Kurzvorschau – Der Picasso-Zwilling

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Impressum

Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und vom Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

1. Auflage

© 2024 Weber Verlag AG, 3645 Thun / Gwatt

Texte und Gestaltung Cover: Bernhard Grimm

Weber Verlag AG:

Leitung / Konzept: Annette Weber-Hadorn

Lektorat: Alain Diezig

Satz: Bettina Ogi

Korrektorat: Lena Kissóczy

ISBN 978-3-03818-545-1

www.weberverlag.ch

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

neutral Drucksache No. 01-12-409142 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

Widmung

Meiner Frau und meinen beiden Kindern, die mich in all meinen Schreibphasen ertragen, begleitet und unterstützt haben.

Prolog

Der Schuss war ebenso lautlos wie schmerzlos. Der Schütze hatte keine Probleme gehabt, sich bis auf ein paar Schritte dem Haus zu nähern. Die offene Terrassentür hatte ihm seine Aufgabe zusätzlich erleichtert, brauchte er doch so kein zerborstenes Glas wegzuräumen. Und wenn, würde dies ohnehin seinem Partner obliegen. Ebenso, die persönlichen Utensilien der Zielperson wie Kleidung, Geld, Notizen, Zahnbürste und anderes mehr, zu sichten.

Er beobachtete, wie sich die Zielperson mit der rechten Hand reflexartig an ihren Nacken griff, als sie den leichten Stich des kleinen Pfeils verspürte. Eine verständliche Reaktion, dachte er und musste dabei lächeln. Er war immer wieder angetan von der Zuverlässigkeit seines von ihm selber entwickelten Toxins. Auch wenn es seiner Zielperson gelungen wäre, den Pfeil umgehend herauszuziehen, so hätte doch das in ihm verborgene Gift bereits seine Wirkung entfaltet.

Es war unverkennbar, dass die Zielperson nicht verstand, was da gerade mit ihr geschah. Auch das eine durchaus gewollte Wirkung. Er schlenderte durch die Terrassentür, setzte sich gemütlich auf das einladende Sofa und beobachtete, wie sich die Zielperson anscheinend noch im Sinken an gewisse Dinge zu erinnern versuchte, in eine Art inneren Dialog verfiel, in dem zwischendurch noch so etwas wie eine Eingebung aufflackerte, um dann sanft, jedoch unaufhaltsam dem Boden zuzustreben. Mit einem letzten tiefen Seufzer tauchte sie, wie er wusste, endgültig in einen Zustand absoluter Dunkelheit und vollkommener Ruhe. Die Arbeit konnte beginnen.

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Die Eternité ankerte einige Meilen südlich von Antibes in einer von zahlreichen schroffen Felsen umgebenen und mit kleinen, wilden Sandzungen durchzogenen Bucht. Die Spätnachmittagssonne zog sich allmählich hinter die dicht bebauten Hügel des Estérel-Massivs zurück und tauchte die ganze Bucht in zarte, pastellene Töne, nachdem sie zuvor noch jeden einzelnen der tausend feinen Zacken der rotbraunen Felsen messerscharf konturiert und in ihrem gleissend klaren Licht hatte aufleuchten lassen.

Mit der untergehenden Sonne legte sich auch der Wind, der nun sanft und warm die Bucht umströmte. Das Meer war ruhig und alles war still. Vom Land her waren kaum Laute zu hören, da die Bucht weit ab von der Küstenstrasse lag, auf der sich, wie so oft um diese Zeit, die Autoschlangen zäh in beide Richtungen zu winden begannen. Es war – neben dem frühen Morgen – die schönste Tageszeit an der Côte. Die bellenden Speedboote, die tagsüber wie grosse, stumpfe Skalpelle das Meer aufgerissen hatten, lagen stumm in ihren Zwingern, ihre Spuren wie von heilender Hand verwischt.

Der heimische Mistral, der besonders in den Sommermonaten ein Befürworter der gleitenden Arbeitszeit war, schien auch heute etwas später in den Feierabend verschwinden zu wollen, sodass er vereinzelte Surfer mit seinen letzten Brisen dazu einlud, feine geometrische Figuren auf die silberblau glitzernde Oberfläche zu zeichnen.

Die beiden mächtigen, hochglanzpolierten Ankerwinschen setzten sich summend in Bewegung und holten mit langsamen und gleichmässig kraftvollen Umdrehungen ihre Anker Fuss um Fuss ein. Dumpf dröhnend schoben die zwei Schiffsmotoren die Eternité erst behutsam den Ankern entgegen und

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schliesslich aus der Bucht, vorbei an den Surfern in offenes Gewässer, um dann Kurs auf Antibes zu nehmen.

Mit ihren gut hundertsechzig Fuss Länge schaffte es die Eternité zwar längst nicht mehr in die Top 200 der grössten Yachten der Welt, doch es war ohnehin nicht ihre Grösse, sondern vielmehr ihre Form, ihre Art, ihre Linien, die sie zu einer der faszinierendsten Yachten des Mittelmeeres machten. Sie war 1929 gebaut und dann, als sie vor sieben Jahren den Besitzer wechselte, von den aktuellen Besitzern, vor allem was ihr Innenleben anbelangte, nach und nach mit viel Gespür für Dezentes und Schönes ganz im Zeichen der Art-Déco-Zeit ihrer Geburt restauriert worden. Sie hatte sich den Charme der Roaring Twenties auf wundersame Art bewahrt und schien, einem guten Wein gleich, mit jedem Jahr zu gewinnen. Sie war durch und durch britisch. Nicht nur, weil sie in einer englischen Werft vom Stapel gelaufen war. Mit ihrem schwungvoll hochgezogenen Bug, der in einem hölzernen Bugspriet seinen eleganten Abschluss fand, dem mächtigen, leicht nach hinten geneigten gelben Kamin mittschiffs und dem kokett ausladenden Rundheck galt sie als eine der schönsten noch existierenden sogenannten GentlemanYachten überhaupt.

Zwei einladende Korridore führten, ähnlich den Aussendecks eines alten Passagierdampfers, vom Heck längsseits steuerbord und backbord nach vorne zum Bug. Mehrere filigrane Stahlstreben gingen senkrecht nahtlos in die weisse Reling über und gaben der ohnehin schon äusserst eleganten Erscheinung so einen zusätzlichen Touch of Class.

Im Bug, gleich hinter den Ankerwinschen, war der Tender stationiert, ein wunderschön gepflegtes 24-Fuss-Holzboot der Marke Riva, das nur unwesentlich jünger war als die Eternité und mit Hilfe der beiden mächtigen Davits längsseits hydraulisch gewassert werden konnte.

