. Eine Endgültigkeit. Herzzerreißend. Und sofort begreifbar. Nicht mit dem Verstand vielleicht, aber mit allen anderen Sinnen. Wagners Begabung, undurchschaubar katastrophale Patt-Situationen zu konstruieren, wirft ein schauriges Licht auf sein … und unser Wesen. Merkwürdigerweise gibt es darüber wenig Literatur. Die Walküre wirkt szenisch in vielen Elementen – trotz riesiger Orchesterbesetzung – kammerspielhaft. Wie geht man mit dieser Spannung zwischen Orchesterbesetzung und szenischer Gestaltung um? Da gibt es manchmal gewaltige Ladungen, die aber inneren Zuständen entsprechen. Aber ist das nicht ein Grundproblem der Oper überhaupt, oder ihre Herausforderung? Der singende Mensch auf der Bühne ist ja nicht »realistisch«. Wird er auch nie sein. Im Musiktheater ist man doch immer mit einem Bein schon in phantastischen Bereichen. Wagner hätte gesagt: dionysischen. Trotzdem muss man menschliche Dimension und Glaubwürdigkeit bewahren.

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Der Vorwurf, der der Walküre bei der Uraufführung gemacht wurde, war die Länge. Bedarf es dieser retardierenden, epischen Elemente? Ein Künstler wie Wagner hatte jedenfalls ein Recht, vielleicht sogar die Pflicht, darauf zu bestehen. Wagner war ja wirkungssüchtig und wirkungsmächtig. Er hat den Zuschauer auch in eine andere Zeitwahrnehmung heben wollen. Aus sich heraus, in die Welt seiner Stücke

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hinein. Diese Abende sind ja Halluzinogene. Narkotika. Und da kommt es auf die Dosis an. Nachvollziehbar ist dies Verlangen für mich jedenfalls. Wovon kann es abhängen, welchen Gegenständen, Ideen etc. Wagner Leitmotive zugedacht hat? Natürlich davon, auf welche er zurückzukommen trachtete. Um sich das Geflecht zu erschaffen, bedarf es der Wiederholung. Das ist doch eine dramaturgisch geniale Idee. Das Orchester weiß Bescheid. Kommentiert. Damit gewinnt der Zuhörer eine Art Vogelperspektive. Ahnungen, Gedanken, Zusammenhänge ergeben sich ihm wie von selbst. Wenn er zuhört und mitdenkt. Gelegentlich sehen wir auch tief ins Innere der Figuren. Denken Sie an das berühmte Erklingen des Schwert-Motives im Rheingold. Das Orchester wird so zum Chor der antiken Tragödie. Wenn Siegmund am Höhepunkt der Schwertszene, unter anderem zum Entsagungs-Motiv singt, das wir aus dem Rheingold schon kennen, ist ihm in Ahnungen gegenwärtig, was für uns damit aber vollkommen klar ist: Das geht nicht gut aus!

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Gibt es in der Walküre einen Ansatz von Humor – insbesondere in der Fricka-Wotan-Szene? Da vielleicht nicht mehr. Im Rheingold ist das noch viel witziger. Aber natürlich gibt es einen gewissen Wiedererkennungswert für Ehepaare. Das mag zum Lachen reizen. Wenn den betroffenen Partnern auch nicht danach ist.

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Warum kommt der Ring, um den es eigentlich geht, in der Walküre physisch nicht vor? Der liegt unter Fafners schuppigen und tonnenschweren Drachenbauch! Aber seine Anwesenheit ist trotzdem unbestreitbar! Für mich ist z.B. die Hauptfigur der Götterdämmerung Wotan. Der tritt aber nicht auf. Wenn man vom Schlussbild absieht. Wirkungsvoller geht es nicht. Und so funkelt auch der Ring in der Walküre giftig und unübersehbar prominent.

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→ Lise Davidsen als Sieglinde, Die Walküre (2022)

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SIEGFRIED → Zweiter Tag des Der Ring des Nibelungen Musik & Dichtung Richard Wagner

Orchesterbesetzung Piccoloflöte, 3 Flöten (3. auch 2. Piccoloflöte), 4 Oboen (4. auch Englischhorn), 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 8 Hörner (5. und 6. auch Tenortuba, 7. und 8. auch Basstuba), 3 Trompeten, Basstrompete, 4 Posaunen (4. auch Kontrabassposaune), Kontrabasstuba, Pauken, Schlagwerk (Becken, Triangel, Glockenspiel, Tamtam), 3 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Englischhorn, Horn, Schmiedehammer, Donnermaschine Spieldauer ca. 4 Stunden 45 Minuten (inkl. 2 Pausen) Autograph Partitur-Erstschrift teilweise Richard-WagnerNational-Archiv Bayreuth, teils verschollen Uraufführung im Rahmen der ersten Gesamtaufführung des Ring des Nibelungen im Bayreuther Festspielhaus 16. August 1876 Erstaufführung an der Wiener Hofoper 9. November 1878


Oliver Láng

… VOR DIESEM MENSCHEN MUSS ALLE GÖTTERPRACHT ERBLEICHEN

Anmerkungen zu Richard Wagners Siegfried


Es war das Jahr 1851, in dem Richard Wagner die Dichtung des Jungen Siegfried verfasste: jene Dichtung, die in späterer Folge zum Siegfried werden sollte. Begonnen hatte er mit dem Text zum Nibelungen-Werk bekanntlich mit dem letzten Teil der Tetralogie, der Götterdämmerung (zunächst noch Siegfrieds Tod benannt), den er allerdings um drei weitere Teile nach vorne hin erweiterte: eine Neukonzeption, die durch die Erkenntnis ausgelöst wurde, dass sein Siegfried-Mythos nur durch eine umfangreiche Vorgeschichte schlüssig erzählt werden könne. In seiner Autobiografie Mein Leben, die sicherlich auch vieles an Gewünschtem und nachträglich Konstruiertem enthält, beschreibt Wagner die Entwurfsphase des Werkes: »Ich konzipierte den Jungen Siegfried, welchen ich als heroisches Lustspiel der Tragödie Siegfrieds Tod ergänzend vorausschicken wollte. Von dieser Empfängnis hingerissen, suchte ich mich sogleich auch zu überreden, dass dieses Stück leichter aufzuführen sein würde als jenes ernst gewaltige. In diesem Sinne teilte ich Liszt mein Vorhaben mit und bot der Weimarischen Intendanz für ihre nun ernstlich von mir anzunehmende Jahressubvention von 500 Talern das neu zu verfassende Gedicht und die musikalische Komposition eines Jungen Siegfried an. Ohne Zögern ward hierauf eingegangen, und ich zog mich nun in das voriges Jahr von Karl Ritter verlassene Dachstübchen zurück, um, zwischen Schwefel und Mai, das in meinem frühesten Plan bereits enthaltene Gedicht des Jungen Siegfried in bester Laune und in kurzer Zeit auszuführen.« Es findet sich auch Wagners Schilderung eines – noch einmal sei jedoch auf eine nicht unbedingte Realitätsnähe dieser Erzählung hingewiesen – spontanen Einfalls: »Da stellte sich denn eine der Hauptplagen meines Lebens zu entscheidender Bedrängnis ein: unserem Hause gegenüber hatte sich neuerdings ein Blechschmied einquartiert und betäubte meine Ohren fast den ganzen Tag über mit seinem weitschallenden Gehämmer. In meinem tiefen Kummer darüber, nie es zu einer unabhängigen, gegen jedes Geräusch geschützten Wohnung bringen zu können, wollte ich mich schon entschließen, alles Komponieren bis dahin aufzugeben, wo mir endlich dieser Wunsch erfüllt werde. Gerade mein Zorn über den Blechschmied gab mir jedoch in einem aufgeregten Augenblicke das Motiv zu Siegfrieds Wutausbruch gegen Mime ein: ich spielte sogleich meiner Schwester das kindisch zankende Polter-Thema in G-moll vor und sang wütend die Worte dazu, worüber wir alle so lachen mussten, dass ich beschloss, für diesmal noch fortzufahren.« Eine kompositionshistorische Prominenz erhielt der Siegfried auch dadurch, dass Richard Wagner die musikalische Ausarbeitung des Ring des Nibelungen 1857 gerade mitten im diesem Teil der Tetralogie abbrach, um sie erst bedeutend später wiederaufzunehmen. Während dieser Unterbrechung kam es zur französischen Tannhäuser-Aufführung an der Opéra, zur Uraufführung von Tristan und Isolde sowie der Meistersinger von Nürnberg in München. Und das (Klang-)Konzept des in der Zwischenzeit in die Nähe gerückten Festspielhauses in Bayreuth wurde für Wagner, als er den Siegfried nach der Unterbrechung 115

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weiterschrieb, schlagend. So ist in dem Siegfried sicherlich eine Bruchlinie zu verorten, die jedenfalls bei jeder Wiedergabe Interpretationsfragen aufwirft, doch auch nicht überbewertet werden soll: an der Gesamtkonzeption wurde auch nach der Unterbrechung nicht gerüttelt. Zwischen der Walküre – also dem zweiten Teil der Tetralogie – und Siegfried, dem dritten, liegen in der Handlung geschätzt eineinhalb bis knapp zwei Jahrzehnte. Zur Rekapitulation das Finale der Walküre und der Übergang zum Siegfried: Brünnhilde rettet ihre Halbschwester Sieglinde, Wotan senkt Brünnhilde in tiefen Schlaf und schließt sie mit einem Flammengürtel ein, den nur der durchschreiten kann, der seinen Speer nicht fürchtet. Sieglinde, die von ihrem Bruder Siegmund ein Kind – Siegfried – erwartet, hat dieses inzwischen zur Welt gebracht, ist bei der Geburt verstorben, der Schmied Mime hat Siegfried aufgezogen. Als Erbe blieb Siegfried nur das zerbrochene Schwert seines Vaters, das Mime doch nicht wieder einen kann. Nur Siegfried vermag dies zu tun, indem er es nicht zu flicken versucht, sondern es zerfeilt und neu gießt, es also von Grund auf neu macht. Ein wesentlicher Aspekt in dem Werk! Denn durch das gänzliche Neuschaffen des Schwertes Nothung ist es ganz ein Schwert Siegfrieds, kein übergebenes oder übertragenes, sondern ein selber erschaffenes. Und es ist auch ein Symbol für die Identität Siegfrieds, für seine Selbstfindung und die Konstituierung seines persönlichen Ichs. Doch Siegfried ist mehr: Er ist ganz Mensch, ist zwar Enkel Wotans, aber dennoch Mensch – und ist frei von jenen Zwängen und Geboten, die andere binden. Frei ist er schon durch seine Herkunft: Als Frucht jener Liebe Sieglindes und Siegmunds, die sich über eheliche und gesellschaftliche Schranken hinwegsetzte, steht er etwas außerhalb des Wirkens der ihn umgebenden Kräfte. Er ist nicht, wie sein Vater Siegmund, ein Zögling Wotans. Er ist nicht, wie Brünnhilde, Abbild des Willens Wotans. Er ist vor allem nicht gebunden durch jene Verträge, die Wotan binden. Ungebunden fürchtet er demnach auch Wotans Speerspitze nicht, kann also den Feuergürtel zu Brünnhilde durchschreiten und zuvor noch den besagten Speer, das Symbol der Ordnung, der alles regelnden Verträge, durchschlagen. Siegfried ist jener, der das Fürchten (zunächst) nicht kennt: Schon in diesem Einzelaspekt zeigt sich eine Verwandtschaft mit der Aura des Märchens. Und es scheint nicht wunder, dass das Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen in manchen Elementen an die Geschichte des Siegfried erinnert. Selbst Wagner erkannte es und berichtete 1851 in einem Brief an Theodor Uhlig über diese Parallele: »Habe ich Dir nicht früher schon einmal von einem heiteren Stoffe geschrieben? Es war dies der Bursche, der auszieht ›um das Fürchten zu lernen‹ und so dumm ist, es nie lernen zu wollen. Denk Dir meinen Schreck, als ich plötzlich erkenn, dass dieser Bursche niemand Anders ist, als – der junge Siegfried, der den Hort gewinnt und Brünnhilde erweckt!« Die Verwandtschaft liegt dabei weniger in dem Element des zerschlagenen Ambosses, das sowohl in dem Märchen als auch in Siegfried vorkommt, als in der handelnden Hauptfigur, die sich auf der Suche befindet. Und denkt man in diesem Zusammenhang daran, dass OLI V ER LÁ NG

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Richard Wagner das Schaffen der Brüder Grimm gut bekannt war, so ist diese Verknüpfung mit dem Märchen noch deutlicher. War auch Wotan Wagners Identifikationsfigur, so sah dieser (wie eben auch Wotan) in Siegfried einen für ihn »idealen Helden«: Er schrieb an August Röckel: »Hier erfahren wir, dass Siegfried unendlich wissend ist, denn er weiß das Höchste, dass Tod besser ist als Leben in Furcht: er kennt auch den Ring, aber er achtet seiner Macht nicht, weil er was Besseres zu tun hat; er wahrt ihn nur als Zeugnis dessen, dass er – das Fürchten nicht gelernt hat. Gestehe, vor diesem Menschen muss alle Götterpracht erbleichen.« Dass der Ring des Nibelungen – wie auch die Meistersinger von Nürnberg – auch in Hinblick auf Wagners erschreckende antisemitische Weltsicht zu lesen ist, das haben namhafte Forscher immer wieder gezeigt: dies betrifft besonders auch Siegfried. Während Wagner seine uneingeschränkten Sympathien dem Helden Siegfried gab, verwendete er etwa in der Figur des Mime antisemitische Codes, die vom Publikum seiner Zeit verstanden wurden. So fallen sehr dunkle Schatten auch über dieses Werk. Noch eine Figur ist zu nennen: Wotan, der (nach außen hin) abtretende Gott, ist endlich »die Summe der Intelligenz der Gegenwart«, wie ihn Wagner beschreibt; er ist im Siegfried Wanderer geworden und durchstreift als solcher die Welt, nach außen hin weniger der ordnende, planende und lenkende Gott, sondern mehr Betrachter und Handlungsverfolger. Zu hören ist er zum letzten Mal in der Tetralogie, seinen Willen – in der Figur von Brünnhilde – hat er scheinbar fahren lassen: wurde sie doch im Finale der Walküre entgöttlicht, in Schlaf versenkt und dem besten Helden (Siegfried) preisgegeben. Doch auch weiterhin greift Wotan aktiv in die Handlung ein: So sorgt er etwa in der Wissenswette, die er mit Mime spielt, dafür, dass der Schmied erfährt, wer allein imstande ist, Nothung zu schmieden – nämlich Siegfried. Sein Eingreifen aber ist jedenfalls weniger präsent, birgt den Eindruck des Unbeabsichtigten und Unstrategischen; doch bäumt sich sein Wille immer noch auf: »Sieh, wie er dem Siegfried im dritten Akte gegenübersteht! Er ist hier vor seinem Untergange so unwillkürlicher Mensch endlich, dass sich – gegen seine höchste Absicht – noch einmal der alte Stolz rührt, und zwar (wohlgemerkt!) aufgereizt durch – Eifersucht um Brünnhilde; denn diese ist sein empfindlichster Fleck geworden«, notierte Wagner. In Siegfried dämmert bereits das Ende herauf: Die Erlösung durch die Liebe, durch Brünnhilde, die Aufgabe des Ringes und der – in diesem Zusammenhang von Richard Wagner durchaus positiv gesehene – Untergang des Göttergeschlechtes, aber auch Siegfrieds Tod sind vorbereitet: der bewusste oder unbewusste Wille zum Untergang bahnt sich seinen Weg.