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Nachdem die Eternité die Bucht verlassen hatte, nahm sie rasch Fahrt auf und die beiden MTU-Diesel brachten sie zuverlässig auf ihre Marschgeschwindigkeit von dreizehn Knoten. Majestätisch zog sie ihre breite Spur nordwärts um das Kap herum Richtung Heimathafen.

Alle Decks waren in Teak gearbeitet und auch sonst fanden edle Hölzer verschiedenster Provenienz auffallend viel Verwendung. So auch bei allen Aussentüren auf dem Hauptdeck. Die drei Türen steuerbord führten zum prächtigen Hauptsalon, zum Ess-Salon und zur ausladenden Lounge; Backbord erreichte man erst ein kleines Büro, das direkt über der geräumigen Küche lag und mit ihr durch zwei Speiseaufzüge verbunden war. Die zweite Tür gab den Zugang zur Treppe in den unteren Schiffsbereich frei. Diese wurde fast ausschliesslich von der Crew benutzt, da sie sich so ungesehen von den Gästen frei auf dem Schiff bewegen konnte. Im untersten Deck, wo auch die Crewmesse und die Unterkünfte der Mannschaft zu finden waren, gab es zahlreiche weitere Räume, in denen Güter und Waren für den täglichen Verzehr kühl, trocken oder anderweitig isoliert gelagert wurden.

Von einem Raum jedoch, der noch ein halbes Deck tiefer lag, und dessen Eingang perfekt getarnt war, wusste nicht einmal der Schiffseigner selbst.

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Alles schwarz. Er schien zu schweben. In seinem Schädel brummte und summte es, als wäre er zu einem Bienenstock mutiert. Alles um ihn herum vibrierte. Eine Kakophonie aus rollenden und stampfenden monotonen Geräuschwellen und spitz zischenden Akzenten. Sein ganzer Körper befand sich in Schwingung. Spitze, schmerzvolle Feuerblitze züngelten durch seinen Kopf und liessen ihn zusammenzucken. Er griff sich reflexartig an die Schläfen.

Er mochte nicht denken, wollte nicht denken, war zu müde und wollte zurück in den Schlaf. Er rollte sich instinktiv zusammen. Das Denken fiel ihm schwer. Seine Augen flackerten und er driftete zurück ins leere Nichts.

Ein Geräusch holte ihn jedoch sogleich zurück. Er musste husten. Sein Hals fühlte sich an wie von einer rauen Feile malträtiert. Durst! Er tastete ins Dunkel. Nichts. Doch! Eine Decke? Lag er auf einem Bett? Zumindest fühlte es sich so an. Weich, immerhin.

Er wollte die Augen öffnen, doch sie waren verklebt und wehrten sich hartnäckig. Er befeuchtete seine Zeigefinger mit Speichel oder dem, was sein trockener Mund herzugeben in der Lage war und begann vorsichtig, die Kruste Schicht für Schicht abzutragen. Erneut wagte er einen weiteren Versuch, öffnete langsam die Augen – und es blieb Nacht.

Tiefstes Schwarz umgab ihn. Unmittelbar begann der ganze Raum sich um ihn zu drehen. Blitzschnell schloss er die Augen und entzog sich so dem unheilvollen Sog, gerade so, als würde man die Fenster vor einem herannahenden Gewitter schliessen. Die schützende Wirkung stellte sich umgehend ein. Er spürte jetzt ganz deutlich, dass er lag. Liegen ist gut, dachte er. Liegen ist stabil. Und Stabilität gibt Sicherheit. Und jetzt?

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Noch wagte er nicht, die Augen erneut zu öffnen, also gab er sich der Situation hin und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Doch da war nichts, das es zu ordnen gäbe. Nichts! Nichts als zähflüssiges Schwarz. Schwarzes Schwarz. Schwarzes Schwarz? «Gibt es das überhaupt?», schoss es ihm durch den Kopf. Was für eine stupide Frage! Hatte er nichts Sinnvolleres zu tun, als sich dieser Frage hinzugeben? Wenn es ein schwarzes Schwarz gäbe, gäbe es dann auch ein weisses Weiss? Ja! Das gab es tatsächlich! Titanweiss. Titanweiss wurde dem deutschen Fälscher Beltracchi 2010 zum Verhängnis. Bei einem seiner gefälschten Werke – Rotes Bild mit Pferden von Camperdonk –konnte modernes Titanweiss nachgewiesen werden, das zu der angegebenen Entstehungszeit des Bildes von 1914 noch gar nicht existierte. Beltracchi nutzte entgegen seiner üblichen Vorgehensweise, die Farben selbst anzumischen, eine fertige Tube Zinkweiss, die Spuren von Titanweiss enthielt. So ein Narr!

Warum kam ihm das gerade jetzt in den Sinn? Und gerade das? Und in dieser Klarheit? Natürlich! Das Bild! Waren zuvor kaum wahrnehmbare Schleier von einem weit entfernten, unbekannten Horizont in sein Bewusstsein gedrungen, so führten ihn nun immer mehr Impulse auf den Weg zurück. Aus Farben formten sich erste Fragmente von Bildern. Aus Geräuschen erwuchs Sprache, einzelne Worte blitzen auf. Verschwommen, aber dennoch sichtbar. Noch gab es zu grosse Lücken. Noch immer schwirrten Schwadronen von Fragen in seinem Kopf umher. Wo war er? Was war geschehen? Wieso und überhaupt? Zumindest eines wusste er. Er war am Leben. Und das war etwas, das er summa summarum als doch relativ beruhigend empfand.

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Als Bert und Nika Monin die Eternité, die zu der Zeit noch einen anderen Namen trug, zum ersten Mal sahen, waren sie beide sofort in sie verliebt. Es war genau die Yacht, die sie sich damals auf der Hafenmauer von Antibes in ihren Träumen ausgemalt hatten.

Dass das alles tatsächlich einmal Wirklichkeit wurde, hatten sie einem ihrer zahlreichen Kurztrips an die Côte d’Azur vor fünfzehn Jahren zu verdanken, als sie aus einer Laune heraus in der pittoresken Altstadt von Antibes bei einer kleinen Lottoannahmestelle einen Schein ausgefüllt hatten – nicht ahnend, dass sie zwei Tage später, als sie sich bereits wieder auf dem Weg nach Hause ins holländische Waalre befanden, den zweitgrössten Gewinn in der Geschichte des französischen Zahlenlottos einstreichen würden. Hätten sie es nicht selber erlebt, so hätten sie einen solchen Plot wohl eher einem Rosamunde-Pilcher-Roman zugeschrieben.

Nach einem kurzen Abstecher ins Picasso-Museum hatten sie es sich mit einem knusprigen Pain Maison, der grösseren Schwester des Baguettes, etwas Käse, ein paar frischen Oliven und einer Flasche Rosé Côte de Provence auf der grossen Hafenmole bequem gemacht, die salzig-feuchte Luft eingeatmet und aufs Meer hinausschauend davon geträumt, wie es wohl wäre, auf einer dieser Megayachten, die ihnen dort zu Füssen lagen, zu leben. Und da Geld beim Träumen bekanntlich keine Rolle spielt, setzten sie noch einen obendrauf. Wenn schon eine Yacht – beschlossen sie – dann sollte es auch etwas ganz Besonderes sein. Und sie waren sich schnell einig, dass nur eine romantische Yacht in Frage kommen würde. Was den Namen anbelangte, so sollte es etwas sein, das ihre Liebe widerspiegeln würde.

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«Also tauften wir sie Eternité », sagte Nika und tupfte sich mit einem Taschentuch die leicht feuchte Partie unter ihren kastanienbraunen Augen trocken. «Jedes Mal, wenn ich diese Geschichte erzähle, muss ich heulen», ging sie mit sich selber ins Gericht. «Dabei ist das nun auch schon ein Weilchen her. Und zudem will ich doch heute Abend gut aussehen.»

«Ach komm, Nika, du siehst blendend aus.»

Stephanie schaute in den antiken goldgerahmten Spiegel und zwinkerte dem Spiegelbild der Eignerin schräg gegenüber bestätigend zu. Ihr knielanges, klassisch geschnittenes und leicht tailliertes, marineblaue Kleid war vorne mit sechs goldenen kleinen Kreuzknoten zugeknöpft. Es stand ihr perfekt. Ihre langen, von der mediterranen Sonne zu einem leuchtenden Hellblond aufgebleichten Haare hatte sie kunstvoll mit einem auf ihr Kleid abgestimmten provenzalischen Tuch hochgebunden, was ihren schlanken Hals und ihre runden, wohlgeformten Schultern besonders zur Geltung brachte.

Sie trug wenig Schmuck. Das feine goldene Halscollier sowie das passende Kettchen an ihrem linken Handgelenk waren eine Leihgabe Nikas, da sich Stephanie solchen Schmuck selbst nicht hätte leisten können. Elegant genug, um in der erlauchten Gesellschaft, in der sie sich heute Abend befinden würde, bestehen zu können, und dezent genug, um nicht zu sehr aufzufallen.

Sie schaute erneut in den Spiegel, streckte ihren Kopf leicht nach vorne und trug etwas Lipgloss nach. Stephanie machte sich nicht allzu viel aus Make-up und ihres bestand in erster Linie aus ihrem sonnengebräunten Teint sowie aus einem Hauch von Rouge. Doch das hier gehörte zu ihrem Job. Und solange sie selbst entscheiden konnte, wieviel und was sie auftragen wollte, war’s auch ganz okay. Ohnehin würde der ihr für die Auktion zugedachte Begleiter am heutigen Abend nur für eine Dame

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Augen haben, eine Lady, dachte sie amüsiert, gegen die sie ohnehin von Anfang an auf verlorenem Posten stehen würde. Doch in Anbetracht der äusserst lukrativen Entschädigung war ihr das mehr als recht.

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Ein dröhnendes Geräusch holte ihn unsanft zurück und krallte sich hartnäckig an seine Schläfen. Doch dann, nachdem er seine Gehirnzellen dazu bewegen konnte, gefälligst ihren Job wieder aufzunehmen, realisierte er nach und nach, dass das diffuse Brummen nicht aus seinem Kopf kam, sondern die Quelle ausserhalb seines Körpers liegen musste.

Stolz über seinen ersten Teilerfolg ging er der externen Quelle lauschend weiter auf den Grund. So undefinierbar dieses Geräusch auch war, glaubte er doch, diesen dumpfen Ton genau zu kennen. «Denk nach!», spornte er sich an. «Du kennst dieses Geräusch! Das hast du schon oft gehört. Reiss dich zusammen!» Er forschte tief in der Kiste seiner Erinnerungen, konnte aber das Brummen dennoch nicht zuordnen.

Doch dann glaubte er einen, wenn auch sehr schwachen, jedoch untrüglichen Geruch wahrzunehmen. Immer mehr buddelte sich dieser aus seinem Unterbewusstsein den Weg ins Hier und Jetzt, bis er sich plötzlich absolut sicher war. Ölig in der Basisnote mit opulenter Herznote und einer spitzen, leicht beissenden Kopfnote. Eindeutig: Dieselöl! Und das Dröhnen stammte von einem, nein, korrigierte er sich sogleich, von zwei Dieselmotoren. Starken Motoren. Mächtigen Motoren. Schiffsmotoren. Und zwar im Schiebemodus. Er war, er … ja es bestand kein Zweifel: Er befand sich auf einem Schiff!

Doch was um alles in der Welt hatte er auf einem Schiff zu suchen? Und wo um alles in der Welt befand sich dieses Schiff? Und überhaupt – welches Schiff? Doch nun prasselten, einem heftigen Sommergewitter gleich, tausend kleinste Gedächtnistropfen auf ihn herab und er griff sich schützend an den Kopf. Nach und nach begann sich der Sturm zu legen. Die dunklen Regenwolken verzogen sich und der Himmel klarte auf. Blau,

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dann hellblau. Immer heller und weisser. Titanweiss. Farben. Bilder. Das Bild! Aber natürlich!

Erneut wanderte er gedanklich zurück in der Zeit. Was war das Letzte, an das er sich erinnern konnte? Er sah sich in seinem Haus. Nein, er stand auf der Terrasse. Und da war dieses Geräusch. Genau! Ein Geräusch, das er von draussen wahrgenommen hatte, gerade als er ins Wohnzimmer gegangen war. Eine Art Zischen. Doch bevor er sich noch hatte umdrehen können, hatte er diesen stechenden Schmerz in seinem Nacken gespürt. Jetzt sah er sich förmlich noch einmal in seinem Wohnzimmer langsam zu Boden sinken.