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… VOR DIE SEM MENSCHEN MUS S A LLE GÖT T ER PR ACH T ER BLEICHEN




Tobias Janz

ZUR MUSIKALISCHEN DRAMATURGIE DES » SIEGFRIED «

Siegfried ist der am wenigsten eigenständige Teil des Ring-Zyklus. Wagner selbst bezeichnete ihn, nach einem Eintrag in Cosimas Tagebüchern, als ein »Intermezzo«, als ein leichteres Zwischenspiel zwischen zwei Tragödien. Seine Handlung hat viel von der eines Märchens, einer Komödie oder auch der archaischen Heldensage, relativ wenig dagegen von dem tragischen Mythos, den die Geschichte um Wotan, den Nibelungen Alberich und den fluchbelasteten, aus dem Rheingold geschmiedeten Ring entfaltet. Der junge Siegfried ist in diesem Intermezzo noch nicht der tragische Held der Götterdämmerung, ↑ sondern die merkwürdige Mischung einer archaischen Heldenfigur mit dem Vorige Seiten: Helden eines modernen Bildungsromans, dessen »Lehrjahre« die einzelnen Seiten: Szenenbild, Siegfried (2011) Stationen der Handlung gewissermaßen nachzeichnen. TOBI AS JA NZ


Die Dramaturgie des Siegfried ist allerdings kaum weniger vielschichtig als die der ihn rahmenden Tragödien Die Walküre und Götterdämmerung. Auch im Siegfried gibt es den Hintergrund der Ring-Handlung, einen Hintergrund, von dem Siegfried aber nichts weiß, vor allem nicht, wie sehr er selbst bereits darin verstrickt ist, denn szenisch-musikalisch ist die Vergegenwärtigung des Ring-Mythos immer klar getrennt von der Siegfried-Handlung. Die große Erzählung des Weltgeschehens um die Götter, die Nibelungen und den Ring findet hinter Siegfrieds Rücken statt, stets in Momenten seiner szenischen Abwesenheit: so zunächst in der Wissenswette zwischen dem Wanderer und Mime (erster Akt, zweite Szene), dann im nächtlichen Dialog zwischen dem Wanderer und Alberich (zweiter Akt, erste Szene) und schließlich zu Beginn des dritten Akts im Dialog Wanderer–Erda. Das mythische Geschehen verbleibt dabei ganz im Rahmen des Erzählens. Es beschränkt sich auf die epischen Dimensionen der Vergangenheit, der zeitlosen Gegenwart oder des ahnenden Vorausblicks auf das tragische Ende der Götter und wird nicht selbst von der dramatischen Handlung vorangetrieben. Im Gegensatz dazu entwickelt sich, auf einer anderen Ebene der Dramaturgie, die Handlung des Titelhelden, die nun ganz im dramatischen Präsens spielt. Zusammengeführt werden diese klar getrennten Sphären erst mit der Begegnung zwischen dem Wanderer und Siegfried in der Mitte des dritten Akts, auch wenn die Andeutungen des Wanderers über das Geschehen um Wotan und den Ring meist rätselhaft bleiben (»Mit dem Auge, das als and’res mir fehlt, erblickst du selber das eine, das mir zum Sehen verblieb!«). Diese Szene ist insofern aber eine Schlüsselszene, als hier nicht nur die unterschiedlichen Handlungs- und Erzähl­ebenen des Dramas sich berühren, sondern auch, weil sich der in den Hauptfiguren Wanderer und Siegfried verkörperte polare Gegensatz zwischen Wissen und Handeln (der Wanderer trägt das Wissen um das Weltgeschehen, ist aber zur Passivität verurteilt, Siegfried kann dagegen gerade aufgrund seiner Unwissenheit und Unbekümmertheit das tun, was Wotan/der Wanderer nur wünschen kann) konflikthaft – »Aug’ in Auge« – zuspitzt. Die Verteilung der dramatischen Handlung auf zwei getrennte Ebenen bestimmt auch die musikalische Dramaturgie des Siegfried. Auf der einen Seite gibt es die erzählenden, rekapitulierenden Szenen, die naturgemäß eine hohe Dichte an leitmotivischen Vernetzungen mit den beiden vorangegangenen Teilen der Tetralogie aufweisen. Interessant ist hier zu beobachten, wie sich Wagners Schreibweise gegenüber dem Rheingold und der Walküre verändert hat. Im Rheingold ging es zunächst darum, die musikalischen Hauptmotive des Ring zu exponieren und zu entwickeln. Im zweiten Akt der Walküre war der Monolog Wotans dann die erste Szene des Ring, die zu einem großen Teil auf wiederholtem und leitmotivisch verwendetem Material basiert. In einigen Passagen des Siegfried macht sich nun zum ersten Mal ein Übergewicht des Wiederholten bemerkbar, Resultat nicht zuletzt des proportionalen Anwachsens der Stoffmengen und damit Teil einer Tendenz, die sich in der Götterdämme 121

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rung noch immens verstärken wird. Die Art, wie Wagner Material im Siegfried wieder aufgreift, gleicht oft der Montage von fertig Vorliegendem. Schon das Vorspiel zum ersten Akt besteht weitgehend aus Musik der Nibelheimszene des Rheingold, deren Teile Wagner mit wenigen Veränderungen neu zusammensetzt, wie Mime es mit den Trümmern von Siegmunds Schwert vergeblich versucht. Ein weiteres Beispiel dieser Montagetechnik ist die Wissenswette im selben Akt. Ihr dramaturgischer Sinn ist es, die von Wagner als notwendig erachtete beständige Vergegenwärtigung des großen Ganzen am Beginn des Siegfried szenisch plausibel zu machen. Auch hier wiederholt Wagner nahezu unverändert, oft lediglich – wie in der Reprise der Walhall-Musik aus dem Rheingold – mit kaum hörbaren, mehr klangästhetisch als klangdramaturgisch motivierten Modifikationen des Orchestersatzes. Neu ist hier allein die Wanderer-Musik mit ihren die archaisch sequenzierenden, durch den harmonischen Raum schreitenden Akkorden. Eine Weiterentwicklung von Wagners Schreibweise gegenüber dem Rheingold lässt sich im zweiten Akt etwa an der Reprise der Alberich-Musik erkennen, die nicht – wie vieles im ersten Akt – mehr oder weniger unverändert in den jeweiligen Kontext einmontiert wird, sondern klanglich ganz anders, raffinierter und mehr auf die Klangwelt der Götterdämmerung vorausweisend, gestaltet ist. Dies ist sicherlich der Entwicklung der dramatischen Figur Alberich geschuldet, es mag aber auch ein Zeichen dafür sein, dass Wagner 1857 – unmittelbar vor der mehrjährigen Unterbrechung der Komposition des Siegfried und im Gravitationsfeld des Tristan – die Musik des Rheingold bereits innerlich fremd geworden war. Neben erzählend rekapitulierenden und leitmotivisch geprägten Passagen gibt es die mit dem Titelhelden Siegfried verbundene Musik, eine Musik, die sich entsprechend den drei Handlungsorten des Plots (Mimes Höhle, tiefer Wald, wildes Felsengebirge/Felsenhöhe) in drei unterschiedlichen Facetten präsentiert. Im ersten Akt scheint die Musik vor allem der Charakterisierung des Titelhelden zu dienen. Im Unterschied zur statischen Wissenswette ist die Musik in den Mime-Siegfried-Szenen ständig in unruhiger Bewegung, sie kommt, angefangen mit dem ungestümen Auftreten Siegfrieds, einen Bär vor sich hertreibend, über den Streit mit Mime um das zerbrochene Schwert bis zu den kraftstrotzenden Schwertgesängen im Finale des Akts kaum einmal zur Ruhe. Die Musik ist ebenso homogen wie elementar, getragen von nur wenigen Hauptmotiven (v.a. dem Hornruf und einem absteigenden QuartSekund-Motiv – einem typischem Naturmotiv –, das während des Streits mit Mime ständig präsent ist und später in transformierter Gestalt in die Musik des Waldes eingeht). Nur die in den Dialog eingeflochtene Erinnerung an Siegfrieds Eltern, an Siegmund und Sieglinde, führt zu einem kurzen Innehalten der Musik, zu sanglicheren Streicherpassagen, die die Wälsungen-Musik aus der Walküre anklingen lassen und zugleich auf die Wald-Musik des zweiten Akts vorausweisen. TOBI AS JA NZ

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Die Wald-Musik ist die zweite Facette der Siegfried-Musik. Sie ist nicht mehr getragen von dem jugendlichen Kräfteüberschuss des Helden, kein Spiegel von dessen ebenso naivem wie gewalttätig-rohem Temperament. Die WaldMusik ist eine Imagination unberührter Natur, in deren Inneren Siegfried, der freie Mensch, nach Art des Rousseau’schen Wilden ganz bei sich selbst ist. Als Bild von Natur reiht sich die Wald-Musik ein in die elementar-naturhaften Klangkonfigurationen des Ring, in die Reihe, die im Rheingold mit dem lichtdurchfluteten Unterwasserszenario des Vorspiels beginnt und sich dann über die Regenbogen-Musik an dessen Ende, die Gewittersturm-Musik in den Vorspielen der Walküre und den Feuerzauber in deren Schlussszene fortsetzt. Wie in allen diesen Fällen erreicht Wagner den Eindruck naturhafter Präsenz durch eine Überblendung von statischen und bewegten Klangkomponenten in mehreren Klangschichten. In der vollen Entfaltung des »Waldwebens« sind dies bis zu vier sich in den Klangraum nach hinten verteilende Schichten: Als Kern der Klangarchitektur fungiert ein sechsstimmiger gehaltener Hörnerklang, der teils verdoppelt, teils an den Rändern erweitert wird durch einen gespreizten und ebenfalls gehaltenen Klang der Hälfte der Streicher. Während die Streicher dieses liegenden Klanges mit sordini (Dämpfer) spielen, legen sich über den Hörner-Streicher-Komplex die übrigen Streicher ohne sordini mit sanft vibrierenden Akkordwechseln in Sechzehntelnoten. Als vierte Komponente treten in diesen stehend-bewegten Klangraum dann mit Vogelstimmenimitationen die Holzbläser ein. Wie alle klanglichen Naturbilder des Ring hat das Waldweben einen synästhetischen Vorstellungskern und verdankt sich wohl ebenso sehr der musikalischen Transformation des »Waldesrauschens« wie der Vorstellung des sich durch die im Wind zitternden Blätter brechenden Lichts. Die Hörperspektive wechselt in der Wald-Musik beständig zwischen der Perspektive des Zuhörers, für den das Waldweben Teil der Szenerie ist, und der Siegfrieds, dessen Aufmerksamkeit die Musik der Natur zunächst weniger, dann immer mehr präsent wird, bis ihm schließlich sogar die Vogelstimmen verständlich zu sprechen beginnen (und operndramaturgisch in der Mitte des Siegfried nun zum ersten Mal eine Frauenstimme zu hören ist). In diesem Changieren zwischen Innen und Außen ist das Waldweben nicht bloß ein Bild der umgebenden Natur, sondern zugleich die Darstellung einer Wahrnehmung von Natur, gesehen und gehört durch Augen und Ohren Siegfrieds. Mit Siegfrieds Ankunft auf dem Brünnhildenstein verliert sich die WaldMusik und macht Platz für eine dritte musikalische Facette des Helden. Zunächst ist Siegfrieds Aufmerksamkeit ganz gefangen vom Anblick der schlafenden Brünnhilde, das Orchester lässt Wotans Abschied und das von Heinrich von Wolzogen sogenannte »Motiv der Liebesfesselung« (im Rheingold verbunden mit der Figur Fricka) anklingen und ruft dem Zuhörer so – Siegfried ist ja noch davon überzeugt, einen Mann in Rüstung vor sich zu haben – nicht zuletzt die pikanten Familienkonstellationen des Ring in Erinnerung, gemäß denen Brünnhilde ja Siegfrieds Tante wäre. In dem Moment, in welchem Sieg 123

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fried in Brünnhilde aber die Frau gewahrt, setzt eine leidenschaftlich erregte Musik ein, die in manchem an die erotischen Delirien des Tristan erinnert. Das umfangreiche Schlussduett der beiden ist aber kein Liebesduett, zumindest keins im konventionellen Sinne. Während Siegfried zwar durchaus den in Liebe entbrannten Helden gibt, ist Brünnhilde verwirrt und zerrissen zwischen ihren unterschiedlichen Rollen, den Rollen der ehemaligen Walküre (»fürchtest du nicht das wild wütende Weib?«), der mitleidvollen Beschützerin Siegmunds und Sieglindes, die Siegfried als Kind anspricht (»du wonniges Kind […]«), der Wotanstochter, die sich bereits als Vollstreckerin von Wotans Willen, den Göttern ein Ende zu bereiten, sieht, und schließlich der Rolle der Frau, die sich Siegfrieds Liebeswerbung zunächst widersetzt, sie schließlich aber doch erwidert. Entsprechend bunt und vielgestaltig ist die Musik der Schlussszene. Neben den triebhaft-expressiven Passagen des Liebesdrängens gibt es auch hier, stets Brünnhilde zugeordnet, den weitschweifenden leitmotivischen Rück- und Vorausblick. Daneben jene in sich ruhende, verinnerlichte (Regieanweisung: »Brünnhildes Blick verrät, dass ihr ein anmuthiges Bild vor die Seele tritt«) E-Dur-Musik, die Wagner kammermusikalisch als Siegfried-Idyll zu Cosimas Geburtstag auskoppelte. Und es gibt am Schluss, in Form einer Stretta über lang gehaltenen Orgelpunkten eine kontrapunktische Verdichtung der Hauptthemen des Schlussduetts, die in ihrem C-Dur-Jubel die Nähe zu den unmittelbar vor der Fertigstellung des dritten Akts uraufgeführten Meistersinger von Nürnberg spüren lässt. Es ist viel darüber spekuliert worden, warum Wagner die Komposition des Siegfried im Sommer 1857 mitten in der Arbeit am zweiten Akt abgebrochen hat. Probleme mit der Konzeption des Ring – ausgelöst etwa durch die Beschäftigung mit der Philosophie Arthur Schopenhauers, in deren Licht der revolutionäre Entwurf des Nibelungenmythos aus dem Jahr 1848 nicht mehr tragfähig erschien – haben dabei sicherlich eine Rolle gespielt. Vielleicht waren es aber auch handfeste karrierestrategische Argumente, die Wagner zunächst zur Komposition der kürzeren und – wie Wagner hoffte – publikumswirksameren Dramen Tristan und Isolde und Meistersinger veranlasste. Der Partitur des Siegfried haben sich die erst sieben-, dann nochmals fünfjährige Unterbrechung als ein spürbarer stilistischer Bruch eingeschrieben. Wagners Schreibweise ist zu Beginn des dritten Akts nicht mehr die des ersten. Deutlich ist hier der Einfluss der Tristan-Musik zu spüren, vor allem deren harmonische Farben erhalten mehr Raum als in den frühen Teilen des Ring. Aber auch der Orchestersatz hat sich verändert. Die Wanderer–Erda-Szene ist die erste Szene der Tetralogie, in der das volle Ring-Orchester als ein beweglicher, intern reich differenzierter Klangkörper eingesetzt wird, d.h. nicht wie zuvor entweder als massiver, aber unbeweglicher Klangblock in einzelnen Tutti-Stellen oder als ein Reservoir zur Auskopplung kleinerer Orchester- und Ensemblekonfigurationen. Es ist faszinierend, die Entwicklung von Wagners musikalischer Schreibweise im Verlauf der mehr als zwei Jahrzehnte währenden Komposition des TOBI AS JA NZ