Er schluckte aufgeregt. Der bittere Geschmack in seinem ausgetrockneten Mund und der stechende Schmerz im Hals holten ihn in jäh die Gegenwart zurück. Er versuchte, seine verklebten Augen zu öffnen, um sich nach etwas Trinkbarem umzusehen. Nachdem er sich wieder eine Zeit lang die Augen gerieben hatte, unternahm er einen weiteren Versuch.

Vorsichtig öffnete er die Augen. Nichts. Nur dunkles Schwarz. Immer noch. «Mann!», krächzte er genervt. Noch immer lag er auf dem Rücken. Würde er sehen können, würde er jetzt an die Decke starren. Vorsichtig rollte er die Augen hin und her. Das Resultat stimmte ihn positiv, das Karussell in seinem Kopf drehte sich in einem erträglichen Mass. Der Raum um ihn entpuppte sich als wesentlich stabiler als zuvor. Noch einmal schickte er seine Gedanken auf Wanderschaft. Er war auf seiner Terrasse, dann in seinem Wohnzimmer. Und dann … doch noch bevor er den Gedanken weiterspinnen konnte, fuhr er zusammen. War das bloss Einbildung oder hatte sich da im Raum gerade jemand bewegt?

«Ist da jemand?», fragte er ins Dunkel. Nichts. «Hallo!», doppelte er nach. Stille. Wohl eine akustische Täuschung, schloss er. Doch nun glaubte er, auch einer optischen Täuschung zu unterliegen, oder war da tatsächlich so etwas wie

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Licht, das er aus den Augenwinkeln wahrnahm? Langsam drehte er seinen Kopf nach rechts. Dann sah er es. Ein feiner senkrechter Lichtstreifen. Mehr ein Lichtfaden. Unmöglich zu sagen, wie weit entfernt. Aber er war da! Doch je länger er den Faden fixierte, desto mehr verschwamm er wieder. Er brauchte Gewissheit. Er stützte sich auf seine Ellbogen und begann, seinen Oberkörper aufzurichten, bis er sich mit gestreckten Armen abstützen konnte. Dabei bohrte sich die Krone seiner Armbanduhr ins linke Handgelenk.

Seine Uhr! Er hatte sie vollkommen vergessen. Langsam hob er seinen linken Arm und führte die Hand vor die Augen. Er drehte dabei sein Handgelenk so, dass es ihm möglich war, Zeit und Datum dank der Leuchtziffern abzulesen. Doch seine nach wie vor verquollenen Augen und die Dunkelheit liessen das nicht zu. Wenn er doch nur etwas Wasser hätte, um sie auszuspülen! Wasser. Er brauchte Wasser. Und nicht nur für seine Augen. Höchste Zeit, seine Zelle, oder worin auch immer er festgehalten wurde, etwas genauer zu erforschen.

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Zuvorderst auf dem Oberdeck thronte der imposante Steuerstand, der gut und gerne zehn Personen aufnehmen konnte. Von der unmittelbar angrenzenden, etwas erhöhten Chesterfield-Ledersitzgruppe mit kleinen Tischchen und einer kleinen Bar hatte man eine atemberaubende Sicht durch den Steuerstand hindurch und über den mächtigen Bug hinweg auf die offene See.

Als die letzte Landzunge des Kaps passiert und die markante Silhouette des alten Fort Carré neben dem Hafenbecken von Antibes immer deutlicher sichtbar wurde, hatte die Crew bereits damit begonnen, die nötigen Vorbereitungen für das bevorstehende Anlegemanöver zu treffen. Routinearbeiten, die dem eingespielten Team rund um Käpt’n deWolf gut von der Hand gingen. Auch jetzt, kurz vor der Einfahrt in den mondänen, mit den schillerndsten Megayachten gespickten Port Vauban, kam keinerlei Hektik auf. Jeder hatte seinen Posten bezogen und wusste, was zu tun war.

Heute würden sie nicht wie üblich an ihrem Stammplatz an der «Petite Plaisance», anlegen, die, wie der Name schon sagte, die kleineren Yachten bis 60 Meter aufnahm. Wie immer zu Beginn der Juli-Auktionen wurde der Eternité ein besonders exklusiver Platz an der «Grande Plaisance» zugedacht, wie Bert und Nika Monin die auf der Rückseite der grossen Hafenmole verlaufende Anlegestelle noch immer nannten. Ein Relikt aus vergangenen Tagen, dem die beiden in ihrer romantischen Art nachträumten. Längst war sie in den zwar passenden, jedoch längst nicht so emotionalen «Quai des milliardaires» umgetauft worden.

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Neben den Yachten, die hier lagen, nahm sich die Eternité geradezu klein aus. Dieser Teil des Hafens, der unter der Leitung des Internationalen Yacht-Clubs Antibes betrieben wird, konnte Yachten bis weit über 150 Meter beherbergen. Präzise und ruhig steuerte Käpt’n deWolf, mittlerweile seit drei Jahren in den Diensten des Eignerehepaars, die Eternité an ihren neuen Platz.

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Nach einem weiteren kritischen Blick in den goldgerahmten Spiegel richtete Nika ihr lachsfarbenes Seidencrêpe-Abendkleid, indem sie es mit beiden Händen leicht zurechtzupfte und dabei mit den Hüften wackelte. «Nun, da will ich dir mal nicht widersprechen. Eigentlich sehe ich doch noch recht ordentlich aus für eine Mittfünfzigerin, und wenn nicht, ist es auch egal», gab sie selbstsicher zurück, womit sie sich der exklusiven Auslage an Parfums auf den beiden Glastablaren zuwandte.

«Was passt denn zu Picasso?», fragte sie bestens gelaunt.

«Tja, meinst du nun den Maler oder sein Werk?»

«Den Künstler natürlich, Kleines, den Künstler. Und den Mann!», lachte Nika und verdrehte dabei vielsagend ihre Augen. Stephanie musste ebenfalls lachen: «Dann gibts nur einen, den Klassiker!»

«Den Klassiker meinst du?» Nika zögerte einen kurzen Augenblick. «Na gut, Chanel Nº 5. Und sonst, bist du aufgeregt vor deinem ersten Einsatz heute Abend?»

«Ein wenig schon», gab Stephanie zu, zog ein Taschentuch aus der goldenen Halterung in der Wand, faltete es einmal zusammen, legte es zwischen ihre Lippen und presste sie leicht zusammen. «Schliesslich geht es um die Kleinigkeit von 15 Millionen Euro. Da darf man schon etwas aufgeregt sein.»