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Ring des Nibelungen nachzuvollziehen. Faszinierend einerseits, weil Wagner es schafft, diese Entwicklung in einen Zusammenhang mit der handlungsimmanenten Geschichtlichkeit des Ring zu bringen, die Entwicklung der Schreibweise also dramaturgisch produktiv werden zu lassen. Die Distanz zwischen der musikalischen Sprache des Rheingold und der Götterdämmerung ist gleichzeitig die Distanz zwischen dem unschuldig-verspielten Beginn der Handlung und ihrem ebenso tragisch-resignierten wie gleichsam mit Geschichte vollgesogenen Endzustand. Faszinierend ist die Entwicklung andererseits, weil es im Ring nicht allein die eine große Zäsur zwischen dem zweiten und dritten Akt des Siegfried gibt, sondern Wagners Schreibweise sich unablässig verändert. Die Schreckensvisionen Mimes im ersten Akt des Siegfried sind hierfür ein schönes Beispiel. Nicht nur, weil sie in ihrer Virtuosität und in ihrer Kontrastierung extremer Klangzustände – der flirrenden, harmonisch vagierenden Trillerakkorde der Violinen in reduzierter Besetzung mit einer solistischen Basstuba und einem charakteristischen Holzbläserquartett in hoher Lage – fesselnde Beispiele für Wagners Klangphantasie und Orchestertechnik sind, sondern, weil sie die Musik des »Feuerzaubers« vom Schluss der Walküre variieren. Sie zeigen, wie die Musik des Ring, je weiter die Handlung voranschreitet, immer mehr zu einer Reflexion ihrer selbst wird. In der Musik des Siegfried wird dies an vielen Stellen spürbar – in weiten Teilen ist sie Musik über Musik.

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» BEIM TRÄUMEN MACHEN WIR KEINE FEHLER « Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Tag. Sven-Eric Bechtolf führt ein nächtliches Selbstgespräch


Welche Erfahrungen nimmst Du aus der Walküre mit in den Siegfried? Man hat Dir z.B. vorgeworfen, Du würdest zu wenig interpretieren, zu wenig Politisches zeigen. Ja, seltsam, aber die Zeiten sind danach. Es ist aber auch Zeit, dem vehement zu widersprechen: Wenn die emotionale Einlassung der Analyse weichen soll, das Original dem Kommentar, die Sache ihrer Bewertung und die Einsicht der Beschwerde, wenn also nicht mehr berührt werden soll, dann wird die Kunst zum Palimpsest. Oder verschwindet allmählich ganz. Ersetzt wird ihre natürliche Dunkelheit durch den taghellen Positivismus. Das ist eine umgekehrte Eucharistie: aus Fleisch und Blut ist wieder Brot und Wein geworden. Hartes Brot und saurer Wein freilich. Solange sich die widerborstige Realität nicht zur empfohlenen Besserung bequemt, zählt der Vorwurf als die Tat, und das größtmöglichste realisierbare Ideal ist das berechtigte Unbehagen mit den Zuständen. In Ermangelung von Ergebnissen ist die Tyrannei des Wünschenswerten ausgerufen. Eine Art dauerndes Gerundivum. Das diktiert uns nun ununterbrochen die kritisch empörte Auseinandersetzung mit irgendwas. In diesem Klima hat es auch ein Siegfried schwer. Und nicht nur meiner. Wenn ich also laut sage, dass der Ring nur eine sehr dünne politische oder gar ideologische Botschaft hat, wird man das als oberflächliche, konservative und jedenfalls verfälschende und verwerfliche Aussage werten. Kein Geländer mehr weit und breit. Wenigstens irgendwie kritisch sollte er doch sein … Siegfried: blonde Bestie oder Anarchist; Rheingold: eine ökologische Katastrophe; Walküre: das Kriegsstück und Götterdämmerung: der Untergang des Abendlandes. Andeutungsreich bis zur Unverständlichkeit. Die hat man nämlich paradoxerweise gerne. Es handelt sich allerdings um eine Verwechslung: Man hält das Ungefähre für einen besonders reichhaltigen und daher nur schwer zu entziffernden Hinweis auf eine Lösung. Das nicht Verstandene wird zunächst einmal der Tiefe bezichtigt. Das verweislose Stillewerden vor geschlossener Gestalt und Form findet dagegen – allerdings nicht nur in der Kunst – erbitterte Gegnerschaft. Dass irgendetwas sich nicht hergeben könnte, scheint allgemein ein furchteinflößender Gedanke geworden zu sein. Dahinter steckt aber kein böser Wille. Nur das Bedürfnis nach Trost und Gewissheit. Allem und jedem versuchen wir, hermeneutisch plappernd, eine Antwort abzupressen. Dass wir hierfür, im Gegenteil, schweigen müssten, könnte uns die Kunst lehren: »Schläft ein Lied in allen Dingen«, heißt es bei Eichendorff. Wir kommentieren lautstark dagegen an. In dauernder Selbstermächtigung. Vielleicht ist dies eine Aussage des Ringes: »Blicke nach innen.« Denn, wie Schopenhauer es unvergleichlich signifikant formuliert hat: »Die Welt ist meine Vorstellung.« Sie soll es aber nicht bleiben.

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Aber wagt der Ring nicht, im Gegenteil, den Blick nach außen? Ist er denn nicht, wie alle Welt weiß, gesellschaftskritisch? Nein. Tut mir leid. Es handelt sich bei den gesellschaftlichen Analysen Wagners allenfalls um »Tiefensoziologie«. Denn die Welt und das Personal des Ringes sind vorgesellschaftlich. Es sind Archetypen. Im höchsten Grade individualistisch. Egozentrisch geradezu. Sie sind kaum regelfähig zu nennen, jedenfalls nicht unter soziologischen Kriterien. Eine Übertragung dieser Charaktere in heutige Befindlichkeiten und Umstände würde das Allgemeine ins Besondere profanisieren und entwerten.

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Aber handelt es sich denn nicht um Kapitalismuskritik? So war es vielleicht intendiert, aber im Ergebnis: nein. Der Räuber des Goldes, Alberich, der Minen- und Fabrikbesitzer, wird sehr bald enteignet. Danach wandert der Ring von Hand zu Hand und stiftet Unheil. Ausgebeutet wird niemand mehr. »Geld macht nicht glücklich und die Jagd danach ist schädlich«, hieße allenfalls die nicht sehr originelle Botschaft. Nebenbei bemerkt: Der Ring des Nibelungen wäre ein gar zu stumpfes Messer im Kampf gegen die Zählebigkeit der heutigen Formen des Kapitalismus.

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Handelt es sich um eine Machtkritik? Nein, jedenfalls nicht im politischen Sinne. Alberich ist verhältnismäßig rasch entmachtet. Und ja, dann geht es im Rheingold auch um die Verknechtung der Nibelungen; und die armen Riesen sollen auch übers Ohr gehauen werden. Aber das ist nicht das zentrale Problem. Unter dem Machtaspekt betrachtet ist das nämlich Wotan. Wotans Ur-Sünde liegt vor den Geschehnissen des Ringes und wird erst in der Götterdämmerung erwähnt: das Herausschneiden des Speeres, das die Weltesche verdorren lässt. Der Speer sollte Wotan die Macht verleihen, seine Zauberwirksamkeit ist aber sehr unzureichend. Denn die Macht erhält und erlangt er, wie wir sehen, durch Verträge. Mit diesem Frevel – dem der Selbstermächtigung – ist trotzdem von Beginn an der Untergang der Götter besiegelt. Der goldene Ring selbst spielt bei diesem Untergang keine so wesentliche Rolle. Es ist diese erste, die »böse Tat« aus der antiken Tragödie, die bekanntlich böse Taten zeugt. Ein tiefes Misstrauen in das menschliche Wirken im Allgemeinen wird hier ausgedrückt. Oder, um es etwas salopper auszudrücken: Alles, was wir anfangen, ist Murks. Und der pflanzt sich dann munter fort. Hier ist eine viel profundere Bestandsaufnahme vorgenommen worden, als sie von den Hobbykulturskeptikern überhaupt geahnt wird. Wotans Dilemma ist eher die Machtlosigkeit. »Der Unfreieste von allen« ist er. Eine absurde

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Situation für einen Gott. In Walküre, Siegfried und Götterdämmerung verliert er dauernd. Er soll auf die Optionen der Tat verzichten. Denn nicht einmal die Befreiungstat bleibt ohne schlimme Folgen. Kurz: Er soll aufgeben. Das lernt er dann auch. Er ist der Protagonist im Ring. Ihm gehört unsere Sympathie oder wenigstens unsere Anteilnahme. Keinesfalls ist er Vorstandsvorsitzender von Esso (und hat auch keine ähnlich bestechend aktuelle Position inne). Er ist ein Gott! Ein Archetypus. Und als solcher ein Anteil seines oder seiner Erfinder. Also ein Anteil von uns. Er behandelt das Problem der Ohnmacht durch Macht. Damit ist nicht so sehr die Macht über andere gemeint: Das Schicksal Wotans warnt vor der Konstituierung des Egos. Und da ist Wagner in Schopenhauers Nähe. Es handelt sich also um ein psychologisch-philosophisches, von mir aus auch erkenntnistheoretisches Problem. Nicht aber um ein soziales oder wirtschaftliches. Nietzsche war natürlich von dem Umstand, dass die Götter sterben, schwer begeistert. Wagner selbst brauchte seine Zeit, um sie gehen lassen zu können. Wotan wurde ihm vermutlich ähnlich. Dem Schöpfer des Ringes ist also auch ein zu vermutender religionsfeindlicher Ansatz nicht schlüssig nachzuweisen. Dafür war er sich zu interessant. Ist der Ring ökologisch? Nein, moralisch! Die Natur wurde beraubt, aber nicht verschmutzt. Es fehlt ihr nun etwas. Was hat sie verloren? Unschuld, Schönheit und Zweckfreiheit. Vielleicht ist eher unsere, die innere Natur gemeint. Um den Ring sich zu schmieden, muss man der Liebe entsagen: Das ist der eigentliche Frevel, den wir gegen uns selbst begehen. Das ist wider unsere Natur. Hofft mindestens Wagner. In Wagners Naturbegriff sind mehr romantische und psychologische als ökologische Topoi zu entdecken. Wagner ist kein grüner »Fundi«. Trotzdem hat sein Weltentwurf, wenn man denn ohne »Aktualisierung« nicht denken kann, unfreiwillig prophetische Züge erhalten.

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Glaubt der Ring an die Erlösung durch die Liebe? Nein. Sonst hätte sie den Sieg davongetragen. Die Macht der Liebe ist der Welt – auch im Ring – nicht gewachsen. Die Beziehung zwischen Brünnhilde und Siegfried geht durch böse Ränke, Verrat, Zauberei und Mord zugrunde. Im Jenseits vielleicht wartet dann das Glück. Die Verschmelzung. Und Grane kommt in den Pferdehimmel –

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Ist der Ring anarchistisch? Nein. Anfangs war das vielleicht von Wagner so gedacht. Aber Siegfried scheitert. Wagner wollte, angeekelt von der Kultur, zurück zur Natur. Er träumte davon, Paris abzufackeln und die Zivilisation zu schleifen. Aber da war er ein junger Mann. Im Ring, wie er uns vorliegt, ist Siegfried schon ein Spielball Wotans. Seine Anarchie ist von Wotan gewünscht! Und damit ist sie keine mehr. Sie handelt im Auftrag der Instanz, die sie als solche nicht respektiert. Ähnlich wie ein Punker mit Plattenvertrag. Oder wie Wagner selbst. Unbeabsichtigt oder nicht: Wagner stellt der Anarchie wie der Liebe ein Bein.

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Ist der Ring pessimistisch? Nein. Aus Sicht der Rheintöchter nicht. Sie bekommen den Ring zurück. Alle anderen sind tot oder bedeutungslos geworden. Allerdings: Der Mensch betritt nun die Bühne. Als Erbe dieser Geschichte. Ob das sehr hoffnungsfroh stimmen soll oder kann, bezweifle ich. Für mich bliebe der Ring tief pessimistisch, wäre da nicht das von Brünnhilde in Aussicht gestellte Jenseits. Oder würde ich den Untergang Wotans nur als leiblichen Tod begreifen und nicht als Symbol des endlich schweigenden Willens!

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Welche Aussage hat denn nun der Ring? Fontane hat das kürzestmöglich formuliert: »Die Götter sind tot, und dem Menschen ist es nun an die Hand gegeben, Liebe und Macht zu versöhnen.« Aber wenn man von dieser schönen Blauäugigkeit absieht und da­rauf verzichtet, reibungslos von A nach B zu kommen, ist der Ring auch ohne »Botschaft« welthaltig. Trotz oder durch Abstraktion. Konfliktreich, nicht stringent. Völlig widersprüchlich, aber wirksam. Er berührt in meinen Augen assoziationsreich die großen Fragen und Angelegtheiten unserer Existenz, ohne irgendetwas beantwortet oder in Aussicht gestellt zu haben. Der Ring ist ein gefälschter Mythos, der eine unübersehbare psychologische Durchmischung durch und mit seinem Bearbeiter Richard Wagner eingeht. Er ist auch die Dokumentation einer ganz persönlichen Geistesgeschichte, die folgerichtig zu einem dramaturgischen Scherbenhaufen anwächst, den kein Interpretationsleim zu kitten imstande ist. Der Ring hat den Dichter Wagner hoffnungslos überfordert. Darin liegt aber sein Reichtum. Wäre der Ring »gelungen«, hätte Rudolf Steiner ihn geschrieben. Oder Marx. Oder C.G. Jung. Ein grauenhafter Gedanke.