«Natürlich, mein Liebes. Es ist schon sehr unwirklich, findest du nicht auch?» Nika wischte sich eine Wimper aus ihrem linken Auge. «Wie kann jemand 15 Millionen Euro für ein Bild ausgeben, das gerade mal 80 auf 70 Zentimeter misst!»

Die Tatsache, dass sie die Grösse in Relation zum Verkaufspreis setzte, liess vermuten, dass sie nach wie vor Mühe damit hatte, dass es Leute gab, die bereit waren, solch horrende Summen zu zahlen. Stephanie wusste jedoch genau, dass die

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sympathische Holländerin sich seit vielen Jahren sehr intensiv mit Kunst beschäftigte und mittlerweile auch einiges davon verstand. Nicht zuletzt war dies auch aus der Akte «Nika» ersichtlich, die sie von deWolf bei ihrer Einführungsschulung erhalten und zu verinnerlichen hatte.

Ihre Aufgabe im Team war klar umrissen. Sie hatte innerhalb kürzester Zeit eine enge Verbindung zu Nika Monin herzustellen, um von ihr jene Informationen zu erhalten, die auf anderen Wegen so nicht zur Crew gelangen würden. Gleichzeitig hatte sie in Erfahrung zu bringen, ob dem Eignerehepaar irgendetwas auffällig vorkommen würde. Das Ganze natürlich so, dass die Frau des Eigners keinerlei Verdacht schöpfte, was ihr bisher ausgezeichnet gelang. Dieser Kontakt war zudem wichtig, um etwaige kurzfristige Planänderungen seitens Bert Monin in Erfahrung zu bringen und an deWolf weiterzuleiten.

«Es ist immerhin ein Picasso», gab Stephanie zu bedenken.

«Nun, in Anbetracht des Vermögens, das Sir Allen Leestand bis heute für Kunst ausgegeben hat, ein Pappenstiel», meinte Nika mit einer flüchtigen Handbewegung. «Und ‹Buste de Femme› wird er sich auf keinen Fall entgehen lassen.»

«Ja, 15 Millionen Euro sind eine ganze Menge, besonders wenn man bedenkt, was andere Menschen damit alles anfangen könnten!», nahm Stephanie geschickt Nikas Gedanken auf. «Und wenn jemand schon bereit ist, soviel dafür hinzublättern, dann sollten wir ihn nicht daran hindern.»

Natürlich hatte sie sofort zugesagt, als ihr Bert Monin angeboten hatte, sich während der Juli-Auktionen besonders um Sir Allen Leestand zu kümmern. Ein Auftrag, den sie schon zuvor von deWolf erhalten hatte. Er garantierte ihr an jeder der vier Auktionen einen freien Tag, um am Abend bei der Auktion – wie es Bert Monin ausdrückte – besonders ausgeruht und attraktiv auszusehen.

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Nicht zuletzt dachte sie auch an ihre 600 Euro Gage. 400 Euro pro Auktion und für jeden Abschluss gab’s noch eine kleine Provision von 200 Euro dazu. Und die war ihr heute so gut wie sicher.

Schliesslich würde Sir Leestand, ein weitgereister und belesener Kunstkenner, wohl eher auf seinen Adelstitel verzichten, als sich den auf dem Auktionsmenu stehenden Leckerbissen entgehen zu lassen.

Nika hatte sich soweit zurecht gemacht, dass sie ihren Aufenthalt im luxuriösesten Waschsalon der Gegenwart, wie sie den Toilettenvorraum selbstironisch zu beschreiben pflegte, beenden konnte.

«Bis dann, ich muss noch rasch in die Küche. Claude ist ein ausgezeichneter Koch. Doch bei den Hors d’œuvres bin ich immer gerne in seiner Nähe, und die Gäste werden auch schon bald kommen. Bye bye und toi toi toi!» Sie zwinkerte Stephanie zu und verschwunden war sie.

Der Vorraum und die Damentoilette waren ursprünglich mal eine Gästesuite gewesen, bevor sie Nika Monin nach ihrem persönlichen Einrichtungskonzept hatte umbauen lassen. Wer regelmässig Damen und Herren aus aller Herren Länder auf seine Yacht zu Auktionen einlädt, der will auch im sanitären Bereich top ausgestattet sein. Schliesslich ist die Toilette die Visitenkarte des Hauses, erinnerte sich Stephanie an das Kapitel «Hygiene und Sauberkeit an Bord» in ihrem Crew-Dossier. Auch wenn es sich bei diesem Haus um eine Yacht handelte. Sie schaute noch einmal kurz in den Spiegel. Was sie sah, konnte sich durchaus sehen lassen. Mit siegesbewusstem Lächeln zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu, drehte sich um und atmete tief ein. Es konnte losgehen.

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Ein feiner Lichtfaden zog weiterhin die Aufmerksamkeit eines einsamen Gastes auf sich. Das Licht war jedoch viel zu schwach, als dass der Betrachter auch nur die Hand vor Augen hätte erkennen können. Noch immer sass er auf seinem Bett. Langsam erforschte er mit ausgestreckten Armen sein unmittelbares Umfeld. Er ertastete, dass sein Bett an einer Wand stand. Behutsam drehte er sich nach rechts und stellte seine Füsse auf den Boden. Als sie Grund erreichten, signalisierten sie ihm sogleich eine flauschig weiche Unterlage. Nobel geht die Welt zugrunde. Er war auf einem Schiff, das stand fest. «Wohl kaum die Queen Mary II», dachte er. «Wohl in einem Raum in den unteren Decks. Doch warum?» Nach wie vor ergab das alles nicht den geringsten Sinn.

Er würde diese Frage wohl oder übel etwas zurückstellen müssen. Also zurück zur Mission Raumerkundung. Normalerweise befindet sich neben einem Bett auch ein Nachttisch, kombinierte er. Einen Versuch war es wert. Er rutschte auf der Bettkannte nach rechts in Richtung Kopfteil.

Da war tatsächlich ein Möbelstück. Er arbeitete sich weiter vor. Vorsichtig, damit er nichts umstossen konnte, glitt seine Hand über die Oberfläche. Sie fühlte sich edel und poliert an. Nobelzelle, dachte er beinahe belustigt. Immerhin. Dann signalisierte ihm sein Tastsinn etwas Hartes, Kaltes und Feuchtes. Er griff danach, umschloss das Objekt mit seiner Hand und wusste gleich, was es war. Eine PET-Flasche! Er zog sie an sich und griff mit der linken Hand an den Verschluss. Mit einem lauten Zischen stellte sie sich als ein erfrischendes Mineralwasser vor. Er öffnete den Drehverschluss und setzte die Flasche gierig an den Mund.