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Jedenfalls ist das Ganze nicht ohne Komik: dass jemand sich da­ran macht, im Rahmen eines Mythos mit relativ wenig Personal das Schicksal der Menschheit – oder nein: der Welt – im Modell überschaubar, erkennbar zu machen und dabei binnen kürzester Zeit ein haltloses Durcheinander anrichtet. Warum den Ring dann aufführen? Die Besonderheit des Ringes ist doch vor allem die Zusammenkunft des aberwitzigen Librettos mit der so wirkungsmächtigen Musik. Sie überführt die Disparität des Entwurfes und seinen allegorischsymbolischen Gehalt erst in die emotionale Realität. Das Stück taucht erst in der Musik auf. Es berührt uns nun zutiefst, ohne dass wir – oder Wagner – völlig verstünden, wieso. Es berührt uns unterhalb des reflexiven Bewusstseins. Der Ring in seiner Gesamtheit ist nicht ideologisch oder auch nur nützlich; er ist lebenstief. Er beantwortet nichts. Er berührt. Und in dieser Berührung weist er sich in uns nach. Der Ring tut nicht so, als sei sein Geschehen vermeidbar, wenn man es sich zu Herzen nähme. Inzest, Ehrgeiz, Vertragsbruch, Betrug, Unfreiheit, Mord, Anarchie, Raub, Feuer, Versuchung, Entführung, Ehebruch, Hoffnung, Weisheit, Tod, Schönheit, Verlust, Trauer, Alter und Jugend, Gier und Verzicht … alles und jedes kommt vor, in märchenhafter Vergrößerung. Aber es gibt keine subsumierenden, zufriedenstellenden Ergebnisse. Keine Systematik. Keine Lösung. »So ist es«, sagt der Ring. Ob es so bleiben muss, wissen weder Wagner noch wir. Wer mehr erwartet, über- und unterschätzt Wagner gleichzeitig. Der Ring ist ein inneres Geschehen. Seine unübersehbaren Widersprüche, seine »Fehler« sind keine. Beim Träumen machen wir ja auch keine »Fehler«. Alles, was darin geschieht, ist richtiger- und notwendigerweise ein Teil davon. Der Traum fehlt nur gegenüber den Gesetzen der Realität. Das Gleiche gilt für den Ring. Wer vom Ring also Aufklärung erwartet, wird bitter enttäuscht sein. Aber wer erwartet von einem Bühnenwerk Erkenntnis dieser Art? Nehmen sie z.B. den Kirschgarten oder Hamlet. Diese Stücke generieren und verdichten – von mir aus um ein spezifisches Problem he­rum – widersprüchliches Leben. Deshalb wirken sie. Wie wir handeln sollen, sagen uns diese Stücke nicht. Sie zeigen das Dilemma unseres Daseins und wir erkennen uns darin, nicht durch Analyse allein, sondern durch Identifikation. Wir weinen oder lachen um uns. Wir sind Hamlet, Ljubov Andreewna, Wotan. Durch unsere tiefe Anteilnahme an einer erfundenen (und auf so einem verzweifelt naivem Schaugerüst wie dem Theater abgehandelten) Realität erlösen wir uns kurzzeitig von uns selbst, indem wir uns zusehen. Diese Erfahrung – nämlich die der Unzuverlässigkeit dessen, was wir die Wirklichkeit nennen und unserer Fähigkeit, tiefere Empathie zu entwickeln, wenn

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wir aus unserer Verwicklung mit ihr (unserer bisherigen Wirklichkeit) herausgehoben sind – ist der primäre Sinn des Theaters. Zu stiften ist er nur durch enigmatische Meisterwerke, wie es der in Musik gesetzte Ring zweifellos ist. Noch einmal: Muss man den Ring nicht interpretieren? Natürlich muss man. Und ich tue es ja auch nachhaltig. Alles, was ich Dir da erzähle, ist doch Interpretation. Was denn sonst? Nur keine, die dem Zeitgeist entspricht.

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Muss man ihn denn nicht aktualisieren? Aber warum denn? Äußere Aktualität hat doch der Autor für sich schon abgelehnt, er hat sich den vorzeitlichen Mythos doch nicht zufällig gewählt. Seine Beweggründe hierfür sind vielfältig, der wesentliche aber ist, dass er Exemplarisches suchte. Symbolhaftigkeit. Durch Aufweichung, die eine Übertragung ins Bestehende mit sich bringen würde, zerstört man das Gemeinte, verkürzt es zugunsten einer Auslegung, beendet den vielstimmigen Diskurs, den das Werk mit sich selbst unterhält. Instrumentiert es für eigene Zwecke oder missversteht es. Das wäre entweder dumm oder unlauter oder beides, denn wir sind nur die Interpreten, die der Komplexität der Vorlage verpflichtet sind. Es gibt gewiss Werke, die durch extreme Eingriffe verständlicher werden. Bei denen radikale Subjektivität Pflicht ist. Der Ring gehört nicht dazu. Trotzdem interpretieren wir, anders geht es ja nicht. Wir zeigen den Ring als das, was er bei allem Respekt in unseren Augen auch ist: die Evokation eines phantastisch-wirren Geistes. Oder glaubst Du, dass Wagner wirklich »Recht« hatte? Der Ring ist bizarr und maßlos, am Ende eher romantisch als sozial-revolutionär. Dem Traum verwandter als dem Tagesbewusstsein. Und der Traum hat seinen Sinn ja nicht im morgendlichen Kommentar. Er hat seinen nächtlichen, unterirdischen Nutzen.

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Und was träumst Du im Ring? Welche ganz subjektive Aussage hat er für Dich? Der Ring spielt für mich in einer Landschaft, einer Natur, die ich nur als innere verstehen kann. Ihr Schöpfer hat den Versuch gemacht, sie als exemplarisches Bild zu malen, aus dem sich ganz logisch unser heutiger Zustand – nennen wir ihn das »Außen« – entwickelt haben muss und dessen Gesetzmäßigkeit wir daraus ablesen können. Ein großes, aber natürlich künstliches Analogiesystem. Da Wagner nun gezwungenermaßen rückläufig vorgehen musste – vom »Außen« nach »Innen« – ist es zu einer die Passform sprengenden Überfülle miss-

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raten. Es wird als Modell untauglich und unlesbar. Was es jetzt aber abbildet, ist: seinen Erschaffer. Der Ring ist ein Stück der geschlossenen Augen. Tief im Ring verborgen gibt es meiner Ansicht nach ein retardierendes Moment, das von dem Glück träumt, nicht geboren zu sein. Denke an den musikalischen Beginn des Rheingoldes. Oder auch nur an Erda, das »ewige Weib«. Wagner will im Ring zurück. Wohin? Zur Unschuld. Es scheint, als ginge er von den Wundern und Schrecken der Kindheit in die ausgeglühte Optionslosigkeit der Erwachsenenwelt. Auf diesem Weg nimmt er ununterbrochen emotionale Perspektivwechsel vor. Mal ist er bei Wotan, mal bei Siegfried oder Brünnhilde oder selbst bei Alberich. Er versucht sich dabei in der Versinnbildlichung der äußeren Gegebenheiten und Probleme seiner Zeit (Industrialisierung, Kapital, Markt, Emanzipation der Frau, Anarchismus, bürgerliche Gesellschaft etc.), indem er ihren exemplarischen Zustand und damit ihren geheimen Grund schildern will. Dabei bleibt seine ideologische Überzeugung, seine ursprüngliche Absicht oft auf der Strecke: Das Bild, das er malt, verlangt plötzlich Veränderung, Erweiterung, das heißt, es entwickelt ein uneinheitliches Eigenleben, das es als Symbol untauglich macht. Hier erhebt der Mythos sein Haupt, und es geraten tiefenpsychologische Unterströmungen in die Wagner’sche Analyse. Dies alles lässt sich aber nicht andauernd mit aktualisierten Verweisen vortragen, denn der Ring ist ein selbstbezügliches System. Er widerspricht sich, nicht einem real existierenden Sachverhalt, und in diesem Widerspruch liegt seine Spannung und Bedeutung. Nimm als Beispiel Siegfried. Ursprünglich war er als der neue Mensch geplant, der sich endlich aller gesellschaftlichen Verbindlichkeiten entledigt. Der den Drachen, den Hüter des Ringes und symbolischen Vertreter der trägen Machtinhaber (des lähmenden und gleichzeitig beängstigenden Über-Ichs) erschlägt, sich nach Genuss des Drachenblutes mit der Natur in Gestalt des Waldvogels verbindet und die Frau aus dem Schlaf erweckt, in den sie das Patriarchat verbannt hat. Er soll die Religion abschaffen, das Weib emanzipieren, die Macht zerstören und ihr entsagen und vermutlich eine »make love not war«-Kommune im Wald gründen. Und dann ist der ganze Aufwand für die Katz’, alles geht schief, weil der Fluch des Ringes auch auf Siegfried übergeht. Und weil Wotan unversehens zum Protagonisten wird. Inwieweit dieser als Wasserzeichen in die Geschehnisse der Tetralogie eingeschöpfte Rückzieher Wagner selbst vollumfänglich bewusst war, ist fraglich. Mit dem Jungen und seinem Ziehvater im Wald, dem mörderischen Zwerg Mime, kommen jedenfalls auch ganz andere Dinge ins Spiel: der Drache und seine Höhle als Bild der verschlingenden großen Mutter, das phallische Schwert und die Furcht vor der Weiblichkeit, die Verschmelzung, Animus und Anima, die Erfüllung der Liebe im Tod, Initiation, Vatermord und Befreiung usw. – all das sind Hervorbringungen, die die Absichten 133

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ihres Erfinders möglicherweise übersteigen, aber substanzielle Anteile des Werkes sind. Um alle diese Widersprüche und Konnotationen zu retten, muss die Märchenhaftigkeit der Bilder erhalten bleiben. Noch dazu müssen wir glauben, dass die Figuren in ihrer Welt »real« sind. Wir können ihnen keine Pappschilder umhängen, auf denen eine Gebrauchsanweisung steht. Kurz gesagt: Es bedarf, bei dieser äußersten Komplexität der Vorlage, einer vorsätzlichen Naivität in der Ausführung. Der Ring ist ein verzweifelter Versuch, Licht zu schaffen, der darin endet, es auszulöschen. Ob dies als positiver oder negativer Schluss aufgenommen wird, liegt an der Tiefe der Lebenserfahrung jedes Einzelnen. Es gibt also eine dem Ring innewohnende Gegenläufigkeit zu den eingangs beschriebenen Forderungen nach kritisch-aufklärerischer Interpretation. Die Immanenz dieses Widerspruches wird sich mindestens in der Bewertung unserer Aufführungen erweisen. Du wirst sehen.

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Konrad Paul Liessmann

DER RUCHLOSE OPTIMIST

Wagners Siegfried und die Philosophie


In kaum einem Werk Richard Wagners lässt sich dessen komplexes Verhältnis zur Philosophie so deutlich erkennen wie in Siegfried. Das mag verwundern, gilt Siegfried doch als einer der eher einfach gestrickten Charaktere Wagners, und der philosophische Gehalt von Werken wie etwa Parsifal oder Tristan, in denen es immerhin um eine konsequente Mitleidsethik oder die abendländische Konzeption radikaler Liebe geht, scheint bei Weitem interessanter und naheliegender als die Geschichte des unbekümmerten Drachentöters. Und auch innerhalb der Ring-Tetralogie würde man die philosophisch-weltanschauliche Dimension des Wagner’schen Musiktheaters eher an Figuren wie Wotan oder auch Alberich binden als an den Kraftmenschen aus dem Wald. Das Philosophische an Siegfried liegt allerdings schon in der Entstehungsgeschichte begründet. Die Konzeption und ersten Entwürfe dieser Dichtung entstammten noch Wagners revolutionärer Dresdner Periode, aus dem Geist der Revolution wurde diese Dichtung geboren, und das gesamte Werk wollte Wagner damals ohnehin erst den Menschen nach der Revolution zumuten. 1853 war die Ring-Dichtung beendet, unmittelbar danach begann Wagner mit der Komposition, an der er bis Sommer 1857 arbeitete. Zu diesem Zeitpunkt waren Rheingold, Walküre und zwei Akte des Siegfried fertiggestellt. Danach unterbrach Wagner für mehrere Jahre die Arbeit am Ring. In dieser Zeit entstanden Tristan und die Meistersinger, erst 1869 setzte Wagner die Komposition des Siegfried fort. Es ist diese lange Unterbrechung, diese Zäsur, die zwischen dem 2. und 3. Akt des Siegfried liegt, an der sich die Frage nach Wagners Verhältnis zur Philosophie gerne entzündet. Denn für diese Unterbrechung werden immer wieder zwei Gründe genannt: Einmal Wagners Liebe zu Mathilde Wesendonck und – seine Begegnung mit dem Werk Arthur Schopenhauers. Unter dem Einfluss der Lektüre von Die Welt als Wille und Vorstellung soll Wagner seine Konzeption radikal geändert haben. Allerdings: Wagners Ring verdankte sich von Anbeginn an auch philosophischen Impulsen. Tatsächlich war Wagner wie kaum ein anderer Komponist des 19. Jahrhunderts an der Philosophie interessiert und von ihr inspiriert. Das reicht zumindest auf seinen Pariser Aufenthalt von 1839–1841 zurück. Sein damaliger Freund, der jüdische Philologe Samuel Lehrs, hatte ihn in das philosophische Denken eingeführt und mit ihm unter anderem eine anonym erschienene Schrift diskutiert, die den sterbenskranken Lehrs zutiefst beschäftigte: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit. Autor dieser Schrift war niemand Geringerer als der junge Ludwig Feuerbach, auf den Wagner dann in seiner Züricher Zeit aufmerksam wurde und dem er entscheidende geistige Impulse verdankt. Feuerbachs in diesem frühen Text vorgetragene radikale Kritik am Unsterblichkeits- und Jenseitsglauben des Christentums hat sich dann auch in Wagners Dramenentwurf Jesus von Nazareth unmittelbar niedergeschlagen. Als Wagner später dann Feuerbach bewusst las, war er wie viele Zeitgenossen von Feuerbachs Kritik des Christentums und seinen Grundsätzen 137

KON R A D PAU L LIE S SM A N N


für eine Philosophie der Zukunft (1841) so beeindruckt, dass er seine Schrift Das Kunstwerk der Zukunft Ludwig Feuerbach widmete. Feuerbachs These, dass religiöse Vorstellungen als Ausdruck menschlicher Wesenhaftigkeit gedeutet werden müssen, letztlich alle Theologie Anthropologie sei, hat auf Wagners Konzeption von Götterwelten nachhaltigen Einfluss gehabt. Die Philosophen, die für Wagner von eminenter Bedeutung waren, waren neben Feuerbach in erster Linie Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, zu der ihm der ehemalige Revolutionsdichter Georg Herwegh, mit dem Wagner in den Züricher Jahren befreundet war, geraten hatte, wurde im Rückblick von Wagner selbst geradezu zu einem Erweckungserlebnis stilisiert: »Ich blickte auf mein Nibelungen-Gedicht und erkannte zu meinem Erstaunen, dass das, was mich jetzt in der Theorie so befangen machte, in meiner eigenen poetischen Konzeption mir längst vertraut geworden war. So verstand ich erst selbst meinen Wotan...« Tatsächlich haben Schopenhauers pessimistische Philosophie, seine Ästhetik, sein Interesse für den Buddhismus und seine Mitleidsethik große Auswirkungen auf Wagners Denken und Schaffen gehabt – auch wenn darüber diskutiert werden kann, inwiefern Wagner auch Schopenhauer im Sinne seiner eigenen Entwicklung umgedeutet hat. Schopenhauers Beschreibungen des menschlichen Daseins und Elends aus Die Welt als Wille und Vorstellung lesen sich immerhin auch wie Konzepte oder auch Kommentare zu den Grundkonstellationen des Ring des Nibelungen. Wer etwa fühlt sich bei folgenden Sätzen nicht an den großen Bogen erinnert, der von den ersten Takten des Rheingold bis zu den Schlussakkorden der Götterdämmerung reicht? »Aus der Nacht der Bewusstlosigkeit zum Leben erwacht, findet der Wille sich als Individuum in einer end- und grenzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewusstlosigkeit.« Die kurze Spanne des bewussten Lebens ist von einer fundamentalen Spannung gekennzeichnet: Den grenzenlosen Wünschen und unerschöpflichen Ansprüchen an das Leben steht die Einsicht entgegen, dass alles im Leben kund gibt, »dass das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden […] Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswert das Gewünschte war.« Das Leben als fortgesetzter Betrug: Damit ist das entscheidende Motiv des Rings angesprochen. Nur ein Medium, und dies muss Richard Wagner in besonderem Maße affiziert haben, erlaubt es nach Schopenhauer, diesem Elend wenigstens für Momente standzuhalten: die Kunst, namentlich die Musik. Nur die Kunst hat die Macht, den Menschen wenigstens für einen begrenzten Zeitraum so gefangen zu nehmen, dass er die Bedingtheiten seines Daseins, die Regungen seines Willens und Leibes, seine Endlichkeit und sein Leid vergessen kann. Die Kunst wirkt wie ein temporäres Quietiv, eine Betäubung bei wachem Bewusstsein, die das Dasein, frei von Qual, zu KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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einem »bedeutsamen Schauspiel« macht. Für Schopenhauer ist die Kunst ein Vorgriff, eine momentane Antizipation jenes Zustandes, in dem alles Leben sich endlich vom Diktat des Willens befreien und in jenen Zustand eingehen kann, der einzig alles Leiden beendet: das Nichts. Die Kunst erlaubt so eine erste Erfahrung jenes buddhistisch inspirierten Nirwana, das Schopenhauer in die deutsche Philosophie getragen hatte und dem sich auch Wagner nicht entziehen konnte. Es wundert so wenig, dass Richard Wagner seine Nibelungendichtung dem verehrten Schopenhauer zusandte, der darauf nicht reagierte. Immerhin will Wagner durch Mittelsmänner herausgefunden haben, dass Schopenhauer davon angetan gewesen sein soll – woran allerdings erhebliche Zweifel bestehen. »Nirgendwo lässt sich dieses Wechselspiel von Musik und Philosophie allerdings besser demonstrieren als an Siegfried. Siegfried ist göttlich. Es ist mein größtes Werk«, schrieb Wagner an König Ludwig II. von Bayern, und keine der Ideen, mit denen Wagner in den Jahrzehnten, in denen er am Ring arbeitete, in Berührung kam, ist spurlos an Siegfried vorübergegangen. Dass es Siegfried sein sollte, der die Götter aus ihren Verstrickungen und die Welt aus dem Kreislauf von Herrschaftswahn und Geldgier befreien sollte, verdankt sich ohne Zweifel der radikalen philosophisch-politischen Impulse der Revolutionsjahre. Dazu gehört auch, dass Wagner bei der Konzeption von Siegfried unter anderem an August Röckel, den engen Freund aus diesen Tagen, gedacht haben soll. Röckel war damals Musikdirektor am Dresdner Hoftheater und Redakteur der rebellischen Volksblätter, in denen Wagner seinen Aufruf Die Revolution veröffentlicht hatte. Röckel wurde nach dem Aufstand 1848 gefangen genommen und erst 1862 entlassen. Den Briefen, die Wagner an den Freund im Gefängnis richtete, verdanken wir übrigens wesentliche Einsichten in die Entstehungsgeschichte des Ring. Und manche Forscher vermuten, dass auch der in Wien hingerichtete Revolutionär Robert Blum Wagners Siegfriedfigur beeinflusst haben mag. Siegfried ist aber nicht nur eine Engführung von nordischer Mythologie und vormärzlichem Revolutionspathos. Er ist auch und vor allem – Carl Dahlhaus hat darauf aufmerksam gemacht – eine Märchenfigur, die die Logik des Geschichtsmythos deutlich konterkariert. Das naive Naturkind, das auszieht, das Fürchten zu lernen, ist ein Märchenmotiv, und die Unbekümmertheit, mit der sich Siegfried durch seine Freiheit von der Furcht, die Voraussetzung aller Freiheit ist, alles gewinnt, ohne die wahre Bedeutung dieser Schätze auch nur zu erahnen, ist nicht trennbar von seinem Naheverhältnis zur Natur. Er bändigt in der Gestalt des Bären nicht nur die wilde Natur, er versteht auch ihre Sprache. Und auch Siegfrieds Grausamkeit und Brutalität ähneln eher der Grausamkeit eines Kindes, das unbekümmert seinen Impulsen folgt, als einem Willen zum Bösen. Siegfried: Das ist auch die Utopie der Versöhnung von Natur und Mensch, das ist die Musik gewordene Kraft und Sinnlichkeit, das ist ein emphatisches Bekenntnis zu jener aufblühenden, erlösenden Liebe, wie sie Wagner schon bei Ludwig Feuerbach beschrieben fand. 139

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Die helle Märchenfigur wird von Wagner allerdings, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Lektüre Schopenhauers, den unerbittlichen Gesetzen eines Untergangsmythos unterworfen. Das ursprünglich Siegfried zugedachte Erlösungswerk muss scheitern, die auch von Karl Marx beschworene Aufhebung der Entfremdung des Menschen von der Natur hat nicht die Liebe, sondern den Untergang zur Voraussetzung. Und auch diese Wendung verweist noch einmal auf die Anfänge der Ring-Dichtung. In seiner Dresdner Zeit war Wagner auch mit dem Vater des modernen Anarchismus, mit Michail Bakunin befreundet gewesen. Und es ist keine Frage, dass auch diese Begegnung ihre Spuren insbesondere in der Figur des Siegfried hinterlassen hat. Ursprünglich war Siegfried wohl als ein Held der Revolution konzipiert, aber noch der auskomponierte Schluss der Götterdämmerung konnte von Hans Mayer mit einigem Recht »bakunistisch« genannt werden – der große Feuerbrand, der die ohnmächtig gewordenen Götter so gut verschlingt wie die schuldverstrickten Menschen, ist in der Tat ein Phantasma des Anarchisten. Im Ring des Nibelungen, so stellte Peter Wapnewski einmal fest, treiben so Ludwig Feuerbach und Michail Bakunin, Pierre Joseph Proudhon und Arthur Schopenhauer ihr Wesen, urkommunistische und anarchistische Energien begehren auf, das Werk, so Wapnewski, könne auch als Parabel einer Geschichtsphilosophie gelesen werden, die des Menschen Selbstentfremdung aufheben will durch die Rückeroberung seiner natürlichen Unschuld. Wie groß aber war die Erschütterung Wagners durch Schopenhauer wirklich? Dass es in Wagners Denken einen philosophischen Bruch gäbe, der sich mitten durch Siegfried zieht: Diese wahrscheinlich nur zum Teil haltbare Behauptung verdankt sich jenem Philosophen, der wie kein anderer in einem Naheverhältnis zu Richard Wagner stand – Friedrich Nietzsche. Wagner hatte den jungen, begabten, enthusiasmierten Philologen und Philosophen 1868 in Leipzig kennengelernt und ein Jahr später nach Triebschen eingeladen. In den Augen von Richard und seiner Frau Cosima sollte der junge Professor wohl die philosophische Legitimation des Wagner’schen Unternehmens liefern. Und tatsächlich ist Nietzsches Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, das 1872 erschien, aus der Begegnung mit Wagner motiviert, ein selbst genialischer Versuch, das Wagner’sche Musiktheater als Erneuerung der antiken Tragödie zu deuten. Im Vorwort zur Tragödienschrift, das an Richard Wagner gerichtet war, schrieb Nietzsche, dass er »von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens« im Sinne jenes Mannes überzeugt sei, dem er diese Schrift widme. Tatsächlich aber war Nietzsche, nach seinem Bruch mit Wagner, derjenige gewesen, der die These vom eminenten philosophischen Gehalt des Ring des Nibelungen gleichermaßen bekräftigte wie konterkarierte: In Der Fall Wagner (1888) erzählt Nietzsche noch einmal die Geschichte des Ring: Wagner habe sein halbes Leben lang an die Revolution geglaubt »wie nur irgendein Franzose«, er sah in Siegfried den »typischen Revolutionär«, der aller Konvention KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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und Moral den Krieg erklärt: Siegfried »wirft alles Überlieferte, alle Ehrfurcht, alle Furcht über den Haufen. Was ihm missfällt, sticht er nieder«, um sich schließlich seiner Hauptaufgabe zu widmen: »Das Weib zu emanzipieren«, also Brünnhilde zu erlösen und mit einem »Sakrament der freien Liebe« ein neues »goldenes Zeitalter« zu begründen. Lange Zeit, so Nietzsche gehässig, lief Wagners Schiff lustig auf dieser Bahn, doch dann fuhr es auf ein Riff auf. Und dieses Riff war die Schopenhauerische Philosophie: »Wagner saß auf einer konträren Weltansicht fest. Was hatte er in Musik gesetzt? Den Optimismus. Wagner schämte sich. Noch dazu einen Optimismus, für den Schopenhauer ein böses Beiwort geschaffen hatte – den ruchlosen Optimismus. Er schämte sich noch einmal.« Und deshalb dann die große Wende, die Idee, das Scheitern selbst zum Ziel zu erklären: »Und er übersetzte den Ring ins Schopenhauerische. Alles läuft schief, alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm wie die alte: – das Nichts, die indische Circe winkt.« Keine Frage: Nietzsches Deutung war einseitig und auch im Kontext der Entstehungsgeschichte nicht ganz korrekt. Aber sie war auch geprägt von der Hellsichtigkeit, zu der nur ein aus Liebe geborener Hass fähig ist. Wie immer man es dreht und wendet: Letztendlich hat Siegfried tatsächlich etwas von jener »ruchlosen Denkungsart« an sich, die nach Schopenhauer den Optimisten kennzeichnet. Vielleicht muss er schon deshalb scheitern, weil sein Sieg wohl unerträglich wäre.

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GÖTTERDÄMMERUNG → Dritter Tag des Der Ring des Nibelungen Musik & Dichtung Richard Wagner

Orchesterbesetzung Piccoloflöte, 3 Flöten (3. auch 2. Piccoloflöte), 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, 8 Hörner (5. und 6. auch Tenortuba, 7. und 8. auch Basstuba), 3 Trompeten, Basstrompete, 4 Posaunen (4. auch Kontrabassposaune), Kontrabasstuba, Pauken, Schlagwerk (Rührtrommel, Becken, Triangel, Glockenspiel), 3 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 3 Stierhörner, in C, Des und D, Hörner Spieldauer ca. 5 Stunden 15 Minuten (inkl. 2 Pausen) Autograph Partitur-Erstschrift teilweise Richard-WagnerNational-Archiv Bayreuth, teils verschollen Uraufführung im Rahmen der ersten Gesamtaufführung des Ring des Nibelungen im Bayreuther Festspielhaus 17. August 1876 Erstaufführung an der Wiener Hofoper 14. Februar 1879


Oliver Láng

ALLES ÜBERLEBENSGROSS BEHANDELT

»Mit der Götterdämmerung begann er, beschrieb die ganze Szenerie und spielte und sang dazu zuerst den Hagen, Hagens Hochzeitsruf, Gutrune, die Rheintochter, dann ganz erschütternd Siegfrieds Tod und zum Schluss mit unsagbarem Ausdruck die bis ins Innerste ergreifende Trauermusik. Der Eindruck lässt sich nicht in Worte fassen; es existiert nichts, was man damit vergleichen könnte. Es ist alles überlebensgroß gedacht und behandelt, neben der größten Kraft die wunderbarste zarteste Schönheit.« So erinnerte sich Gustav Adolph Kietz an einen Götterdämmerung-Vortrag Wagners, und schon aus diesen wenigen Worten ist das begeisterte Erstaunen, das der große vierte Teil des Ring des Nibelungen noch vor seiner Uraufführung mit sich brachte, zu erahnen. Mit der Vollendung des Werkes war das bis dahin größte Musiktheaterwerk geboren, nicht nur in seiner musikalischen, sondern auch szenischen, vor allem aber gedanklichen Fülle ein absolutes Unikum. OLI V ER LÁ NG


Eine Rekapitulation Die Tetralogie, deren Abschluss eben mit der Götterdämmerung erreicht war, beschäftigte Richard Wagner rund ein Vierteljahrhundert. Aus dem Geiste des Revolutionsjahrs 1848 geboren, verfasste er – nach Annäherungen an andere Stoffkreise wie ein Jesus von Nazareth-Drama – schließlich die Dichtung Siegfrieds Tod, die er später in Götterdämmerung umbenennen sollte. Doch Richard Wagner erkannte, dass dem so nicht genug sei und die komplexe Handlung samt mythologischem Umfeld sich nicht ohne Weiteres erschlossen – und so schuf er in der Erzählung rückwärtsgehend, gleichsam also im Krebsgang, die drei weiteren Teile: Siegfried, Die Walküre und Das Rheingold. Die Vertonung des so geschaffenen umfangreichen Librettos, die ihn spätestens ab 1853 beschäftigte, entstand im Gegensatz zur Dichtung in der »richtigen« Reihenfolge, also vom Rheingold aufwärts. Mitten im Siegfried, dem dritten Teil, kam es zur berühmt-berüchtigten Unterbrechung: Richard Wagner ließ die Kompositionsarbeit am Ring des Nibelungen ruhen und arbeitete an der Pariser Fassung des Tannhäuser als auch an Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg. Erst Mitte der 60er Jahre kam es endlich zur Fortsetzung der Vertonung und schließlich im Jahr 1874 zur Fertigstellung des gewaltigen Musiktheaterwerks.

Wandlungen im Schaffensprozess Nicht vergessen darf man bei dieser langgestreckten Behandlung des Themas freilich, dass sich nicht nur die Zeit änderte, sondern auch der Komponist. 25 Jahre sind eine lange Zeit – und gerade in einem so bewegten Leben, wie jenem Richard Wagners, schlug sich diese Dauer besonders deutlich nieder. Der ehemalige Sozialrevolutionär hatte nicht nur Arthur Schopenhauer und sein Werk kennengelernt (was sich merklich in der Wotan-Figur widerspiegelt), sondern war inzwischen auch eine anerkannte, von König Ludwig II. begünstigte Persönlichkeit: Von gesellschaftlichem Umsturz also keine Rede mehr.

Vielgesichtiges Finale Das Finale der Götterdämmerung hatte Wagner mehrfach verändert: Es existieren einige klar voneinander unterscheidbare Text-Fassungen sowie zwei Kompositionen: eine »offizielle« und eine für Ludwig II. angefertigte. Zweitere enthält jene bekannten Schlussverse Brünnhildes, die der Komponist zuletzt strich: »… Nicht Gut, nicht Gold / noch göttliche Pracht / nicht Haus nicht Hof / noch herrischer Prunk: / nicht trüber Verträge / trügender Bund / 145

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noch heuchelnder Sitte / hartes Gesetz: / selig in Lust und Leid / lässt – die Liebe nur sein!« Schimmert hier, wie George Bernard Shaw es in seinem Brevier Der vollkommene Wagnerianer formulierte, noch so etwas wie ein revolutionärer, sozialer Hintergrund durch, so verzichtete Wagner in der eigentlichen endgültigen Fassung auf diese nochmalige Hervorhebung der Liebe als Zielpunkt. Denn er erkannte, dass sich diese dem Zuhörer ohnedies und ohne weitere Akzentuierung erschloss.