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Der erste Schluck schmeckte scheusslich bitter und er musste ihn unweigerlich ausspucken. Auch wenn es ihm zuwider war, beschloss er, seinen Mund erneut auszuspülen. Teppich hin oder her. Erst danach wagte er, einen weiteren Schluck zu nehmen. Jetzt realisierte er auch, wie trocken seine Kehle und wie durstig er war.

Er musste tatsächlich eine ganze Weile weg gewesen sein. Sein Kopf wog noch immer gefühlte tausend Tonnen und es fiel ihm schwer, ihn hin und her zu bewegen. Jeder Zentimeter war eine Qual. Die Wirbel knirschten, als hätte man seinen Nacken in Einzelteile zerlegt und dann falsch wieder zusammengesetzt. Seine Glieder schmerzten. Ihm war übel.

Kein Wunder, dachte er, wenn er tatsächlich auf ein Schiff verfrachtet worden war, dann mussten sie ihm eine gehörige Ladung verpasst haben. Und wer waren «sie» überhaupt? Wer hätte überhaupt die Möglichkeit, ihn unbemerkt auf ein Schiff zu verfrachten? Er musste aufstehen und Klarheit schaffen. Er erhob sich, doch noch bevor er einen ersten Schritt in die Dunkelheit wagen konnte, versagen ihm die Beine.

Der Restanteil des Narkotikums und die Tatsache, dass er so lange flachgelegen hatte, trugen dazu bei, dass sich um ihn erneut alles zu drehen begann. «Ganz schlechte Idee», tadelte er sich gleich selber, um dann zurück aufs Bett zu sinken. Dann tauchte er erneut in eine finstere, dumpfe Nacht.

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Drei Tage zuvor

«Dieser Maître geht mir langsam aber sicher auf den Sack!»

Käpt’n deWolf war ausser sich. «Was glaubt er denn eigentlich, wer er ist?» Noch nie hatte ihn die Crew so wütend erlebt. Sie hatte sich wie an jedem Tag um Punkt sieben Uhr auf dem Vorschiff zu einem morgendlichen Debriefing eingefunden. Alle relevanten, sprich nur die eingeweihten Crewmitglieder, waren da. Claudio, Maître de Cabine und Koch in einer Person, ohnehin ein Pflänzchen, war kurz davor, einem kleinen frühmorgendlichen Ohnmachtsanfall zu erliegen und fächelte sich pausenlos mit dem Deckel eines Früchtekartons verzweifelt etwas Wind in sein rosagefärbtes Gesicht. Als deWolf ihn direkt ansah, fächelte sein Fächer noch heftiger als zuvor.

Kurt, erster Offizier und rechte Hand deWolfs, hatte es sich, so gut es ging, auf einer der beiden Ankerwinschen bequem gemacht und lauschte mit kaltstarrem Gesichtsausdruck den Worten seines Kapitäns, ohne ihn direkt anzusehen.

Die beiden Stewarts, Sven I und Sven II, die nicht nur ihre Vornamen, sondern auch die Doppelkajüte teilten, ansonsten aber nicht viel gemeinsam hatten, sassen vis-à-vis der Ankerwinschen auf dem breiten, weissen Polster der Sitzbank. Geld war schon immer ihre Motivation. Darum waren beide relativ leicht zu überzeugen gewesen, mitzuziehen. Mit den ihnen anvertrauten Spezialaufgaben konnten sie ihre Heuer auf der Eternité locker verzehnfachen.

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MITTWOCH

Stephanie war die Jüngste im Bunde. Nicht nur was ihr Alter, sondern auch was ihre Dienstzeit an Bord betraf.

«Wie kann dieser Wicht es wagen, uns derart in Bedrängnis zu bringen?», kam deWolf erneut auf den Maître zu sprechen.

Sein Ärger richtete sich nicht zuletzt auch gegen sich selbst, denn er wusste, dass es jetzt zum ersten Mal wirklich knapp werden könnte. Er hatte gepokert. Schliesslich ging es um die fette Provision von einer netten, klitzekleinen, sauberen und natürlich steuerfreien Million Dollar, die ihm sein Auftraggeber bereits bei Auftragserteilung zugesprochen hatte.

Da die Bilder für die jährlich stattfindenden Juli-Auktionen auf der Eternité jeweils recht früh, das heisst immer schon einige Monate nach der letzten Auktion, von Bert Monin gesucht und ausgewählt wurden, hatte der Maître jeweils genügend Zeit, die nötigen Duplikate zu erstellen.

Doch dieser Fall lag anders. Ganz anders. Picassos «Buste de Femme» war kurzfristig, sprich vor knapp vier Monaten, ins Programm aufgenommen worden, sodass ihnen extrem wenig Zeit blieb. Hätte ihm der Maître nicht hundertprozentig zugesichert, dass er es schaffen würde, den Zwilling bis zur ersten Juli-Auktion anfertigen zu können, wäre er dieses Risiko nie eingegangen. Dass sich der Maître dann an der Hand verletzte, war wohl Pech, aber deWolf weigerte sich, dies als Grund für die Verzögerung gelten zu lassen.

«Es wird doch wohl nicht so schwer sein, Picassos Unterschrift noch hinzuzufügen, nachdem er schon das ganze Bild gemalt hat!», fuhr er, noch immer in Rage, fort.

«Das waren aber seine Worte», rechtfertigte sich Klaus, der den Anruf des Maître vor drei Tagen entgegengenommen hatte.

«Wenn das Bild bis Samstag nicht in unserem Besitz ist, werde ich mich nach einem neuen Meister umschauen. Sag ihm das», herrschte er Klaus an.

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«Er trägt aber einen Handgelenkgips, was eine perfekte Pinselführung gänzlich verunmöglicht», versuchte Claudio sich für den seit nunmehr sechzehn Bildern ohne Fehl und Tadel amtierenden Meister einzusetzen. Ein Unterfangen, das ebenso erfolglos wie unklug war, denn es brachte deWolf nur noch mehr in Fahrt.

«Was verstehst du schon von Pinselführung. Wir können es uns nicht erlauben, dass dieser Leestand ohne den Picasso wieder abreist, sollte das Bild nicht bis Samstag für die Auktion bereit sein. Bis dahin muss alles gelaufen sein. Wenn nicht, wird es mir eine Freude sein, eure Provision einzufrieren. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht binnen kürzester Zeit einen neuen Maître auftreiben könnte, wenn es sein muss, mit Gewalt», wobei er sich ein fieses Schmunzeln nicht verkneifen konnte. «Und ich habe da auch schon eine Idee!» Seine Augen begannen zu funkeln.