Das Ende wird entfaltet Schon im Vorspiel, in der Nornenszene, wird das Ende nicht nur angekündigt, sondern als unausweichlich beschrieben. Die Weltesche, aus der Wotan seinen Vertrags-Speer geschnitten hat, verdorrt, der Untergang der WalhallZeit ist vorprogrammiert: Was sich in den folgenden drei Aufzügen ereignen wird, ist ein Entfalten des Endes der Gottheit. Doch auch Siegfried, der einzig Freie, fällt. Er unterliegt in letzter Konsequenz dem Fluch des Ringes, unterliegt der Intrige, die Hagen gegen ihn gesponnen hat. Für Richard Wagner ist dieses Sterben jedoch ohne Tragik, da Siegfried – bis zuletzt – nicht zum Bewusstsein seiner Lage kommt. Zuletzt ist es an Brünnhilde, durch ihre Selbstopferung den Ring von seinem Fluch zu reinigen und die Lösung, die Rückführung des Ringes an die Rheintöchter, herbeizuführen: Wenn man in ihrem Fall auch nicht von der expliziten Hauptfigur dieses Musiktheaterwerks sprechen kann, so hat Wagner auf diese Figur doch musikalisch besonders fokussiert.

In der Menschenwelt

← Eva Johansson als Brünnhilde, Götterdämmerung (2011)

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Mit diesem vierten Teil ist der Ring des Nibelungen in der Menschenwelt angekommen. Traf man bisher nur auf Hunding als den Vertreter der Menschen, so sind nun die Königsgeschwister Gunther und Gutrune, der gesamte Gibichungen-Hof – bis auf den von Alberich gezeugten Hagen – ganz und gar Mensch. Selbst Brünnhilde, einst Walküre, wird mehr und mehr menschlich, liebt und leidet menschlich, verrät menschlich. Wotan hingegen, der Mächtigste der Götter, hat in dem Werk keinen einzigen gesungenen Ton und ist nur noch indirekt präsent, die Götter schweigen unisono. Und es sind die Menschen, die den Weltenbrand überstehen. Wagners letzte Regieanmerkung dazu: »Aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle sehen die Männer und Frauen, in höchster Ergriffenheit, dem wachsenden Feuerscheine am Himmel zu.« Übrig bleibt die Liebe der Brünnhilde; an den Menschen wird es sein, der Weltgeschichte fortan einen anderen, vielleicht besseren Lauf zu geben …

A LLE S Ü BER LEBENSGROS S BEH A N DELT


Tobias Janz

TRAGÖDIE UND SPIEL

Zu Musik und Dramaturgie der Götterdämmerung


Mit dem Vorspiel zur Götterdämmerung, dem letzten Teil von Wagners Nibelungen-Projekt, schließt sich in mehrfacher Hinsicht der Kreis der verschlungenen Entstehungsgeschichte des Ring des Nibelungen. Im Oktober 1869 kehrte Wagner mit der Nornenszene zu einer Szene zurück, zu der er bereits im Herbst 1848 erste musikalische Skizzen notiert hatte. Bereits im frühesten Entwurf der späteren Götterdämmerung, im Drama Siegfrieds Tod, war die Nornenszene als Anfangsszene vorgesehen – eine Szene, die nicht nur mit ihrem unheimlichnächtlichen Szenario an die Szene der drei Hexen am Anfang von Shakespeares Macbeth erinnert. Diese Szene war es aber vor allem, die den Anlass zu jener umfangreichen, rückwärts die Vorgeschichte von Siegfrieds Tod entfaltenden Erweiterung der Tragödie um zwei weitere Dramen und ein Vorspiel lieferte. Die Nornenszene enthielt ursprünglich in episch geraffter Form, in kaum mehr als 50 Versen, die gesamte Handlung des späteren Rheingold, der Walküre und des Siegfried. Wagner war aber mit dieser Lösung unzufrieden, denn dem Dramatiker und Theaterpraktiker schien eine bloß epische Vergegenwärtigung der für ihn unverzichtbaren Vorgeschichte des Siegfried-Dramas, die die Verknüpfung der verwickelten Geschehnisse um Alberich, den Ring, Wotan, Fafner, Siegfried und Brünnhilde mit der Handlung um Siegfrieds Tod allein der Refle­xion des Publikums überlässt, nicht tragfähig. Die Vorgeschichte musste selbst dramatisch wirklich werden, da in Wagners Konzeption des Dramas nur die volle Entfaltung aller theatraler Dimensionen den Stoff an das Gefühl vermitteln und so ein tieferes Verstehen des tragischen Geschehens ermöglichen konnte. Für die Nornenszene in der Dichtung der Götterdämmerung bedeutete die Erweiterung der Siegfried-Tragödie zur Tetralogie zunächst eine Entlastung, da hier nun nicht mehr die komplette Vorgeschichte erzählt, sondern lediglich andeutet wird, was in den vorangegangenen drei Teilen bereits szenisch dargestellt worden war. Der textdramaturgischen Entlastung steht aufseiten der Musik, wie insgesamt in der Götterdämmerung, nun allerdings ein immenses Anwachsen der musikalischen Stoffmengen gegenüber, denn Wagners Leitmotivtechnik bringt es mit sich, oder macht es möglich, dass im Schlussteil der Tetralogie ausgiebig Bezug auf Musik der drei vorangegangenen Teile genommen wird. Schon rein statistisch ist die Leitmotivzahl in der Götterdämmerung wesentlich höher als in den vorangegangenen Teilen des Zyklus. Das Schlussstück des Ring-Zyklus erreicht dadurch aber auch eine musikalisch-dramaturgische Dichte, die es als selbstständige Tragödie niemals hätte haben können. Die Götterdämmerung wurde gewissermaßen zu einem mit Erfahrung und Erinnerung vollgesogenen »Remake« des nicht realisierten Tragödienentwurfs von 1848, dem sich 25 Jahre Entstehungsgeschichte hörbar eingeschrieben haben. Was an der Musik der Götterdämmerung im Vergleich zu den anderen Teilen des Ring in diesem Zusammenhang auffällt, ist, dass die Musik des Ring mit der langen Entstehungsgeschichte der Tetralogie nun gewissermaßen alt geworden ist, und zwar nicht allein aufgrund von Veränderungen in Wagners Schreib 149

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weise; das Faszinierende ist vielmehr, wie es Wagner gelungen ist, seine nach den Erfahrungen mit Tristan und Isolde und den Meistersingern von Nürnberg gereifte Musiksprache dramaturgisch mit der immanenten Geschichtlichkeit der Ring-Erzählung zu verbinden, eine Tendenz, die sich bereits im Siegfried abzeichnet. Was aber noch im Schlussakt des Siegfried ungebrochen positiv und jugendlich klang, erscheint mit dem Öffnen des Vorhangs zur Nornenszene nun gealtert, wie eine Musik, die Patina angesetzt hat. Das Vorspiel beginnt mit denselben feierlichen Klängen – dem »Motiv der Weltbegrüßung« –, zu denen die aus ihrem Zauberschlaf erweckte Brünnhilde am Schluss des Siegfried Sonne, Licht und Tag angerufen hatte. Bereits diese fast wörtlich zitierten Klänge wirken in der Götterdämmerung jedoch anders. Wagner transponiert sie um einen Halbton von e-Moll nach es-Moll und ändert, wenn auch kaum hörbar, subtil ihren instrumentalen Aufbau. Ähnlich verwandelt erklingt im Anschluss daran die Musik des Rheingold-Vorspiels, auch diese harmonisch transponiert und im Klangaufbau modifiziert. Mit dem dritten Klangblock der instrumentalen Einleitung schwenkt die Musik dann vollends um in die ganz andere Sphäre der Götterdämmerung-Musik: Statt des leuch­tenden DurJubels der Parallelstelle hört man nun einen zwischen dunklen Tuben in der Tiefe und hell-bleichen Flöten in der Höhe gespreizten Klang, in den die con sordini spielenden hohen Streicher mit den von oben absinkenden Webe-Motiven der Nornen eintreten. Auch harmonisch ist die Stelle eingetrübt: kein reiner Dur-Dreiklang, sondern ein komplexer verminderter Septnonakkord, der unmerklich gleitend in den für Wagners letzte Werke charakteristischen halbverminderten Septakkord – den berühmten »Tristan-Akkord« – übergeht (interessanterweise auf genau denselben Tönen wie im Tristan-Vorspiel). Die konzentrierte instrumentale Einleitung der Nornenszene ist wie eine musikalische Chiffre für das komplexe Ganze der Götterdämmerung. Die Welt der Götterdämmerung ist nicht mehr die unschuldige Welt des Rheingold-Beginns, aber auch nicht mehr die Welt des hoffnungsfrohen Siegfried, nicht mehr heller Tag, sondern schwarze Nacht, nicht mehr die Welt Wotans und der Wälsungen, sondern die Welt Alberichs und seines Sohnes Hagen. Bereits der Beginn der Götterdämmerung ist vom pessimistischen Bild der in Walhall stumm auf ihr Ende wartenden Götter und Helden bestimmt. Vor diesem Bild, das szenisch nach Wagners Regieanweisung zwar erst ganz am Schluss im »Feuerschein am Himmel« sichtbar werden soll, das aber bereits in der Nornenszene und in der Waltraute-Erzählung im ersten Akt sprachlich-musikalisch aufgerufen wird, entfaltet Wagner nun das Spiel um die Intrigen, Lügen und Täuschungen, die schließlich zum hinterhältigen Mord an Siegfried führen werden. Das Besondere der musikalischen Dramaturgie der Götterdämmerung ist, dass sich in ihr auf diese Weise stets mehrere Schichten, oder Ebenen, der Handlung voneinander unterscheiden lassen: 1. die szenisch transzendente Ebene der Wotan-Erzählung mit dem Bild des schweigend auf sein und Walhalls Ende wartenden Gottes, 2. die auf der Bühne sichtbare menschliche TOBI AS JA NZ

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Ebene der Gibichungen-Handlung mit dem Geschehen um Siegfrieds Tod, und 3. die Ebene der Vorgeschichte der drei Dramen Rheingold, Walküre und Siegfried, die durch musikalisch-dramatische Rekapitulationen immer wieder in die Dramaturgie der Götterdämmerung hereingeholt wird. Zusammen und mit vielen Querverbindungen konstituieren diese Ebenen eine zwar hochgradig komplizierte, dramatisch aber dennoch erstaunlich gut funktionierende theatrale Architektur. Paul Bekker hat an Wagners späten Werken ihren Spielcharakter hervorgehoben. Seit den Meistersingern von Nürnberg beruhe Wagners Drama nicht mehr, wie noch zur Zeit von Oper und Drama und der Konzeption des Nibelungen-Zyklus, auf einem unmittelbaren und naturalistischen Gefühlsausdruck als tragendem Prinzip, Wagner hantiere mit seinen Figuren nun vielmehr wie mit Puppen, lasse sie wie hinter Masken agieren. An der Gibichungen-Handlung der Götterdämmerung ließe sich Bekkers These vom Spielcharakter besonders gut demonstrieren, denn der Charakter eines Spiels ist hier bereits in der Handlung angelegt. Die beteiligten Personen spielen im Stück selbst gewissermaßen Theater, sie schlüpfen in Rollen, hinter denen ihre wahren Absichten und das, was sie antreibt, verborgen bleibt: Hagen spielt sein intrigantes Spiel, bei dem er sowohl die Gibichungen Gunther und Gutrune als auch Siegfried und Brünnhilde über seine wirkliche Absicht, nämlich seinem Vater Alberich den Ring zu beschaffen, täuscht. Siegfried wird über weite Strecken des Stücks durch Wirkung des Vergessenstranks zu einer Marionette Hagens (der selbst wie eine Marionette Alberichs wirkt) und Gunthers, mit dem er zeitweilig sogar die Rolle tauscht und dann Brünnhilde als Gunther gegenübertritt. Auch Brünnhilde lässt sich als betrogene Geliebte in Hagens perfides Spiel einbinden und wird erst in der großen Schlussszene wieder zur Walküre, die den Willen ihres Vaters Wotan ausführt. Die Menschen werden in diesem Spiel zum Spielball von Kräften, die ihnen selbst nicht einsehbar sind, denen sie selbst aber willenlos ausgeliefert sind; die Götter auf der anderen Seite wissen um den verhängnisvollen Weltlauf, können selbst aber nicht mehr handelnd eingreifen – so könnte man die pessimistische Weltsicht der Götterdämmerung vielleicht zusammenfassen. Wagners Musik bringt den Schein- oder Spielcharakter der Gibichungen-Handlung auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Zunächst kann man in der Musik der Götterdämmerung wieder Konventionssplitter aus dem Bestand der Operngeschichte hören, die Wagners Musikdrama eigentlich schon ausgeschieden hatte. Die rüstig-ritterliche Musik zu Hagens ironischen Repliken im ersten Aufzug gehört dazu ebenso wie die jubelnde C-Dur-Musik zur Hochzeit Siegfrieds im zweiten Aufzug oder die Gutrune-Musik, bei der sich Pierre Boulez an Auber und die französische Grand opéra erinnert fühlte. Ein Opernrelikt mag auch das sogenannte »Rache-Terzett« Hagens, Gunthers und Brünnhildes im zweiten Akt sein, das einzige wirkliche Ensemblestück im Ring. 151

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Neben ironisch eingesetzten Versatzstücken aus dem Fundus der Operngeschichte prägt sich der Musik Spielcharakter in Formen einer extremen musikalischen Negativität aus, einer Negativität, die v.a. auf Techniken der Verfremdung und der Deformation beruht und die Musik stellenweise – besonders im zentralen zweiten Akt – für Wagner untypisch ins Ungeformt-Rohe und Brutale umschlagen lässt. Aus den vorangegangenen Teilen des Ring-Zyklus bekannte Musik wird dabei teils stark variiert und mit Störelementen versetzt – eine Tendenz, die man bereits am Übergang vom Vorspiel zur ersten Szene, von »Siegfrieds Rheinfahrt« zur Musik der Gibichungen bemerken kann, wo die heitere Rheintöchter-Musik zunehmend mit Elementen der Alberich-Hagen-Sphäre infiltriert wird und schließlich ganz in diese komplementäre Klangsphäre kippt. Musikalische Motive, die bereits im Rheingold mit der negativen Sphäre Alberichs und seines Fluches auf den Ring verbunden waren, werden von Verfremdung und Deformation nicht ausgenommen. Das Tarnhelm-Motiv verzerrt Wagner etwa zu dem seltsam schiefen Gebilde des Motivs des Zaubertrugs. Das Fluch-Motiv wird besonders im zweiten Akt gänzlich von seiner motivischen Gestalt gelöst und prägt als harmonische Farbe ganze dramaturgische Komplexe. Wagner nutzt dabei die im Fluch-Motiv bereits angelegte Idee eines »falschen C-Dur«, eines C-Dur-Dreiklangs, der sich als Vorhaltsbildung innerhalb eines auf dem Grundton Fis aufgebauten Klangs erweist – eine sprechende musikalische Formel für das Bild einer ungebrochenen Positivität, die sich als Trug, als falscher Schein erweist. Die in C-Dur stehende Hochzeits-Musik des zweiten Akts entfaltet diese Idee über viele Takte, indem auch diesem C-Dur immer wieder der Grundton Fis, die größtmögliche Distanz zum C innerhalb der Oktave, unterlegt wird, etwa als Bestandteil des Motivs des Rachebunds. Zu dem Spiel-Charakter der Musik der Gibichungen-Handlung gehört ferner, dass Wagner immer wieder das andere, das wahre Gesicht der Dinge, hinter den musikalischen Masken durchscheinen lässt. Die Leitmotivtechnik stellt hierzu die notwendigen dramaturgischen Mittel bereit, denn sie erlaubt es, ein musikalisches Gebilde mit einem dramaturgischen Doppelsinn auszustatten, die Musik also mehr oder etwas anderes »sagen« zu lassen als das, was auf der Bühne gesagt und getan wird. Wenn etwa am Anfang des ersten Aufzugs Hagen Gunther »geheimnisvoll zuwinkt« (»Brächte Siegfried die Braut dir heim …«) und die Musik dazu das Tarnhelm-Motiv in das Vergessenheitstrunk-Motiv übergehen lässt, sagt die Musik mehr, als in der szenischen Aktion, d.h. auch für Gunther, sicht- und hörbar wird, sie deutet dem Zuschauer nicht nur die verborgenen Absichten hinter Hagens Intrige an, sondern offenbart auch deren Verstrickung in das tragische Weltverhängnis. Ihr »wahres« Gesicht zeigt die Musik aber auch in den Momenten, in denen Hagen – neben Brünnhilde die eigentliche Hauptfigur der Götterdämmerung – allein auf der Bühne monologisierend die Handlung reflektiert und dabei dem Publikum, ähnlich wie Jago in Shakespeares Othello, seine eigentlichen Handlungsmotive offenbart. Der Monolog zwischen der zweiten und dritten TOBI AS JA NZ

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Szene des ersten Aktes ist einer dieser Momente. Weitere sind das Vorspiel zum zweiten Akt und der anschließende Dialog mit Alberich, in dem Alberich weniger ein Dialogpartner des nicht schlafenden, nicht wachenden Hagens ist, sondern mehr wie ein Dämon, wie eine innere Stimme erscheint. Dieser Beginn des zweiten Aufzugs ist harmonisch und mit dem von den tiefen Blechregistern (Tuben und Posaunen) und den unregelmäßigen Synkopen der Streicher getragenen Orchesterklang die wohl schwärzeste Musik, die Wagner je geschrieben hat. Nun gibt es in der Götterdämmerung neben der verfremdeten, uneigentlichen Musik der Gibichungen-Intrige und der düster-nächtlichen Musik des resignierten Wotan und seines Gegenspielers Alberich aber auch eine dritte Musik, eine Musik, zu der im Vorspiel die taghelle Musik der Siegfried- und Brünnhilde-Szene und das Orchesterzwischenspiel zum ersten Aufzug (»Siegfrieds Rheinfahrt«) zählen und denen gegen Ende des Dramas die heitere Szene mit Siegfried und den Rheintöchtern, der erhabene Trauermarsch nach Siegfrieds Tod und auf gewisse Weise auch der versöhnliche Schlussmonolog Brünnhildes gegenüberstehen. Diese Musik bildet einerseits den dramaturgischen Rahmen für das Spiel der Gibichungen-Handlung, das man insofern als »Spiel im Spiel« bezeichnen könnte, sie wirkt in ihrer ungebrochenen Positivität aber vor allem wie die Erinnerung an eine bessere Welt – nicht von ungefähr sind dies die einzigen Passagen in der Götterdämmerung, in denen Musik aus den übrigen Teilen des Ring weitgehend unverändert wiederholt wird. Fast schon melancholisch resümiert Wagner hier das utopische Potenzial, das sein Nibelungen-Projekt ursprünglich enthielt, das am Ende der langen Entstehungszeit aber immer mehr der Resignation gewichen ist. Über den Schluss der Götterdämmerung und über die Frage, ob der Ring nun schopenhauerisch-resignativ endet oder doch an der im ersten Entwurf vorgesehenen Idee einer Liebes-Befreiung der Menschheit im Sinne der Philosophie Ludwig Feuerbachs festhält, ist viel geschrieben worden. Wenn die Musik des großen Schlusstableaus die mehrschichtige Klang- und Motivarchitektur am Ende mit dem Motiv der Liebeserlösung krönt und dem einen sanften Plagalschluss folgen lässt, der den Verklärungsschluss am Ende von Tristan und Isolde in Erinnerung ruft, zeichnet die Musik aber mehr als der Text ein Bild der Versöhnung, in dem entweder, wie es viele Inszenierungen szenisch konkretisiert haben, der Keim eines neuen Anfangs verborgen scheint, oder aber zumindest doch ein tröstender Gedanke innewohnt – der tröstliche Gedanke einer Befreiung von allem Leiden im Enden der Welt.

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T R AGÖDIE U N D SPIEL




LIEBE ALS MENSCHLICHE HOFFNUNG

Sven-Eric Bechtolf im Gespräch mit Andreas Láng und Oliver Láng über Wagners Götterdämmerung


Gibt es in der Götterdämmerung eigentlich eine echte Zentralfigur? Zu Beginn hieß das Werk ja Siegfrieds Tod, doch ist Siegfried wirklich der alleinige Bezugspunkt? Ich denke das auch. Schließlich ist es Brünnhilde, die den Weg zur Menschwerdung fortsetzen muss. Sie entwickelt dabei eine immense Stärke, lernt immer mehr menschliche Leidenschaften und Abgründe kennen. Brünnhilde durchschreitet das Erdenleben, den dazugehörigen Lernprozess in sehr kurzer Zeit. Auf der anderen Seite spielt der nichtanwesende Wotan – er wird uns durch Waltraute mächtig in Erinnerung gebracht – eine große Rolle. Er taucht gedanklich sowohl in der Nornenszene als auch in der Waltrauten-Szene als auch am Schluss wieder auf.

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Interessanterweise sind es aber weder Brünnhilde noch Wotan, sondern es ist Alberich, der das Finale übersteht. Aber wir wissen eines: Alberich bleibt entmachtet. Spannend finde ich allerdings, dass das »Prinzip Alberich« bestehen bleibt. Der neue Mensch wird sich also auch damit auseinanderzusetzen haben, er fängt nicht bei Null an. Es bleibt die Liebe, aber es bleibt auch die Gier – und daraus resultiert die Versuchung. Wagner hat Alberich aber nicht noch einen letzten Auftritt gegeben, sondern lässt ihn verdämmern. Das »Sei treu, sei treu«, das Alberich zu seinem Sohn Hagen spricht, ist bereits ein nebelhaftes Verschwinden. Oder wie es bei Shakespeare heißen würde: Er hat seinen Umriss nicht mehr halten können in der neu aufdämmernden Zeit. Genau genommen ist Alberich in der Götterdämmerung ohnehin nur noch eine Schlaf- und Spukfigur.

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Und doch hat eigentlich Hagen mit »Zurück vom Ring!« das letzte Wort in der Götterdämmerung … Das hat auch einen rein dramaturgischen Grund. An dieser Stelle musste Wagner das Werk zu Ende bringen. Aber: der Ring ist noch nicht zurückgegeben, Hagen noch unbestraft. Was nun? Also schlug Wagner gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir sehen Hagen sterben, und die Rheintöchter bekommen den Ring.

SB

↑ Vorige Seiten: Szenenbild Götterdämmerung (2011)

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Warum bedarf es überhaupt der Ermordung Siegfrieds? Schließlich bietet er den Rheintöchtern den Ring zunächst ja an. SEB

Es stimmt, dramaturgisch ist diese Stelle etwas windschief, aber dennoch mag ich sie: Die Rheintöchter lehnen den Ring ab, weil SV EN-ER IC BECH TOLF Ü BER WAGN ERS »GÖT T ER DÄ M MERU NG«


sie, wie alle anständigen Götter, die Einsicht des Helden brauchen. Wenn er diese nicht hat, ist für sie bzw. für ihn die Rückgabe offenbar wertlos. Eine ähnlich oft diskutierte Frage ist, warum Brünnhilde Siegfried im Vorspiel ziehen lässt? Sie lässt ihn nicht nur ziehen, sie stattet ihn sogar mit ihren offensichtlich noch vorhandenen Restkräften – die ihr von Rechtswegen gar nicht mehr zur Verfügung stehen dürften – aus. Brünnhilde nimmt nämlich an, dass Siegfried noch seine Aufgabe, die Wotan ihm gegeben hat, erfüllen muss. Dann wird sie immer mehr Mensch, und zwar so sehr Mensch, dass sie ihn – was oft übersehen wird – verrät, an seinem Tod teilnimmt und lügt. Nur ein einziges Mal in dem gesamten Ring lügt Brünnhilde, indem sie sagt: »Er zwang mir Lust und Liebe ab.« Dazu gibt es im Orchester ein ganz boshaftes Tremolo, ein Element, das sonst bei Brünnhilde nie auftaucht.

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Die Götterdämmerung ist aber auch großes Wirkungstheater. Wie setzt sich dieses zusammen? Ist etwa der kathartische Schluss allein aus dem harmonischen Gefüge erklärbar? Wagner hat den Ring nach meiner Meinung nicht für die Bühne geschrieben, sondern für sein Kopftheater. Er hat die Augen zugemacht und ein Theater erlebt, das einfach alles kann. Wenn wir den Film, den Wagner im Kopf hatte, sehen und dazu die Musik hören würden, dann hätte er vielleicht wirklich das erreicht, was er wollte: Katharsis. Wie Safranski das einmal sehr klug geschrieben hat: Sowohl Nietzsche als auch Wagner erkannten, dass man dem gottlosen Menschen – der ja erwünscht war – einen mythologischen Hintergrund geben müsse. Der Mensch braucht ein Bezugssystem, eine Abbreviatur, und jeder intellektuell-ideologische Überzeugungssatz ist ja in seiner Ausschließlichkeit ohnehin von substituthaft-religiöser Inbrunst durchtränkt. Wagner benutzt diese Sehnsucht nach Gewissheiten. Selbst der Atheist darf bei ihm in Ewigkeitsschauern schwelgen. Im Grunde formuliert er im Ring eine Hypothese: Nehmen wir einmal an, es wäre so gewesen, dann könnten wir die einzelnen Elemente, die unser Dasein ausmachen, hier sehr deutlich sehen – in riesenhafter und damit kenntlich machender Vergrößerung. Wagner schafft also sogar die Götter nach seinem Bilde.

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→ KS Nina Stemme als Brünnhilde, Götterdämmerung (2022)

LIEBE A LS MENSCHLICHE HOFFN U NG

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Brünnhilde → Götterdämmerung

An Brünnhildes Felsen fahrt vorbei! Der dort noch lodert, weiset Loge nach Walhall! Denn der Götter Ende dämmert nun auf. So werf’ ich den Brand in Walhalls prangende Burg.


Konrad Paul Liessmann

DER WELTENBRAND Richard Wagner und die Philosophie des Untergangs

Eine Welt bricht zusammen. Das Verhängnis, dem die Götter und Menschen in Richard Wagners Ring des Nibelungen unterliegen, ist unausweichlich. Aus den Verstrickungen von Gier, Liebe und Verrat gibt es keinen Ausweg, die Götter sind wie die Menschen einem unerbittlichen Schicksal ausgeliefert, aus dem es kein Entrinnen gibt. Alle Versuche, dieses Schicksal durch die Kraft eines Helden zu bannen, der stark und naiv genug ist, um das Ränkespiel der Götter und ihrer Widersacher zu durchbrechen, müssen scheitern. Den Grundgedanken seiner Ring-Tetralogie hatte Richard Wagner aus der germanischen Sagenwelt entlehnt. Auch wenn seine Deutung von »Ragnarök«, dem Endkampf der Götter und Riesen, als »Götterdämmerung« nicht ganz korrekt ist und man diesen Begriff eher mit »Schicksal der Götter« übersetzen könnte, passt das Bild der Götterdämmerung durchaus in die Stimmung der Zeit, und dies in doppelter Hinsicht. Wagner, der in seiner Jugend begeistert die Schriften von Ludwig Feuerbach gelesen hatte, verarbeitete gleichsam dessen Kernthese, dass die Götter als Imaginationen des Menschen in einer aufgeklärten Welt dem Untergang geweiht seien. Tatsächlich hatte Wagner auch einen Schluss der Götterdämmerung konzipiert, der diesen Aspekt deutlich hervorheben sollte. Zum anderen aber war das 19. Jahrhundert, nicht zuletzt als Reaktion auf das Scheitern der Revolution von 1848, an der auch Wagner lebhaften Anteil genommen hatte, von einem tiefen Geschichtspessimismus durchzogen. Autoren wie Arthur Schopenhauer, der Wagners Denken nach 161