«Das mag wohl für die übernächste Auktion hinkommen», gab Stephanie, zu bedenken. «Was die Auktion vom Samstag anbelangt, so werden wir wohl oder übel improvisieren müssen. Du weisst genau, was davon abhängt», wandte sie sich an deWolf.

«Und wie stellst du dir das vor, he?», herrschte deWolf sie an. «Das Original gebe ich auf keinen Fall aus den Händen. Gerade bei diesem Snob weiss man nie so genau. Heute noch will er ein paar Tage bleiben, und plötzlich entscheidet er sich anders und haut über Nacht ab, und mit ihm der Picasso. Es dürfte schon schwer genug sein, die Bilder noch hier zu vertauschen, ist die Auktion erst einmal vorüber. Du weisst ja, wie verrückt er nach diesen Dingern ist. Lässt sie kaum aus den Augen. Nein, der Fall ist klar. Der Maître setzt bis Samstag die Unterschrift unter das Bild oder ich besorge jemanden, der das für ihn tut.»

«Was meinst du damit?», fragte ihn Stephanie, und versuchte, dabei nicht allzu neugierig zu erscheinen.

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«Das wirst du noch früh genug sehen», meinte deWolf kaltschnäuzig. «Ich muss mich vorerst um eine gute Ausrede kümmern, damit niemand Verdacht schöpft, sollte es bis Samstag tatsächlich nicht klappen. Ich lasse mir doch nicht so einfach eine fette Provision entgehen! Kaputte Hand hin oder her. Und denkt daran, es geht auch um eure Prämien!»

«Wir haben ja noch drei, maximal vier Tage. Und wenn alle Stricke reissen, werde ich Sir Allen schon dazu überreden können, noch eine Woche dranzuhängen, so versessen, wie er auf das Bild ist. Bis zur übernächsten Auktion sollte dann der Maître seine Unterschrift wohl setzen können.»

«Warum geben wir ihm nicht einfach das Original und tauschen es später um?» mischte sich nun auch Sven I ein.

«Ja, ja, wie damals der Chagall. Vergiss es! Das war äusserst riskant und zudem fand die ganze Aktion hier in Antibes statt. Hier, wo wir alles bestens kennen. Wenn wir dem Engländer nachreisen müssen, dann gute Nacht. Nein, soweit lasse ich es nicht kommen. Die Unterschrift muss her und zwar umgehend. Ich werde wohl unseren Joker einsetzen müssen», meinte er, wobei sein hämisches Lächeln vielfach verzerrt von den polierten Ankerwinschen zurückgeworfen wurde.

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Zwei Tage zuvor

Die faszinierenden und unterhaltsamen Vorlesungen, die Professor Hugo in Kunstgeschichte und Kreativität zu halten pflegte, waren an der Uni Bern bestens bekannt. Sein Wissen war beeindruckend und seine Sprüche legendär. Menschen, die seinen Humor nicht schätzen, postulierte er jeweils verschmitzt, würden ihn auch nicht verdienen. Schliesslich hätte er nun auch ein Alter erreicht, in dem er sich dies erlauben könne.

Auch wussten die Studenten von seiner Leidenschaft für die sogenannten Mega-Yachten. Also nicht etwa die schmächtigen kleinen Nussschalen bis knapp vierzig Meter, wie er sie gerne spöttisch betitelte. Nein, die richtig grossen Brummer waren es, die er aus den verschiedenen, seit Jahren abonnierten Fachmagazinen und auch von seinen unzähligen Spaziergängen entlang den berühmten Promenaden von Monte Carlo, Nizza, Antibes und Saint-Tropez her kannte und bewunderte. Und es war ein offenes Geheimnis, dass der Professor nichts mehr genoss, als auf dem Heck einer solchen Yacht im Hafen von Saint-Tropez zu sitzen. Etwas, das ihm dank seiner Tätigkeit als Kunstexperte bei den bekannten Juli-Auktionen einmal pro Jahr ermöglicht wurde. Die Eternité war alles andere als eine Mega-Yacht, doch wurde er, wie viele andere auch, vom ersten Rendez-vous an von der ehrwürdigen alten Lady in ihren Bann gezogen. Nichts liebte er mehr, als einen kühlen Pastis zu geniessen, um dann den ultimativen Oliven-

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steintest zu machen, mit dem er die Grösse einer Yacht bestimmen konnte.

Für alle, die zum ersten Mal von diesem Test hörten, klang er ebenso bizarr wie schwer vorstellbar. Doch wer den Professor und seine Leidenschaft kannte, der schmunzelte nur und genoss seine Ausführungen Mal für Mal. Besonders dann, wenn er einen weiteren Unwissenden ins Geheimnis seiner doch eher unkonventionellen Messmethode einführen konnte. Meist fand diese Unterweisung auf seiner Veranda zuhause statt. Der Test war denkbar einfach und bestand darin, in einem ersten Schritt eine Olive nach Wahl zu kosten. Dann galt es, den Stein möglichst horizontal über die Reling zu spucken. Sodann wartete man auf das «Plumps» beim Eintauchen des Steins ins Wasser. Je mehr Zeit dabei zwischen dem «Spuck» und dem «Plumps» verstrich, desto grösser war die Yacht, vorausgesetzt natürlich, man befand sich beim Test jeweils auf dem Oberdeck einer Yacht.

Überhaupt hatte sein Zuhause, das etwas ausserhalb östlich von Bern lag, mehr mit einer Yacht gemein als mit einem Einfamilienhaus. Das mediterrane Ambiente war unübersehbar, ohne jedoch aufdringlich zu wirken. Mit viel Sinn für alles Schöne und Ausgefallene hatte er im Laufe der Zeit viele kleinere und grössere Bijous von seinen Reisen an die Côte mitgebracht.

Es war ungefähr vor einem Jahr, nach einer seiner Vorlesungen, als er mit der Idee an seine Studenten herantrat, seine Terrasse in das Heck einer Yacht zu verwandeln. Es schien offensichtlich, dass er seinen Plan nicht alleine in die Tat umsetzen konnte, sodass sich rasch einige Enthusiasten fanden, die mit ihm zusammen das «Projekt Queen Mary III», wie sie es kurzerhand nannten, angehen und in den Semesterferien realisieren wollten.