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haltig beeinflusste, oder Friedrich Nietzsche, der Wagner zeitlebens in einer schicksalsschweren Hassliebe verbunden war, gehörten ebenso zu den Vertretern dieses Pessimismus wie letztlich Oswald Spengler, dessen Untergang des Abendlandes am Beginn des 20. Jahrhunderts sprichwörtlich geworden ist. All diesen »Dithyrambikern des Untergangs«, wie sie der Philosoph Michael Pauen genannt hat, war eines gemeinsam: der mitunter lustvoll beschworene und künstlerisch inszenierte Glaube, dass Kulturen, ja, vielleicht die menschliche Zivilisation überhaupt, mit Notwendigkeit verfallen und an ein Ende kommen müsse. Dass nicht nur einzelne Städte oder Reiche, sondern die Geschichte der Menschen schlechthin ein womöglich nahes Ende haben werde, ist allerdings ein uralter, letztlich wohl originär christlicher Gedanke. Die Apokalypse des Johannes konnte und wurde auch immer als eine Prophezeiung interpretiert, die auf ein Ende der bisherigen Geschichte verwies, das allerdings als Voraussetzung für das große und letzte Gericht gedacht war, nach dem erst die eigentliche Gottesherrschaft beginnen kann. In mannigfacher Form hat sich diese Doppelbedeutung apokalyptischen Denkens auch in seinen säkularisierten Varianten gehalten. Der Untergang firmiert dabei allerdings als Bedingung der Möglichkeit des Neuen, und vor allem Revolutionäre, denen man bis heute gerne ein utopisches Denken und den Mut zur Zukunft konstatiert, mussten deshalb auch immer veritable Propagandisten des Untergangs sein. Das Alte muss verschwinden, damit sich endlich die bessere Welt etablieren kann. Der radikale Bruch in der Geschichte, die Zäsur, die eine Epoche zum Verschwinden bringt, Armageddon, die letzte Schlacht, die es zu schlagen gilt, um etwas radikal anderes daraus zu entbinden, ist eine Gedanken­figur, die implizit eine Philosophie des Untergangs enthalten muss. Eine philosophiehistorisch als »pessimistisch« gekennzeichnete Philosophie verdankt sich allerdings vorrangig der Einsicht einer naturwissenschaftlich geprägten Moderne, dass nicht nur der einzelne Mensch, sondern Leben schlechthin den Bedingungen der Endlichkeit und Kontingenz unterliegt. Die Vorstellung, dass menschliches Leben und damit Geschichte aus kosmischer Perspektive eine vollkommen unbedeutende und höchst flüchtige Episode darstellen, deren Ende unausweichlich ist, speist sich nicht mehr aus der Lust an einem Jüngsten Gericht, sondern entspringt dem neuen, durch das wissenschaftliche Weltbild möglich gewordenen nihilistischen Heroismus, der diesem Befund ins Auge blicken will. Erste und höchst folgenreiche Bilder für diese Konstellation hat Arthur Schopenhauer entworfen, dessen grundierender Einfluss nicht nur Richard Wagner, sondern auf alle weiteren Denker des Untergangs unübersehbar ist. In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung hat Schopenhauer das Leben als eine vergebliche Anstrengung, gegen das Leid anzukämpfen, begriffen. Die kurze Spanne bewussten Lebens ist von einer fundamentalen Spannung gekennzeichnet: Den grenzenlosen Wünschen und unerschöpflichen Ansprüchen an das Leben steht die Einsicht entgegen, dass alles im KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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Leben kundgibt, dass »das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden.« Die entscheidende und erste Erscheinungsform dieser Nichtigkeit des Daseins ist für Schopenhauer die Zeit. Zeit wird dabei nicht als Veränderung oder als Bewegung aufgefasst, auch nicht, wie im modernen Sinn, als Beschleunigung, sondern primär als Vergänglichkeit: »Denn zuletzt verkündet die Zeit den Urteilsspruch der Natur über den Wert aller in ihr erscheinenden Wesen, indem sie sie vernichtet.« Das Zugrundegehen ist der einzige Wert des Lebens, der gleichzeitig den Willen zum Leben immer schon konterkariert. Das, was ist, kann nicht bleiben. Jedes Sein, jedes Leben ist schon mit dem Hauch der Vernichtung, des Todes behaftet, ohne Aussicht auf Erlösung im Leben: »Die Wahrheit ist: wir sollen elend sein und sind’s.« Wie sehr Schopenhauers Denken der Nichtigkeit des Daseins das kulturelle Klima einer Epoche zu färben verstand, lässt sich vielleicht am besten an seinem späten Verehrer Richard Wagner demonstrieren, dessen Götterdämmerung noch Oswald Spengler das Stichwort für den Untergang des Abendlandes geben wird. An Wagners Ring des Nibelungen lässt sich überdies auch einiges über den sublimen Zusammenhang eines revolutionären Überwindungspathos und eines radikalen geschichtsphilosophischen Pessimismus in nuce erfahren. Die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, zu der ihm übrigens der ehemalige Revolutionsdichter Georg Herwegh, mit dem Wagner in den Zürcher Jahren befreundet war, geraten hatte, wurde im Rückblick von Wagner selbst geradezu zu einem Erweckungserlebnis stilisiert. Hatte Wagner ursprünglich noch mit dem von Feuerbach inspirierten Gedanken kokettiert, den Zyklus von Verrat und Gewalt durch die Macht der Liebe zu durchbrechen, so verändert er unter dem Einfluss der Lektüre Schopenhauers die Konzeption des Rings und unterwirft dessen finales Geschehen den unerbittlichen Gesetzen eines Untergangsmythos. Das Siegfried zugedachte Erlösungswerk muss scheitern, der auskomponierte Schluss der Götterdämmerung lässt die Welt zusammenkrachen, alles sinkt zurück in Natur. Die Wahrheit lag nicht bei Siegfried, sondern bei dem düsteren Hagen, der diese Logik des Untergangs erkennt, bejaht und vollstreckt. Die Götterdämmerung wird in eine unausweichliche, schicksalhaft sich vollziehende Menschen-, ja, Menschheitsdämmerung transformiert. Friedrich Nietzsche hat in seiner zu Lebzeiten nie veröffentlichten frühen Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn für diesen Vorgang ein einprägsames Bild gefunden: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben.« Man fühlt sich unwillkürlich an Wagners Tetralogie erinnert: Aus den Tiefen der Natur gelangen Wesen für einen Moment ins helle Licht eines tragischen Bewusstseins, um dann, verglimmend, in diese Natur 163

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zurückzusinken. An anderer Stelle hat Nietzsche diesem Gedanken eine weitaus nüchternere Fassung verliehen: »Unsre Naturwissenschaft geht auf den Untergang, im Ziele der Erkenntnis, hin. Unsre historische Bildung auf den Tod jeder Kultur.« Allerdings: Der junge Nietzsche hatte noch auf einen Ausweg gehofft, auf dem später ihm viele gefolgt waren. In der ersten der Cosima Wagner zum Jahreswechsel 1872/73 zugeeigneten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern hat Nietzsche festgehalten: »Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung.« Die lebensdienlichen Illusionen der Kunst sollen den Menschen vor jenem Zusammenbruch schützen, den ein nüchterner, naturwissenschaftlich grundierter Blick auf den notwendigen Untergang planetarischen Lebens nachziehen würde. Die Kunst, in ihrer tragisch-dionysischen Gestalt, bekommt eine doppelte Funktion: Sie erlaubt die Antizipation des Untergangs und stellt selbst dessen Überwindung dar. »Denn nur als ästhetisches Phänomen«, so hatte Nietzsche mit Seitenblick auf Wagner geschrieben, »ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« – einschließlich ihres Untergangs. Eine äußerst wirkmächtige Philosophie des Untergangs aus dem Geiste der Götterdämmerung stellt dann Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes dar. Das Buch war gegen Ende des Ersten Weltkriegs erschienen, wurde eines der erfolgreichsten und meistdiskutierten Bücher der Zwischenkriegszeit und schien die geistige Atmosphäre des besiegten und demoralisierten Deutschlands zu spiegeln. Diese einfache These hält einer genaueren Überprüfung allerdings nicht stand. Die Erfolgsgeschichte dieses Buches ist eigentlich bis heute ein Rätsel. Wohl ist der plakative Titel zu einem Schlagwort geworden, aber dieses stellt nicht verkürzt die Grundidee Spenglers dar, sondern verkehrt sie geradezu in ihr Gegenteil. Spengler, der bis zuletzt an einen Sieg des deutschen Kaiserreiches geglaubt hatte, wollte weniger einer diffusen Untergangsstimmung Raum geben, sondern es war ihm um die ausufernde Explikation einer geschichtsphilosophischen These gegangen: Dass alle Kulturen, ähnlich dem Geschehen in der organischen Natur, dem Gesetz des Entstehens, Reifens, Niedergangs und Vergehens unterworfen sind. Hinter diesen Gesetzen der Kulturen wirken allerdings bei Spengler unterschiedliche kollektive »Seelen«, differente Grundprinzipien, die zu je unterschiedlichen Ausprägungen von Aufstieg und Verfall führen. Spengler, inspiriert von Nietzsche, unterscheidet die apollinische, die faustische und die magische Seele. Ist die erste bestimmend für die griechische Kultur, die letztere für die arabisch-islamische, so prägt die faustische Seele die abendländische Kultur. Diese selbst aber hat, einzigartig, eine besondere Affinität zu ihrem eigenen Untergang: Die Idee der Götterdämmerung! Der Mythos von Ragnarök ist für Spengler ein einzigartiger »Ausdruck und Symbol der faustischen und keiner andren Seele«. Und Spengler erläutert: »Die olympische Götterwelt ist geschichtslos. Sie kennt kein Werden, keine Epoche, kein Ziel. Faustisch aber ist der leidenschaftliche Zug in die Ferne. Das Weltende als Vollendung einer KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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innerlich notwendigen Entwicklung – das ist die Götterdämmerung; das bedeutet also, als letzte, als irreligiöse Fassung des Mythos, die Lehre von der Entropie.« Der Eintritt in das Stadium der Zivilisation hat sein Pendant im Erschlaffen der Kunst. Wohl ist bei Spengler die Dekadenz ein notwendiges Zerfallsprodukt jeder Kultur, aber sie äußert sich in erster Linie im Ermatten der Künste. Und auch hier ist Richard Wagner das entscheidende Indiz. Auch Spengler sieht in der frühesten Fassung von Wagners Ring-Dichtung noch eine sozialrevolutionäre Idee am Werk, dann aber wird Wagner – wohl ohne es zu wissen – »Darwinist«, und Spengler interpretiert den dritten Akt des Siegfried und den Tristan ziemlich gehässig als »Musik zur geschlechtlichen Zuchtwahl«. Insgesamt aber gilt: »Im Tristan stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der riesenhafte Schlussstein der abendländischen Musik.« Wagners Musik, die der faustischen Seele ihr Stichwort gab, markiert auch deren Vollendung und Ende. Die Philosophie des Untergangs erweist sich so, obwohl in der Nachfolge von Schopenhauer, in einem entscheidenden Punkt als eine Abkehr von diesem: Sie wird, seit Wagner und Nietzsche, zu einem Hauptstück der Ästhetik. Der Trauermarsch aus der Götterdämmerung gab den Takt vor, in dem man den Gang der Weltgeschichte zu hören glaubte. Es ist alles andere als ein Zufall, wenn der Philosoph Manfred Schröter seine immer noch lesenswerte SpenglerStudie mit dem Schlussbild der Nibelungen-Tragödie ausklingen ließ und dabei die Figur Hagens ins Zentrum rückt: »Kein andres Volk hat je ein tieferes, verräterisches Sinnbild seines Wesens und des eigenen Loses sich geschaffen als diese dämonische Gestalt sinnloser Überkraft und finsterer Gewalt, für andere und für sich selbst zerstörend, fluchbeladen und verhasst. In Trümmern, Blut und Todesschweigen des Vernichtungsbrandes endet das Lied der Sage.« Und Schröter setzt, zwei Jahre nach der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands, hinzu: »Wir haben es auch in der Wirklichkeit erlebt.« Mit dem Doppelbild des Untergangs aus Der Nibelungen Not und Richard Wagners Götterdämmerung hat Schröter so die Einbettung der deutschen Geschichte in einen Mythos fortgeschrieben, den die Historiographie unserer Tage gerne auch dem Selbstverständnis der Eliten des »Dritten Reiches« unterstellen möchte. Schon Joachim Fest hatte es sich nicht entgehen lassen, in seiner Hitler-Biographie das Kapitel über die letzten Tage des Diktators »Götterdämmerung« zu nennen. Der auf Basis dieses Kapitels entstandene, umstrittene Spielfilm von Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel trägt dann auch den Titel Der Untergang. Aber auch Ian Kershaw, der wohl bedeutendste Hitler-Biograph, schreibt über Hitlers geistige Verfassung in seinen letzten Tagen: »(Hitlers) Denken ließ als Alternative zur Durchsetzung seines Willens nur die Drohung mit der Selbstzerstörung zu. Auf diese Weise kündigte sich indirekt ein Ende im Stil von Richard Wagner an. Um keinen Preis würde es eine Kapitulation geben, sogar wenn das bedeutete, Walhalla zu vernichten.« Nirgendwo zeigt sich die Wirkmächtigkeit der Bilder der Götterdämmerung 165

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vielleicht stärker als in solchen Kontinuitäten. Die Visionen des Unheils sind von dieser Mächtigkeit in einem ähnlichen Maße immer schon affiziert wie auch der nachträgliche Blick auf den Untergang selbst. Nach diesem aber ging es weiter. Der gleichsam aus dem Naturgeschehen selbst abgeleitete Untergang der Kultur lässt ebenso auf sich warten wie die große Entscheidungsschlacht, nach der alles anders werden sollte.

→ Eric Halfvarson als Hagen und KS Stephen Gould als Siegfried, Götterdämmerung (2011)

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Impressum Richard Wagner DER RING DES NIBELUNGEN Spielzeit 2022/23 (Premieren der einzelnen Produktionen von Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried, Götterdämmerung: 2007-2009) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Oliver Láng, Andreas Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Robert Kainzmayer Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Handlung, in: Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried, Götterdämmerung: Programmhefte der Wiener Staatsoper, 2007-2009 (Übersetzung: Andrew Smith transtext) – Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Die Welt im musikalischen Modell: Kompilation aus Gesprächen mit Franz Welser-Möst zwischen 2007 und 2023 – Judith Staudinger: Was ist Musikdrama – Joachim Reiber: Mehr Dichter als Musiker (Übernahme aus dem Die Walküre-Programmheft der Wiener Staatsoper 2007) – Oliver Láng: Der lange Weg zum Ring (Übernahme aus dem Die Walküre-Programmheft der Wiener Staatsoper 2007) – Andreas Láng: Woher kommen die Personen im Ring (Übernahme aus den Rheingold-, Walküre-, Siegfried- und Götterdämmerung-Programmheften der Wiener Staatsoper 2007-2009) – Peter Blaha: Der Ring des Nibelungen im Haus am Ring (Übernahme aus dem Nachdruck der Vorschau zur Neuproduktion des Ring des Nibelungen 2007-2009, Wiener Staatsoper, 2007) – Peter Lewisch: Der Ring des Nibelungen in heutiger strafrechtlicher Sicht (Übernahme aus dem Siegfried-Programmheft der Wiener Staatsoper 2008) – Tobias Janz: Am Nullpunkt der musikalischen Moderne (Übernahme aus dem Das Rheingold-Programmheft der Wiener Staatsoper 2009) – Konrad Paul Liessmann: Alberichs Fluch (Übernahme aus dem Das Rheingold-Programmheft der Wiener Staatsoper 2009) – Sven-Eric Bechtolf, in: Sven-Eric Bechtolf, Vorabend, Haymon-Verlag – Andreas Láng: Anmerkungen zur Walküre (Übernahme aus dem Die Walküre-Programmheft der Wiener Staatsoper 2007) – Tobias Janz: Klangdramaturgie und Leitmotivgewebe (Übernahme aus dem Die Walküre-Programmheft der Wiener Staatsoper 2007) – »Den Ring muss man träumen«: 11 Fragen an Regisseur Sven-Eric Bechtolf (Übernahme aus dem Die Walküre-Programmheft der Wiener Staatsoper 2007) – »Vor diesem Menschen muss alle Götterpracht erbleichen« (Übernahme aus dem Siegfried-Programmheft der Wiener Staatsoper 2008) – Tobias Janz: Zur musikalischen Dramaturgie des Siegfried « (Übernahme aus dem Siegfried-Programm-

heft der Wiener Staatsoper 2008) – Sven-Eric Bechtolf: Beim Träumen machen wir keine Fehler (Übernahme aus dem Siegfried-Programmheft der Wiener Staatsoper 2008) – Konrad Paul Liessmann: Der ruchlose Optimist (Übernahme aus dem Siegfried-Programmheft der Wiener Staatsoper 2008) – Oliver Láng: Alles überlebensgroß behandelt (Übernahme aus dem Götterdämmerung-Programmheft der Wiener Staatsoper 2008) – Tobias Janz: Tragödie und Spiel (Übernahme aus dem Götterdämmerung-Programmheft der Wiener Staatsoper 2008) – Liebe als menschliche Hoffnung: Gespräch mit Regisseur Sven-Eric Bechtolf (Übernahme aus dem Götterdämmerung-Programmheft der Wiener Staatsoper 2008) – Konrad Paul Liessmann: Der Weltenbrand (Übernahme aus dem GötterdämmerungProgrammheft der Wiener Staatsoper 2008) BILDNACHWEISE COVERBILD Reuben Wu SZENENBILDER Seite 2, 3, 14-16, 45, 56, 63, 68, 73, 81, 98, 99, 111, 118, 119, 134, 146, 154, 155, 159, 167: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 25: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


ERDA

WOTAN

FRICKA

DIE 3 NORNEN GERHILDE

Walküren

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TIERE

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GRIMGERDE

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ROSSWEISSE

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SIEGRUNE

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8 PFERDE ... GIBICH

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