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Als ihr Werk dann nach unzähligen Stunden Sägen, Hobeln und Schleifen, mindestens drei blauen Daumen, einer guten Handvoll eingefangener Holzsplitter und einer nicht zu definierenden Zahl an eisgekühlten Bieren anlässlich eines feierlichen Stapellaufs im vergangenen Sommer eingeweiht worden war, war sie noch beeindruckender, als sie es sich alle vorgestellt hatten. Gut zehn Meter lang, dreieinhalb Meter tief und über die ganze Länge des Hauses laufend. In die eine Ecke war eine grosszügige, mit zahlreichen weichen Kissen ausgestattete Rundbank eingesetzt, die acht Personen bequem Platz bot.

Der runde, fest verschraubte Tisch, die klassischen Regisseurstühle, die glanzlackierte rot-braune Reling mit originalen Messingbeschlägen und die einladenden Bankkissen liessen die Veranda tatsächlich wie das Heck einer mondänen Yacht aussehen. Alle Bezüge und Kissen waren beigeweiss gestreift.

Auch das Tuch des grossen, schwenkbaren Sonnenschirms hatte seine Nachbarin, eine versierte und begeisterte Seglerin und Quilterin, aus beigen und weissen Segeltuchbahnen genäht.

Für den Boden verwendeten sie lange, schmale Teakholzplanken. Ausgegraben hatten sie diese in der Lagerhalle einer alten Werft am Thunersee, rund dreissig Autominuten entfernt. Aufs Geratewohl war der Professor mit Lorenz und Ramin, zwei seiner Kunststudenten und freiwilligen Helfer, Richtung Oberland gefahren. Es war purer Zufall und Glück.

Sie lagen unter einem Berg alter Bretter und waren ziemlich verstaubt, grau und unansehnlich. Als er jedoch mit seinem Taschentuch und etwas Spucke bei einer der Planken eine kleine Stelle säuberte, um die Art des Holzes zu ermitteln, war der Professor nicht wenig erstaunt über den rotbraunen Glanz, den er da zu Gesicht bekam.

Er wusste sofort, dass sie auf eine kleine Trouvaille gestossen waren und erinnerte sich später immer wieder gerne daran,

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wie überrascht sie alle waren, als ihnen der Besitzer der Werft die wertvollen Bretter zu einem sagenhaften Preis überlassen hatte. Auf die Begründung, er hätte erstens gar nicht mehr gewusst, dass er diese dort gelagert und zweitens ohnehin schon längst einmal in der grossen Lagerhalle hatte aufräumen wollen, gewährte ihm der Professor spontan ewiges Gastrecht auf seinem Heck.

Ein Angebot, das der Besitzer mit einem strammen «Aye Aye Käpt’n» quittiert und in der Zwischenzeit schon oft eingelöst hatte, jedoch nie, ohne ihn mit einem alten, skurrilen oder sonst wie originellen nautischen Mitbringsel zu überraschen. Tatsächlich hatte der Professor viel von einem alten Seebären. Mit seinem gischtweissen Fünftagebart, dem blau-weiss gestreiften und hundertfach gewaschenen Lieblings-Shirt, den weissen, bis kurz über die Knie reichenden Bermudas und den blauen Slippern sah er nicht nur aus wie ein Kapitän, er fühlte sich auch wie einer.

Ein Look, den er sich jedoch nur in seiner Freizeit gönnte, wobei seine Definition von Freizeit nicht nur die Semesterferien, sondern auch die extrauniversitären Phasen, wie er sie zu nennen pflegte, umfasste. Dazu zählten auch seine langen Wochenenden von Freitagmittag bis Dienstagmorgen, an denen er oft Exkursionen auf eigene Faust unternahm.

Dabei schreckte er auch vor spontanen Reisen in ferne Länder nicht zurück, wovon die unzähligen Postkarten aus allen Ecken der Welt zeugten, die in regelmässigen Abständen am schwarzen Brett der Uni Bern zu entdecken waren. Irgendwie erinnerte er seine Studenten an Indiana Jones.

Das Jagdgebiet des Professors waren zwar nicht unbedingt spinnenbewohnte Höhlen in den Tiefen des Amazonas, denen er geheime Schätze zu entlocken versuchte. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr der Kunstgeschichte und den Schätzen, die sie hervorzuzaubern vermochte.

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Dass er dabei wohl ebenso viel Zeit in den Tempeln der Moderne, sprich Museen, verbrachte wie sein berühmter Leinwandkollege in Gruften und Gräbern, war eine weitere Leidenschaft, die er mit Indy teilte.

Erst kürzlich erreichte seine Schützlinge ein solcher Gruss aus dem Metropolitan Museum of Art in New York, dem er einen dieser legendären Kurzbesuche abstattete, nur weil, wie er aus bester Quelle erfahren hatte, ein seltener Picasso ausgestellt wurde, der nicht im offiziellen Katalog geführt wurde. Picasso! Ja, das war neben der Côte seine grösste Leidenschaft. Es gab nicht viele Menschen, die besser über die Werke und das Schaffen Picassos Bescheid wussten als er.

Es war immer wieder ein absoluter Genuss, dem Professor zuzuhören, wenn er von seinen beiden Treffen mit dem begnadeten Genie zu schwärmen begann. Eigentlich hiess der Professor Hugo mit Vornamen, doch er hatte sich daran gewöhnt, dass ihn seine Studenten einfach Professor Hugo nannten. Ein Überbleibsel aus seiner Zeit an der Uni in Tübingen, wo er bis vor knapp drei Jahren lehrte. Eine Kommilitonin hatte ihm diesen Spitznamen verpasst, unfreiwillig, als sie ihn in einer Französisch-Literaturstunde spasseshalber mit Victor Hugo verglich.

Wenn Professor Hugo es sich also auf der breiten Sitzbank auf seinem Heck gemütlich machte, der Wind über die Terrasse strich, er die Augen schloss und den Grillen lauschte, dann, ja dann war er an der Côte. So wie auch an diesem Julimorgen, als ihn die ersten zarten Sonnenstrahlen kurz vor acht willkommen hiessen und einen weiteren herrlichen Sommertag ankündigten. Den Arabica trank er wie immer aus seiner alten Espressotasse schwarz mit einem Schuss Zitrone und einem Stück Zucker. Die Tageszeitungen lagen, fein säuberlich nach Themen geordnet, vor ihm auf dem grossen runden Tisch. Er hatte nicht viele Gewohnheiten. Doch die paar wenigen pflegte er ausgie-

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